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Rachel Aviv – eine der derzeit wichtigsten Essayistinnen der USA – stellt radikale Fragen zu unserem Umgang mit psychischen Krankheiten. Als Sechsjährige hört Rachel Aviv plötzlich auf zu essen und wird zu Amerikas jüngster Anorexiepatientin. Doch typisch anorektische Verhaltensmuster erwirbt sie erst in der Klinik: Sie sieht sie sich bei älteren Mitpatientinnen ab. Wie wäre ihr Leben verlaufen, fragt sie sich als Erwachsene, wäre sie länger in der Klinik geblieben und hätte sich nachhaltiger mit ihrer Diagnose identifiziert? Ausgehend von dieser persönlichen Erfahrung erkundet Rachel Aviv in sechs sehr unterschiedlichen Fallgeschichten, wie uns die Art und Weise, mit der wir psychische Probleme einordnen und diagnostizieren, verändert. Mit großer Empathie erzählt Aviv von Menschen in psychischen Ausnahmezuständen und macht dabei die Facetten von Identität sichtbar, die durch das Raster psychiatrischer Konzepte fallen.
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Seitenzahl: 414
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Als Sechsjährige hört Rachel Aviv plötzlich auf zu essen und wird zu Amerikas jüngster Anorexiepatientin. Doch typisch anorektische Verhaltensmuster erwirbt sie erst in der Klinik: Sie sieht sie sich bei älteren Mitpatientinnen ab. Wie wäre ihr Leben verlaufen, fragt sie sich als Erwachsene, wäre sie länger in der Klinik geblieben und hätte sich nachhaltiger mit ihrer Diagnose identifiziert? Ausgehend von dieser persönlichen Erfahrung erkundet Rachel Aviv in sechs sehr unterschiedlichen Fallgeschichten, wie uns die Art und Weise, mit der wir psychische Probleme einordnen und diagnostizieren, verändert. Mit großer Empathie erzählt Aviv von Menschen in psychischen Ausnahmezuständen und macht dabei die Facetten von Identität sichtbar, die durch das Raster psychiatrischer Konzepte fallen.
Rachel Aviv
Sich selbst fremd
Wahre Geschichten von psychischen Ausnahmezuständen
Aus dem Englischen von Claudia Voit
Hanser Berlin
Für meine Eltern
»Jemand Besseres als ich«
In meinem ersten Schuljahr freundete ich mich gleich zu Beginn mit Elizabeth an. Sie war die Älteste in unserer Klasse, aber sie war winzig und hatte dünne, knochige Arme und Beine. Miteinander warm wurden wir beim Spiel Mancala, während wir Murmeln auf ein Holzbrett mit vierzehn flachen Mulden fallen ließen. Anderen Klassenkamerad:innen ging ich aus dem Weg, um bereit zu sein, wann immer Elizabeth mit mir spielen wollte. Und irgendwie wollte sie das immer. Ich hatte das Gefühl, als hätte ich unsere Freundschaft durch meine Willenskraft entstehen lassen.
Ich fragte meine Mutter, warum Elizabeths Zuhause in Bloomfield Hills, einer wohlhabenden Vorstadt von Detroit, ganz anders roch als unseres. Ich war enttäuscht, als ihre Antwort — Waschmittel — so banal ausfiel. Elizabeths Haus war so groß, dass ich überzeugt war, sie würde sich darin verlaufen. Sie hatte ein gelbes Himmelbett, einen begehbaren Kleiderschrank und einen Swimmingpool. Sie zeigte mir, dass ihre blonden Haare noch heller wurden, wenn sie sie bürstete. Im Keller der Familie stand ein Kühlschrank, in dem nichts als Limonade war, und einmal schlug Elizabeth vor, wir sollten unseren Knien Cola zu trinken geben. Das Experiment stellten wir im Auto ihrer Babysitterin an und lachten, als Cola auf die Sitze tropfte. Dass man nur auf eine Art trinken konnte, schien uns unbegreiflich.
Zu Hause tat ich manchmal so, als wäre ich Elizabeth. Ich ging durch Türen und stellte mir vor, ich wüsste nicht, wo sie hinführten. Mir kam es wie Zufall vor, ein Hauch von Pech, dass ich als ich zur Welt gekommen war und nicht als Elizabeth. Ich weiß noch, wie ich einmal verzweifelt aus einem Traum aufwachte: Ich hatte die Chance bekommen, Elizabeth zu werden — dazu musste ich mich im Schulbus nur für den richtigen Platz entscheiden. Überfordert von der Gelegenheit ging ich an dreizehn Reihen vorbei und wählte den falschen.
Ich war gerade sechs geworden, und die Grenzen zwischen Menschen kamen mir durchlässig vor. Im Musikunterricht wurde mir ein Platz zwischen zwei Jungen zugewiesen: Auf der einen Seite saß Sloan, das größte Kind in der ersten Jahrgangsstufe. Seine Nase lief ständig mit grünlichem Rotz. Auf der anderen saß Brent, ein pummeliger Junge, der so schwer atmete, dass ich ab und zu nachsah, ob er eingeschlafen war. Auf mich wirkten ihre körperlichen Merkmale ansteckend. Um mich zu schützen, versuchte ich, genau mittig auf dem Stuhl zu sitzen, von beiden Jungs so weit wie möglich entfernt. Falls ich zu nah an Sloan rückte, würde ich zu groß, dachte ich, nur ein Stückchen Richtung Brent, und ich würde dick werden. Meine ältere Schwester Sari und ich hatten in den Nachrichten einen Beitrag über einen adipösen Mann gesehen, der im Bett einen Herzinfarkt gehabt hatte und mit einem Kran aus der Wohnung geborgen werden musste. Wir versuchten uns auszumalen, wie das konkret abgelaufen war: Mussten die Wände abgerissen werden? Wie war der Mann an der Maschine befestigt worden? Zur Sicherheit hielt ich mich lieber an Sloan.
Beim Mittagessen mussten alle in meiner Klasse wenigstens einen »Probierhappen« von jedem Gericht kosten — eine Nudel, eine einzelne Erbse. Viele Jahre später erzählte mir Ms Calfin, meine damalige Lehrerin: »Du saßt einfach nur da und hast nachdenklich deine Probierhappen angesehen. Ich habe immer gesagt: ›Na los! Wir haben nur zwanzig Minuten! Hopp, hopp!‹ Aber du kamst nur schleppend voran.« Zwei Wochen nach Schulanfang bat ich nach dem Mittagessen um Erlaubnis, zur Mädchentoilette zu gehen. »Musst du mal?«, fragte Ms Calfin. Sie erzählte mir, ich hätte geantwortet, ich wolle mich bloß im Spiegel ansehen.
Ein paar Tage später rührte ich die kleinen Häppchen, die Ms Calfin mir auf den Teller auftat, gar nicht mehr an. Sie fragte, ob ich stattdessen zur Salatbar gehen wolle, wo ich mir manchmal Croutons holte. Mit einem verstohlenen Grinsen lehnte ich ab. Sie sah mich prüfend an, und ich wusste nicht, wie ich ihren Gesichtsausdruck deuten sollte — es sah aus, als würde sie die Stirn runzeln und gleichzeitig lächeln. Sie versuchte mich einzuschätzen, das spürte ich, und ihre Aufmerksamkeit war aufregend. Ich hatte sie sehr gern, fürchtete aber, dass die Zuneigung nicht auf Gegenseitigkeit beruhte. Mein Eindruck war, dass sie die ausgeglichenen Kinder bevorzugte, deren Mütter sich in der Schule engagierten.
An den zwei darauffolgenden Tagen weigerte ich mich weitestgehend, etwas zu essen oder zu trinken. An meine Beweggründe erinnere ich mich nicht mehr, nur noch an die Reaktionen der Erwachsenen und an ein diffuses Gefühl von Stolz. Inspiriert hatte mich Jom Kippur, der Versöhnungstag, den wir in der Woche zuvor begangen hatten. An diesem Tag war mir zum ersten Mal bewusst geworden, dass man Essen verweigern konnte. Mein Entschluss bewahrte die religiöse Energie des Feiertags, den eine Aura des Martyriums umgab.
Dreimal die Woche besuchte ich eine Schule für hebräische Sprache und Kultur, und ich stellte mir gern vor, eine Art unsichtbaren Draht zu Gott zu haben. Mehrmals täglich betete ich dafür, dass meine Familie gesund blieb, bis wir »siebenundachtzig oder älter« waren, und wiederholte »ich und Mom« mehrere Male, weil mir unser Überleben am wichtigsten erschien. Ich weiß noch, wie ich im Garten hinter dem Haus der Freundin meines Vaters über den Kies ging und mir klar wurde, dass jeder Schritt von Gott vorherbestimmt war. Doch die Erleuchtung wurde von einem starken Bewusstsein für mich selbst begleitet. Ich dachte, ich hätte vielleicht meinen persönlichen Brennender-Dornbusch-Moment erlebt. Mein Wunsch, mich als jemand hervorzutun, der zu einer Offenbarung fähig war, war wichtiger als ihr Inhalt.
Am 30. September 1988 sagte ich meiner Mutter, mir sei so schwindlig, dass ich das Gefühl hätte, jeden Moment gegen eine Wand zu laufen. Drei Tage lang hatte ich kaum etwas gegessen. Sie brachte mich zum Kinderarzt. Später erzählte mir meine Mutter: »Ich dachte mir: ›Sie geben dir wahrscheinlich eine Infusion, und dann nehme ich dich wieder mit nach Hause.‹« Sie beschrieb mich als ausgelassene Sechsjährige, die gern Quatsch machte. Aber Linda, die Freundin meines Vaters, die später meine Stiefmutter werden sollte, erinnerte sich, dass sie noch nie ein so trauriges Kind wie mich erlebt hatte. Wenn sie mir etwas vorschlug, wovon sie dachte, ich würde mich dafür begeistern, antwortete ich oft mit demselben Satz: »Was soll denn daran so toll sein?« Linda fiel mein ungewöhnliches Talent auf, regungslos dazusitzen und lautlos zu weinen, oft am Küchentisch. Mein Vater ermunterte mich immer wieder zum Essen, aber ich weigerte mich, manchmal über eine Stunde lang, bis er schließlich aufgab und mich zur Schule fuhr.
Mein Arzt stellte fest, dass ich im vergangenen Monat vier Pfund abgenommen hatte. Bis vor Kurzem hatte ich mich normal ernährt, schrieb er, »vorwiegend von Pizza, Hühnchen und Frühstücksflocken«. Als »aktuelle Leistungen« listete er »rennen, springen, Rad fahren«. Unter »persönlich/sozial« vermerkte er, dass ich gelangweilt sei. Er riet meiner Mutter, mich ins Kinderkrankenhaus von Michigan in Detroit zu bringen, wo ich wegen »Appetitlosigkeit« eingewiesen wurde. Ein Psychiater dort beschrieb mich als »gut entwickeltes, aber sehr dünnes Mädchen in keiner akuten Notlage«.
Nach einem Gespräch mit meinen Eltern, die sich im Jahr zuvor hatten scheiden lassen und immer noch um das Sorgerecht stritten, notierte ein Arzt im Krankenhaus: »Ihre Mutter berichtet, der Vater mache sich über übergewichtige Menschen lustig, und der Vater bestreitet das nicht.« Mein Vater hingegen vermutete, die Ursache meines Problems liege bei meiner Mutter, die »sich übermäßig viele Gedanken um Lebensmittel« mache. Tatsächlich hamsterte sie so viele Vollkornbrote, dass manchmal, wenn wir den Gefrierschrank öffneten, die Laibe herausfielen, die sie auf den Bauernmärkten rund um Detroit gekauft hatte. Sie hatte dennoch eine relativ normale, wenn auch leidenschaftliche Beziehung zum Essen. Wie viele Frauen in ihrem Alter versuchte sie hin und wieder — mit nachlassender Überzeugung —, Diät zu halten.
In der Woche bevor ich ins Krankenhaus eingeliefert wurde, hatte meine Mutter für mich Tagebuch geführt — ich konnte noch nicht schreiben, also diktierte ich, und sie schrieb mit —, aber statt Einblicke in meine seelische Verfassung zu geben, erzählte ich nur chronologisch nach, was ich an dem Tag erlebt hatte, und streute gelegentlich Fragen ein wie: »Wo kommt der Durchfall von Schlangen raus?«, und: »Warum haben Menschen keinen Schwanz?« Meine Mutter, die sich kurz zuvor von ihrem Freund getrennt hatte, führte ebenfalls Tagebuch. In der Woche dokumentierte sie einen Traum — das tat sie immer —, in dem sie einen Gärtner gebeten hatte, unser Haus Stein für Stein auseinanderzunehmen. »Übrig bleibt nichts als Erde und die Fundamentplatte des Hauses«, schrieb sie.
Am ersten Abend im Krankenhaus brachte mir eine Krankenschwester ein Tablett, aber ich weigerte mich zu essen. Meine Mutter hatte Hunger, also aß stattdessen sie. »Die waren richtig sauer auf mich«, erzählte sie mir. »Was ich esse und was du isst, das sollte ich nicht durcheinanderbringen.« Am nächsten Tag bekam ich eine Infusion gegen den Flüssigkeitsmangel.
Aus meiner Krankenakte ergibt sich kein schlüssiges Bild, warum ich weder gegessen noch getrunken habe. Ein Psychologe vermerkte: »Ihre Symptome sind offensichtlich ein Ausdruck der krankhaften Beziehung zwischen Mutter und Vater.« Ein anderer stellte fest: »Rachel versucht, den Blick nach innen zu richten, um ihre starken Gefühle gegenüber der Außenwelt zu verstehen und zu überwinden«, aber kämpft mit einem »verkomplizierten Denkprozess«, was zu einer »selbstverurteilenden Einstellung (d.h. ›Ich muss das Problem sein‹)« führt. Obwohl diese Beschreibung auf so gut wie jeden zutreffen könnte, kamen die Ärzt:innen zu dem Schluss, dass es sich um »einen ungewöhnlichen Fall von Anorexia nervosa« handelte.
Magersucht wurde oft als »Lesestörung«1 bezeichnet, die durch die unkritische Lektüre von Texten ausgelöst wird, die Dünnsein als Schönheitsideal für Frauen präsentieren. Ich war gerade erst dabei, lesen zu lernen. Von Anorexie hatte ich noch nie etwas gehört. Als mir meine Mutter die Diagnose mitteilte, klang sie für mich wie eine Dinosaurierart. Die japanische Geisteswissenschaftlerin Takayo Mukai, früher selbst anorektisch, berichtet von einem ähnlichen Gefühl der Verwirrung, als sie in den Achtzigerjahren, als Anorexie in Japan noch kaum bekannt war, auf den Begriff stieß: »Das Wort mit acht Buchstaben war nichts als ein leerer Umschlag ohne Briefmarke und Anschrift.«2
Mein Vater und Linda gingen in die örtliche Bücherei und lasen das einzige Buch, das sie zu dem Thema finden konnten: Der goldene Käfig von Hilde Bruch aus dem Jahr 1978. Die als »Lady Anorexia«3 bekannte Psychoanalytikerin Hilde Bruch fing in den Sechzigerjahren an, über Magersucht zu schreiben, als die Krankheit noch unbekannt war. Sie stellte die These auf, dass die Neuartigkeit ein wesentliches Element der Erkrankung sei, die sie als »blindwütige Suche nach Identitäts- und Selbstgefühl«4 bezeichnete. Sie prognostizierte (inkorrekt), die Krankheit werde womöglich seltener auftreten, sobald eine gewisse Anzahl von Mädchen magersüchtig geworden sei, denn dann sei sie nichts Besonderes mehr. »Früher war die Krankheit die Leistung eines einsamen Mädchens, das meint, einen eigenen Weg zum Heil gefunden zu haben«, schreibt sie. »Jede war sozusagen die ursprüngliche Entdeckerin dieses fehlgeleiteten Wegs zur Unabhängigkeit.«5
Auch meine Mutter las sich in das Thema ein, vor allem in die psychoanalytische Perspektive, die zu der Zeit am meisten verbreitet war, und verinnerlichte eine damals übliche Interpretation: Die Schuld lag bei der Mutter. »Das ganze Leid habe ich verursacht — auch die ursprüngliche Verletzung«, schrieb sie in ein spiralgebundenes Notizbuch, das sie oft in der Handtasche bei sich trug. Diese Erkenntnis machte sie zu einer persönlichen Anklage gegen sich. »Ich muss mir eingestehen, dass ich dazu neige, gemein zu sein und andere zu verletzen«, schrieb sie. »Was ich meinen Kindern manchmal antue, ist fies — aber ich würde trotzdem sagen, dass ich mir wirklich große Mühe gebe, sie zu beschützen.« Weder meine Schwester noch ich erinnern uns daran, dass sie jemals etwas getan hat, das auch nur im Entferntesten gemein war, aber sie glaubte, was sie aus den Büchern über sich erfuhr. In den Notizen für ein Gespräch mit meinen Ärzt:innen ermahnte sie sich, »demütig« zu sein und nicht zu »behaupten zu wissen, was los ist«.
Das Wort »Anorexie« wirkte so mächtig, dass ich mich nicht traute, es auszusprechen. Ich lernte gerade die Laute von Buchstaben, und Wörter wirkten wie greifbare Gebilde, die ihrer Bedeutung eine konkrete Form verliehen. Die Namen von Lebensmitteln sagte ich nicht, weil sie zu benennen für mich fast aufs Gleiche hinauskam, wie sie zu essen. »Wenn solche Begriffe in ihrer Gegenwart fielen«, schrieb ein Psychologe, »hielt sie sich die Ohren zu.« Die Zahl »eight« sprach ich nicht aus, weil sie klang wie »ate«. Ich war aufgebracht, als mich eine der Schwestern aus Frustration über meine Sturheit »eine harte Nuss« nannte. Meine Mutter zeigte mehr Feingefühl, und als ich nach der Krankheit meiner Bettnachbarin fragte, ein Mädchen mit Diabetes, vermied sie das Wort »Zucker«. Sie erklärte mir: »Das ist sozusagen das Gegenteil von dem, was du hast.«
Mir wurde ein junger Psychologe zugeteilt, Thomas Koepke, ein fürsorglicher Mann mit leiser Stimme. Seine Fragen beantwortete ich so knapp wie möglich. Ich hatte die diffuse Angst, dass selbst wenn ich schwieg, meine Gedanken mitprotokolliert und aus meinem Hinterkopf gespuckt würden, wie Papier aus einem Drucker. In einer Beurteilung, nach der mir aus heutiger Sicht meine Berufswahl naheliegend erscheint, schrieb ein anderer Psychologe: »So wie Rachel sich verhielt, war sie sich völlig darüber im Klaren, dass sie das Gespräch lenken konnte.«
Koepke sagte meinen Eltern, dass die Ärzt:innen in seinem Team von keinem Kind wussten, das bereits mit sechs Jahren mit Magersucht diagnostiziert worden war. Trotzdem wurde ich aus dem Zimmer, das ich mir mit dem Mädchen mit Diabetes teilte, in den fünften Stock des Krankenhauses verlegt, in dem die Kinder, soweit ich das sehen konnte, nach Hautfarbe getrennt waren. Am Ende des Flurs waren Schwarze Kinder mit Sichelzellenanämie. Auf der Station in der Mitte, in die ich verlegt wurde, waren ein paar weiße Mädchen untergebracht, die allesamt älter waren als ich. Wegen der Unterernährung waren das Gesicht und die Arme von einigen von Lanugo bedeckt, dem zarten Haarflaum, der die Haut von Neugeborenen umhüllt. Jeden Morgen wurden wir im Krankenhaushemd mit dem Rücken zur Anzeige gewogen.
Die Mädchen sprachen oft von ihren »Sonderrechten«. Wenn wir das Tablett, das man uns ans Bett brachte, leer aßen und die Schwestern keine größeren Brocken auf unserem Schoß fanden, durften wir unsere Eltern anrufen. Wenn wir an einem Tag zwei Mahlzeiten fertig aßen, durften unsere Eltern uns eine Stunde lang im Krankenhaus besuchen. Die Nahrungsverweigerung hingegen hatte ernste Konsequenzen: Wer zwei Mahlzeiten ausfallen ließ, bekam Bettruhe verordnet. Wenn wir zur Toilette wollten, mussten wir eine Schwester rufen, die unsere »Ausscheidungen« protokollierte. Wir verloren das Recht, fernzusehen oder in das Zimmer zu gehen, in dem die Kinder spielten, die andere Krankheiten hatten. Über jeder Mahlzeit schwebte die Drohung, per Schlauch ernährt zu werden — die Strafe für eine zu große Gewichtsabnahme. Mir war nicht klar, dass der Schlauch in die Nase eingeführt werden würde. Ich stellte ihn mir riesig vor, wie eine röhrenförmige Rutsche, in der ich leben müsste.
Auf der Magersuchtstation bekam ich eine neue Zimmernachbarin, Carrie, eine Zwölfjährige mit strohblondem Haar. Ich fragte sie so oft: »Findest du mich komisch?«, dass sie irgendwann antwortete: »Frag mich noch einmal und ich sage Ja.« Sie kannte sämtliche Krankenschwestern auf unserer Station und war mit anderen Patientinnen befreundet. Sie und ihre Freundin Hava aus dem Zimmer nebenan betrachtete ich als Mentorinnen. Hava war zwölf und wunderschön, sie hatte scharfe Gesichtszüge und lange, braune Haare, die sie nicht bürstete. Sie hatte etwas Wildes, Ungezähmtes an sich, das mich an die Heldinnen aus Büchern über die amerikanische Pionierzeit erinnerte. Über ihren Klinikaufenthalt führte sie detailliert Tagebuch, das von dem Therapiejargon geprägt war, durch den sie sich selbst zu verstehen lernte. Als altkluge Beobachterin ihres Umfelds wurde sie geradezu ekstatisch, als sie mich kennenlernte: »Herrgott noch mal, das Mädchen ist erst 6«, kommentierte sie. »Guckt sie euch an! Lasst sie nur Vertrauen zu einem Erwachsenen fassen und das kindliche Verhalten ausleben, das sich irgendwo in dem angespannten, steifen Körper verbirgt. Ich wette, sie wartet nur darauf, dass ihr jemand eine Hand reicht, an die sie sich klammern kann!«6
Vielleicht hatte sich auch Hava zu sehr vom Geiste Jom Kippurs beeinflussen lassen. Sie besuchte eine jüdische Schule und hatte schreckliche Angst — so stand es in ihrem Tagebuch —, nicht »in das Buch des Lebens eingeschrieben« zu werden, das Verzeichnis, in das Gott die Namen derer einträgt, die es verdient haben, ein weiteres Jahr zu leben. Sie warf sich vor, »keinen Zustand heiliger Perfektion zu erreichen«.
Wir hatten noch mehr gemeinsam: Auch Havas Eltern steckten in einer langwierigen, feindseligen Scheidung und machten Witze über dicke Freund:innen der Familie. »Sie haben sich dauernd über die Ornsteins lustig gemacht und sie Oinksteins genannt«, schreibt sie. Auch sie hatte eine Freundin wie Elizabeth: ein Mädchen, das sie nicht nur bewunderte, sondern sein wollte. Wenn sie im Haus ihrer Freundin spielte, stellte sie sich gern vor, sie würde dort wohnen und nie mehr nach Hause gehen, heißt es in ihrem Tagebuch. Ihre Handschrift war meiner so ähnlich, dass ich vor Kurzem, als ich bestimmte Passagen las, einen Moment lang verwirrt war und dachte, ich würde meine eigenen Sätze lesen.
Als ich Hava kennenlernte, war sie schon fast fünf Monate im Krankenhaus. Ihre Mutter Gail besuchte Havas sechste Klasse und versuchte, ihnen die lange Abwesenheit zu erklären. »Hava ist zwar sehr dünn«, sagte sie Havas Mitschüler:innen, »denkt aber, sie wäre sehr dick.«
Hava, die siebzig Pfund wog, schien unschlüssig, ob sich ihr sozialer Status durch die Erklärung der Mutter gebessert hatte. In ihrem Tagebuch zählt sie auf: »Was ich gern an mir mögen würde«, darunter »meine Persönlichkeit«, »meine Intelligenz — meine Noten« und »meine Gefühle«. Sie hatte Träume, in denen sie ihre »Mitschülerinnen anflehte. Und auf einmal haben sie mich vollkommen akzeptiert und verstanden.«
Im Spielzimmer, in dem sich alle um das einzige Pac-Man zankten, freundete sich Hava mit einem dreizehnjährigen Mädchen an, das Zwillinge erwartete. Als Hava sich über die strengen Essensregeln auf der Magersuchtstation beschwerte, merkte die Mutter des schwangeren Mädchens beiläufig an, Hava könne durch Sport Kalorien verbrennen. »Sie hat mich auf die Idee gebracht, heute Abend Hampelmänner zu machen«, schreibt Hava.
Ich bewunderte Havas und Carries Freundschaft, die durch ihre gemeinsamen Ziele gefestigt wurde. »Carrie und ich verglichen unsere Knochen, Haut, Gesichtsfarbe und wie dünn wir waren«, schreibt Hava. »Ich weiß nicht, was ich tun würde, wenn Carrie nicht hier wäre!« Zyklen der Gewichtsabnahme und -zunahme schienen sie gemeinsam zu durchlaufen. Solange es aufwärtsging, erlaubten ihnen die Schwestern, die Entbindungsstation zu besuchen, wo sie die Neugeborenen ansahen. In manchen Babys »steckten Nadeln und alles Mögliche, und das hat mich wirklich dankbar gemacht«, schreibt Hava. »Ich wünschte nur, es wäre leichter, eine Mahlzeit zu sich zu nehmen, ohne sich schuldig zu fühlen.« Wenn die Krankenschwestern nicht zusahen, gingen Hava und Carrie im Flur auf und ab, bis Hava kaum noch Luft bekam. Sie meldeten sich freiwillig, um den anderen Kindern beim Mittagessen die Tabletts zu bringen — »das war meine tägliche Sporteinheit«, schreibt Hava.
Mir war der Zusammenhang zwischen Sport und Körpergewicht noch nicht bewusst, aber ich fing an, abends mit Carrie und Hava Hampelmänner zu machen. Ich erlaubte mir nicht mehr, mich hinzusetzen, um keine »Couch-Potato« zu sein — ein Begriff, den ich von ihnen gelernt hatte. Auf der Magersuchtstation schoben die Krankenschwestern einen Wagen mit Jugendromanen von Zimmer zu Zimmer. Nach meiner Ankunft legten sie auch Bücher für Jüngere dazu, darunter »Geschichten aus dem Bärenland«, die Clifford-Bücher, die Reihe »Unsere kleinen Damen und Herren«, einschließlich Unser Herr Stark, ein Buch über einen Mann, der zum Frühstück acht pochierte Eier aß, was mir ungeheuerlich vorkam. In meinem Krankenhauszimmer stehend lernte ich lesen. Wenn Schwestern ins Zimmer kamen, probierte ich meine neue Fähigkeit aus, indem ich die fünf oder sechs Buchstaben auf ihren Namensschildern aneinanderreihte.
Die älteren Mädchen sahen in mir wohl eine Art Maskottchen, einen Magersuchtslehrling. Meine Vorstellungen von Essen und Körpern waren noch fantasievoller als ihre. Ich aß lieber einen Bagel als eine kleine Schüssel Cheerios — besser ein großes O als dreihundert winzig kleine Os. Als Hava und Carrie mich zusehen ließen, wie sie Go Fish spielten, wollte ich wissen (aber schämte mich zu fragen), welche Art Fisch sie meinten: Fische im Meer? Oder gekocht auf dem Teller? Mir war nicht klar, dass aus den Fischen im Meer die gekochten auf dem Teller wurden, und falls sie Letztere meinten, wollte ich nichts mit dem Spiel zu tun haben.
Ich konnte nicht mit Hava und Carrie mithalten, die nicht nur in Pfund über ihr Gewicht sprachen, sondern auch in Unzen. Anorexie gilt zwar als Lesestörung, aber vielleicht geht es mindestens genauso viel um Mathematik. Die japanische Gelehrte Mukai erinnert sich daran, dass sie mit der Magersucht in eine »›digitalisierte‹ Welt« eintauchte, »in der alles in Bezug zu Metern, Zentimetern, Kilogramm, Kalorien, Zeiten und so weiter begriffen wurde«.7 Sie schreibt: »Ich teilte nicht mehr die Kultur, die gesellschaftliche Wirklichkeit, nicht einmal mehr die Sprache mit anderen. Ich lebte in einer abgeschotteten Realität, in der für mich alles logisch war, aber eben nur für mich.«
Mir fehlten die für die Krankheit nötigen Mathekenntnisse, aber mich faszinierte, dass Hava und Carrie sich ein neues Wertesystem zu eigen gemacht hatten, eine fremdartige Methode, mit der sie ihre körperlichen Empfindungen interpretierten und ihren Wert bestimmten. Immer wenn eine neue Patientin auf unsere Station kam, notierte Hava deren Größe und Gewicht in ihrem Tagebuch. »Ich muss mein Bedürfnis nach Essen aussitzen und das Hochgefühl nach dem Erfolg auskosten«, schreibt Hava. »Das Hochgefühl ist einfach traumhaft.« Es war, als würde sie ihren Körper für einen höheren Zweck drillen, den sie nicht verriet.
In ihrem 1995 erschienenen Essay The Ascetic Anorexic stellt die Anthropologin Nonja Peters, die selbst anorektisch war, die These auf, dass die Krankheit in verschiedenen Phasen verläuft8: Anfangs wird die Magersüchtige von denselben kulturellen Zwängen angetrieben, die viele Frauen zu Diäten animieren. Als Auslöser reicht eine banale Bemerkung. Mukai beschloss, Diät zu halten, nachdem sie ihre Mutter gefragt hatte, ob sie, wenn sie groß sei, auch so dick werde wie ihre Großmutter. »Ja, vielleicht«9, lautete die Antwort. Mukai ließ das nicht mehr los, obwohl ihr nicht entgangen war, dass ihre Mutter »lachte. Sie machte einen Witz. Das wusste ich.« Havas Tagebuch zufolge war es für sie ein Wendepunkt, als eine Freundin ihre Figur als »durchschnittlich« bezeichnete. Havas Eltern flehten sie an, nicht auf ihre Freundinnen zu hören, aber Hava schreibt: »Wenn sie mich dick finden, dann bin ich dick.«
Letztendlich entwickelt ein spontaner Entschluss eine Eigendynamik, die immer schwerer aufzuhalten ist. »Sobald der Weg der Askese einmal beschritten wird, führt das asketische Verhalten zu asketischer Motivation — und nicht umgekehrt«10, so Peters.
Einige Forschende haben sich eingehend mit den Parallelen zwischen Anorexia nervosa und Anorexia mirabilis befasst, einer Praxis des Hungerns im Mittelalter, durch die religiöse junge Frauen ihre Seelen aus dem Körper befreien und eins mit dem Leiden Jesu werden wollten. Ihre Appetitlosigkeit galt als Wunder. Ihre Körper wurden zu so mächtigen Symbolen für Glaube und Reinheit, dass es ihnen schwerfiel, wieder mit dem Essen anzufangen, selbst wenn ihr Leben in Gefahr war.
Der Historiker Rudolph Bell bezeichnete diesen Zustand als »heilige Magersucht«11 und betrachtete ihn als Symptom einer Krankheit, an der die Frauen litten. Aber auch der umgekehrte Fall scheint zuzutreffen: Anorexie kann sich wie eine spirituelle Handlung anfühlen, eine verdrehte Art und Weise, zu einem edleren Selbst zu finden. Dem französischen Philosophen René Girard zufolge ist der Ursprung der Anorexie »nicht das Begehren, ein Heiliger zu sein, sondern das Begehren, als Heiliger zu gelten«.12 Er schreibt: »Es ist zutiefst ironisch, daß der Prozeß der Religionszerschlagung so viele Karikaturen von Religion hervorbringt.«13 Sobald die Weichen einmal gestellt sind, lassen sich die Rahmenbedingungen nur schwer verändern. In einem Tagebuch, das ich in der zweiten Klasse geführt habe, steht: »Ich hatte was das war eine Krankeit die heist Anexorea.« Ich erklärte: »Ich hatte Anexorea weil ich jemand Besseres als ich sein will.«
Zwölf Tage lang sah ich meine Eltern nicht. Einmal kam meine Mutter ins Krankenhaus, um mir einen Schlafanzug vorbeizubringen, nachdem ich den anderen durchgeblutet hatte, weil mir die Infusionsnadel aus dem Arm gerutscht war. Mir war Bettruhe verordnet worden, aber als ich die Stimme meiner Mutter hörte, lief ich aus dem Zimmer und rannte durch den Flur auf sie zu. Wir weinten beide, aber als ich fast bei ihr war, hielten mich die Krankenschwestern zurück.
Dreimal täglich saß eine Krankenschwester dreißig Minuten lang neben mir, während ich meinen Teller ansah und kaum mehr als ein paar Bissen aß. Jedes Tablett hatte dreihundert Kalorien. Nachdem abgeräumt worden war, wurde ich noch eine dreiviertel Stunde lang überwacht, um sicherzustellen, dass ich mich nicht erbrach. Mir war bis dahin nicht einmal bewusst gewesen, dass es körperlich möglich war, sich absichtlich zu übergeben.
Nach knapp zwei Wochen aß ich das komplette Frühstück und Mittagessen. Mir schmeckte, was serviert wurde, Makkaroni mit Käse, und ich merkte gar nicht, wie sich der Teller leerte. »Irgendwie freue ich mich auf die Mahlzeiten, weil ich mich dann manchmal selbst vergesse und anfange, das Essen zu genießen«, schreibt Hava in ihrem Tagebuch. Vielleicht hatte mich die gleiche ungewollte Freude gepackt. Die Krankenschwester, die meine Mahlzeiten überwacht hatte, gratulierte mir und sagte, ich hätte mir ein Sonderrecht verdient: Ich durfte meine Eltern anrufen. Ich erinnere mich noch, wie ich zum Telefon neben meinem Bett ging und die Nummer meiner Mutter wählte. Als ich ihre Stimme hörte, war ich so erleichtert, dass ich kein Wort herausbrachte. Ich lachte nur.
Als meine Eltern mich besuchten, stellten sie entsetzt fest, dass ich mir ein Repertoire anorektischer Verhaltensweisen angeeignet hatte. Abgesehen von den Hampelmännern weigerte ich mich auch, zu sitzen oder mich vor meiner Schlafenszeit um 21 Uhr hinzulegen. Auch meine Schwester, die mich schließlich ebenfalls besuchen durfte, spürte die Anziehungskraft meiner neuen Freundinnen. »Ich war ein bisschen in Carrie verknallt«, erzählte sie mir Jahre später. »Sie war sehr hübsch und cool, und ich weiß noch, dass sie schöne, glatte Haare hatte.« Sie fügte hinzu: »Die Mädchen haben sich um dich gekümmert.«
Meine Eltern waren wütend, dass ich unter dem Einfluss der älteren, in der Krankheit bewanderten Mädchen stand. »Davor war das reine Kopfsache — es hat sich nur in dir drin abgespielt«, erzählte mir meine Stiefmutter. »Du hast keine Zeitschriften gelesen und hattest keine Vorstellung davon, wie ein idealer schlanker Mensch aussehen sollte.« Meine Mutter sagte: »Ich glaube nicht, dass du das Konzept ›schlank‹ überhaupt verstanden hattest. Ich glaube, du wolltest nur nicht, dass dein Bauch vorstand — so wie alle Kinderbäuche es tun.«
Mein Vater war der Einzige, der die Diagnose nicht akzeptierte. »Von klein auf kam von dir ständig: ›Du hast mir gar nichts zu sagen‹«, erzählte er. »Mit dieser Einstellung hast du dich auch an den Tisch gesetzt.« In einem »Fragebogen zur Einstellung zum Essen«, den mein Vater ausfüllen sollte, lautete ein Punkt: »Mein Teenager denkt beim Sport an den Kalorienverbrauch.« Mein Vater strich »Teenager« durch und schrieb an den Rand: »Wusste vorher gar nichts von Kalorien, jetzt schon.«
Sobald meine Eltern zu Besuch kommen durften, schien der Bann gebrochen zu sein. Ich hatte ein neues Ziel. Ab sofort aß ich mein Tablett leer, um sie weiterhin sehen zu können. Solange ich meine Portionen aufaß, durften mich mein Vater und meine Mutter jeden Tag getrennt voneinander für jeweils eine halbe Stunde besuchen.
Das Fensterbrett in meinem Zimmer füllte sich mit Figuren aus der Fernsehserie Pee-wee’s Playhouse, die meine Schwester und ich jedes Wochenende angesehen hatten. Fast bei jedem Besuch brachte mir mein Vater eine neue mit: Chairry, den Sessel; Reba, die Postbotin; Miss Yvonne, die Pee-wee die »schönste Frau in Puppetland« nannte. Dank Carrie und Hava verstand ich jetzt, dass Fernsehen etwas für Couch-Potatos war, und gönnte mir diesen Luxus nicht mehr. Aber wenn mein Vater mich besuchte, erlaubte ich mir, ihm dabei zuzusehen, wie er auf meiner Bettkante sitzend, in jeder Hand eine Figur, die Serie mit einer hohen, nasalen Stimme nachspielte.
Fünfzig Pfund musste ich wiegen, um aus dem Krankenhaus entlassen zu werden — neun Pfund mehr als bei der Einweisung. Nachts ging ich zum Schwesternzimmer und bat um kleine Packungen gezuckerte Cornflakes. Wenn ich in der Nase bohrte, steckte ich die Popel wieder zurück, um kein zusätzliches Gewicht zu verlieren. »Am zwölften Tag der stationären Behandlung begann Rachel, 900 Kalorien zu essen, und steigerte ihre Zufuhr allmählich so weit, dass sie ohne größere Probleme über 1800 Kalorien am Tag zu sich nehmen konnte«, schrieb Koepke.
Meine Schwester erzählte, bis zu ihrem letzten Besuch im Krankenhaus »hatten die dich dermaßen gemästet, dass es aussah, als würde dein Sweatshirt in der Hose stecken — es war bloß dein Körper, aber irgendwie sah er aus wie zusätzliche Stofflagen.« Auch Carrie hatte so viel zugenommen, dass sie sich auf ihre Rückkehr nach Hause vorbereiten durfte. Havas Genesung verlief stockender. »Nach dem Essen fühle ich mich so verrückt und komisch — aber das kann doch niemand verstehen, wenn ich es selbst nicht einmal erklären kann«, schreibt sie. »Ich wünschte, jemand könnte mir helfen und einfach meine Meinungen zu allem ändern.«
Am 9. November 1988, sechs Wochen nach meiner Einlieferung, wurde ich aus dem Krankenhaus entlassen. Koepke schien meiner Aussicht auf Heilung pessimistisch gegenüberzustehen. »Angesichts der starken Feindseligkeit« — zwischen meinen Eltern — »und der Schwere der Krankheit sind wir mit der Prognose äußerst zurückhaltend«, schrieb er. Sein Team und er waren der Meinung, eine psychiatrische Klinik sei »eine angemessene Unterbringung für Rachel«. Aber er vermerkte, dass meine Eltern beschlossen hatten, auf »diese Empfehlung vorerst« nicht zu reagieren. Meine Mutter war von dem Vorschlag entsetzt. »Ich hatte Angst, wenn du erst einmal in einer psychiatrischen Einrichtung drin wärst, wäre es sehr schwer, dich wieder aus diesem System herauszubekommen«, erzählte sie mir.
Am Tag nach meiner Entlassung ging ich wieder zur Schule. Ich fragte meine Mutter, ob ich der Klasse erzählen dürfte, ich sei wegen einer Lungenentzündung im Krankenhaus gewesen, aber sie erlaubte mir nicht zu lügen. Am ersten Tag kam meine Mutter mit ins Klassenzimmer, und wir erklärten den anderen Kindern, die im Kreis auf dem Teppich saßen, dass ich im Krankenhaus gewesen war. »Das war kein langes Gespräch«, sagte meine Mutter. »Niemand deutete an, dass du anders oder psychisch krank seist. Wahrscheinlich haben die Kinder das als krank im körperlichen Sinne verstanden. Und dein Körper hatte ja tatsächlich Nahrung nötig.«
Aus Angst, eine Couch-Potato zu sein, weigerte ich mich, an meinem Platz oder beim Morgenkreis auf dem Teppich zu sitzen. Bei Ms Calfin durfte ich stehen. »Du standest immer so da: Einen Arm hast du seitlich runterhängen lassen, und mit der anderen Hand hast du deinen Ellbogen gehalten«, erzählte mir Elizabeth, die heute Eheberaterin ist. Ab und zu forderte mich jemand auf, einen Schritt beiseite zu gehen, wenn ich den Blick auf die Tafel versperrte, und ich weiß noch, dass ich dachte, eigentlich stehe ich gar nicht im Weg — sie wollen nur die Aufmerksamkeit auf mein ungewöhnliches Verhalten lenken. Aber soweit ich mich erinnere, hat sich nie jemand über mich lustig gemacht, und nach einem Monat fing ich wieder an, mich wie alle anderen Kinder hinzusetzen. »Du hast dich einfach wieder nahtlos in die Gruppe eingefügt«, sagte Ms Calfin und ergänzte: »Ich wollte nur, dass du wieder das Gefühl hast, dazuzugehören.« Im Frühjahr vermerkte ein Psychologe, dass meine Symptome verschwunden seien. Die Anorexie, schloss er, war eine »Bewältigungsstrategie, um mit dem Druck umzugehen, den sie empfunden hat«.
Elizabeth und ich spielten wieder Mancala. Schon bald nannten wir uns beste Freundinnen. Sie lud mich oft ein, bei ihr zu übernachten, und wir gründeten in ihrem begehbaren Kleiderschrank einen »New Kids on the Block«-Club. In meiner Erinnerung verschmilzt Hava mit Elizabeth: Beide trugen Nachthemden aus seidigem Stoff, waren dünn und zerbrechlich, und meine Mutter nannte sie »engelsgleich«. »Ich will Elizabith sein«, schrieb ich in mein Tagebuch. »Ich wil ein gröseres Haus. Ich wil das alle mich mögen.«
Ich war in der fünften Klasse, als meine Mutter mir erzählte, sie habe in der Stadtmitte von Birmingham, wo wir wohnten, ein Mädchen in Tarnhose, das aussah wie Carrie, eine Mülltonne durchwühlen sehen. Carries Nachnamen habe ich nicht herausfinden können — auch unsere Ärzt:innen erinnern sich nicht mehr —, daher konnte ich nie verifizieren, ob das wirklich sie gewesen war. Von Hava hörte ich noch ein paar weitere Jahre lang nichts, bis in einem Artikel in The Detroit News über sie berichtet wurde. In dem Beitrag ging es darum, frühe Anzeichen psychischer Erkrankungen bei Jugendlichen zu erkennen. Eine Fotografie zeigte sie an einem See stehend, die Haare reichten ihr bis zur Taille. Sie war immer noch schön, aber sie sah ein wenig mitgenommen aus. Dem Artikel zufolge war sie während ihrer Jugend und als junge Erwachsene immer wieder in psychiatrischen Kliniken gewesen. Sie hatte die Highschool abbrechen müssen. Ihre Essstörung betrachtete sie als das große Kernthema ihres Lebens.
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Vor einigen Jahren bin ich für einen Bericht über eine als »Resignationssyndrom«14 bekannte Krankheit nach Schweden gereist. Hunderte Kinder aus Nachfolgestaaten Jugoslawiens und der Sowjetunion, deren Asylanträge abgelehnt worden waren, lagen krank im Bett. Sie weigerten sich, zu essen. Sie sprachen nicht mehr. Irgendwann verloren sie allem Anschein nach die Fähigkeit, sich zu bewegen. Viele mussten künstlich ernährt werden. Einige verfielen allmählich in einen komaähnlichen Zustand. Ein Junge erzählte mir, er habe sich während der Monate im Bett gefühlt, als läge er tief im Ozean in einer Glasbox mit zerbrechlichen Wänden. Etwas zu sagen oder sich zu bewegen, hätte eine Erschütterung erzeugt und das Glas wäre zersprungen. »Das Wasser würde hereinströmen und mich töten«, sagte er.
Psychiater:innen vermuteten hinter dem Leiden eine Reaktion sowohl auf den migrationsbedingten Stress als auch auf das Trauma in den Ländern, aus denen die Familien der Kinder geflüchtet waren. Was sie nicht verstanden, war, warum die Krankheit nur in Schweden auftauchte und in keinem der nordischen Nachbarländer, in die Geflüchtete aus denselben Staaten umgesiedelt waren. Als ich die Familien interviewte, fand ich heraus, dass viele Kinder, bei denen das Resignationssyndrom diagnostiziert worden war, jemanden gekannt hatten, der ebenfalls daran litt. In der schwedischen Presse wurde unterstellt, die Kinder würden simulieren, vor allem, nachdem Schweden das Resignationssyndrom als Grundlage für eine Aufenthaltserlaubnis anerkannt hatte. Aber als ich die Kinder kennenlernte, war ich mir sicher, dass sie die Krankheit nicht vortäuschten. Es dauerte Wochen, manchmal Monate, bis sie aus dem nahezu katatonischen Zustand wieder aufwachten, selbst nachdem ihre Familien erfahren hatten, dass sie in Schweden bleiben durften. Was als Protest anfing, entwickelte offenbar eine Eigendynamik. Die Kinder waren zu Märtyrer:innen geworden, eine anfangs scheinbar befreiende Rolle, die sie mit der Zeit jedoch kaputtmachte.
Die Gespräche mit den Familien und Ärzt:innen in Schweden ließen mich die Erfahrungen mit Anorexie in meiner Kindheit reflektieren. Etwas an den schweigenden, fastenden Kindern in Schweden kam mir vertraut vor. Ein Kind, von Natur aus solipsistisch, hat nur begrenzte Möglichkeiten, seine Verzweiflung zu kommunizieren. Das Drehbuch, dem der Ausdruck von Leid folgt, ist kulturell geprägt. Sowohl bei der Anorexie als auch beim Resignationssyndrom drücken Kinder Wut und ein Gefühl der Machtlosigkeit durch Nahrungsverweigerung aus, eine der wenigen ihnen zur Verfügung stehenden Protestformen. Ihnen wird von Fachkräften erklärt, dass ihr Verhalten ein bekanntes Muster darstelle, für das es eine Bezeichnung gebe. Daraufhin passen die Kinder ihr Verhalten, sowohl bewusst als auch unbewusst, der ihnen gestellten Diagnose an. Mit der Zeit wird ein bewusstes Muster zunehmend unfreiwillig und zu einem gefestigten Verhalten.
Mit dem Begriff »Loopingeffekt«15 beschreibt der Philosoph Ian Hacking, wie Menschen sich in selbst erfüllenden Prophezeiungen über Krankheiten verfangen. Eine neue Diagnose kann »den Möglichkeitsraum für die eigene Persönlichkeit«16 verändern, schreibt er. »Wir erfinden unser Selbst im Rahmen unserer eigenen wissenschaftlichen Vorstellung davon, welche Art von Mensch wir werden können.«17 In einem Essay über die Kinder in Schweden, denen das Resignationssyndrom diagnostiziert wurde, verweist Hacking auf die Pascal’sche Wette: Um nicht die ewige Verdammnis zu riskieren, sollten wir uns so verhalten, als wäre Gott real, auch wenn wir keinen Beweis für seine Existenz haben. Im Laufe der Zeit verinnerlichen wir vielleicht den Glauben, den wir vorgetäuscht haben — unser Glaube wird aufrichtig. Hacking stellt die These auf, dass bei einigen Krankheiten ein ähnlicher Prozess abläuft. Wir finden Möglichkeiten, unser Leid durch Nachahmung auszudrücken, bis wir schließlich »einen neuen seelischen Zustand ›erlernt‹ oder — besser gesagt — uns ›angeeignet‹ haben«.18
Mit sechs Jahren erschien es mir noch möglich, durch reine Willenskraft jemand anderes zu werden. Wäre ich länger im Krankenhaus geblieben oder an eine mir weniger wohlgesinnte Schule zurückgekehrt, hätte ich womöglich Havas Weg eingeschlagen. »Etiketten sind gar nicht so schlimm«, steht in ihrem Tagebuch. »Sie geben einem wenigstens einen Titel, dem man gerecht werden muss … und eine Identität!!!!«
Meine Stiefmutter, die am praktischsten veranlagte Person in der Familie, erzählte mir einmal, sie habe früher daran gezweifelt, ob ich das Erwachsenenalter erreichen würde. Tatsächlich habe ich gewisse Eigenschaften, die mich für grundloses Fasten anfällig machen, wie das nicht greifbare Gefühl, Selbstbeherrschung sei ein moralischer Wert an sich. Andererseits frage ich mich auch, ob ich überhaupt jemals anorektisch war. Dem Schlankheitsideal nur wenig ausgesetzt gewesen zu sein, hatte vielleicht verhindert, dass mein Wunsch danach größer wurde. In den Worten der Historikerin Joan Jacobs Brumberg, die wortgewandt über die Entstehungsgeschichte von Essstörungen geschrieben hat: Ich wurde für die Anorexie »rekrutiert«19, aber die Krankheit wurde für mich nie zu einer »Karriere«20. Sie hat mir nicht die Sprache zur Verfügung gestellt, durch die ich mich zu verstehen gelernt habe.
Weil ich das Gefühl habe, nur knapp entkommen zu sein, achte ich besonders auf die Zeitfenster in den frühen Stadien einer Krankheit, wenn sie einen zwar vollständig einnimmt und außer Gefecht setzt, aber noch nicht die eigene Identität und soziale Welt umgestaltet hat. Psychische Erkrankungen gelten oft als hartnäckige, chronische Kräfte, die die Kontrolle über unser Leben übernehmen, aber ich frage mich, inwiefern die Geschichten, die wir — vor allem zu Beginn — über sie erzählen, ihren Verlauf mitbestimmen können. Betroffene können sich durch diese Geschichten befreit fühlen, aber sich auch in ihnen verlieren.
In der Psychiatrie wird der Begriff »Einsicht« verwendet — ein in dieser Disziplin zentrales, fast schon magisches Wort —, um den Wahrheitsgehalt der Geschichten zu beurteilen, die Menschen darüber erzählen, was mit ihrer Psyche passiert. In einem bedeutenden Aufsatz, der 1934 im British Journal of Medical Psychology erschien, definierte der Psychiater Aubrey Lewis »Einsicht« als die »korrekte Einstellung gegenüber krankhaften Veränderungen in einem selbst«.21 Eine Patientin mit der »korrekten Einstellung« erkennt beispielsweise, dass nicht auf einmal die Geister von Verstorbenen zu ihr sprechen, sondern dass die Stimmen Symptome sind, die durch Medikamente zum Schweigen gebracht werden können. Bei jeder Einweisung in eine psychiatrische Klinik wird die Krankheitseinsicht beurteilt, sie spielt eine große Rolle bei der Entscheidung, ob eine Person gegen ihren eigenen Willen behandelt werden sollte. Weitgehend außer Acht gelassen wird jedoch die Frage, inwiefern die »korrekte Einstellung« von Kultur, race, ethnischer Zugehörigkeit und religiösen Überzeugungen beeinflusst wird. Studien zufolge wird People of Color häufiger »mangelnde Einsicht«22 zugeschrieben als weißen Menschen, vielleicht, weil ihre Art, ihr Leiden zum Ausdruck zu bringen, den Ärzt:innen nicht vertraut ist, oder weil sie weniger Grund dazu haben, ärztlichen Aussagen zu glauben. In aller Deutlichkeit: Die Einsicht misst, inwieweit ein:e Patient:in der ärztlichen Interpretation zustimmt.
Vor fünfzig Jahren, am Höhepunkt der Psychoanalyse, stellte die Einsicht eine Art Offenbarung dar: Unterbewusste Wünsche und Konflikte wurden an die Oberfläche geholt. Eine Patientin besaß zum Beispiel Einsicht, wenn sie den verdrängten Hass auf ihren Vater erkennen konnte und verstand, inwiefern diese verbotene Emotion ihre Persönlichkeit geprägt hatte. Doch schließlich stellte sich heraus, dass die Einsicht in zwischenmenschliche Konflikte zwar intellektuell reizvoll war, aber keine Heilung bot.
Als in den Achtzigern und Neunzigern zunehmend biomedizinische Erklärungen für Krankheiten herangezogen wurden, rückte die Methode der Einsicht immer mehr in den Hintergrund. Die »korrekte Einstellung« basierte nun auf einem neuen Wissensstand: Patient:innen zeigten Einsicht, wenn sie verstanden hatten, dass ihre Störungen auf Erkrankungen des Gehirns zurückzuführen waren. Der biomedizinische Ansatz löste ein ethisches Problem — nämlich, dass man den Erkrankten und ihren Familien die Schuld gab — und wurde für das Potenzial gefeiert, Stigmatisierung zu verringern. Laut dem ersten, 1999 veröffentlichten Bericht zum Thema psychische Gesundheit des Surgeon Generals, des Leiters der US-amerikanischen Bundesgesundheitsbehörde, beruhte die Stigmatisierung auf der »irrigen Trennung von Leib und Seele, wie erstmals von Descartes dargelegt«23. Bei einer Pressekonferenz verkündete der Surgeon General, es gebe »keine wissenschaftliche Grundlage dafür, zwischen psychischen Erkrankungen und anderen Krankheitsformen zu unterscheiden«.24
Dennoch konnte in der Praxis die Stigmatisierung durch das biomedizinische Modell nicht abgebaut werden. Studien zeigen, dass Menschen, die psychische Erkrankungen als biologisch oder genetisch bedingt betrachten, sie mit geringerer Wahrscheinlichkeit einer Charakterschwäche zuschreiben oder strafend reagieren, und dass sie die Krankheit von jemandem eher als außerhalb seiner Kontrolle, entfremdend und gefährlich auffassen.25 Die Erkrankung erscheint unerbittlich — wie ein Blitz, der sich nicht ableiten lässt. In ihrer autobiografischen Erzählung The Center Cannot Hold schreibt Elyn Saks, Professorin für Jura, Psychologie und Psychiatrie an der University of Southern California, dass sie nach der Schizophreniediagnose das Gefühl hatte, als hätte man »mir gesagt, dass, was auch immer in meinem Kopf falsch lief, dauerhaft und allem Anschein nach irreparabel sei. Wiederholt stieß ich auf Wörter wie ›schwächend‹, ›rätselhaft‹, ›chronisch‹, ›katastrophal‹, ›verheerend‹ und ›Verlust‹. Bis an mein Lebensende. Bis an mein Lebensende.«26
Hava hatte eine ausgezeichnete Einsicht in ihre Krankheit — in ihrem Tagebuch nahm sie oft Bezug auf ihr »chemisches Ungleichgewicht« —, ich hingegen, im Alter von sechs Jahren, hatte praktisch gar keine. Als ich wieder zu essen anfing, kam mir das wie eine beliebige Entscheidung vor. Vielleicht war mein Entschluss aber deshalb möglich, weil die Erklärungen der Ärzt:innen kaum eine Bedeutung für mich hatten. Welche Rolle die Erkrankung in meinem Leben spielen würde, war noch nicht auserzählt. Es gibt Geschichten, die uns befreien, und Geschichten, die uns gefangen nehmen,27 und inmitten einer Krankheit kann es sehr schwer sein, beides auseinanderzuhalten.
In der Psychiatrie ist erstaunlich wenig darüber bekannt, warum manche Menschen mit psychischen Erkrankungen wieder gesund werden und andere mit derselben Diagnose eine »Krankheitskarriere« einschlagen. Ich denke, um diese Frage beantworten zu können, müssen wir einen genaueren Blick auf den Unterschied zwischen psychiatrischen Erklärungsmodellen und den Geschichten werfen, durch die Menschen selbst einen Sinn in ihrer Krankheit sehen. Auch wenn Fragen der Interpretation nicht so wichtig sind, wie eine wirksame Behandlung zu finden, verändern diese Geschichten dennoch manchmal das Leben von Menschen auf unvorhersehbare Weise und wirken sich enorm auf das Selbstbild aus — und auf den Wunsch, überhaupt behandelt zu werden.
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Fallstudien haben mich schon immer gereizt, obwohl es mich stört, dass sie nur die abgeschlossene Welt eines Menschen und eine einzelne Erklärung repräsentieren. Ich frage mich, ob wir, die wir über psychische Erkrankungen schreiben, uns zu häufig von der Psychiatrie haben inspirieren lassen. Geschichten über psychische Störungen sind oft höchst individuell; die Symptomatik entsteht von innen heraus, und so wird sie auch ertragen. Doch diese Geschichten berücksichtigen nicht, wo und wie Menschen leben und inwiefern ihre Identität mit der Zeit widerspiegelt, wie andere sie sehen. Unsere Krankheiten sitzen nicht nur in unserem Kopf, sondern werden auch durch unsere Beziehungen und unser Umfeld geformt und aufrechterhalten. Für Menschen mit psychischen Erkrankungen mag ein rein psychiatrisches Modell der Seele überlebenswichtig sein. Dennoch soll der Titel dieses Buchs — Sich selbst fremd, eine Formulierung aus Havas Tagebuch — daran erinnern, dass uns dieser Deutungsrahmen auch von den vielen Verständnisebenen entfremden kann, die insbesondere in Krankheits- und Krisenzeiten für ein kontinuierliches Selbstkonzept notwendig sind.
In einem Essay mit dem Titel The Hidden Self schreibt William James: »[D]as Ideal jeder Wissenschaft ist das eines abgeschlossenen und vollständigen Systems der Wahrheit.«28 In der Wissenschaft werde dieses Ziel weitgehend erreicht, indem der, wie er ihn nennt, »nicht klassifizierte Rest« vernachlässigt werde — also jene Symptome und Erfahrungen, die nicht »genau diese Idealform tragen«. In diesem Buch geht es um Menschen, deren Kampf mit psychischen Erkrankungen außerhalb dieses »abgeschlossenen und vollständigen Systems der Wahrheit« stattfindet. Ihre Leben spielen sich zu verschiedenen Zeiten in unterschiedlichen Kulturen ab, aber haben auch einen gemeinsamen Schauplatz: die psychische Peripherie, die äußeren Grenzen menschlicher Erfahrungen, an denen Sprache in der Regel scheitert. Ich habe Personen ausgewählt, die das Gefühl der Nicht kommunizierbarkeit durchs Schreiben zu überwinden versucht haben; dieses Buch schöpft nicht nur aus Gesprächen mit ihnen, sondern auch aus ihren Tagebüchern, Briefen, unveröffentlichten Memoiren, Gedichten und Gebeten. Sie haben die Möglichkeiten, sich mithilfe psychiatrischer Methoden selbst zu verstehen, ausgeschöpft und sind an ihre Grenzen gestoßen, sie suchen nach dem richtigen Erklärungsrahmen — chemisch, existenziell, kulturell, wirtschaftlich, politisch —, um das Selbst in der Welt zu begreifen. Diese verschiedenen Erklärungen schließen sich nicht gegenseitig aus — manchmal können sie alle gleichzeitig zutreffen.
Hin und wieder habe ich darüber nachgedacht, das ganze Buch nur einem der Leben zu widmen, über die ich hier schreibe, aber ich wollte hervorheben, wie vielfältig die Erfahrungen mit psychischen Erkrankungen sind und dass die Antworten sich ständig ändern, je nachdem, von welcher Seite die Fragen beleuchtet werden. Das Buch beginnt mit der Geschichte eines Mannes, der zwischen den beiden im zwanzigsten Jahrhundert vorherrschenden Erklärungen für seelische Leiden hin- und hergerissen ist — dem psychodynamischen und dem biochemischen Ansatz. Die anderen Kapitel gehen über diese zwei weit verbreiteten Modelle hinaus: Eine Protagonistin versucht, sich in Bezug zu ihrem Guru und ihren Göttern zu begreifen; eine andere denkt über die rassistische Geschichte ihres Landes und darüber nach, inwiefern ihre Psyche davon geprägt ist; das Leiden einer dritten wurde so sehr entlang psychiatrischer Konzepte definiert, dass sie nicht weiß, wie sie ihr Leiden aus sich selbst heraus erklären soll. Es geht in diesem Buch um fehlende Geschichten, um die Facetten von Identität, die unsere Theorien über die Psyche nicht erfassen können. Wir können nicht die Zeit zurückdrehen und herausfinden, welche grundlegenden Gefühle da waren, bevor eine Geschichte erzählt wurde — als der Angst, Einsamkeit und Orientierungslosigkeit eines Menschen noch kein Name und keine Form verliehen worden war —, und doch suche ich nach der Kluft zwischen einerseits den Erfahrungen der Menschen und andererseits den Geschichten, die ihr Leiden systematisieren und manchmal sogar den Verlauf ihres Lebens bestimmen.
Durch das Schaffen einer gemeinsamen Sprache kann die moderne Psychiatrie die Einsamkeit von Betroffenen lindern, aber womöglich nehmen wir den Einfluss ihrer Erklärungen als gegeben hin, dabei sind sie nicht neutral: Sie ändern, welche Arten von Geschichten über das Selbst als »Einsicht« zählen und wie wir unser Potenzial begreifen. Ray Osheroff, um den es im ersten Kapitel geht, versucht, sich einen Reim auf zwei widersprüchliche Modelle der Seele zu machen, und kann weder anhand des einen noch des anderen sein Leiden entschlüsseln. »Bin ich das wirklich?«, fragt Ray. »Bin ich das nicht? Was bin ich?«
Als ich ein Teenager war, schlug mir meine Mutter, die Englisch an einer Highschool unterrichtete, vor, mit mir gemeinsam ein Buch zu schreiben, in dem wir abwechselnd kapitelweise von meiner Erfahrung als das (soweit wir wussten) landesweit jüngste Kind mit der Diagnose Magersucht berichten würden. Mir war das unangenehm, darum lehnte ich ab. Meine Mutter war überrascht, als ich ihr zwei Jahrzehnte später erzählte, dass ich nun doch über diesen Lebensabschnitt geschrieben hatte. Ich selbst bin überrascht, wie sehr mich diese Erfahrung intellektuell eingenommen hat. Ein Abgrund tut sich vor mir auf, wenn ich an das Leben denke, das ich jetzt führe, und wie leicht es anders hätte verlaufen können, wie das von Hava, auf deren Geschichte ich im Epilog zurückkommen werde. Die Grenze zwischen der psychischen Peripherie und einem Schauplatz, den wir als normal bezeichnen würden, ist durchlässig — eine Tatsache, die mich sowohl quält als auch hoffnungsvoll stimmt. Die Erkenntnis, wie knapp wir einem völlig anderen Leben entgehen, oder es verfehlen, ist erschreckend.
»Bin ich das wirklich? Bin ich das nicht? Was bin ich?«
Raphael »Ray« Osheroff ging im Jahr 1979 jeden Tag acht Stunden lang spazieren. Schnaufend marschierte er durch die Flure der Chestnut Lodge, eines der exklusivsten Krankenhäuser im Land. »Wie viele Kilometer werden es heute, Ray?«, fragte ihn eine Krankenschwester.1 Nach eigener Einschätzung legte er täglich knapp dreißig Kilometer zurück, in Pantoffeln. Eine andere Krankenschwester notierte, er sei oft mit jemandem zusammengestoßen, aber nehme »die Berührung anscheinend nicht einmal wahr«.
Während seiner Spaziergänge erinnerte sich Ray, der einen Schnurrbart und dichtes, schwarzes Haar hatte, an die Luxusreisen mit seiner Frau, die ebenfalls Ärztin war. Sie lebten in Northern Virginia und gingen so häufig essen, dass man sie in ihren Stammlokalen auf Anhieb erkannte. Sie waren das beliebteste Medizinerpaar im Großraum Washington, befand Ray. Die ständige Bewegung seiner Beine wurde zur »Selbsthypnose-Strategie, bei der ich mich auf das Leben konzentrierte, das ich einst geführt hatte«, schreibt Ray in seinen unveröffentlichten Memoiren.2 Er bekam so viele Blasen, dass Pfleger der Lodge ihn zur Fußpflege brachten. Seine Zehen waren dunkel verfärbt vor Schwielen.
In Rays Krankenakte steht ein Eintrag seines Psychiaters Manuel Ross, dem zufolge Ray »an einer Art der Melancholie — nicht Trauer« litt, womit er sich auf Freuds 1917 veröffentlichten Aufsatz Trauer und Melancholie