Sich einen Namen machen - Julia Moira Radtke - E-Book

Sich einen Namen machen E-Book

Julia Moira Radtke

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Beschreibung

Die Arbeit widmet sich einer bisher übersehenen, im öffentlichen Raum gleichwohl hochpräsenten Namenart: Sie untersucht die Namen im Szenegraffiti. Namen sind für die Graffitiszene von zentraler Bedeutung, weil es im Szenegraffiti darum geht, ein Pseudonym zu wählen und dieses möglichst oft und auf individuelle, qualitativ hochwertige Weise im öffentlichen Raum anzubringen. Die Mitglieder der Graffitiszene, die Writer, müssen sich daher im wörtlichen und im übertragenen Sinne "einen Namen machen". Mit ihrer empirisch basierten Arbeit, deren Datengrundlage 11.000 Aufnahmen von Graffitis aus Mannheim bilden, legt die Autorin die erste umfassende wissenschaftliche Beschreibung dieser Namenart vor. Da die Graffitinamen im Fokus stehen, ist die Arbeit in erster Linie der Onomastik zuzuordnen. Um die Pseudonyme angemessen beschreiben zu können, werden in der Untersuchung aber auch Ansätze der Multimodalitäts- und Schriftbildlichkeitsforschung sowie der Linguistic-Landscape-Forschung verarbeitet.

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Seitenzahl: 792

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Julia Moira Radtke

Sich einen Namen machen. Onymische Formen im Szenegraffiti

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

Die vorliegende Arbeit wurde 2018 von der Fakultät für Kulturwissenschaften der Universität Paderborn als Dissertation angenommen (Tag der mündlichen Prüfung: 27. September 2018).

 

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungsfonds Wissenschaft der VGWORT.

 

 

© 2020 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen www.narr.de • [email protected]

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

 

Print-ISBN 978-3-8233-8330-7

ePub-ISBN 978-3-8233-0192-9

Inhalt

Danksagung1. Einleitung1.1 Zielsetzung der Arbeit1.2 Forschungsgegenstand1.3 Forschungsstand1.3.1 Graffiti als Forschungsgegenstand1.3.2 Graffiti als Forschungsgegenstand der Linguistik1.3.3 Pseudonyme als Forschungsgegenstand der Onomastik2. Graffiti2.1 Eine Bestandsaufnahme2.1.1 Bild und Schrift2.1.2 Intransparent2.1.3 Transgressiv2.1.4 Ortsfest und ephemer2.1.5 Öffentlich2.1.6 Urban2.1.7 Artefakte2.1.8 Zusammenfassung2.2 Die geschichtliche Entwicklung des Graffitis2.2.1 In- und Aufschriften seit der Steinzeit2.2.2 Die Entwicklung des Szenegraffitis in den USA2.2.3 Die Entwicklung einer Szene in Europa2.2.4 Graffiti und Street Art2.2.5 Zusammenfassung2.3 Die Szene2.3.1 Graffiti als Szene2.3.2 Crews als „Communities of Practice“2.3.3 Soziale Szenestrukturen2.3.4 Szenetypisches Vokabular2.3.5 Hierarchien2.3.6 Zusammenfassung3. Namen3.1. Positionierung im System der Sprache3.2 Die Funktionen der Namen3.2.1 Mono- und Direktreferenz3.2.2 Individualisierung3.2.3 Charakterisierung3.3 Die Semantik der Namen3.4 Ebenen onymischer Markierung3.4.1 Grammatische Markierung der Namen3.4.2 Graphematische Markierung der Namen3.4.3 Graphische Markierung der Namen3.5 Zusammenfassung4. Pseudonyme4.1 Positionierung im System der Personennamen4.2 Die Funktionen des Pseudonyms4.2.1 Zwischen Tarnen und Sichtbarwerden4.2.2 Zwischen Identifizieren und Charakterisieren4.3 Erkenntnisinteresse bisheriger Untersuchungen zu Pseudonymen4.3.1 Zur Untersuchung von Künstler-, Deck- und Tarnnamen4.3.2 Zur Untersuchung von Internetpseudonymen4.4 Zusammenfassung5. Namen im Graffiti5.1 Graffitinamen als Pseudonyme5.2 Die Spezifik der Graffitinamen5.2.1 Schrift- und Sehnamen5.2.2 Buchstaben als Figuren5.2.3 Signatur und Kunstwerk5.2.4 Namenvariation5.2.5 Spuren vergangener Anwesenheit5.2.6 Ortsgebundene Namen5.2.7 Zusammenfassung5.3 Ein theoretischer Rahmen zur Beschreibung der Graffitipseudonyme5.3.1 Ein multimodaler Ansatz5.3.2 Exemplifizierung: Multimodale Bedeutungsgenerierung im Graffiti6. Zur Interpretation der Schriftbildlichkeit6.1 Bezeichnungen zur Bezugnahme auf den Phänomenbereich6.1.1 Typographie6.1.2 Kalligraphie6.1.3 Schriftbildlichkeit6.2 Typographisch bzw. schriftbildlich vermittelte Bedeutungen6.2.1 Systematisierung und Theoretisierung des Phänomenbereichs6.2.2 Soziale Bedeutung graphischer Mittel6.2.3 Anwendung auf Graffitinamen: graphische Mittel als Namenindikatoren6.3 Zusammenfassung7. Empirische Untersuchung der Graffitipseudonyme7.1 Korpus7.2 Methodisches Vorgehen1. (Schrift-)bildliche Eigenschaften:2. (Schrift-)sprachliche Eigenschaften:7.3 Formenspektrum im Korpus Mannheim7.3.1 Bilder7.3.2 Eigennamen7.3.3 Komplexere sprachliche Strukturen7.3.4 Bewertende Benennungen7.3.5 Szenegraffiti7.4 Namen als Tags7.4.1 Deformation der Buchstaben7.4.2 Ornamentale und figürliche Gestaltungselemente7.4.3 Alternation von Majuskeln und Minuskeln7.4.4 Integration von Zahlen7.4.5 Kurzwörter mit semantischen Motivierungen7.4.6 Orthographische Abweichungen7.4.7 Semantische und lexikalische Muster7.4.8 Zusammenfassung7.5 Namen in Kompositionen7.5.1 Pieces als Schrift-Bild-Kompositionen7.5.2 Komplexe Schrift-Bild-Kompositionen7.5.3 Zusammenfassung8. Fazit und AusblickAbkürzungsverzeichnisLiteraturverzeichnisBeiträge aus SzenezeitschriftenBeiträge von SzeneseitenWeitere InternetseitenInterviewsAbbildungsverzeichnis

Danksagung

An dieser Stelle möchte ich all denjenigen danken, die mich bei der Arbeit an diesem Projekt unterstützt haben.

Mein größter Dank gilt meiner Betreuerin Prof. Dr. Doris Tophinke – und das in vielerlei Hinsicht. Ihre Seminare und Vorlesungen, in denen sie nicht nur ihr umfassendes Wissen weitergegeben, sondern stets auch ihre große Begeisterung für das Fach vermittelt hat, haben mein Interesse an linguistischen Fragestellungen und am wissenschaftlichen Arbeiten geweckt. Sie hat mich bereits als Studentin gefördert und früh im Projekt INGRID mitwirken lassen, was mein Dissertationsprojekt überhaupt erst möglich gemacht hat. Während meiner Promotion hat mir Doris Tophinke mit ihren konstruktiven Anmerkungen eine bestmögliche Betreuung zukommen lassen. Ohne ihre Unterstützung wäre diese Arbeit nicht entstanden.

Besonderer Dank gilt zudem meiner Zweitgutachterin Prof. Dr. Evelyn Ziegler, die mich bei der Verwirklichung meines Projektes mit wertvollen Hinweisen unterstützt hat.

Herzlich bedanken möchte ich mich auch bei meiner Kollegin Stephanie Borgolte. Sie hat mein Manuskript mit unendlicher Mühe Korrektur gelesen und mir viele wichtige Anregungen für den letzten „Feinschliff“ gegeben. Ihr und auch meinen Kollegen Sven Niemann und Jasmin Steinborn habe ich unzählige fachliche Hinweise zu verdanken. Im Rahmen unserer mehrjährigen Zusammenarbeit führten wir viele, meine Promotionszeit ungemein bereichernde Gespräche. Dafür danke ich ihnen.

Schließlich möchte ich mich von ganzem Herzen bei meinen Eltern und bei Florian Rüther für ihre bedingungslose Unterstützung bedanken. Ihre Geduld, ihre Zuversicht und ihr Verständnis haben mir den nötigen Rückhalt gegeben.

1.Einleitung

1.1Zielsetzung der Arbeit

Der öffentliche Raum – und dabei insbesondere der urbane öffentliche Raum – ist in starkem Maße durch einen spezifischen Typ sprachlicher Zeichen, nämlich durch Namen, geprägt. Wie groß der Anteil der Namen im Bereich der öffentlichen Schriftlichkeit ist, zeigt ein Streifzug durch jede beliebige deutsche Großstadt. So bilden Ortsnamen, Straßennamen und Namen von Plätzen beispielsweise einen wichtigen Bestandteil der Verkehrsbeschilderung. Daneben finden sich im öffentlichen Raum die Namen von wichtigen touristischen Zielen oder Sehenswürdigkeiten, die auf Wegweisern und Hinweisschildern sichtbar werden und Ortsfremden die Richtung zu ebendiesen Zielen weisen. Zur Betextung des Stadtraums gehören auch die Namen von öffentlichen Einrichtungen wie Schulen, Behörden oder Museen, die typischerweise direkt am Objekt, d.h. an der Außenwand des Gebäudes, oder auf einem Schild in unmittelbarer Nähe des Objekts angebracht sind.

Neben diesen Namen, die primär der Orientierung und der Organisation des Alltagslebens dienen, sind im öffentlichen Stadtraum auch Namen von Konsumgütern oder Dienstleistungen sichtbar, die in erster Linie einen werbenden Charakter aufweisen. Dazu gehören beispielsweise die Namen von Produkten und Produktlinien, wie sie in Schaufenstern, auf Werbeplakaten, großen Bannern, Litfaßsäulen und Leuchttafeln zu sehen sind. Geschäftsnamen zählen ebenfalls zu den onymischen Formen im Stadtraum. Das sind die Namen von Restaurants, Cafés, Reisebüros, Juwelieren etc., die in der Regel auf einem Schild am bezeichneten Objekt angebracht sind.

Wie dieser Streifzug zeigt, ist der öffentliche Raum durchzogen von einer Vielzahl von Namen. Dies stellt auch PUZEY fest, der sich mit Linguistic Landscapes (LL)1, also den schriftlichen Sprachvorkommen im öffentlichen Raum, beschäftigt und schreibt, dass Namen „a significant component of the LL“ bilden (2016: 396). Ähnlich äußert sich AUER, der hier eine funktionale Perspektive einnimmt und feststellt, dass das „Benennen […] eine grundlegende Funktion öffentlicher Schrift“ ist (2010: 290, Hervorh. i.O.). Stärker zugespitzt ließe sich sagen, dass Namen nicht nur einen wesentlichen Teil der Linguistic Landscape darstellen, sondern dass sich im öffentlichen Raum bei genauerer Betrachtung regelrechte Namescapes2 bzw. onymische Landschaften erkennen lassen.

Onymische Landschaften stehen im Fokus der vorliegenden Arbeit. Thematisiert werden jedoch nicht jene bereits erwähnten gedruckten oder anderweitig maschinell hergestellten Namen, die auf Städte, Straßen, öffentliche Einrichtungen oder Produkte verweisen. Stattdessen wird eine spezifische Art von Namen, die mit Farbstiften und Sprühdosen – oft illegal – an die Wände der Stadt gebracht werden, in den Blick genommen. Bei diesen Namen handelt es sich um Graffitinamen – eine im öffentlichen Raum hochpräsente Erscheinung, die als Namenart bisher weitestgehend übersehen worden ist.

Graffitinamen sind die Namen, die die Mitglieder der Graffitiszene (Writer) wählen, um sie überall im öffentlichen Raum zu sprühen oder zu schreiben. Im Gegensatz zu den anderen Namen der städtischen Namescape handelt es sich somit um Personennamen. Diese finden sich an diversen Orten im öffentlichen Raum, zum Beispiel in einem besprühten Hauseingang, wie er in Abb. 1 zu sehen ist. In diesem Hauseingang lassen sich fünf verschiedene Graffitinamen ausmachen. Das Foto, das 2008 in Mannheim aufgenommen wurde, zeigt die Namen CPUK, IKON, KOOLJÜRGEN, SHOP und OBC.3 Die unterschiedlichen Schriften und Strichstärken deuten darauf hin, dass die Namen von unterschiedlichen Schreibern und vermutlich auch mit einer zeitlichen Differenz angebracht wurden.

Abb. 1: Graffitis in Mannheim (25758)4

Graffitiwriter4 legen sich einen solchen Namen zu, weil sie diesen für die Teilnahme an den Aktivitäten der Graffitiszene benötigen. Im Szenegraffiti geht es um das Getting Up, d.h. das Aufsteigen innerhalb der Szene. Der soziale Aufstieg geht damit einher, „das verwendete Pseudonym […] in der ganzen Stadt und darüber hinaus bekannt zu machen“ (REINECKE2012: 27). Graffitiwriter müssen sich daher gleich in zweierlei Hinsicht einen Namen machen: Zum einen ist es das erklärte Ziel im Szenegraffiti, mit dem eigenen Namen bekannt zu werden. Zum anderen müssen sich die Akteure auch im wörtlichen Sinn einen Namen machen, insofern sie zu Beginn ihrer Szeneaktivität ein Pseudonym auszuwählen haben. Um in der Szenehierarchie aufzusteigen, bringen die Writer diesen Wahlnamen möglichst oft und auf individuelle, qualitativ hochwertige Weise im öffentlichen Raum an. Namen sind für das Szenegraffiti demnach von elementarer Bedeutung.

Diese handschriftlichen Graffiti-Namescapes, die die Städte durchziehen, werden von vielen szeneunkundigen Passanten gar nicht als solche erkannt. So werden Graffitis5 zwar wahrgenommen – ob mit Ärger oder mit Bewunderung –, allerdings oftmals nicht mit dem Wissen, dass es sich bei den Sprühwerken mehrheitlich um Namen handelt. So ist es auch zu erklären, dass man im Bereich der Onomastik6, der linguistischen Subdisziplin, die sich der Erforschung von Namen widmet, bislang nicht auf die Graffitinamen aufmerksam geworden ist. Während andere Namenarten, die im öffentlichen Raum zu finden sind, bereits intensiv untersucht worden sind7, sucht man nach Informationen zu den Graffitinamen in onomastischen Publikationen bislang vergeblich. Die Beschreibung und Analyse dieser Namenart stellt in diesem Sinne ein Desiderat dar.

Der Schwerpunkt der Onomastik lag lange Zeit primär auf der Erforschung der etymologischen Bedeutung von Personennamen (Anthroponyme) und Ortsnamen (Toponyme), d.h., es ging darum, die alten Bedeutungsschichten dieser Onyme8 freizulegen (NÜBLING ET AL.2015: 9, 14). Erst in der jüngeren Forschung werden auch verstärkt neue Namenarten, z.B. Namen von Himmelskörpern (KUNITZSCH2004) oder Tieren (WARCHOL2004), in den Blick genommen. Dabei entstanden auch Studien zur Benennung ganz spezifischer Objektgruppen wie Schulen (EWALD2012) oder Katzen (KRASS2014). Daran lässt sich erkennen, dass sich die Perspektive der Onomastik in den letzten Jahren erheblich erweitert hat.

Graffitinamen sind von der Namenforschung bisher allerdings schlichtweg übersehen worden. Erkennbar wird dies etwa an einem Aufsatz im kürzlich erschienen „Oxford Handbook of Names and Naming“ (HOUGH (Hg.) 2016b). Die entsprechende Publikation mit dem Titel „Linguistic Landscapes“ (PUZEY2016) macht die Namen im öffentlichen Raum ganz gezielt zum Thema, ohne dabei jedoch die Namen im Graffiti zu berücksichtigen. Der Autor PUZEY hebt zwar hervor, dass „Names occupy a privileged space in the LL“ (2016: 403) und geht in seinem Text sogar kurz auf Graffitis ein (2016: 397), er stellt allerdings keinen Zusammenhang zwischen diesen beiden Themen her. So ist zwar zu lesen, dass Graffitis zur Linguistic Landscape zählen (PUZEY2016: 397), paradoxerweise wird in einem Handbuch der Namenforschung jedoch nicht darauf hingewiesen, dass es sich bei Graffitis typischerweise um Namen handelt.

Sucht man in den Publikationen anderer wissenschaftlicher Disziplinen nach Informationen zu Graffitinamen, so zeigt sich dort ein ähnliches Bild. Es wird allenfalls am Rande auf sie verwiesen. Dabei haben seit der Entstehung der Graffitiszene in den 60er- und 70er-Jahren verschiedene wissenschaftliche Disziplinen ein Interesse an den Graffitiwerken und auch an den Urhebern entwickelt. Zu nennen sind hier beispielsweise die Ethnologie, Soziologie, Psychologie, die Rechtswissenschaften und auch die Kunstgeschichte.9 Viele Facetten des Graffitiwritings sind hierbei umfassend erforscht worden. Eine systematische Beschreibung und Analyse der Graffitinamen steht allerdings auch außerhalb der Onomastik noch aus.10 Diese Arbeit setzt sich daher zum Ziel, die hier ermittelte Forschungslücke zu schließen und die Graffitinamen als eine „neue“ Namenart in den Blick zu nehmen.

Graffiti ist in der Linguistik generell erst seit einigen Jahren zum Untersuchungsgegenstand geworden. Ein gesteigertes Interesse an diesem urbanen Phänomen entwickelte sich etwa mit der Herausbildung der Schriftbildlichkeitsforschung11 und der Bildlinguistik12 sowie der Linguistic-Landscape-Forschung13. PENNYCOOK musste 2009 in der Linguistic-Landscape-Forschung jedoch zunächst darauf hinweisen, dass Graffitis – in gleichem Maße wie Werbebanner, Leuchtreklamen und Verkehrsschilder – überhaupt einen Bestandteil der Schrift- oder Sprachlandschaft einer Stadt darstellen.

In jüngster Zeit sind in der germanistischen Sprachwissenschaft allerdings gleich zwei Projekte entstanden, die eine systematische Beschäftigung mit Graffiti ermöglichen. Zum einen ist hier das Kooperationsprojekt „Metropolenzeichen: Visuelle Mehrsprachigkeit in der Metropole Ruhr“ der Universität Duisburg-Essen und der Ruhr-Universität Bochum zu nennen. Dabei wurden unter der Leitung von Prof. Dr. Evelyn Ziegler öffentlich sichtbare ortsfeste Zeichen in den Städten Duisburg, Essen, Bochum und Dortmund fotografiert und zu einem 25500 Fotos umfassenden Korpus zusammengestellt (vgl. dazu ZIEGLER2013a, CINDARK UND ZIEGLER2016: 135ff., WACHENDORFF ET AL.2017:158ff.).14

Das zweite große Projekt, das sich die Erforschung von Graffiti zur Aufgabe gemacht hat, ist das „Informationssystem Graffiti in Deutschland“ (INGRID). Es handelt sich hierbei um ein interdisziplinäres Kooperationsprojekt der Universität Paderborn (Germanistische Sprachwissenschaft, Leitung Prof. Dr. Doris Tophinke) und des Karlsruher Instituts für Technologie (Kunstgeschichte, Leitung Prof. Dr. Martin Papenbrock), das von der DFG gefördert wird. Das Ziel von INGRID ist der Aufbau einer umfassenden Datenbank, mit der Graffiti systematisch wissenschaftlich erforscht werden kann. Im Rahmen von INGRID erfolgte auch die Forschung, die dieser Arbeit zugrunde liegt, weshalb eine konkrete Beschreibung des Projekts mit Informationen zur Laufzeit, Datengrundlage und Zielsetzung in Abschnitt 1.2 anschließt.

Wie bereits angeklungen ist, ist das Thema dieser Arbeit für verschiedene linguistische Teildisziplinen relevant. Es liefert zum einen neue Erkenntnisse für die Linguistic-Landscape-Forschung, weil Graffitinamen einen Teil der schriftsprachlichen Landschaft darstellen. Im Gegensatz zum übrigen Bestand der Linguistic Landscape handelt es sich bei den Namen allerdings nicht um maschinell produzierte, sondern um handschriftliche Formen. Zum anderen – darauf wurde bereits hingewiesen – lässt sich die Erforschung von Graffitinamen im Aufgabenbereich der Onomastik verorten. Noch spezifischer kann das Thema dabei dem Bereich der Sozioonomastik15 zugeordnet werden:

In socio-onomastics, names in society are examined. Socio-onomastics can be defined, put briefly, as a sociolinguistic study of names. Above all, it explores the use and variation of names. The socio-onomastic research method takes into account the social, cultural, and situational fields in which names are used. (AINIALA2016: 371)

Die Erforschung der Graffitinamen stellt ein sozioonomastisches Thema dar, weil die Namen in starkem Maße an eine soziale Gruppe – die Graffitiszene – gebunden sind. Formen und Funktionen der Namen sind daher stets vor diesem sozialen Kontext zu beurteilen, in dem sie verwendet werden.

Das Thema dieser Arbeit leistet im Bereich der Onomastik insbesondere einen Beitrag zur Pseudonymenforschung, denn Graffitinamen können – wie in den nächsten Kapiteln erläutert wird – diesem Typ der inoffiziellen Personennamen16 zugeordnet werden. Im Bereich der inoffiziellen Personennamen, zu dem neben Pseudonymen auch Spitznamen gehören, lässt sich ein genereller Forschungsbedarf konstatieren. In der Spitznamenforschung, in der sich lange Zeit nur einige wenige, ältere Publikationen fanden (vgl. dazu KANY1992, NAUMANN1995), ist in jüngster Zeit allerdings eine zunehmende Forschungstätigkeit zu konstatieren (vgl. dazu EWALD2014, KÜRSCHNER2014, NÜBLING2014, 2017, EWALD UND MÖWS2018, DAMMEL ET AL.2018). Studien zum Thema Pseudonymie beschränken sich hingegen in der Regel auf den Bereich der Internetpseudonymie (vgl. dazu ZIEGLER2004, WOCHELE2012 u.a.).17 Daher merken NÜBLING ET AL. noch 2015 an, dass „[d]ie Motive für die Selbstverleihung von Pseudonymen, deren genaue Wahl sowie der (erhoffte sowie erfolgte) Identitätswechsel […] noch wenig erforscht“ sind (2015: 180). Auch DEBUS stellt in seinem Einführungswerk „Namenkunde und Namengeschichte“ Folgendes fest: „Eine befriedigende umfassende Typologie der Pseudonyme gibt es bisher nicht.“ (2012: 134) Eine Beschreibung und Analyse der Graffitinamen liefert demzufolge auch neue Erkenntnisse für die Pseudonymenforschung.18

Die Beschäftigung mit Graffitinamen ist auch für diejenigen linguistischen Forschungsrichtungen relevant, die sich mit der Materialität bzw. der visuellen Erscheinung der Schrift beschäftigen. Dazu gehören etwa die Multimodalitätsforschung und die Schriftbildlichkeitsforschung. Graffitinamen stellen einen interessanten Gegenstand für diese Forschungsfelder dar, weil sie erstens fast ausschließlich in schriftlicher Form in Erscheinung treten und weil sie – anders als beispielsweise Rufnamen – in der Regel nicht nach euphonischen, sondern nach bildlich-ästhetischen Kriterien ausgewählt werden. Darauf deutet eine Aussage des Graffitiwriters FYE hin, der sich im Szenemagazin „Backspin“ folgendermaßen zu seinem Namen äußert:

Das soll einen dicken Klumpen bilden. Bei den Bildern soll immer alles gefüllt sein. Damit kann man schön groß malen, da dann bei Whole-Cars nur noch wenig Background übrig bleibt. Background ist Luxus (lacht). (FYE in Backspin 86/2007: 69)

Auch weitere Sprüher geben in Interviews mit Szenemagazinen an, ihren Namen anhand der Buchstabenformen ausgesucht zu haben.19 Daraus ergeben sich sowohl für die Namenforschung als auch für die Multimodalitätsforschung bzw. Schriftbildlichkeitsforschung interessante Fragestellungen. Derartige Namen, die in ihrer Bildlichkeit wirken sollen, sind bisher namentheoretisch noch nicht beschrieben worden. So ist für Graffitinamen etwa zu diskutieren, ob Aussagen wie Namen seien „unmeaning mark[s]“, was auf MILL (1843: 43) zurückgeht, oder – wie NÜBLING ET AL. es formulieren – „sie sind ohne Semantik“ (2015: 13, Hervorh. i.O.) überhaupt gültig sind.

Äußerungsformen, in denen die Materialität der Schrift besonders relevant ist, sind stattdessen in anderen linguistischen Forschungsrichtungen untersucht worden, z.B. in der Multimodalitätsforschung. Die Ergebnisse der Multimodalitätsforschung sind bislang jedoch noch nicht speziell auf Namen bezogen worden. Es ist somit zu prüfen, ob sich Erkenntnisse der Multimodalitätsforschung auf Graffitinamen übertragen lassen und die Namen möglicherweise auf anderen Ebenen – z.B. über ihre Schriftbildlichkeit – systematisch Bedeutung kommunizieren. Damit ergeben sich für das Thema dieser Arbeit auch Anknüpfungspunkte an SPITZMÜLLERS Habilitationsschrift „Graphische Variation als soziale Praxis“ (2013), die die sozialen Funktionen graphischer Mittel in den Blick nimmt.

Dass die vorliegende Arbeit im Schnittbereich verschiedener linguistischer Forschungsrichtungen zu verorten ist, zeigt sich auch an der Methodik, die bei der empirischen Untersuchung der Graffitinamen zum Tragen kommt. Methoden wie die Erhebung von Fragebögen, qualitativen Interviews oder „die Methode der offenen oder verdeckten teilnehmenden Beobachtung“, die typische Methoden der soziologisch orientierten Onomastik darstellen (DEBUS1995: 347), werden in der vorliegenden Arbeit nicht angewandt.20 Im Rahmen dieser Studie erfolgt somit – wie im Folgenden noch begründet wird – keine Befragung einzelner Sprüher zu den Motiven ihrer Namenwahl oder zu den Kontexten, in denen sie ihre Namen verwenden. Stattdessen wird der Name selbst in seinen (schrift-)sprachlichen und (schrift-)bildlichen Eigenschaften sowie in seiner Platzierung im öffentlichen Raum in den Blick genommen.21

Die Zusammenstellung des Korpus erfolgt über die „technique of photographic data collection“, die eine typische Herangehensweise der Linguistic-Landscape-Forschung darstellt (PUZEY2016: 398).22 Die Daten wurden bei dieser Untersuchung allerdings nicht selbst erhoben, sondern es wurde ein bereits existierender Datenbestand für die wissenschaftliche Erforschung der Graffitinamen genutzt. Bei der Auswertung der Daten werden ferner (auch) typische Methoden der Onomastik wie „die Analyse des formalen Baus der Namen“ und die „Klassifikation der Namen (nach verschiedenen Gesichtspunkten)“ (BLANÁR2004: 159) angewandt.

Abb. 2: Das Thema dieser Arbeit im Schnittbereich der Teildisziplinen

Das Thema „Namen im Graffiti“ betrifft somit sowohl inhaltlich als auch methodisch verschiedene linguistische Forschungsbereiche. Wie Abb. 2 zusammenfasst, ist es in der Linguistic-Landscape-Forschung, der Namenforschung und der Multimodalitäts- bzw. Schriftbildlichkeitsforschung zu verorten. Des Weiteren lässt sich aus den bisherigen Ausführungen festhalten, dass für eine Erforschung der Graffitinamen sowohl ein empirischer als auch ein theoretischer Bedarf besteht. Die vorliegende Arbeit macht es sich zum Ziel, die ermittelte Forschungslücke zu schließen und wird dabei von den folgenden Fragestellungen geleitet:

Wie lassen sich Graffitinamen namentheoretisch einordnen? Welche formalen und funktionalen Unterschiede ergeben sich zu anderen Namen- und Pseudonymentypen?

Mit welchem theoretischen Ansatz bzw. Konzept lassen sich die Namen angemessen beschreiben?

Welche (schrift-)sprachlichen und (schrift-)bildlichen Muster bestimmen die Graffitinamen und welche Funktionen kennzeichnen sie?

Um diese Fragen zu beantworten, wird in Kapitel 2 zunächst das Phänomen Graffiti beschrieben. Dabei werden auch Informationen zum soziokulturellen Kontext der deutschen Graffitiszene zusammengestellt, denn im Rahmen einer sozioonomastischen Studie werden Namen – wie bereits erläutert – vor der Folie ihres sozialen, kulturellen und situativen Kontextes betrachtet. An dieser Stelle sei bereits darauf hingewiesen, dass Theorie und Empirie dabei nicht immer strikt getrennt werden können: Sowohl in Kapitel 2 als auch in den folgenden Kapiteln werden bereits Fallbeispiele aus dem Korpus, das der empirischen Untersuchung zugrunde liegt, einbezogen.

In Kapitel 3 wird das Grundlagenwissen der Onomastik zusammengefasst, auf das bei der namentheoretischen Verortung der Graffitinamen zurückgegriffen wird. Es schließt ein Kapitel zu Pseudonymen an, das aufzeigt, wie Pseudonyme im System der Namen zu verorten sind und auf welche Beobachtungsschwerpunkte sich die bisherige Pseudonymenforschung konzentrierte (Kapitel 4).

Im 5. Kapitel wird herausgearbeitet, worin die allgemeine Spezifik der Graffitipseudonyme besteht, um anschließend – an dieser Spezifik ausgerichtet – einen theoretischen Rahmen auszuwählen, der eine angemessene Beschreibung der Namen ermöglicht. Es kann bereits vorweggenommen werden, dass sich hier als wichtig erweisen wird, einen erweiterten Bedeutungsbegriff zugrunde zu legen: Neben den Bedeutungen, die sich aus der Schriftsprachlichkeit der Namen ergeben, gilt es auch andere Möglichkeiten der Bedeutungsgenerierung zu berücksichtigen.

Den Bedeutungen, die sich aus der Schriftbildlichkeit ergeben, widmet sich anschließend Kapitel 6. In diesem wird erläutert, wie der Phänomenbereich der Bildlichkeit der Schrift in der bisherigen Forschung abgesteckt worden ist. Darüber hinaus werden verschiedene Ansätze dazu vorgestellt und diskutiert, wie Typographie bzw. die Schriftbildlichkeit überhaupt Bedeutung generieren kann.

Kapitel 7 umfasst die empirische Untersuchung der Graffitinamen. Es beinhaltet eine ausführliche Erläuterung des Korpus, der Methodik und der Ergebnisse. Die Ergebnisse werden in zwei separaten Teilkapiteln (7.4 und 7.5) dargestellt, da die linienförmig gestalteten Namen, die in der Graffitiszene als Tags23 bezeichnet werden, und die flächig gestalteten Namen, die Pieces, separat voneinander in den Blick genommen werden. Die Ergebnisse der Untersuchung der Tags bestehen insbesondere in der Beschreibung und Analyse der (schrift-)bildlichen und (schrift-)sprachlichen Muster, die sich in den Mannheimer Graffitipseudonymen aufdecken ließen. Da der Graffitiname in den Pieces typischerweise von anderen Einheiten umgeben ist und mit diesen komplexere Kompositionen bildet, liefert die Untersuchung der Pieces in erster Linie Erkenntnisse zu den Formen und Funktionen der verschiedenen Einheiten, aus denen die Kompositionen bestehen können.

1.2Forschungsgegenstand

Die Datenbasis dieser Untersuchung bilden Aufnahmen von Graffitis aus Mannheim. Im Fokus stehen dabei die Formen, die dem modernen Szenegraffiti zugeschrieben werden können (vgl. dazu Kapitel 2). Es werden damit weder rein bildliche Werke in den Blick genommen, wie sie etwa im Bereich der Street-Art zu finden sind, noch politische Sprüche und Parolen, die sich ebenfalls im öffentlichen Raum in Mannheim finden lassen und dementsprechend auch auf dem Bildmaterial zu sehen sind. Stattdessen geht es um diejenigen Formen, die sich durch ihre besonderen bildlichen und schriftlichen Eigenschaften als Szenegraffitis zu erkennen geben.

Die oben formulierten Fragestellungen werden anhand eines datenbankbasierten Korpus beantwortet, das aus Fotografien von Szenegraffitis und den entsprechenden Annotationen besteht. Das Korpus ist Teil der DFG-geförderten Forschungsdatenbank INGRID („Informationssystem Graffiti in Deutschland“), die derzeit an der Universität Paderborn und dem Karlsruher Institut für Technologie (KIT) aufgebaut wird (vgl. zu INGRIDPAPENBROCK UND TOPHINKE2018).

Graffiti stellt ein für die Wissenschaft relevantes Thema dar, weil es einen konstanten Bestandteil unserer kulturellen Wirklichkeit darstellt. Die gesprühten Schriftbilder finden sich nicht nur in nahezu jeder europäischen Großstadt, sondern sie sind auch durch ihre anhaltende Präsenz in den Medien, in der Werbung und sogar im politischen Wahlkampf zu einem festen Bestandteil des kulturellen Alltags geworden (PAPENBROCK2015: 173f.). MAI formuliert daher treffend: „Writing is culture.“ (2005: 14) Als kulturelle Erzeugnisse einer bestimmten Zeit geben Graffitis Einblicke in soziale Gruppen, deren Strukturen und Aktionsräume, die für diese Gruppen relevanten Themen, den Umgang mit Schriftlichkeit im öffentlichen Raum und vieles mehr.

Um Graffitis als Forschungsgegenstand nutzen zu können, müssen sie jedoch in großem Umfang und über einen längeren Zeitraum erhoben und für die wissenschaftliche Erforschung aufbereitet werden (PAPENBROCK2015: 182f.). Wissenschaftler, die Graffitis systematisch erforschen wollten, sahen sich dabei bislang jedoch mit einigen Herausforderungen konfrontiert. Ein größeres Datenkorpus selbst zu erstellen, ist für Einzelpersonen schwierig, weil für die Korpusgenerierung in der Regel nur begrenzte zeitliche Ressourcen zur Verfügung stehen. Da Graffitis nicht dauerhaft bestehen, ist es darüber hinaus problematisch, Bestände mit einer zeitlichen Tiefe zusammenzustellen. Auch der Rückgriff auf bereits bestehende Bildbestände, die es überwiegend abseits der universitären Forschung gibt, bietet immer noch keine wirkliche Alternative. Größere Graffiti-Bildbestände finden sich beispielsweise auf Internetseiten der Szene (z.B. auf Instagram, Facebook sowie auf Szeneseiten wie ilovegraffiti.de und streetfiles.org1). Diese Bilder sind jedoch aus rechtlichen Gründen nicht für die wissenschaftliche Erforschung von Graffiti geeignet. Problematisch ist zum einen, dass die Bildrechte in der Regel nicht geklärt sind. Zum anderen sind die Aufnahmen oft nicht nach wissenschaftlichen Standards bearbeitet, d.h., es liegen keine Informationen zum Fotografen, zum Aufnahmeort und zum Aufnahmedatum vor. Auch Sammlungen von Privatpersonen, z.B. die des Ethnologen Peter Kreuzer (München) oder die des Psychologen Norbert Siegl (Wien), waren bislang nicht für eine wissenschaftliche Erforschung von Graffitis geeignet. Das Problem besteht hierbei darin, dass die Bilder entweder nicht digitalisiert und verschlagwortet und/oder für wissenschaftliche Zwecke nicht frei zugänglich sind.2

Die Bildbestände in INGRID weisen demgegenüber den Vorteil auf, dass die Bildrechte geklärt sind und die Aufnahmen (Primärdaten) mit den entsprechenden Metadaten versehen sind, was für eine wissenschaftliche Beschäftigung mit Graffitis von entscheidender Bedeutung ist. Zu jedem Foto liegen Informationen zum Aufnahmedatum und -ort sowie zum Urheber vor.

INGRID umfasst derzeit Bestände von mehr als 150000 Bildern mit Graffitis aus den Jahren 1983 bis 2016, die im Rahmen des Projekts digitalisiert und nach sprachlichen und bildlichen Kriterien verschlagwortet werden.3 Die aktuell größten Bestände stammen aus den Städten Mannheim, München und Köln. Es handelt sich dabei um Aufnahmen von Ermittlungsgruppen der Polizei Mannheim, der Polizei Köln und der Koordinierungsgruppe Graffiti München. Die Fotografien der Polizei Mannheim bilden die Datenbasis dieser Arbeit. Auch die „Sammlung Kreuzer“ aus dem Stadtarchiv München stellt einen wichtigen Teilbestand der Datenbank dar.4 Durch die große mediale Aufmerksamkeit, die INGRID zum Projektstart erfahren hat, haben sich darüber hinaus Kontakte zu weiteren Initiativen und Privatpersonen ergeben, die ihre Bestände zur Verfügung stellen möchten. Der Bestand der Datenbank wird somit sukzessive erweitert.

Für die Erforschung von Graffiti ergeben sich aus dieser umfassenden Datengrundlage vielfältige Möglichkeiten. Es bieten sich synchrone Untersuchungen an, mit denen Themen wie die besondere Schriftbildlichkeit, Grammatikalität und die stadträumliche Verteilung von Graffitis erforscht werden können. INGRID ermöglicht durch die zeitliche Tiefe der Bestände aber auch diachrone Untersuchungen, in deren Rahmen sich beispielsweise Erkenntnisse zur Entstehung und zur Entwicklung der Graffitiszene gewinnen lassen.5 Da sich das Material der Polizei Mannheim, das der vorliegenden Arbeit zugrunde liegt, zu einem Großteil aus Namen zusammensetzt (vgl. dazu Abschnitt 7.1), ist es auch vornehmlich für eine Erforschung von Graffitinamen geeignet.

Graffitipseudonyme werden in dieser Arbeit primär qualitativ erforscht, wobei auch quantitative Ansätze integriert sind (vgl. dazu Abschnitt 7.2). Die Fotografien wurden zu diesem Zweck mit Annotationen versehen und die Graffitipseudonyme in einem nächsten Schritt nach bestimmten Kriterien sortiert. Da das Korpus als Teil von INGRID auch nach Abschluss der Untersuchung für weitere Forschungsprojekte zur Verfügung steht, wird zudem einer Forderung von BLANÁR gefolgt, der 2004 formuliert, dass „[d]ie Erstellung von Datenbanken […] eine aktuelle Aufgabe der gegenwärtigen Onomastik“ ist (BLANÁR2004: 162).6

1.3Forschungsstand

Der folgende Überblick zum Forschungsstand gliedert sich in drei Teile. Diese Einteilung wurde gewählt, da es sich bei Graffiti bzw. Graffitinamen nicht um einen „klassischen“ Untersuchungsgegenstand der Linguistik handelt und die wissenschaftliche Erforschung von Graffiti bereits einsetzt, lange bevor sich die Linguistik für diesen Phänomenbereich interessiert. Es bietet sich daher an, zunächst die Forschung zu Graffiti im Allgemeinen zu beleuchten und die linguistische Forschung anschließend in einem separaten Teilkapitel darzustellen. Dieses Vorgehen begründet sich auch dadurch, dass in linguistischen Publikationen oft auf Ergebnisse aus Disziplinen wie Ethnologie und Soziologie zurückgegriffen wird, wenn es um die Beschreibung von Mitgliedern, Praktiken und Sinnschemata der Szene geht.

Da es in dieser Arbeit um einen speziellen Typ des Graffitis, den Graffitinamen, geht, schließt zudem ein Teilkapitel an, das den Forschungsstand der Onomastik beleuchtet. Dabei geht es insbesondere um die bisherige Forschung zu Pseudonymen, weil es sich dabei um die Namenklasse handelt, der die Graffitinamen zugeordnet werden können (vgl. dazu Kapitel 5).

1.3.1Graffiti als Forschungsgegenstand

Die Erforschung von Graffiti stellt ein relativ junges Forschungsgebiet dar, weil sich der Gegenstand selbst – das moderne Szenegraffiti – erst vor 50 bis 60 Jahren in den USA entwickelt hat. Zwar taucht die Bezeichnung Graffiti auch schon in früheren Publikationen auf, sie bezieht sich dabei jedoch nicht auf das Szenegraffiti, sondern auf andere Formen, die mitunter unter der Bezeichnung Graffiti zusammengefasst werden.1

Erste Publikationen zum Szenegraffiti entstehen Ende der 60er-Jahre. Nimmt man diese frühen Veröffentlichungen in den Blick, so zeigt sich, dass sich die Autoren zunächst auf eine Beschreibung des Phänomens Graffiti konzentrieren. In dem Aufsatz „Names, Graffiti and Culture“ (1969) – einer der ersten Publikationen zum Szenegraffiti – schildert der New Yorker Erzieher Herbert Kohl, wie er 1967 durch einen Schüler auf die Praktik aufmerksam wird, einen selbstgewählten Spitznamen an die Wände in der Nachbarschaft zu schreiben. Dieser schrieb fleißig „Bolita“, span. für ,kleiner Ball‘, an die Wände seines Viertels, obwohl er selbst kaum lesen und schreiben konnte (KOHL1969: 26). Wie SNYDER später schreibt, hatte der Erzieher Kohl damit unbewusst „the beginnings of writing culture in New York City“ dokumentiert (2009: 23).

Die Intention dieser ersten Publikationen besteht zunächst darin, auf das Graffitiwriting als eine für Jugendliche sinnstiftende Tätigkeit aufmerksam zu machen.2 Dabei wird das Szenegraffiti auch von Anfang an mit anderen kulturellen Praktiken verglichen. KOHL weist beispielsweise darauf hin, dass die Wahl eines neuen Namens in der Geschichte verschiedener Religionen verankert sei und der neue Name symbolisch für das neue Leben stehe (1969: 31). Diese Vergleiche zielen einerseits darauf ab, die Beschäftigung mit Graffiti zu rechtfertigen. Andererseits geht es aber auch darum, das Graffitiherstellen als eine Praktik zu beschreiben, die nicht völlig isoliert zu sehen ist, sondern in Relation zu anderen Praktiken steht.

Als besonders einflussreich gilt der 1973 erschienene Text-Bild-Band „The Faith of Graffiti“ von NORMAN ET AL., in dem die Werke und die Akteure der New Yorker Szene abgebildet und beschrieben werden. Im gleichnamigen Essay, der in diesem Band enthalten ist, wird Graffiti ebenfalls mit etablierten Kulturtechniken verglichen. MAILER stellt die Sprüher dabei in eine Traditionslinie mit den Malern der Renaissance-Fresken (1973 o.S.) und betont damit den Stellenwert von Graffiti als Kunst. Dieses Argumentationsmuster, bei dem das Szenegraffiti in eine Traditionslinie mit weiteren Formen der Wandbeschriftung aus verschiedenen Zeiten gestellt wird, findet sich bis heute in der Graffitiforschung.

Eine andere Perspektive auf Graffiti nimmt der Aufsatz „Kool Killer ou l’insurrection par les signes“ (auf Dt. „Kool Killer oder Der Aufstand der Zeichen“) des französischen Soziologen BAUDRILLARD ein. Diese im französischen Original 1975 erschienene Publikation hat viel Aufmerksamkeit erfahren und ist in der Graffitiforschung häufig diskutiert worden.3BAUDRILLARD perspektiviert Graffitis nicht als Kunst, sondern als revolutionäre Zeichen, die „keinen Inhalt, keine Botschaft haben“ und sich dadurch jeglicher Deutung entziehen, die Ordnung des öffentlichen Raums jedoch durch ebendiese Inhaltslosigkeit zerstören würden (1978: 29). Durch diese Interpretation der Graffitis als revolutionäre, aber bedeutungsleere Zeichen wird ihnen die künstlerische Bedeutung weitestgehend abgesprochen. Allerdings lenkt BAUDRILLARDS Aufsatz „den Blick auf die sozialen und politischen Hintergründe des New Yorker Graffiti und auf die Großstadt als Ort sozialer Konflikte“ (PAPENBROCK UND TOPHINKE2016: 97).

In den 80er-Jahren folgen erste empirische Arbeiten zum Szenegraffiti. Damit rückt die Graffitiszene selbst, d.h. die Akteure, stärker in den Fokus. Hier ist zunächst die ethnographisch angelegte Studie „Getting Up: Subway Graffiti in New York“ (1982) des New Yorker Kulturanthropologen CASTLEMAN zu nennen, die einen großen Einfluss auf die Szene und auch die Graffitiforschung hat. CASTLEMAN arbeitet interviewbasiert und gewährt mit seinem Werk tiefe Einblicke in die Motive und Strukturen der frühen New Yorker Graffitiszene. Die Studie wird daher auch als Graffiti-„Standardwerk[…]“ bezeichnet (VAN TREECK2001: 67). Zu den frühen wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit dem Szenegraffiti ist außerdem die soziologische Studie „Graffiti as Career and Ideology“ von LACHMANN (1988) zu zählen. LACHMANN fertigt Interviews mit 25 Akteuren an und liefert mit seinem Aufsatz ebenfalls erste Informationen zu den Motivationen der Sprüher sowie zu den Praktiken und Strukturen der Szene.

Als einflussreiche Publikationen sind darüber hinaus auch die Graffiti-Fotobücher „Subway Art“ von COOPER UND CHALFANT (1984) und – etwas später veröffentlicht – „Spraycan Art“ von CHALFANT UND PRIGOFF (1987) zu nennen, die auf eine umfangreiche Dokumentation der Szeneaktivitäten abzielen. COOPER UND CHALFANT sowie CHALFANT UND PRIGOFF beschreiben beispielsweise die Entstehung der Szene, stellen ihre Sinnschemata und das Vokabular der Szene vor. Darüber hinaus liefern diese beiden Fotobücher das Bildmaterial, mit dem Graffiti in der ganzen Welt bekannt wird. In der Szene wurden „Subway Art“ und „Spraycan Art“ so populär, dass sie als „Bibel[n] der Sprüher“ bezeichnet werden (VAN TREECK2001: 48).

In Deutschland setzt die wissenschaftliche Beschäftigung mit Graffiti Mitte der 70er-Jahre ein – und damit zu einer Zeit, in der das Szenegraffiti in deutschen Städten noch gar nicht angekommen ist.4 Inspiriert durch die amerikanischen Autoren und bedingt durch das Medieninteresse an der strafrechtlichen Verfolgung des Schweizer Sprayers Harald Naegeli entstehen bereits ab 1975 erste Publikationen, die primär wissenschaftlichen Disziplinen wie der Kunst- und Kulturwissenschaft zugeschrieben werden können.5 Zu nennen sind hier etwa HAUBENSAKS Artikel „Graffiti als Herausforderung“ (1975), VERSPOHLS Essay „Mene mene tekel peres“ (1980) und GRASSKAMPS Ausgabe zum Thema „Graffiti und Wandbilder“ in der kunstwissenschaftlichen Zeitschrift „Kunstform International“ (1982). MÜLLER veröffentlicht 1985 einen wissenschaftlichen Sammelband mit dem Titel „Graffiti“, in dem es primär um Wandinschriften aller Art (z.B. auch um Toilettengraffitis), aber auch bereits um das amerikanische Szenegraffiti geht.

Am Rande sei hier bemerkt, dass HAUBENSAK in seinem Aufsatz von 1975 interessanterweise bereits auf die große Bedeutung der Namen im amerikanischen Szenegraffiti aufmerksam macht:

Sie schreiben ihre Namen auf die Wände, meistens Spitznamen oder Pseudonyme […] und fügen Zahlen oder Codes hinzu, welche sich auf ihre Strassen und Hausnummern oder Schulklassen beziehen. In der ganzen Stadt warten Hunderte von Jugendlichen, beladen mit Spraydosenfarben, um irgendwo eine Wand mit ihrem Namen zu bemalen: „Hit the wall with your name“ ist der Schlachtruf, und im Ghetto heisst „schlagen“: zu Fall bringen. (HAUBENSAK1975: 575)

Von Graffitis in Deutschland, die in eine Szene eingebunden sind, ist in diesen Publikationen allerdings noch nichts zu lesen. Auch WELZ bezieht sich 1984 in ihrem Aufsatz „Die wilden Bilder von New York City“ noch ausschließlich auf ihre Beobachtungen während eines Auslandaufenthaltes in den USA.6

Erste Publikationen, in denen über die Anfänge des Szenegraffitis in Deutschland berichtet wird, entstehen Ende der 80er-Jahre. Hier ist beispielsweise auf die Werke des Kunsthistorikers STAHL (1989, 1990, 2012) zu verweisen, der beschreibt, wie sich in vielen europäischen Städten „Jugendliche mit den Helden des New Yorker Untergrunds identifizier[en]“ und deren Praktiken, Ausdrucksformen und deren Vokabular übernehmen (1989: 90). Ab Mitte der 80er-Jahre – und damit mit Herausbildung der deutschen Szene – geraten auch zunehmend die Akteure mit ihren sozialen Kontexten in den Blick der deutschsprachigen Graffitiforschung. Es entstehen überblicksartige Werke, die Einblicke in Vokabular, Tätigkeiten und Hierarchien der Szene geben. Zu nennen sind hier „Das Graffiti-Lexikon“ des Ethnologen KREUZER (1986) und das „Graffiti Lexikon“ des Sozialpädagogen VAN TREECK (1993).7

In diesem Zeitraum entstehen auch Werke aus der Szene heraus, d.h., Writer beschreiben die Szene in eigenen Publikationen, in denen sie ihre Erfahrungen schildern und privates Bildmaterial präsentieren. In diesem Zusammenhang sind etwa KARL (1986) und die seit 1994 beim Verlag Schwarzkopf & Schwarzkopf erschienene Buchreihe „Graffiti-Art“8 zu nennen. Die Autobiographie des Berliner Writers ODEM ([1997], 2008) zeugt ebenfalls von dem Interesse, die Graffitiszene möglichst authentisch, d.h. durch Mitglieder der Szene, zu beschreiben.

Zudem erscheinen verschiedene soziologische und sozialpädagogische Studien mit zum Teil sehr spezifischen Fragestellungen, in denen die Einstellungen der Akteure zu unterschiedlichen Themen untersucht werden (zur deutschen Szene vgl. z.B. SCHMITT UND IRION2001, SACKMANN ET AL. (Hg.) 2009, zur amerikanischen Szene MACDONALD2001, RAHN2002, SNYDER2009). Die Ergebnisse dieser Studien basieren typischerweise auf qualitativen Interviews.

In den 90er-Jahren lässt sich eine zunehmende kunstwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema Graffiti beobachten. Im gleichen Zeitraum bildet sich auch die Street-Art aus der Graffitiszene heraus, deren Akteure stärker bildorientiert arbeiten und mit Papierschnitten, Stencils (mittels Schablonen gefertigte Werke) und Figuren auch neue, eigene Formen hervorbringen. Im Verlauf dieser Entwicklung werden Graffitis verstärkt in kunstwissenschaftlichen Abhandlungen berücksichtigt und dabei häufig zusammen mit Street-Art-Werken in den Blick genommen (vgl. dazu GOTTLIEB2008, WACŁAWEK [2011], 2012, REINECKE2012).

Auch in anderen wissenschaftlichen Disziplinen findet eine Beschäftigung mit dem Phänomen Graffiti statt, z.B. im Bereich der Medienwissenschaft (vgl. dazu DITTMAR2009), der Psychologie (vgl. dazu RHEINBERG UND MANIG2003), der Rechts- und Kriminalwissenschaft (vgl. dazu BEHFOROUZI2006, JEREMIAS2010) und der Politikwissenschaft (vgl. dazu KLEE (Hg.) 2010). Die Perspektiven auf Graffiti unterscheiden sich dabei stark; im Bereich der Rechts-, Kriminal- und Politikwissenschaft wird Graffitiwriting beispielsweise primär als delinquentes Verhalten perspektiviert.

1.3.2Graffiti als Forschungsgegenstand der Linguistik

Es gibt bislang erst einige wenige Untersuchungen, die Graffitis aus einer (schrift-)linguistischen Perspektive in den Blick nehmen. Das liegt zum einen daran, dass das Interesse der Schriftlichkeitsforschung lange Zeit primär den Formen ausgebauter Schriftlichkeit, also konzeptioneller Schriftlichkeit, galt (PAPENBROCK UND TOPHINKE2016: 101). Graffitis zeichnen sich jedoch gerade dadurch aus, Formen minimaler Schriftlichkeit zu sein, d.h., sie bestehen oft nur aus einzelnen Wörtern oder Phrasen und bleiben auch in ihrer Bedeutung mitunter rätselhaft (TOPHINKE2017: 161ff.). Als solche minimalen Formen standen sie zunächst weniger im Fokus der linguistischen Forschung. Zum anderen ist die relativ späte Beschäftigung mit Graffiti auch so zu begründen, dass die (Schrift-)Linguistik stärker an normgetreuen Formen der Schriftlichkeit orientiert war. Normabweichende Schreibungen, wie sie im Graffiti häufig zu finden sind, gerieten kaum in den Blick, was sicherlich auch im „stark normativ geprägten Verständnis von Schriftlichkeit begründet [liegt], das sich in schreibdidaktischen Zusammenhängen vermittelt“ (SCHUSTER UND TOPHINKE2012a: 14).1

Darüber hinaus stellten Graffitis auch aufgrund ihrer besonderen bildlichen Gestaltung ein „Randphänomen“ der Linguistik dar (PAPENBROCK UND TOPHINKE2012: 181). Wie PAPENBROCK UND TOPHINKE schreiben, bildeten Graffitis für die Linguistik aufgrund ihres „bildhaften Charakters“ einen eher untypischen Gegenstand (2012: 181). Die visuelle Erscheinung von Schrift wurde bis vor wenigen Jahren nicht als relevanter Forschungsgegenstand der Linguistik betrachtet.2 Erst im Zuge der Erkenntnis, dass Schrift weitaus mehr leistet, als mündliche Sprache aufzuzeichnen, fand auch die visuelle Seite der Graphie zunehmend Berücksichtigung.3

Um die linguistische Beschäftigung mit dem Phänomen Graffiti möglichst systematisch darzustellen, werden im folgenden Abschnitt einige wichtige Publikationen chronologisch vorgestellt und diskutiert.

Erste linguistische Publikationen, die sich mit Graffiti im weitesten Sinn auseinandersetzen, erscheinen in den 80er-Jahren.4 In diesen frühen Veröffentlichungen werden Graffitis häufig als informelle, jugendsprachliche Äußerungen perspektiviert. BLUME (1980, 1981) untersucht Graffitis etwa als „schriftliche sprachliche Äußerungen auf Tischen, Stühlen, Wänden und Türen von Klassenzimmern“ und gliedert diese Äußerungen anschließend nach syntaktischen und semantischen Typen (1980: 173). NEUMANN fasst in ihrer Dissertation 1986 Gaunerzinken, Tramperspuren und weitere Zeichen an der Wand als Graffitis auf und stellt den oppositionellen Anspruch dieser Zeichen heraus. Sie deutet diese Zeichen als „Widerstand gegen standardisierte Kommunikation“ und als „Aufstand der Normalsprache“ (NEUMANN1986: 270). NEUMANN nimmt in dieser Arbeit auch eine sprachwissenschaftlich orientierte Kategorisierung der Graffitis vor und legt dabei bereits eine Kategorie mit „Namen und Pseudonyme[n]“ an (1986: 91ff.). Auf der Grundlage einzelner Beispiele aus ihrem Korpus stellt sie fest, dass die Namen „einen grafischen Überschuß“ haben und sich mit Ornamenten und Pfeilen zu „Buchstabenfiguren“ zusammensetzen (NEUMANN1986: 100).

SCHMIEDEL ET AL., die Graffiti 1998 ebenfalls als jugendkulturelles Phänomen betrachten, stellen bereits das Szenegraffiti in den Fokus ihrer Betrachtung. Sie werten dabei 261 Fotografien, ein Blackbook5 und qualitative Interviews aus der Osnabrücker Szene aus und zeigen auf, anhand welcher Kategorien Graffitis von den Akteuren beschrieben und bewertet werden.

Eine andere Perspektive auf Graffitis eröffnet sich mit der Entwicklung der Linguistic-Landscape-Forschung. In dieser Forschungsrichtung, die in Kapitel 2 noch genauer beschrieben wird, geht es um die Betextung des öffentlichen Raums und darum, welche Formen von Schriftlichkeit sich in einem bestimmten geographischen Raum finden, welche Sprachen vertreten sind, wo die Schrift platziert ist etc. Da es sich bei Graffitis um Schriftformen im öffentlichen Raum handelt, rücken sie in den Fokus der LL-Forschung. Im Rahmen dieser Forschungsrichtung nimmt sich zunächst PENNYCOOK (2009, 2010) des Themas an. Er betont, dass Graffitis nicht nur im urbanen Raum angebracht werden, sondern diesen wesentlich mit konstruieren: „Landscapes are not mere backdrops on which texts and images are drawn but are spaces that are imagined and invented.“ (PENNYCOOK2009: 309f.) In dieser Perspektive wird auch der räumlich-situative Kontext bei der Betrachtung der Graffitis relevant (PENNYCOOK2010: 143).6 Weitere Publikationen, die das Thema Graffiti betreffen und der LL-Forschung zugeordnet werden können, stammen von KAPPES (2014), SCHMITZ UND ZIEGLER (2016) und WACHENDORFF ET AL. (2017).

Zum Gegenstand sprachwissenschaftlicher Betrachtung werden Graffitis auch als Formen des „Andersschreibens“ (SCHUSTER UND TOPHINKE (Hg.) 2012b). SEBBA (2003, 2007, 2009) geht beispielsweise in verschiedenen Publikationen auf Graffitis ein, um aufzuzeigen, dass orthographische Abweichungen als Mittel genutzt werden, mit dem sich soziale Gruppen konstituieren und von anderen Gruppen abgrenzen (2007: 168). Er versteht Graffiti dabei als „one of the few types of very public writing where no spelling is imposed; writers are free to flout all norms or to develop their own new ones“ (SEBBA2003: 161). Auch JØRGENSEN (2007, 2008) perspektiviert Graffitis als besondere Schreibungen. Er hebt insbesondere den kreativen Umgang der Writer mit verschiedenen Sprachen hervor. Graffitis sind in diesem Sinne Andersschreibungen, weil verschiedene Sprachen in einem Satz oder auch in einem Wort kombiniert werden. JØRGENSEN bezeichnet dieses Phänomen als „languaging“ (2007: 165).

Graffitis sind in den letzten Jahren auch vermehrt in ihrer besonderen Bildlichkeit, also ihrer Verbindung aus schriftlichen und bildlichen Elementen, wahrgenommen worden, z.B. bei MEIER (2007), METTEN (2011), PAPENBROCK UND TOPHINKE (2012, 2014, 2016) und TOPHINKE (2016, 2017). Sie werden dabei als „Formen des Andersschreibens im Schnittbereich von Schrift und Kunst“ (PAPENBROCK UND TOPHINKE2012: 179) betrachtet und die besondere Wirkung, die sich aus dem Zusammenspiel schriftlicher und bildlicher Eigenschaften ergibt, beschrieben. Diese Perspektive auf Graffitis bildet sich im Rahmen eines zunehmenden Interesses der Linguistik an den bildlichen Eigenschaften der Schrift heraus. Mit der Beobachtung, dass die Gestaltung bzw. die Bildlichkeit eines Textes dessen Interpretation beeinflussen kann, Schriftgestaltung also durchaus über ein Bedeutungspotenzial verfügt, rückten auch Graffitis in das Blickfeld der Forschung.

TOPHINKE (2016) nimmt Graffitis außerdem in einer praxistheoretischen Perspektive in den Blick. Sie zeigt auf, dass das Herstellen von Graffitis eine sozial fundierte Praktik ist und die Graffitis selbst als Artefakte dieser Praktik betrachtet werden können. Durch diese Perspektive zeigt sich, dass sich viele Merkmale der Graffitis aus den sozialen und körperlich-handwerklichen Bedingungen ihrer Herstellung ergeben. Als Schriftlichkeit, die an eine soziale Gruppe und an eine Praktik gebunden ist, werden Graffitis auch in den Aufsätzen von PAPENBROCK, RADTKE und WACHENDORFF ET AL. betrachtet, die im Sammelband „Graffiti: Deutschsprachige Auf- und Inschriften in sprach- und literaturwissenschaftlicher Perspektive“ (2017) erschienen sind.

Zuletzt sind Graffitis auch in ihrer besonderen, minimalen Grammatik in den Blick geraten (vgl. dazu TOPHINKE2017 und TOPHINKE im Erscheinen). Dies knüpft an Überlegungen von HENNIG an, die in ihrem Aufsatz „Grammatik multicodal“ Schriftlichkeit auf Schildern in den Blick nimmt und feststellt, dass bei der Beschreibung dieser Schriftlichkeit „ein Grammatikbegriff benötigt wird, der sich nicht auf die verbale Codierung beschränkt“ und stattdessen die Interaktion der Schriftsprachlichkeit mit weiteren Zeichensystemen berücksichtigt (2010: 74). TOPHINKE stellt in ihrem Aufsatz „Minimalismus als Konzept“ (2017) heraus, dass bei Formen minimaler Schriftlichkeit, zu denen auch Graffitis gehören, ebenfalls verschiedene Ressourcen (wie die lexikalische Bedeutungen, die schriftbildlichen Eigenschaften und die Platzierung) zusammenwirken (164f.). Im Aufsatz „Graffiti-Writings als Kommunikate des Urbanen“ (2019) thematisiert TOPHINKE gezielt die Wirkungen, die sich aus den schriftbildlichen Eigenschaften der Graffitis ergeben.

1.3.3Pseudonyme als Forschungsgegenstand der Onomastik

Pseudonyme sind „eine Untergruppe der Personennamen (Anthroponyme) und […] damit in erster Linie Untersuchungsgegenstand der Onomastik“ (GLÄSER2009: 503, Hervorh. i.O.). Die Onomastik nimmt Pseudonyme jedoch erst vergleichsweise spät, etwa seit den 70er-Jahren, in den Blick. Andere Disziplinen wie zum Beispiel die Theologie, Philosophie, Philologie, Literaturwissenschaft und die Rechtswissenschaft entwickeln bereits weitaus früher ein wissenschaftliches Interesse an den „falschen Namen“, was sich mit der zunehmenden Bedeutung von Autorenschaft und Bibliographien erklären lässt (ALEKSIEJUK2016: 444f.). Bei ALEKSIEJUK ist in einem kurzen Überblick zur Pseudonymenforschung zu lesen, dass der Beginn der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Anonymen und Pseudonymen oft auf das Erscheinen der Monographie „De nominum mutatione et anonymis scriptoribus“ im Jahr 1669 datiert wird (ALEKSIEJUK2016: 445). In dieser Publikation diskutiert der deutsche Rechtswissenschaftler GEISSLER rechtliche und historische Aspekte des Namenwechsels.1

Das Interesse der Onomastik lag seit ihrer Entstehung als wissenschaftlich fundierte Namenkunde zu Beginn des 19. Jahrhunderts lange Zeit primär auf Personennamen und Ortsnamen.2 Das Forschungsinteresse bezog sich dabei insbesondere auf die etymologische Bedeutung von Namen. Erst in den 70er-Jahren wendet sich die Namenforschung zunehmend neuen Themen zu, z.B. den Prinzipien, nach denen die Rufnamenvergabe erfolgt (SEUTTER1996: 9). Damit stehen allerdings nach wie vor Ruf- und Familiennamen im Zentrum der Forschung, während inoffizielle Personennamen wie Spitznamen und Pseudonyme kaum beachtet werden. In der onomastischen Literatur der 70er-Jahre finden sich lediglich einzelne Beiträge, in denen das Thema am Rande erwähnt wird.3 In den 80er- und 90er-Jahren entstehen außerdem umfangreiche Pseudonymenlexika (BARTHEL1986, MOSSMANN1987, WEIGAND1994, EYMER1997). Dies zeugt zwar von einem großen Interesse an den Namen und der Zuordnung zu ihren Trägern, eine umfassende theoretische Beschreibung und eine systematische Untersuchung dieser Namenart findet allerdings nicht statt. SEUTTER konstatierte noch 1996 dass „[z]ahlreiche Gruppen des deutschen Namensystems wie beispielsweise die Pseudonyme […] noch nicht erforscht“ sind (1996: 9).

Dass das Thema Pseudonymie in der linguistischen Namenforschung bislang eine marginale Position einnimmt, zeigt sich auch daran, dass es in wichtigen Referenzwerken der Onomastik kaum Erwähnung findet.4 Im 1995/1996 erschienenen „Handbuch zur Onomastik“ (EICHLER ET AL. (Hg.)) gibt es beispielsweise nur einen ausgewiesenen Beitrag zu Pseudonymen, in dem die rechtlichen Grundlagen beschrieben werden (SCHWENZER UND MENNE1996), sowie ein Aufsatz zu Tarnnamen (KÜHN1995). In anderen Aufsätzen des Handbuches wird diese Namenart nur am Rande aufgegriffen. BAUER, der mit „Deutsche Namenkunde“ 1998 ein umfassendes Werk mit vielen Literaturhinweisen veröffentlicht, erwähnt Pseudonyme nur in einem Satz (54). Auch in den onomastischen Einführungswerken sind nur wenige Informationen zu finden. KOSS (2002: 167–176) weist in seiner Einführung zwar ein Kapitel mit dem Titel „Dramenhelden, Kosenamen, Pseudonyme: erfundene Namen“ aus, er geht in diesem Kapitel jedoch kaum auf Pseudonyme ein und nimmt stattdessen primär literarische Namen und Spitznamen in den Blick. GLÄSER kritisiert daher noch 2009, dass „sowohl strukturelle als auch funktionale Darstellungen der Pseudonyme auf der Grundlage eines repräsentativen Materialkorpus“ fehlen und spricht von einem „offensichtliche[n] Defizit der onomastischen Forschung“ (506). Auch in aktuellen Einführungen in die Onomastik nimmt das Thema wenig Raum ein: NÜBLING ET AL. (2015: 178–180) sowie DEBUS (2012: 133–134) widmen den Pseudonymen jeweils zwei Seiten und verweisen ausdrücklich auf die diesbezüglich bestehende Forschungslücke.

Die wenigen onomastischen Publikationen, die sich dem Thema Pseudonymie widmen, werden im Folgenden chronologisch vorgestellt. Zunächst ist dabei auf die Monographie „Die Personennamen im Deutschen“ ([1982], 2008) von SEIBICKE zu verweisen, die ein Einführungswerk in die Personennamenforschung darstellt. In dieser Publikation von 1982 setzt sich der Autor nicht nur mit Ruf- und Familiennamen, sondern – auf der Basis der Pseudonyme, die er verschiedenen Pseudonymenlexika entnimmt – auch mit Pseudonymen auseinander. Er widmet diesem Thema dabei ein eigenes, mit 14 Seiten im Gegensatz zu späteren Einführungen in die Namenforschung verhältnismäßig umfassendes Kapitel. In diesem Kapitel stellt SEIBICKE namentheoretische Überlegungen an (z.B. zur Abgrenzung von Pseudonym und Namenänderung), geht auf typische Personenkreise, die unter einem Pseudonym agieren, sowie auf deren Motive ein. Darüber hinaus findet sich in diesem Kapitel eine Typologie der Bildungsweisen von Pseudonymen, die von anderen Autoren übernommen wird (z.B. von SEUTTER (1996: 94), die sich auf SEIBICKE bezieht und sagt, dass er „sich als einer der wenigen Onomastiker mit der Bildung von Pseudonymen auseinandergesetzt“ hat).

Als weitere Publikation, die die Pseudonymenforschung zumindest indirekt betrifft, ist die umfassende Monographie „Inoffizielle Personennamen“ (1992) von KANY zu nennen. In dieser linguistischen Untersuchung werden zwar nicht Pseudonyme, sondern Spitznamen zum Forschungsgegenstand gemacht – Pseudonyme werden sogar gezielt exkludiert (KANY1992: 2) –, KANYS Monographie zeigt jedoch insgesamt eine Hinwendung der Onomastik zu den inoffiziellen Formen des Personennamens an. Es handelt sich dabei außerdem um eine erste Publikation, die inoffizielle Personennamen auf der Basis einer eigenen, größeren Materialgrundlage empirisch untersucht – obwohl KANY dabei NÜBLING zufolge „eine problematische empirische Basis verwendet“ (NÜBLING2017: 99).

Einen wichtigen Beitrag zur Pseudonymenforschung leistet KÜHN mit ihren empirischen Untersuchungen zu den Decknamen inoffizieller Mitarbeiter in der DDR (1993, 1995, 2004). Möglich werden solche Untersuchungen erst durch die politischen Veränderungen im Jahr 1989, in deren Folge es im Jahr 1992 zur Veröffentlichung der Decknamen von 4500 inoffiziellen Mitarbeitern kommt (KÜHN1995: 515). Zuvor gab es für die Untersuchung von Tarnnamen keine Datengrundlage, weshalb Decknamen „bisher auch kaum als geschlossene Namengruppe beschrieben werden [konnten]“ (KÜHN1995: 515). KÜHN bezeichnet den Bereich der Tarnnamen daher auch als „neues Untersuchungsgebiet“ (1995: 515). Meines Wissens hat es zu den Tarnnamen allerdings keine weiteren Veröffentlichungen gegeben.

Eine eher theoretisch orientierte Auseinandersetzung mit Pseudonymen findet sich in der 1996 erschienenen Dissertation „Eigennamen und Recht“ von SEUTTER. In dieser interdisziplinären Arbeit stellt die Autorin eine theoretische Betrachtung der Pseudonyme aus linguistischer und aus juristischer Perspektive an. In ihrer Publikation macht SEUTTER etwa darauf aufmerksam, dass sich das sprachwissenschaftliche und juristische Verständnis von Namen nicht problemlos vereinen lassen. Diese Unstimmigkeit bezieht sich auf die These der Inhaltslosigkeit der Namen:

In manchen Rechtsbereichen wie z.B. dem Wettbewerbsrecht übernehmen Namen nicht nur identifizierende, sondern auch charakterisierende Funktionen. […] In der Namenkunde hingegen versteht man unter Namen sprachliche Zeichen, die in einem initialen Namengebungsakt mit einer bestimmten Entität verbunden werden, ohne daß sie über diese eine inhaltliche Aussage machen. […] Der onomastische Namenbegriff muß ausgehend von Ergebnissen des namenrechtlichen Bereichs differenziert werden: Auf der sprachsystematischen Ebene funktionieren Eigennamen prinzipiell, ohne lexikalischen Inhalt zu transportieren, auf der Gebrauchsebene können Namen aber durchaus charakterisierende Elemente aufweisen. (SEUTTER1996: 222)

Interessanterweise wird damit bereits ein Aspekt der Namentheorie ausgemacht, der auch in aktuellen onomastischen Publikationen immer wieder aufgegriffen und kritisch betrachtet wird. In der vorliegenden Arbeit wird die These von der Inhaltslosigkeit der Namen – wie noch zu zeigen ist – ebenfalls diskutiert.

Mitte der 90er-Jahre setzt die Erforschung eines weiteren Pseudonymentyps ein: Die Internetpseudonymie. Eine wichtige Rolle kommt BECHAR-ISRAELI zu, die 1995 ein Korpus aus 260 Internetpseudonymen zusammenstellt und eine erste inhaltliche und formale Kategorisierung dieser Namenart vornimmt. Sie stellt dabei beispielsweise – unter Bezugnahme auf das Tierreich – die nahezu paradox anmutende Doppelfunktion von Internetpseudonymen heraus, wonach der Nickname Aufmerksamkeit weckt (wie die Federn eines Pfaus), den Träger aber gleichzeitig auch verdeckt (wie ein Chamäleon) (BECHAR-ISRAELI1995). Interessanterweise geht BECHAR-ISRAELI in diesem Text auch bereits auf Graffitinamen als Pseudonyme ein.

Eine umfassende Darstellung des Themenkomplexes Chatpseudonymie liefern RUNKEHL ET AL.(1998). Die Autoren erläutern die Funktion der Pseudonyme und nehmen eine Klassifizierung nach semantischen Feldern vor (1998: 72–114). Weitere Aufsätze zur Internetpseudonymie, in denen Formen und Funktionen dieser Namenart herausgearbeitet werden, stammen von ZIEGLER (2004), JOHNOVÁ (2004) und STOMMEL (2007).5HEISLER UND CRABILL (2006) forschen zur Wahrnehmung von Email-Pseudonymen. Umfassende Publikationen jüngeren Datums stammen von WOCHELE (2012) und JANSEN (2012). WOCHELE untersucht Nicknamen in einem sozialen Netzwerk und analysiert diese auf graphischer, morphologischer, syntaktischer und semantischer Ebene (2012: 36ff.). JANSEN, deren Aufsatz im gleichen Sammelband („Sprache und Öffentlichkeit in realen und virtuellen Räumen“ hg. v. GERSTENBERG ET AL.) erscheint, eruiert anhand der Nicknamen, die auf einer französischsprachigen Kontaktseite verwendet werden, primär die Funktionen von Internetpseudonymen (2012: 5ff.).

Zuletzt seien noch zwei Publikationen neueren Datums genannt, in denen die namentheoretische Einordnung von Pseudonymen im Vordergrund steht. Hier ist zum einen der Aufsatz „Familiennamen und Pseudonyme“ (2009) von GLÄSER und zum anderen der Beitrag „Pseudonyms“ von ALEKSIEJUK im „Handbook of Names and Naming“ (HOUGH (Hg.) 2016b) zu nennen. GLÄSERS Essay ist für die Pseudonymenforschung bedeutsam, weil GLÄSER einige allgemeine terminologische Klärungen vornimmt und dabei auch eine Definition der Bezeichnung Pseudonym entwickelt, die in anderen onomastischen Arbeiten übernommen wird (2009: 509).6GLÄSER liefert außerdem einen Überblick zu den Funktionen und Strukturen der unterschiedlichen Pseudonymentypen (2009: 510ff.). Die Publikation von ALEKSIEJUK nimmt alle Subtypen des Pseudonyms, d.h. Deck- und Tarnnamen, Künstlernamen sowie Internetpseudonyme7, gesammelt in den Blick und systematisiert diese. Ältere Publikationen haben demgegenüber in der Regel lediglich einen Untertyp der Pseudonyme thematisiert. Neben den hier genannten Arbeiten gibt es meines Wissens keine weiteren aktuellen Veröffentlichungen zu einer allgemeinen Typologie der Pseudonyme.

Wie dieser Forschungsüberblick zeigt, beschränken sich empirische Arbeiten, die auf der Grundlage eines repräsentativen Materialkorpus entstehen, fast ausschließlich auf den Bereich der Internetpseudonymie. Arbeiten zu anderen Pseudonymentypen – wie die Untersuchungen von KÜHN (1993, 1995, 2004) zu den Tarnnamen – können nur entstehen, wenn Pseudonyme als solche erkannt und zudem in großer Zahl erfasst werden. Das Projekt INGRID ermöglicht somit – indem es ein umfassendes Korpus an Graffitinamen bereitstellt – die systematische Beschreibung eines weiteren pseudonymischen Subtyps.

2.Graffiti

Die Bezeichnung Graffiti wird im alltäglichen und auch im wissenschaftlichen Sprachgebrauch für die Bezugnahme auf ganz verschiedene Erscheinungsformen verwendet. Als Graffitis werden nicht nur die bunten Inschriften im urbanen Raum bezeichnet, sondern beispielsweise auch Äußerungen an den Wänden von Toilettenkabinen (FISCHER2009) und Gefängnissen (HESSE1979) sowie informelle Schüleräußerungen (BLUME1980, 1981) und politische Parolen an Hauswänden (STAHL1989: 22ff.). Gemeinsam haben alle diese Formen, dass es sich um Schrift handelt und dass diese unautorisiert im (mehr oder weniger) öffentlichen Raum angebracht wird. Darüber hinaus sind die Formen ortsfest (TOPHINKE2017: 168), d.h., sie verbleiben am Ort ihrer Entstehung und können nicht – wie beispielsweise eine Notiz auf einem Blatt Papier – von diesem Ort entfernt werden.1

Im öffentlichen Raum sind Graffitis von einer Fülle an weiteren schriftlichen Formen umgeben, z.B. von Verkehrsschildern, Werbeplakaten, Ladenschildern etc., die ebenfalls in ihrer Materialität mit dem Untergrund verbunden sind. Nach AUER besteht eine wesentliche Eigenschaft der Kommunikation durch öffentliche, ortsgebundene Schriftlichkeit darin, „Räume les- und damit nutzbar [zu machen], die nicht durch das routinemäßige Zusammenleben Ortskundiger gekennzeichnet sind“ (2010: 274). Straßenschilder und Ladenschilder erleichtern beispielsweise die Orientierung im Raum; Verbotsschilder kommunizieren das Unterlassen bestimmter Handlungen. Die öffentliche Schrift zeigt den Rezipienten also Handlungsoptionen im öffentlichen Raum auf (AUER2010: 275). Darüber hinaus macht sie es möglich, dass ein Zeichenproduzent etwas an einen größeren Rezipientenkreis kommunizieren kann, ohne dass dabei Produzent und Rezipient von Angesicht zu Angesicht aufeinandertreffen; sie „ersetzt damit Formen der face-to-face-Kommunikation“ (AUER2010: 275, Hervorh. i.O.).

Graffitis unterscheiden sich von diesen anderen Formen ortsfester, öffentlicher Schriftlichkeit in vielerlei Hinsicht. Sie dienen – anders als Straßenschilder, Häusernamen etc. – nicht dazu, den öffentlichen Raum für Rezipienten besser interpretierbar und nutzbar zu machen, und ersetzen auch nicht Formen der face-to-face-Kommunikation. Für Graffitis ist es im Gegenteil sogar wichtig, dass der Schreiber anonym bleibt, Produzent und Rezipient also nicht aufeinandertreffen.

Das Szenegraffiti, das in dieser Arbeit in den Blick genommen wird, unterscheidet sich von anderen schriftlichen Formen im öffentlichen Raum auch durch die Bindung an eine soziale Gruppe – die Graffitiszene. Es ist sozial fundiert, weil es eine Gruppe gibt, die Graffitiwriting als „Praktik“ (TOPHINKE2016) erkennt und diese auch selbst ausübt. Praktiken können „als Typiken des körperlichen Tuns […], die Wiederholung, Wiedererkennen und auch Erlernbarkeit ermöglichen“ gefasst werden (TOPHINKE2016: 406). Sie bilden sich in der Regel dann heraus, wenn „das Wiederholen bzw. Wiederauftreten des betreffenden körperlichen Tuns in dem jeweiligen sozialen Bezugsrahmen Relevanz besitzt“ (TOPHINKE2016: 407). Graffitiwriting stellt demzufolge eine soziale Praktik dar, weil es für die Szenemitglieder Relevanz besitzt, indem sie die Formen dieser Art erkennen und deuten können.

An diesen Überlegungen zeigt sich bereits, dass zwischen einem engen und einem weiten Graffitibegriff zu unterscheiden ist. Das Szenegraffiti ist dabei als eigener Typ ortsfester, öffentlicher Schriftlichkeit zu perspektivieren, den es von anderen Formen, die gemeinhin als Graffiti bezeichnet werden, abzugrenzen gilt. Bei einem engen Begriffsverständnis werden dementsprechend nur diejenigen Formen erfasst, die sich erkennbar an den stilistischen Traditionen und sozial-kommunikativen Praktiken der Szene orientieren (PAPENBROCK UND TOPHINKE2016: 88). Weitere Formen unautorisierter Schriftlichkeit im öffentlichen Raum, z.B. Sprüche an Toilettentüren oder Einritzungen in Bänke, werden dabei ausgeklammert. Um sich von diesen anderen Formen abzugrenzen, spricht die Szene selbst statt von Graffiti eher von Writing (TEMESCHINKO2015: 10).2 Eine genaue Grenzziehung zwischen dem Szenegraffiti und Formen von Graffiti im weiteren Sinn ist jedoch schwierig und kann immer nur vage bleiben, wie auch PAPENBROCK UND TOPHINKE erklären:

Neben Formen, die sich eindeutig als Szene-Graffitis fassen lassen, finden sich Formen, die etwa in der formal-ästhetischen Ausführung, in ihrer Semantik oder in ihrer Platzierung untypisch sind. Diskussionen und Darstellungen in szenenahen Printmedien oder im Internet zeigen, dass auch die Graffiti-Szene selbst fortlaufend diskursiv klären muss, was als Graffiti gelten kann. (2016: 88f.)

Der Übergang zu weiteren Formen öffentlicher, unautorisierter Schriftlichkeit ist dementsprechend fließend. In diesem Kapitel soll es daher darum gehen, das Szenegraffiti mit seinen besonderen Eigenschaften zu beschreiben und so den Blick für diese Formen zu schärfen, bevor der Fokus der Betrachtung in den nächsten Kapiteln auf die Namen im Szenegraffiti gesetzt wird.

2.1Eine Bestandsaufnahme

Die folgenden Ausführungen beleuchten das Szenegraffiti aus einer linguistischen Perspektive. Bei dieser „Bestandsaufnahme“ werden daher insbesondere die Ergebnisse der bisherigen linguistischen Graffitiforschung berücksichtigt, die sich auf Forschungsfelder wie die Linguistic-Landscape-Forschung, die Schriftbildlichkeitsforschung und die Geosemiotik verteilen. Ziel dieser Vorgehensweise ist eine erste Annäherung an den facettenreichen Untersuchungsgegenstand Graffiti sowie eine Erarbeitung der zentralen Eigenschaften dieses Phänomenbereichs.

2.1.1Bild und Schrift

Graffitis stehen in einem interessanten Spannungsfeld aus Bildlichkeit und Schriftlichkeit (PAPENBROCK UND TOPHINKE2012: 194). Im Gegensatz zu anderen Formen ortsfester, öffentlicher Schriftlichkeit, die in der Regel maschinell gedruckt und auf Lesbarkeit ausgerichtet sind, zeichnen sich Graffitis dadurch aus, dass schriftliche und bildliche Elemente untrennbar miteinander verbunden sind. Nicht selten geschieht dies auch auf Kosten der Lesbarkeit. Graffitis als „handwerklich gediegene Unikate mit künstlerischem Anspruch“ bilden damit einen starken Kontrast zum „typographischen und normierten Charakter [autorisierter] öffentlicher Schriftlichkeit“ (PAPENBROCK UND TOPHINKE2012: 193).