Sieben Tage für die Liebe - Tom Schillerhof - E-Book
SONDERANGEBOT

Sieben Tage für die Liebe E-Book

Tom Schillerhof

0,0
3,99 €
0,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 3,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Eine schockierende Nachricht hatte Gwen erreicht – die vom Tod ihrer ehemals besten Freundin Laura. Nun kehrt Gwen, von ihren Gefühlen überwältigt und ihren Schmerz kaum verstehend, mit Anfang 30 für Lauras Beerdigung in ihre Heimatstadt zurück – nichts ahnend, dass diese Rückkehr ihr komplettes Leben auf den Kopf stellen wird.

Auch Bens Leben steht an einem Wendepunkt. Die Beziehung mit seiner Freundin Liz befindet sich in einer Sackgasse; sein Traum von einer Karriere als Filmemacher ist geplatzt. Er wünscht sich Veränderung, weiß aber nicht, wie er diese herbeiführen soll – bis er auf Gwen trifft.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



 

Tom Schillerhof

Sieben Tage für die Liebe

 

Tom Schillerhof

Sieben Tage für die Liebe

 

ROMAN

© 2020 Empire-VerlagLofer 335, 5090 Lofer 

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Redaktion: Birgit Westreicher 

Covergestaltung: Buchcoverdesign.de / Chris Gilcher – http://buchcoverdesign.de 

Bildrechte: Adobe Stock ID 143450533, Adobe Stock ID 202902258 und freepik.com 

Satz: Werneburg Internet Marketing und Publikations-Servicehttps://werneburg-im-ps.de 

Für die Kunst

Montag

Glück ist, wenn der Bass einsetzt.

1.

Der Kaffee war noch zu heiß.

Gwen drehte den Plastikdeckel von ihrem frisch aufgebrühten Milchkaffee und beobachtete den Dampf, der aus dem Becher emporstieg. Rasch beschlugen die verspiegelten Gläser ihrer Sonnenbrille. Sie nahm die Brille ab und klemmte sie an ihrer Jacke fest.

Unruhig wanderten ihre Augen durch den kleinen Raum. Im Innern des Cafés gab es keinen freien Sitzplatz mehr. Auch vor dem Café schien jeder Platz besetzt zu sein und diejenigen, die bereits auf ihrem Stuhl saßen, würden ihn wahrscheinlich nicht kampflos aufgeben.

Gwen seufzte und trottete davon.

Zum Glück hatte sie noch etwas Zeit. Der Zug sollte erst in einer Viertelstunde eintreffen, eventuelle Verspätungen nicht mit einberechnet. Eine Verspätung wäre Gwen sogar sehr willkommen gewesen. Sie hatte keine Eile, in diesen Zug zu steigen, denn allein der Gedanke daran verursachte ihr Übelkeit.

Die Fahrt würde rund fünf Stunden dauern. Vielleicht hatte sie ja Glück und der Zug würde entgleisen oder in Brand geraten. Jeder Zwischenfall wäre hilfreich.

Kalter Regen prasselte auf die metallische Überdachung des Bahnhofs. Ziellos streifte Gwen durch die Eingangshalle. Um sie herum herrschte Chaos. Überall Menschen, die zu ihren Zügen eilten oder am Bahnsteig auf die Anzeigetafel starrten. Menschen, die an einem Kiosk standen, um in der Zeitung zu blättern oder eine Münze in den Süßigkeitenautomaten warfen, um den gewünschten Naschkram aus der Klappe zu ziehen. Menschen, die emotionslos über das Display ihres Handys wischten oder mit irgendwem telefonierten. Und dann immer wieder Menschen, die sich umarmten und herzlich begrüßten, um sich dann das Gepäck zu teilen und zum Ausgang zu schlendern. Der Bahnhof wirkte wie eine riesige Pilgerstätte. Eine Pilgerstätte mit zu wenig Sitzgelegenheiten.

Schließlich begnügte Gwen sich damit, sich bei einem nahe gelegenen Fahrradständer anzulehnen.

Als der Kaffee etwas abgekühlt war, nahm sie einen vorsichtigen Schluck. Sie musste endlich in die Gänge kommen. Ihr Schädel dröhnte wie ein verrosteter Kadett B.

Letzte Nacht war sie übel abgestürzt. Zu viel Wein. Wein und wirre Gedanken – eine fatale Kombination. Zumal sie es nicht geschafft hatte, ihre Gedanken mit Wein zu übergießen, beiseitezuschieben, abzutöten. Diesmal nicht.

Seitdem sie die Nachricht vor drei Tagen erhalten hatte, befand sich ihre Gefühlswelt in einer Art Schwebezustand. Ihr Kopf fühlte sich an wie in Watte gepackt. Sie wusste einfach nicht, was sie denken sollte und fragte immer wieder nach dem Wieso – was vollkommen überflüssig war. Natürlich kannte sie die Ursache, den Grund – aber diese lieferten trotzdem keine richtige Antwort.

Die vergangenen Nächte hatte sie kaum ein Auge zukriegen können. Stattdessen hatte sie die meisten Stunden damit verbracht, den Pegelstand des Weißweins zu verringern und die Songs ihrer Jugend zu hören. Sie hatte es sogar geschafft, nach Monaten des Stillstands ein paar Sätze in ihr Notizbuch zu kritzeln.

Ausgerechnet unter solchen Umständen, dachte sie. Wie zynisch. Fast musste sie lachen.

Brauchte sie denn unbedingt das Drama, die Tragödie, um ein paar vernünftige Sätze aufs Papier zu bringen? War sie wirklich so beschränkt?

Überhaupt: Schriftstellerei – diesen Quatsch hatte Gwen eigentlich längst aufgeben wollen. Kein Erfolg. Natürlich. Doch manche Berufe suchte man sich eben nicht aus. Sie suchten dich aus, und sie fanden dich, egal wo man sich auch versteckte. Und im Verstecken kannte Gwen sich bestens aus.

Nach ihrer Schulzeit war sie lange auf Reisen gewesen. Zu Reisen bedeutete für sie, ein Stück weit frei zu sein. Sie liebte es, ohne festes Ziel in einen Zug zu steigen, um fremde Städte und Orte zu besuchen, in denen sie für eine gewisse Zeit abtauchen konnte und wo sie niemanden kannte. Gleichzeitig hatte sie die Reisen zum Anlass genommen, sich weiterzubilden, um Raum für neue Perspektiven zu schaffen.

Oft hatte sie abends allein in irgendeinem Hotelzimmer bei einem Glas Wein gesessen und Bücher über Michelangelo, Caravaggio, Goya und Kandinsky gelesen. Sie hatte versucht, Kants kategorischen Imperativ zu verstehen, den Antichrist von Friedrich Nietzsche nachzuvollziehen und die Werke von Sartre, Beuys und Baudelaire zu studieren. Es gab so viele interessante Künstler, Werke und Lebensläufe zu entdecken. All diese klugen, innovativen, kreativen, aber auch labilen und gescheiterten Individuen hatten eine ungeheure Faszination auf sie ausgeübt.

Und je mehr sie dagesessen hatte, um Stunde um Stunde die Kunst und die Lebensphilosophie der anderen zu verinnerlichen, war in ihr der Gedanke gereift, dass sie in ihrem zukünftigen Leben selbst kreativ arbeiten wollte, ja arbeiten musste. Sie wollte nicht wie eine x-beliebige Besucherin durch ein Museum für Moderne Kunst streifen und verwundert vor einer weißen Leinwand stehen, in die jemand ein Bündel Nägel reingehämmert hatte. Vielmehr wollte sie diejenige sein, die mit dem Hammer zum Schlag ausholte. Zumindest musste sie es versuchen. Schließlich gab es nur dieses eine Leben. Den meisten Menschen, die sie kannte, schien das nicht ganz klar zu sein.

Es gab nicht viel in dieser Welt, das Gwen als sinnvoll erachtete. Vieles von dem, was die meisten Leute glücklich machte, ließ sie völlig kalt. Doch Kunst zu erschaffen, eine Arbeit mit Bestand, das war das ihre, ihre Passion. Ein Kunstwerk blieb für immer. Und ihre Kunst, das wusste sie, war ganz und gar das Schreiben.

Schon während der schier endlosen Schulzeit hatte Gwen damit angefangen, regelmäßig ihre Gedanken zu notieren. Das hatte besonders gut geklappt, wenn sie mit Situationen konfrontiert worden war, die ihr zuwider gewesen waren – die regelmäßigen Prüfungen; das stumpfe Auswendiglernen; zähe Fächer wie Mathe oder Chemie, die sie einfach nur ratlos gemacht hatten; narzisstische Lehrer, die es nicht verstanden hatten, ihre Schüler für ein Thema zu begeistern; all die Noten, Leistungspunkte, Prüfungen und Anwesenheitslisten, die bis in die höheren Klassen streng kontrolliert worden waren.

Es waren solche und ähnliche Dinge, die etwas in Gwen auslösten, mit dem sie im Nu Seiten füllen konnte.

Mit der Zeit hatte sie ihre Gedankenwelt auf das Leben außerhalb der Schule erweitert. So hatte sie damit begonnen, über tiefe Gespräche mit guten Freunden zu schreiben; über betrunkene Nächte voller Farbe und Magie; über die neuesten Trends, die sie stets zu ignorieren versucht hatte; über die Schwierigkeiten des täglichen Aufstehens – und natürlich über die Liebe, dieses leidige Thema. Dieses große Fragezeichen.

In ihrem Leben hatte es lange niemanden mehr gegeben, der schützend einen Schirm über sie gehalten hätte, wenn der Regen aus dunklen Wolken auf sie niederprasselte. Sie versuchte aber auch nicht weiter daran zu denken oder aktiv daran zu arbeiten, jemanden kennenzulernen. Vermutlich war dieser Zug schon lange für sie abgefahren.

Nun gab es diesen einen Zug, an den sie denken musste. Immer noch mit ihrem Kaffee in der Hand ging Gwen zu einem Ticketautomaten und wählte das Fahrtziel aus. Dann fütterte sie die Maschine mit ein paar Münzen, die sofort wieder im Auswurfschacht landeten. Genervt rieb Gwen die Münzen am Automaten und startete einen neuen Versuch. Beim zweiten Mal klappte es. Sie fischte das frischgedruckte Ticket, das ihre Heimatstadt zum Ziel hatte, aus dem Auswurfschacht und ließ es schnell in ihrer Handtasche verschwinden.

Es war lange her, dass sie in einem Zug gesessen hatte. In den letzten zwei Jahren hatte sie wie eine Wahnsinnige im Café geschuftet und nur selten irgendwelche Reisen unternommen. Ihre Urlaubstage hatte sie meist hinter zugezogenen Gardinen verbracht.

Doch dann war der Tag gekommen, an dem Gwen die schreckliche Nachricht erreicht hatte. Gleich am nächsten Morgen hatte sie ihre Chefin – eine resolute Frau mit einem Meisterdiplom in Rechthaberei – um eine Woche Urlaub gebeten. Bei alldem, was Gwen in der Vergangenheit für das Café geleistet hatte, hatte sie angenommen, dass ihre Chefin sie ohne Weiteres entschuldigen würde – besonders zu so einem Anlass. Ihre Chefin aber hatte sich nicht gerade taktvoll verhalten und Gwen sogar noch Vorhaltungen gemacht. Von Mitgefühl oder Anteilnahme keine Spur. Als sie darüber nachdachte, kochte in Gwen die nackte Wut wieder hoch.

Sie beschloss sich damit abzulenken, auf das Eingangsportal des Bahnhofs zu starren und die Menschen zu beobachten, die ein und aus gingen. Es war schon komisch: All diese Menschen, diese essenden, sitzenden, aufgeregten, laufenden und lachenden Menschen, mit ihren Zeitschriften vor dem Gesicht, mit ihren Kindern an der Hand, mit ihren Zielen und Träumen – all diese Menschen hatte überhaupt keine Ahnung, was in ihrer Welt geschehen war. Es war, als ob sie sich in einem Paralleluniversum bewegten.

Vielleicht hatten einige von ihnen kurz in der Zeitung darüber gelesen und dann regungslos weitergeblättert, schnell zur nächsten Schlagzeile. Sie hatten keinen Schimmer davon, was für ein gewaltiger und vernichtender Hurrikan in Gwens Seele tobte, während sie von außen betrachtet ruhig dasaß und an ihrem Kaffeebecher nippte.

Das tägliche Miteinander ist doch in Wirklichkeit ein ultimativer Bluff, dachte Gwen. Wie oft geht man, zum Beispiel, durch den Tag und findet jemanden attraktiv? Aber anstatt ehrlich zu sich zu sein, tut man so, als sei man nicht interessiert. Keiner spricht darüber, was er wirklich denkt. Jeder macht dem anderen etwas vor, für den Job, für die Gesellschaft, für den Frieden in der Familie. Die Leute müssen sich nicht zurechtmachen und abends eine Theatervorstellung besuchen. Sie müssen nur die Haustür öffnen und auf die Straße gehen. Dann öffnet sich der Vorhang und die nächste Vorstellung beginnt. Eine einzige miese Vorstellung, ganz ohne Pausen. 

Die Minuten vergingen wie Sekunden und schon donnerte der Zug in den Bahnhof ein. Gwen war ganz bestürzt, dass er tatsächlich pünktlich kam. Sie hatte so fest mit einer Verspätung gerechnet.

Kaum war er zum Stillstand gekommen, klafften die automatischen Schiebetüren des Zuges auseinander, wie der Schlund einer riesigen Bestie. Widerwillig rappelte Gwen sich auf und warf ihren Kaffeebecher weg. Dann rückte sie in die Menschentraube vor, die sich vor dem Eingang des Zuges versammelt hatte. Gesichtslose Menschen stürmten hinaus, weitere drängten hinein. Gwen mischte sich unter die Eindringlinge und fand tatsächlich noch einen freien Platz am Fenster.

Die ersten Gespräche hatten schon eingesetzt – stumpfsinniges Gerede über dieses und jenes. Um nichts davon hören zu müssen, nahm sie ihren alten MP3-Player aus der Jackentasche, stöpselte die Kopfhörer tief in die Ohren und drückte auf Play-Taste.

Sobald die ersten Töne von Joy Divisions „Disorder“ erklangen, fing Gwen an, ihren Fuß zur Basslinie zu bewegen. Eine andere, musikalische Welt formte sich aus dem Nichts und baute sich wie ein Schutzschild um sie herum auf. Die Musik vermischte sich mit dem Lärm auf dem Bahnsteig und dem der Menschen, die noch schnell in den Zug einstiegen. Sie verlieh der Realität die nötige Anmut und sorgte gleichzeitig für geistige Entspannung. Etwas, das Gwen dringend nötig hatte.

Eine grelle Trillerpfeife hallte über den Bahnsteig. Die Zugbegleiter stiegen ein, dann setzte sich der Zug in Bewegung, ließ den Bahnhof langsam hinter sich und nahm immer mehr an Fahrt auf.

Vor dem Fenster wurden wechselnde Landschaften wie auf einer großen Leinwand abgespult, während Regen gegen die Scheibe prasselte. Einzelne Tropfen rannen über das kühle Glas, zogen dicke Schlieren hinter sich her und reflektierten dabei das matte Licht.

Laura war gestorben, Gwens ehemals beste Freundin. Ein ganzes Leben binnen Sekunden ausgelöscht, einfach so.

Mit versunkenen Augen blickte Gwen aus dem Fenster und fühlte nichts mehr.

2.

Sie war wunderschön.

Sie trug lange, matt glänzende Stiefel mit unzähligen Schnallen und Schnürsenkeln, eine hautenge Lederhose und eine schwarze Seidenbluse mit eingestickten weißen Rosen. Ihre langen, roten Haare schimmerten im kühlen Licht des Tages und waren zu einem Zopf geflochten, der einseitig auf ihre Schultern fiel. Ihre zarten Lippen waren so rot wie Rubine.

Sie gehörte zu jenen Menschen, die eine ganz besondere Aura, etwas Geheimnisvolles, Mystisches ausstrahlten. Kein Zweifel.

Ben Miller konnte nicht aufhören, auf diese Frau in Schwarz zu starren. Sie saß ein paar Reihen vor ihm und schaute gedankenverloren aus dem Fenster. Die dünnen Kabel ihrer Kopfhörer baumelten aus ihren Ohren und mündeten in ihrer Tasche. Ab und zu nahm sie einen kleinen Notizblock zur Hand und kritzelte mit einem Kuli etwas hinein. Vielleicht Wortfetzen. Gedanken.

Der Zug war bis zum letzten Platz gefüllt. Ben hatte wie so oft während der etwa zehnminütigen Heimfahrt keinen Sitzplatz mehr gefunden und stand deshalb im Gang direkt neben der Schiebetür, doch auch dort herrschte Platzmangel. Immerzu rempelten ihn Leute mit schweren Taschen an, die an dieser oder jener Haltestelle ein- oder aussteigen wollten. So musste er sich in seinem kleinen Radius ständig hin- und herbewegen, während er sich gleichzeitig an eine Metallstange in der Nähe klammerte, die bereits ganz feucht vor Schweiß war, denn obwohl draußen frostige Temperaturen herrschten, war es am Gang drückend heiß. Der stechende Geruch der anderen Fahrgäste, die in ihren dicken Winterjacken vor sich hin schwitzten, wäre unter normalen Umständen nicht zu ertragen gewesen, doch an diesem Tag interessierte sich Ben weder für Hitze noch für mangelnde Körperhygiene. Vielmehr konnten sich seine Augen nicht von der Frau in Schwarz lösen. Er kam sich schon wie ein schamloser Gaffer vor.

Damit sein Starren nicht zu sehr auffiel, versuchte er, ab und zu aus dem Fenster zu schauen, um sich auf die vorbeirauschenden Häuser, Spaziergänger und Autos zu konzentrieren, doch es klappte nicht. Wie eine Mücke, die von einem hellen Licht angezogen wurde, wanderte sein Blick immer wieder zu der Frau zurück. Was hätte er darum gegeben, sie kennenlernen zu dürfen. Ihre haselnussbraunen Augen, die von schwarzem Kajal eingerahmt wurden, waren die schönsten und zugleich traurigsten Augen, die er je gesehen hatte. Wer sie nur war?

Während der Zug weiter über die Gleise rollte, überlegte Ben, was er tun sollte. Wollte er sich ein paar Reihen nach vorn kämpfen und sie einfach anquatschen? Vielleicht war dies einer jener Momente, in dem ihm nur eine einzige Chance blieb. Aber was sollte er ihr sagen? Schnell überlegte er sich einen Spruch, der ihm sachlich und ungezwungen vorkam: „Hi, ich heiße Ben. Ich mache so etwas normalerweise nicht, aber ich habe dich eben dasitzen sehen und mich gefragt, ob du dir vielleicht vorstellen könntest, mit mir einen Kaffee zu trinken. Oder einen Tee.“

Ben hatte eine Menge romantischer Schinken gesehen – Schlaflos in Seattle, E-Mail für dich, Frühstück bei Tiffany. In diesen Filmen hätte ein solcher Spruch sicher Eindruck gemacht. Als er ihn jedoch auf seine aktuelle Situation in der Realität projizierte, kam er ihm auf einmal furchtbar dämlich, abgedroschen und kitschig vor. Wie typischer Hollywoodbullshit eben.

Trotzdem ließ ihn das Gefühl nicht los, dass er seine Chance nutzen musste. Vermutlich würde er die Frau niemals wiedersehen. Daher musste er handeln. Und zwar schnell.

Doch wie würde ihre Reaktion ausfallen? Im Geiste spulte Ben einen Film in seinem Kopf ab, der genau drei Möglichkeiten in Szene setzte:

Möglichkeit 1: der romantische Typ. Schon ihr ganzes Leben hatte sie auf einen gestandenen Kerl gewartet, der sie eines schönen Tages aus der tristen Oberflächlichkeit, der beklemmenden Routine, den schweren Mühlen des Alltags entführte, um gemeinsam Richtung Sonnenuntergang zu reiten. Und da würde Ben gerade zur rechten Zeit kommen. Ben, der verwegene Teufelskerl.

Möglichkeit 2: der schockierend ehrliche Typ. Sie würde ihn auslachen und sich bis zu ihrer finalen Haltestation vor Lachen gar nicht mehr einkriegen. Was für eine Peinlichkeit. Mit einem selbst zugefügten Fußtritt in den Allerwertesten würde sich Ben schleunigst aus ihrem Blickfeld entfernen.

Möglichkeit 3: der unnahbare Typ. Sie würde seinen Spruch emotionslos zur Kenntnis nehmen und ihm dann auf höfliche, aber direkte Weise zu verstehen geben, dass er ihr lieber aus dem Sonnenlicht gehen solle. Ben würde erklären, die ganze Situation sei ein Missverständnis und mit einem mitleiderregenden Moonwalk von dannen ziehen.

Ben war hin- und hergerissen. Einerseits wollte er keine Szene machen. Mit Schaudern dachte er an die Figur des Knox Overstreet aus dem Film Der Club der toten Dichter, der die Frau seines Herzens bis in den Klassenraum verfolgte und sie vor versammelter Mannschaft mit einem selbst verfassten Gedicht vollquatschte – das war eher peinlich statt romantisch. Noch dazu war schwer an Romantik zu denken, wenn man in einem vollgepackten Zug voller schlecht gelaunter Menschen stand, in dem es nach Schweiß und Parodontitis stank.

Andererseits ließen Ben diese Augen nicht mehr los, diese wunderschönen, traurigen Augen.

Verdammt.

Was machte er sich vor? Es war ja nicht so, dass er Single war. Jedenfalls nicht im wirklichen Leben. Seit fast zwei Jahren war er mit jemandem zusammen. Irgendwie. Also, warum machte er sich überhaupt solche Illusionen?

Abermals dachte er an all die kitschigen, romantischen Filme, die einem weismachen wollten, dass die Geschichte am Ende schon gut ausgehen würde. Die Liebe und Romantik versprachen und die Hoffnung auf ein besseres Leben anstachelten, genauso wie diese Frau in der Bahn. Es war diese eine Frage, die Ben keine Ruhe ließ: Was, wenn die Frau in Schwarz tatsächlich die Frau seines Lebens sein würde?

Der innere Romantiker in ihm hatte bereits die Rosen ausgepackt und flüsterte ihm zu, dass er nur die Initiative ergreifen müsste, um ein glücklicher Mensch zu werden. Schließlich fasste Ben einen Entschluss: Er musste es wagen, auch auf die Gefahr hin, sich zu blamieren. Es gab schließlich Schlimmeres. Den Mutigen gehörte die Welt.

Tapfer trat Ben zwei Schritte nach vorn. Währenddessen löste er seine schwitzende Hand von der Stange und ergriff eine Halteschlaufe, die ein Stück weiter weg von der Decke baumelte. Dann ging er vorsichtig noch zwei Schritte, nur um auszutesten, wie es war, in die unmittelbare Blicknähe der Frau zu kommen.

Es fühlte sich fantastisch an. Fantastisch und fürchterlich zugleich. Oder anders gesagt: Unfassbar schön, aber kaum auszuhalten.

Ben lief der kalte Schweiß über die Stirn. Sein Herz schlug wie ein rhythmusgestörter Drumcomputer. Die nackte Panik kroch ihm in den Nacken. Zum Glück schaute die Frau in Schwarz noch immer aus dem Fenster und nahm überhaupt keine Notiz davon, dass es in ihm brodelte wie in einem Vulkan. Erneut kamen starke Zweifel in ihm hoch.

Du Idiot, bau doch keinen Mist, dachte er. Schau sie dir an. Du willst ihr Freund werden? So eine Frau ist mit einem Freund geboren. Da gibt’s keinen Platz für dich. Also, was zum Henker tust du hier? Du mit deinen beknackten Fantasien. Und genau das werden sie auch immer bleiben: Fantasien. Warum kannst du nicht einfach mit dem zufrieden sein, was du hast?

Plötzlich wurde Ben von einem metallischen Geräusch aus seinen Gedanken gerissen. Der Zugführer meldete sich mit monotoner Raucherstimme zur Durchsage: „Sehr geehrte Fahrgäste, gleich erreichen wir den Hauptbahnhof. Wir hoffen, Sie hatten eine angenehme Reise und beehren uns bald wieder.“ Danach brummte er noch die einzelnen Anschlussverbindungen ins Mikrofon.

Ben konnte es nicht fassen. Hatte er wirklich die gesamte Fahrzeit im Gang herumgestanden und Löcher in die Luft gestarrt?

Schon fuhr der Zug in den Bahnhof ein. Wie auf Kommando packten die meisten Fahrgäste ihr Zeug zusammen und erhoben sich von ihren Plätzen. Ein großes Gewusel machte sich breit. Immer mehr Leute drängten nun mit ihren dicken Taschen und Rollkoffern zu den Ausgängen. Ben konnte gerade noch sehen, wie die Frau in Schwarz die Kopfhörer aus den Ohren nahm und um ihren MP3-Player wickelte. Dann verschwand sie hinter gestressten Gesichtern, die Ben so nahekamen, dass er die Pickel auf ihrer Haut hätte zählen können.

Er reckte den Kopf hin und her und versuchte, die Frau in Schwarz nicht aus den Augen zu verlieren, aber es war zu spät – er konnte sie nirgends mehr erblicken.

Als der Zug zum Stillstand kam und sich die Fahrtüren öffneten, wurde Ben von der Masse förmlich aus dem Zug hinausgeschoben.

Wie ein gehetztes Tier sprang er über den Spalt zwischen Zug und Bahngleis und entfernte sich ein Stück weit vom Geschehen. Dabei blickte er weiterhin auf den Fluss aus Menschen, die aus dem Zug strömten und sich mit denen vermengten, die einsteigen wollten.

Am Gleis war ein heilloses Durcheinander ausgebrochen. Stimmen und Menschen vermischten sich zu einem lebendig gewordenen Wimmelbild.

Ein langer Lulatsch mit Hornbrille stand am Rande des Gleises, blickte grimmig auf den Zug und rief immer wieder „Menno!“ Vielleicht gefiel ihm die Farbe des Zuges nicht.

Eine gestresste Mutter zog ihre Tochter hinter sich her.

„Warum darf ich denn keine Plastikente haben, Mama?“, jammerte das Kind.

„Wirst du jetzt endlich aufhören?“, fauchte die Mutter. „Ich habe Nein gesagt! Du hast schon genug Enten zu Hause! Dein Zimmer ist voller Enten!“

„Aber meine Entenmama braucht doch Kinder! Sonst ist sie ganz doll einsam! Bitte, Mama! Bitte, bitte!“

Zwischen all den Menschen konnte Ben die Frau in Schwarz nirgends erkennen; sie ließ weiter auf sich warten. Ungeduldig lief Ben ein paar Schritte den Bahnsteig auf und ab. Hatte er sie verpasst? Er war fest davon ausgegangen, dass sie den gleichen Ausgang nehmen würde wie er, aber sie kam einfach nicht heraus. Hatte sie doch einen anderen Ausgang genommen, vielleicht einen, der weiter von ihrem Platz entfernt lag?

Immer wieder blickte er sich um, aber von der Frau in Schwarz fehlte jede Spur. Es schien, als hätte sie sich einfach in Luft aufgelöst.

Als der Zug ein paar Minuten später wieder losrollte und aus dem Bahnhof herausfuhr, waren die meisten Menschen verschwunden, bis auf eine junge Frau mit Handy am Ohr, die mit ihren Stöckelschuhen das Gleis, wie er, auf und ab lief.

Schließlich gab Ben die Suche auf. Er kam sich vor wie der letzte Idiot.

Frustriert und enttäuscht stellte er sich auf die harten Metallstufen der Rolltreppe, die ihn eine Etage tiefer zum Ausgang brachte.

Toll gemacht, Ben, dachte er im Stillen, ganz toll. Du hast es wieder einmal verbockt. 

3.

Langsam zogen die grauen Wolken am Himmel vorbei. Jedes Mal, wenn Gwen mit dem Zug an Landstrichen mit Dörfern und Städten vorbeifuhr, stellte sie sich die Geschichten der vielen Menschen vor, die in ihren Häusern lebten, ihre täglichen Routinen, ihren Lebensstil, ihre Geschichten. Gleichwohl war sie froh, in diesen Geschichten keine Rolle spielen zu müssen. Der einzige Ort, an dem sie gerne war: anderswo.

Nun kam sie wieder dorthin, wo alles seinen Anfang genommen hatte. Der Zug drosselte seine Geschwindigkeit und fuhr ins Gleis ein. Schon wieder pünktlich. Nicht zu fassen.

Am Bahnhofsgemäuer hatte jemand mit Graffiti die Worte „FUCK YOU“ in großen Lettern verewigt.

Du mich auch, dachte Gwen und zog die kleinen Kopfhörer aus ihren Ohren. Prompt wurde sie aus der zauberhaften Welt der Musik gerissen und zurück in die triste Realität katapultiert. Es war wie ein Sprung ins eiskalte Wasser.

Statt fantasievoller Reime dominierte nun chaotisches Geschwafel den aufgeheizten Zug. Die stickige Luft schien in ihrem Abteil stillzustehen. Auf dem Gang tummelten sich keuchende Menschen, die nur noch ins Freie wollten, raus aus dieser transpirierenden Eisenbahn.

Trotz mangelhafter Luftqualität wäre Gwen am liebsten weitergefahren.

Ein Blick aufs Handy verriet ihr, dass sie während der Fahrt vier Anrufe verpasst hatte und drei neue Textnachrichten eingegangen waren, allesamt von Nadine, die sie abholen wollte. Natürlich.

Seit Lauras Unfall hatte Nadine Gwen mit regelmäßigen SMS auf dem Laufenden gehalten, sie über das Datum von Lauras Beisetzung informiert und Gwens Ankunftszeit erfragt, mit der Bereitschaft, sie vom Bahnhof abzuholen. Gwen hatte nur das Nötigste zurückgeschrieben und sich sonst eher reserviert verhalten. Und nun das: vier verpasste Anrufe und drei Nachrichten.

In ihrer letzten Nachricht ließ Nadine Gwen wissen, dass sie pünktlich am Bahnsteig auf sie warten würde. Und tatsächlich: Als der Zug zum Stehen kam und Gwen den Bahnsteig sehen konnte, erkannte sie ihre alte Schulfreundin zwischen all den Menschen.

Doch anstatt sich auf das Wiedersehen zu freuen, ergriff Gwen ein plötzliches Unbehagen bei dem Gedanken, Nadine in wenigen Augenblicken gegenübertreten zu müssen. Wenn sie an die Nadine von früher dachte, konnte sie sich bereits lebhaft ausmalen, wie das Wiedersehen ablaufen würde:

Zu Beginn würden sie sich in die Arme fallen und oberflächliche Nichtigkeiten austauschen, von wegen Zugfahrt und so. Als Nächstes, wahrscheinlich während der Autofahrt, würden sie auf die Tragödie ihrer gemeinsamen Freundin zu sprechen kommen und sich in ihrer Trauer gegenseitig runterziehen. Und zu guter Letzt würde Nadine vor allem über sich selbst und ihr perfektes Leben reden und Gwen wenig bis überhaupt nicht zu Wort kommen lassen. Und falls Gwen wider Erwarten ein paar Wortfetzen einstreuen dürfte, würde Nadine das Gesagte sofort beurteilen und ungefragt Ratschläge erteilen. Gwen würde sich vorkommen wie der letzte Depp, naiv und fehlerbehaftet und unvollkommen.

Doch wollte sie das alles gar nicht. Nicht heute.

Ein lautes Zischen war zu hören, als die mechanischen Türen des Zuges aufsprangen und die ersten Menschen nach draußen strömten. Gwen fühlte, dass sie die Zeit bis zur Beerdigung anders nutzen wollte, dass sie noch mehr Zeit für sich brauchte. Daher entschied sie sich für eine spontane Planänderung.

Ein prüfender Blick aus dem Fenster verriet Gwen, dass Nadine genau an der Tür wartete, aus der sie im Normalfall aus dem Zug gestiegen wäre – so als hätte Nadine es im Vorfeld geahnt.

In Sekundenschnelle wandte Gwen sich vom Fenster ab, quetschte sich durch die Menschen auf dem schmalen Gang und schob die erste Schiebetür beiseite. Auf ihrem Weg trat sie aus Versehen ein paar Füße platt und bat dabei mehrmals um Verzeihung. Sie kam sich vor wie ein Footballspieler, der auf dem Weg zum finalen Touchdown die herannahenden Gegner wegboxen musste. Zwei Schiebetüren später schaffte sie es schließlich, in den äußeren Bereich des Zuges vorzudringen. Von dort, so hatte sie die Hoffnung, würde sie von Nadine unentdeckt auf den Bahnsteig treten und unter den vielen Menschen schnell untertauchen können. Falls Nadine sie doch entdeckte, würde Gwen in den sauren Apfel beißen, ihr Fakelächeln aufsetzen, Wiedersehensfreude vortäuschen und mit ihr fahren.

Bevor sie die kleine Metalltreppe am Zug herunterstieg, zog sich Gwen die Kapuze ihres schwarzen Mantels über den Kopf.

Fokussiert bleiben, dachte sie bei sich, bloß keinen Blickkontakt riskieren. 

Sobald sie das Gleis betreten hatte, wandte sie sich sofort nach links und heftete sich eiligen Schrittes an die Ferse einer älteren Dame, die in ein Telefongespräch vertieft war. Trotz ihrer Vorsichtsmaßnahmen rechnete Gwen jeden Moment damit, von Nadine entdeckt zu werden. In ihrem Geist konnte sie förmlich hören, wie das schrille Echo ihres Namens durch die Bahnhofshalle schallte.

Angestrengt konzentrierte Gwen sich weiter auf das Ziel. Nur noch wenige Meter trennten sie von der Rolltreppe, die vom Bahnsteig wegführte. Wenn Gwen diese unbeschadet erreichte, würde sie es schaffen. Obwohl es schweinekalt war, stieg Gwen die Hitze zu Kopf. Ihr Herz pochte wie wild. Gleichzeitig kam sie sich ziemlich lächerlich und unverschämt vor, schließlich hatte es Nadine mit dem Abholen nur gut gemeint. Doch egal, was ihr Kopf sagte, ihre Füße trugen Gwen automatisch weiter, immer weiter, wie ferngesteuert. Schließlich gelang es ihr, die Rolltreppe unentdeckt zu erreichen. Geschafft!

Unten angekommen, passierte sie blitzschnell den Eingangsbereich der Halle, öffnete die Glastür und trat raus ins Freie. Sie ignorierte eine rote Fußgängerampel und überquerte eilig die Straße, bis sie an der nächstbesten Häuserfront in eine schwach beleuchtete Nebenstraße einbog. Erst dort drosselte sie ihr Tempo und ging fortan gemächlich weiter.

Schon bald spürte Gwen die Vibration ihres Handys in der Jackentasche. Sie sah auf das Display, obwohl sie genau wusste, wer sie da anrief. „Na komm, gib es schon auf, Nadine“, sagte Gwen zu Nadines blinkendem Profilbild, doch Nadine klingelte hartnäckig bis zum Ende hin durch.

Als das Brummen des Handys aufhörte, machte Gwen hinter der nächsten Litfaßsäule Halt, um eine Nachricht zu tippen: „Sorry, habe den ersten Zug verpasst und einen späteren genommen. Brauchst mich nicht abzuholen. Wir sehen uns dann morgen. LG, Gwen.“

Nachdem sie die Nachricht verschickt hatte, ging Gwen weiter und schaltete entnervt ihr Handy aus. Das hatte sie schon seit Ewigkeiten nicht mehr gemacht. Es fühlte sich komisch an, fast schon rebellisch. Sofort beschlich sie das Gefühl, irgendetwas Wichtiges zu verpassen. Leider war sie, wie fast alle Menschen der heutigen Gesellschaft, mittlerweile abhängig von dem kleinen Mistding.

Gwen lief über einen Zebrastreifen, der von einer Straßenlaterne hell erleuchtet wurde, um danach in eine schattige Nebenstraße abzutauchen. Währenddessen dachte sie weiter über das Handyproblem nach. Gab es in ihrer Generation noch Menschen, die tagsüber ihr Handy ausschalteten, wenn auch nur für ein paar Stunden? Gab es überhaupt noch jemanden, der gar kein Handy besaß? Es war zu einem Normalzustand geworden, überall und für jeden erreichbar zu sein, sogar im Urlaub. Der Griff zum Handy hatte sich zu einem totalen Automatismus entwickelt.

Gwen konnte sich noch gut daran erinnern, wie es damals auf dem Schulhof zugegangen war, als die erste Handywelle das Land überschwemmt und alles verändert hatte. Auf einmal hatte jeder mit jedem von überall aus und zu jeder Zeit telefonieren können.

Die Prioritäten hatten sich schlagartig geändert. War man zu einem vereinbarten Treffen ein paar Minuten zu spät dran, war es zur Normalität geworden, sofort angerufen zu werden oder eine zornige SMS mit dem Inhalt „Wo bleibst du nur?“ zu bekommen.

Den lieben langen Tag hatten sämtliche Musiksender Klingeltonwerbung abgespielt; quasi über Nacht waren von überallher singende Hasen und krakeelende Krokodile aus ihren Löchern gekrochen, die sich einem mit Totschlagmelodien ins Hirn gefressen hatten, bis man fast komplett wahnsinnig geworden war.

Jahrelang hatte Gwen sich geweigert, auf den Handyhype aufzuspringen. Sie hatte sich darüber geärgert, wenn die Leute auf den Livekonzerten ihrer Lieblingsbands das Geschehen lieber gefilmt hatten, anstatt wahrhaftig darin einzutauchen. Es hatte sie genervt, wenn sie abends mit ihren Freundinnen in einer Bar gesessen hatte und kein richtiger Gesprächsfluss hatte entstehen können, weil ständig irgendwelche Textnachrichten eingetrudelt waren, die sofort und ausschweifend hatten beantwortet werden müssen.

Die Wende war an ihrem 18. Geburtstag gekommen, als Gwens Vater ihr das neueste Modell geschenkt hatte (für Notfälle, wie er behauptete). Von diesem Zeitpunkt an war sie ebenso angefixt gewesen wie der Rest der Menschheit. Das Leuchten des Displays hatte es ihr angetan; die neuartigen Apps, mit denen sich so wunderbar Zeit verschwenden ließ. Sie hatte sich nicht mehr dagegen wehren können.

Infolgedessen hatte sie ähnliche Verhaltensmuster wie der Rest der Menschheit übernommen und ständig ihre Mails gecheckt, jede noch so unwichtige Nachricht gelesen, bei jedem eingehenden Anruf gezuckt und permanent im Nachrichtenticker abgehangen, sieben Tage die Woche, frühmorgens bis spätabends. Es hatte sich zu einer regelrechten Zwangsstörung entwickelt. Und es hatte nicht mehr aufgehört. Nach wie vor verschwendeten Millionen von Menschen jeden Tag wertvolle Zeit damit, jede noch so belanglose Neuigkeit mit Freunden zu teilen, Spammails aus ihrem E-Mail-Postfach zu löschen und Bilder von ihrem Essen hochzuladen. Und am Ende jeden Tages war der Akku leer.

Eines schönen Tages, davon war Gwen fest überzeugt, würde sie ihr Handy einfach nehmen und in den nächstbesten Fluss pfeffern. Sie war neugierig, wie sich das wohl anfühlen würde. Wahrscheinlich würde sie sich wie eine Revoluzzerin vorkommen.

Mit diesen Gedanken streifte Gwen weiter durch die bekannten Gassen ihrer Heimatstadt. Wie lange war sie nicht mehr hier gewesen. Und doch kam es ihr so vor, als wäre seit ihrer Abreise kein Tag vergangen.

 

Irgendwann kam Gwen an ihrer alten Schule vorbei, einem brutalistischen Betongebäude mit zahllosen Fenstern. Hier hatte sie gelernt, zu leiden, in vielerlei Hinsicht.

Sie kam nicht umhin, einen Blick durch das große Glasportal zu werfen. Der Innensaal lag in vollkommener Dunkelheit und war gespenstisch leer. Schwer vorstellbar, dass sich tagsüber nach wie vor mehr als tausend Personen auf dem Gelände tummelten.

Einmal hatte Nadine Gwen ein Foto des aktuellen Lehrerkollegiums geschickt. Nur wenige Gesichter waren ihr noch vertraut gewesen. Die meisten ihrer früheren Lehrer waren längst in Rente gegangen.

 

Schließlich erreichte sie ihre Straße, die Straße ihrer Kindheit, in der sie mehr als ihr halbes Leben verbracht hatte. Die Lindenbäume entlang der Straße sahen alle gleich aus: hoch gewachsen, knorrig und ohne Blätter, in gleichen Abständen in einer Reihe stehend, wie zum Salut.

Hier war sie an früheren Wintertagen mit den Nachbarskindern über vereiste Pfützen geschlittert und hatte stundenlange Schnitzeljagden, Fußballturniere und Hockeyspiele veranstaltet. Eine Straße voller Erinnerungen, die, anfangs noch hell erleuchtet, über die Jahre zunehmend verblasst waren.

Am Ende der Straße ragte ihr Elternhaus hervor. Es kam ihr wie aus der Zeit gefallen vor, wie die Pappkulisse eines alten Films, den Gwen genau kannte, aber lange nicht mehr gesehen hatte. Die gleichen roten Fensterläden, derselbe graue Fassadenanstrich, der niedrige Holzzaun mit dem kleinen Tor in der Mitte, genau wie damals.

Und doch hatte sich so vieles verändert. Sieben Jahre waren vergangen, seitdem Gwen das letzte Mal dagewesen war. Die Abstände zwischen ihren Besuchen waren über die Jahre immer größer geworden.

Der alte Opel Corsa stand in der Einfahrt. Ihr Vater war also daheim. Zum Glück, schließlich besaß Gwen keinen Haustürschlüssel mehr.

Das klapperige Holztor knarrte, als Gwen es öffnete. Sie stellte ihre Tasche vor der Haustür ab und holte noch einmal tief Luft, dann drückte sie auf die Klingel. Sie spielte die bekannte Melodie, die sich wie ein Werbejingle aus früheren Tagen anhörte.

Gwens Herz begann laut zu pochen. Durch das milchige Glas der Tür konnte sie einen dunklen Schattenumriss erkennen, der durch den Flur huschte, näherkam und dabei an Größe gewann. Schließlich bekam der Schattenumriss Farbe und ihr Vater öffnete die Tür.

„Guten Abend, Gwen“, sagte ihr Vater mit matter Stimme.

„Hallo“, antwortete sie.

Ihr Vater trat einen Schritt zurück und stellte sich neben die Tür. „Komm doch rein.“

Gwen nahm ihre Tasche und trat in den Flur. Ihre nassen Stiefel tropften auf den dicken Teppich.

„Gute Fahrt gehabt?“, fragte ihr Vater.

„Ja, doch. Der Zug ist pünktlich angekommen. Nadine hat mich dann vom Bahnhof abgeholt und hierher gefahren.“ Gwen hatte keine Ahnung, warum sie ihn anlog. Es war wie ein Automatismus.

„Das ist gut“, antwortete ihr Vater. „Vorhin bin ich noch einkaufen gewesen. Diese Woche hat es Hähnchen im Angebot gegeben. Also, wenn du magst, kannst du dir gern Hähnchen machen. Die Keulen liegen im Kühlfach. Ich habe auch noch Kartoffelbrei und Mais im Vorratsschrank.“

„Ja, danke. Klingt gut.“

„Na, dann bring doch mal deine Sachen nach oben. Du wirst müde sein und dich ausruhen wollen.“

Zwar mochte es zutreffen, dass Gwen müde war, doch weniger von der Zugfahrt, als von der bleiernen Schwere, die von diesem Ort ausging.

Langsam stapfte sie die hölzerne Treppe nach oben und trat vor ihr altes Zimmer. An der Zimmertür hing noch immer das Schild mit der Aufschrift „Verbotene Zone“, die sie vor vielen Jahren mit einem Messer auf die Holzoberfläche des Schildes geritzt hatte.

Auch das Innere des Zimmers war noch immer so eingerichtet, wie Gwen es zurückgelassen hatte. Auf einem Regal über ihrem Spiegeltisch stand noch immer der alte Plattenspieler mit dem integrierten Kassettenrekorder. Ebenso unberührt erschienen die aufgereihten Bilder neben dem Fenstersims.

Auf allem lag mittlerweile eine dicke Staubschicht.

Gwen stellte ihre Tasche vor dem Kleiderschrank ab, ließ sich aufs Bett fallen und lauschte ihren eigenen Atemzügen, die allmählich langsamer wurden. Im Zimmer war es ganz still.

 

Es war die gleiche Stille, die Gwen damals schon fast in den Wahnsinn getrieben hätte.

4.

Ben schloss die Wohnungstür auf und schmiss den Schlüssel auf den Schuhschrank, der voll war mit diversen Klatsch- und Beautymagazinen.

Im Flur lagen überall Pakete in jeder denkbaren Größe und Form herum. Manche davon waren bereits aufgerissen, sodass sich Styropor und weiteres Verpackungsmaterial auf dem Teppich verteilten. Es sah aus wie in einer Lagerhalle. Also alles wie gehabt.

Ben bahnte sich einen Weg durch den Parcours aus Paketen und stiefelte geradewegs in die Küche. Dort stapelte sich das dreckige Geschirr des Tages. Verzweifelt schien es darauf zu warten, dass irgendjemand sich seiner erbarmte und endlich aufräumen würde.

Ben spürte noch immer dieses komische Gefühl in der Magengegend, eine Mischung aus Ärger, Resignation und Stupidität. Das Geschirr wegzuräumen erschien ihm da als willkommene Gelegenheit, Dampf abzulassen und die Frau aus dem Zug für ein paar Minuten zu vergessen.

Also schnappte er sich all die verkrusteten Teller, Tassen, Löffel und Gläser und verstaute sie nacheinander im Geschirrspüler. Dabei gab er sich keine Mühe, besonders leise zu sein, sondern schmiss das Geschirr einfach mit viel Schmackes auf das Gitter. Es dauerte nicht lange, da schnellte die Tür zum Arbeitszimmer auf.

„Honey? Honey, was machst du denn da?“ Es war Liz,

Bens Freundin. Seit mehr als zwei Jahren waren sie und Ben nun ein Paar.

Ben fiel es schwer, seine Freundin unter den Schichten von Make-up und Tubenbräune zu erkennen. Sie sah so aus, als ginge sie zur Oscar-Verleihung. Oder viel mehr zur Vergabe der Goldenen Himbeere.

„Wonach sieht’s denn aus?“, gab Ben zur Antwort. „Ich räume hier auf. Dir übrigens auch einen schönen Abend.“

„Ja, hi. Du musst hier aber jetzt wirklich nicht aufräumen.“

„Wenn ich es nicht mache, tut’s ja doch keiner.“

„Die Sache ist die“, sagte Liz, „im Moment filme ich meine Reaktion auf den neuen Werbespot meines Lieblingsparfüms, und während ich rede, kann man deinen Krach im Hintergrund hören.

---ENDE DER LESEPROBE---