Siebenundneunzig "Seetage" - Wolfgang Martin - E-Book

Siebenundneunzig "Seetage" E-Book

Wolfgang Martin

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Beschreibung

Anhand von Tagebuchaufzeichnungen aus den 1970er Jahren erzählt der Verfasser die Geschichte einer Praktikumsreise angehender Seefunk-Offiziere und nautischer Offiziere mit dem Lehr- und Frachtschiff "J.G. Fichte" nach Mittelamerika über einen Zeitraum von 97 Tagen. Das Tagebuch beschreibt im Wesentlichen den Tagesablauf und die Lebensverhältnisse während dieser Reise, die Enge auf dem mit knapp 11.000 BRT relativ kleinen Schiff mit etwa 300 Besatzungsmitgliedern und gibt Einblicke in die manchmal erstaunlichen, aber auch kuriosen Lebensverhältnisse und -umstände in der Mitte der 1970er Jahre. Es zeigt jedoch auch viele Absurditäten auf und beschreibt mehrfach gefährliche Situationen an Bord und an Land. Das Tagebuch beginnt mit dem 4. November 1974 und endet am 8. Februar 1975. Für die Studenten beziehungsweise Praktikanten, die nach dieser Reise kurz vor ihrem Studienabschluss standen, war eine derartige Reise ein vorzeitiger Ausflug in die "große Freiheit", trotz der einfachen und äußerst beengten Verhältnisse. Auf MS "J.G. Fichte" wurde von 1974 bis 1976 die danach sehr beliebt gewordene neunteilige Serie "Zur See" im Auftrag des Deutschen Fernsehfunks der DDR gedreht. Die DDR hatte gerade 25 Jahre ihres Bestehens hinter sich und sollte noch 14 Jahre vor sich haben, was damals noch niemand ahnen konnte. Die meisten der späteren nautischen Offiziere und Funkoffiziere sind nach Beendigung des Studiums kurz nach dieser "Fichte-Reise" viele Jahre, wohl zumeist erfolgreich, auf den Schiffen der Handelsmarine oder auf den Schiffen der Hochseefischerei der DDR und später auf den Schiffen der Bundesrepublik Deutschland oder auch unter anderen Flaggen zur See gefahren.

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Bild 1: MS „J. G. Fichte“

INHALT

Vorwort

Ein Vergleich

Tagebuchinhalt vom 04.11.1974 bis 08.02.1975

Nachwort

Reisestationen

Ungefähre Reiseroute

Bildnachweis

Dank des Verfassers

Vorwort

Wozu der Zustand des so genannten Ruhestandes – ich bin inzwischen Rentner und Pensionär – doch führen, bewegen und animieren kann!

Dreiundvierzig Jahre lang hat mein Tagebuch wohl verstaut in einer Kiste oder in einem Koffer gelegen, diverse Umzüge miterlebt und die letzten elf Jahre, selbstverständlich auch wohl verwahrt, auf unserem Dachboden zugebracht…….

Nun habe ich das Tagebuch hervorgeholt, noch einmal gelesen, und die Erinnerung an diese Reise war sofort wieder lebendig. Und so wird es wohl auch denjenigen gehen, die diese Reise persönlich miterlebt haben.

Vielleicht möchten mich ja einige Leserinnen und Leser, aber insbesondere auch meine ehemaligen Kommilitoninnen und Kommilitonen auf dieser interessanten Reise nach Mittelamerika und zurück noch einmal begleiten.

Im September 1971 begann ich mein Studium an der Ingenieurhochschule für Seefahrt, Warnemünde/Wustrow, Sektion Schiffsführung (IHS). Voraussetzung für dieses Studium war das erfolgreich abgeschlossene Abitur (Reifeprüfung). Und das hatte ich am Gymnasium in Bergen auf Rügen (damals Erweiterte Oberschule – EOS) im Sommer 1969 erworben. Gleichzeitig hatte ich auch mein Facharbeiterzeugnis als Maurer in der Tasche. Es gab zu der Zeit allerdings auch eine andere Möglichkeit, die erforderliche Qualifikation für ein Hochschulstudium zu erwerben, die jedoch ein Jahr länger dauerte: Ab der zehnten Klasse drei Jahre Berufslehre und Abitur zu gleicher Zeit.

Das eineinhalb Jahre währende Grundlagenstudium fand in Wustrow auf der Halbinsel Fischland/Darß in einem Teil der IHS mit besonderer Tradition, statt, und die restlichen Studienjahre absolvierten meine Kommilitonen und ich in Rostock-Warnemünde an der dortigen Seefahrtschule.

Die so genannte "Großherzögliche Mecklenburgische Navigationsschule" mit Standort Wustrow wurde im Jahre 1846 gegründet. 1916 wurde sie in "Seefahrtschule Wustrow" umbenannt. Nach den Kriegswirren wurde die Einrichtung 1949 als "Seefahrtschule Wustrow" wiedereröffnet.

Nach vielen weiteren Entwicklungsschritten wurde die Seefahrtschule Wustrow 1969 in "Ingenieurhochschule für Seefahrt" (IHS) umbenannt und mit der "Ingenieurschule für Schiffbautechnik" vereint. Die schrittweise Ausgestaltung erfolgte ab 1972 mit dem Erhalt des Diplomrechts. Es folgten der Erhalt des Promotionsrechts 1980 und des Habilitationsrechts 1989. Die IHS war in die Sektionen Schiffsführung, Schiffbautechnologie, Schiffsbetriebstechnik und Grundlagenausbildung unterteilt. Im Jahr 1986 gründete man noch die Sektion Seewirtschaft.

Im Jahr 1989 wurde die Einrichtung in "Hochschule für Seefahrt" umbenannt. Die Universität Rostock übernahm 1992 die Ausbildung als Rechtsnachfolger der Ingenieurhochschule.

Seitdem standen die Gebäude der ehemaligen Seefahrtschule als Ruine da und verfielen mehr und mehr. Ab dem Jahre 2018 erfolgen jetzt der Umbau und die Erweiterung der unter Denkmalschutz stehenden Gebäude zu einer attraktiven Ferienapartmentanlage.

Gegen Ende unseres Studiums war für die angehenden nautischen Offiziere, aber auch für uns als angehende Funkoffiziere eine Praktikumsreise mit einem der Lehr-, Ausbildungs- und Frachtschiffe der Deutschen Seereederei obligatorisch.

Als wir unsere Praktikumsreise antraten, lagen also bereits mehr als drei Studienjahre hinter uns, und wir freuten uns sehr darauf, an unserem künftigen Beruf schon mal etwas „schnuppern“ zu dürfen.

Die DDR hatte damals eine der weltweit größten Handelsflotten, und wir sollten auf einem dieser Schiffe unseren Dienst versehen und beweisen, dass wir die während des Studiums erworbenen Fähigkeiten und Kenntnisse in die Praxis umsetzen konnten. Wir sahen es als großes Privileg an (und das war es wohl auch), die weltweiten Meere bereisen zu dürfen; die Familienangehörigen mussten allerdings meistens zu Hause bleiben.

Bild 2: Gebäude der Seefahrtschule in Wustrow/Darß (Grundlagenstudium)

Bild 3: Gebäude der Ingenieurhochschule für Seefahrt in Warnemünde

Unser Fracht- und Ausbildungsschiff sollte MS „J. G. Fichte“ (MS – Motorschiff) werden, ein Schiff des VEB Deutsche Seereederei Rostock (DSR) [WM: Die Abkürzung „VEB“ steht für „Volkseigener Betrieb“]. Es wurde nach dem deutschen Philosophen „Johann Gottlieb Fichte“ benannt. Das Schiff lief am 31. Oktober 1948 in Saint Nazaire/Frankreich vom Stapel. Zwischen 1950 und 1962 wurde es durch eine französische Reederei im Liniendienst nach Südamerika, zeitweise auch nach Afrika, eingesetzt. Am 7. August 1962 wurde die „Claude Bernard“, wie das Schiff damals noch hieß, von der DSR übernommen. Umbenannt in „J. G. Fichte“ wurde das Schiff als drittes Ausbildungsschiff der DSR, nach der „Theodor Körner“ und der „Heinrich Heine“, in Dienst gestellt. Zu diesem Zweck wurde das Schiff nach der Übernahme mit Einrichtungen zur Ausbildung von etwa 180 Matrosenlehrlingen und 48 Praktikanten ausgestattet. Zum Vorteil der Reederei und der Ausbildung war zudem auch dieses Schiff, ähnlich wie die vorher genannten, für den Transport von Stück- und Schüttgütern geeignet. Das Schiff war außerdem mit Möglichkeiten zum Transport von so genanntem Gefriergut ausgestattet. Es wurde zumeist auf der Linie DDR – Kuba – Mexiko eingesetzt.

Als Ausbildungsschiff der DSR war die „Fichte“ mit 11.942 BRT vermessen und hatte Unterbringungsmöglichkeiten für 289 Auszubildende und Ausbilder an Bord.

Technische Daten:

Länge:

163,4 Meter (Länge über Alles)

Breite:

19,6 Meter

Vermessung:

11.942 BRT

Maschine:

2 x 8 Zylinder-Dieselmotoren

Maschinenleistung:

11.200 PS

Höchstgeschwindigkeit:

21 Knoten (Seemeilen pro Stunde)

Reisegeschwindigkeit:

16 – 17 Knoten

Propeller:

2

Zugelassene Anzahl Besatzungsmitglieder:

324

Die rund 300 Besatzungsmitglieder schlüsseln sich in etwa wie folgt auf:

80

Mann Stammbesatzung

50

Praktikanten (angehende Nautische Offiziere und Funkoffiziere)

180

Matrosenlehrlinge.

Kurz vor dem Beginn unserer Reise im November 1974 hatte ich irgendwie und irgendwann den Entschluss gefasst, diese für uns so große Besonderheit in irgendeiner Weise zu dokumentieren. Da ich damals keine Kamera besaß, sondern hinsichtlich von Fotos auf die Freundlichkeit von Kommilitonen angewiesen war, hatte ich die Idee, ein Tagebuch zu schreiben. Aus heutiger Sicht ist es für mich, und vielleicht auch für andere deshalb besonders wertvoll, weil ich, damals unbewusst, viele Dinge aufgegriffen und erzählt habe, an die sich mancher nicht mehr erinnern kann. Gleichzeitig wird aber auch die Einfachheit bestimmter Belange und Geschehnisse sehr deutlich. Doch auch der technische Fortschritt und die gesellschaftliche Weiterentwicklung sind aus heutiger Sicht erkennbar. Die Erinnerung daran ist sehr wichtig. Einige Beispiele (stichwortartig): Satelliten gab es nur wenige, und die wurden zumeist weltweit durch die Militärs entwickelt und genutzt. Das heißt, von hoher See aus in irgendeiner Form eine Verbindung zur Heimat herzustellen, war äußerst kompliziert und teuer. Meistens war das nur über Grenz- oder Kurzwellen-Sprechfunk oder mithilfe der Morsetelegrafie (Funktelegramme) u.a. auf Kurzwellenfrequenzen möglich. Aus oben genannten Gründen war es auch nicht einfach, Wettermeldungen über Satelliten zu erhalten. Es gab fast regelmäßig einen Kampf darum.

Beim Lesen wird sicherlich auffallen, dass MS „J. G. Fichte“ auf unserer Reise sehr viele Leerzeiten hatte. Damit meine ich Liegezeiten, in denen hinsichtlich der Ladung nichts oder nicht viel geschah. Die Reederei-Oberen und die Schiffsführung selber, so hatte ich häufig den Eindruck, hatten damit so gut wie kein Problem, weil sie immer davon ausgingen, dass unabhängig von der Wirtschaftlichkeit des Schiffes die Ausbildung, gleichgültig, ob für Studenten oder für Matrosenlehrlinge, dennoch funktionierte, was ja auch grundsätzlich der Fall war. Andererseits ging es oft um so genannte Solidaritätsfracht, in welche Richtung auch immer (meistens in Richtung Kuba), und dabei spielte dann Wirtschaftlichkeit nur eine untergeordnete Rolle. Außerdem hatte die „Fichte“ ja ohnehin keine wirklich großen Ladekapazitäten! Aus dieser Erkenntnis heraus ergab sich auch, dass wir fast 14 lange Tage in Rostock an der Pier lagen, bis die Reise endlich begonnen werden konnte. Und auch diese Zeit, aber auch lange Liegezeiten in Kuba, möchte ich schon wegen der Authentizität der Ereignisse in meinem Tagebuch erwähnen. Das ergibt allerdings, zumindest am Beginn des Tagebuches, ein etwas zähes Vorankommen der Ereignisse.

Immer wieder wird in dem Tagebuch als abendliche Freizeitbeschäftigung der Besuch im „Hypodrom“, unser Bordrestaurant, erwähnt. Dazu folgende Erläuterung: In der Enge der Kammer oder Kabine – für mich war es eine Vier-Mann-Kabine (auf vielleicht acht bis zehn Quadratmetern) mit zwei doppelstöckigen Kojen (zwei längs und zwei quer zum Schiff), einem Schrank, einem Waschbecken, vier Stühlen, von denen allerdings nur zwei an den Tisch passten, und einem „Bulleye“ (das ist ein rundes Schiffsfenster) – war es zu viert über einen längeren Zeitraum abends nicht auszuhalten. Unabhängig davon hatte ich zum Glück eine untere Koje in Längsrichtung des Schiffes.

Die Stammbesatzung der „Fichte“ ist dagegen mit Einzelkabinen und eigener Dusche und Toilette ausgestattet.

Einzige Alternative, einige Zeit aus diesem Dilemma und dieser Beengtheit herauszukommen, war eigentlich ausschließlich das „Hypodrom“, unser Bordrestaurant, in dem man die Enge und Beklemmungen abschütteln konnte. Hinzu kommen in der beschriebenen Enge dann auch noch zwischenmenschliche Probleme….. Es blieb nichts anderes, als im „Hypodrom“ diesen Problemen möglichst weitestgehend aus dem Weg zu gehen und sie dort manchmal auch zu „ertränken“. Heutzutage würde man wohl von Alkoholmissbrauch sprechen. Obwohl – das war es damals ja eigentlich auch schon! Eine plausible Erklärung für den Begriff „Hypodrom“ habe ich nicht gefunden. Manche sprechen davon, dass es sich um eine Ableitung von „Hippodrom“ handelt (altgriechisch „Pferderennbahn“), andere sehen einen Zusammenhang mit dem Film „Große Freiheit Nummer 7“ mit Hans Albers alias „Hannes Kröger“, der dort in einem Lokal dieses Namens (Hypodrom) als „Seemannssänger“ gearbeitet hat. In der Arena soll dort wohl auch auf Pferden geritten worden sein. Wiederum andere sagen, das hat damit zu tun, dass wegen der Nähe des Bordrestaurants zur Maschine des Schiffes und deren Vibrationen die Gläser auf den Tischen tanzen………

Sehr häufig ist in dem Tagebuch die so genannte Mittagsposition angegeben. In der seemännischen Navigation wird mithilfe von Koordinaten (Längen- und Breitengrad) die jeweilige Position des Schiffes bestimmt. Sie ist insbesondere interessant für jemanden, der die Schiffsroute anhand der Koordinatenangaben nachvollziehen möchte.

Mehrfach wird in dem Tagebuch „stolz“ die Rede von einem „mobilen“ Tonbandgerät sein, mithilfe dessen wir, wo wir uns auch gerade immer auf dem Schiff befanden, Musik hören konnten. Wie selbstverständlich ist es doch heute, seine Lieblingsmusik hören zu können, wo immer und über welche Medien man dies auch will.

Kann es denn tatsächlich möglich sein, dass von einem Postamt im Überseehafen Rostock nach Rügen keine Telefonverbindung zustande kommt? Ja, das war aber leider Realität! Vielleicht kann man sich auch daran erinnern, dass innerhalb der DDR die Vorwahl von einem bestimmten Ort zu einem anderen bestimmten Ort immer unterschiedlich war. Nicht vergleichbar mit heute, wo jedem Ort eine feste Vorwahl zugeordnet ist.

Beim Lesen des Tagebuches werden sich weitere derartige Aspekte ergeben.

Die „Fichte“ war ihrem Zweck entsprechend, mit einer Hauptbrücke, einer Lehrbrücke, einem Hauptfunkraum und einem Lehrfunkraum, die alle nach dem aktuellen Stand der Technik ausgestattet waren, ausgerüstet. Lehrbrücke und Lehrfunkraum bildeten die Basis für die Ausbildung von Studenten der Schiffsführung (nautische Offiziere) und der Studenten des Wissenschaftsbereichs Schiffselektronik und Nachrichtendienst (Funkoffiziere). Die Lehrbrücke befand sich auf dem Achterschiff auf dem B-Deck und war mit den modernsten Schiffsführungsgeräten ausgerüstet, allerdings ohne den Steuerstand.

Der Lehrfunkraum war mit den für diese Zeit modernsten nachrichtentechnischen Systemen ausgestattet, so dass das Verständnis für die Funktionsweise der vorhandenen Funkgeräte und anderer elektronischer Geräte bei den angehenden Funkoffizieren wachsen konnte. In diesem Raum gab es auch Arbeitsplätze für die Reparatur von schiffselektronischen Geräten.

Die „Seetage“ im Titel habe ich ganz bewusst in Anführungs- und Ausführungsstriche gesetzt, weil wir mit dem Schiff tatsächlich mehr Zeit in Häfen und auf Reede zugebracht haben als auf hoher See. Das heißt, die meisten Reisetage waren keine Seetage.

Mit den aus heutiger Sicht allerdings sehr einfachen Mitteln sind wir damals durchs Leben gegangen, haben jedoch, denke ich, auch unseren kleinen Teil für die gesellschaftliche und die technische Entwicklung beigetragen. Ein Fakt ist beispielsweise, dass einige meiner damaligen Kommilitonen und ich berufsbedingt später daran mitgewirkt haben, dass der Beruf, den wir mal ergriffen hatten, nämlich den des Funkoffiziers, überflüssig geworden ist (Entwicklung des Satellitenfunkdienstes).

Mein Tagebuch vermeidet weitestgehend sehr bewusst sozialkritische oder politische Themen.

Ein Vergleich

Von Peter Busse, Elsfleth, zuletzt zuständig für Angelegenheiten des Seefunkdienstes und des Binnenschifffahrtsfunks beim Bundesministerium für Verkehr

Wolfgang Martin schildert in seinen Erinnerungen u.a. den Weg, das damalige international anerkannte Seefunkzeugnis 2. Klasse in der DDR an der Ingenieurhochschule für Seefahrt, Warnemünde/Wustrow, zu erwerben. Dieses Funkzeugnis erlaubte es ihm, den Funkdienst auf funkausrüstungspflichtigen Schiffen, also Schiffen in einer Größe ab 1.600 BRT, eigenverantwortlich als Funkoffizier auszuüben. Obwohl die Anforderungen zum Erwerb eines solchen Seefunkzeugnisses international verbindlich in der Vollzugsordnung für den Funkdienst – herausgegeben von der Internationalen Fernmeldeunion (ITU), einer Unterorganisation der Vereinten Nationen – festgelegt waren, unterschieden sich die Ausbildungsgänge in den damaligen beiden deutschen Staaten doch erheblich. In der Bundesrepublik bildeten die Seefahrtschulen der Bundesländer, wie z.B. in Bremen, Hamburg, Elsfleth und Lübeck die angehenden Funkoffiziere aus. Die Abnahme der Prüfungen lag als Bundesaufgabe bei der Deutschen Bundespost mit ihren dafür zuständigen Oberpostdirektionen. Voraussetzung für den Besuch einer dieser Seefahrtschulen war mindestens ein Realschulabschluss und eine abgeschlossene Ausbildung im Elektrofach – z.B. als Rundfunkmechaniker – oder mindestens ein zweijähriges Praktikum in einem Bereich der Elektrotechnik.

Die zweisemestrigen Ausbildungsgänge an den Seefahrtschulen in der Bundesrepublik behandelten als Schwerpunkte das Hören und Geben von Morsezeichen. Selbstverständlich gehörten auch die Fächer wie z.B. Englisch, Wetterkunde, Technik und Betriebsverfahren im Seefunkdienst zur Ausbildung. Jedoch war mit dem Erwerb des Seefunkzeugnisses 2. Klasse keine gleichzeitige Anerkennung als Ingenieur verbunden. Dazu waren weder Ausbildungsziele noch Ausbildungszeiten vorgesehen. Hier war die Ausbildung in der DDR breiter angelegt und führte zur akademischen Anerkennung als Diplomingenieur.

Die frischgebackenen Funkoffiziere in der Bundesrepublik wurden meistens ohne weitere seemännische Vorbildung sofort nach dem Erwerb ihres Seefunkzeugnisses eigenverantwortlich auf den Schiffen eingesetzt. Übergabezeiten waren häufig nur knapp bemessen und fanden dann unter Zeitdruck statt. Das führte oftmals dann dazu, dass die jungen Funkoffiziere mit verständlicher Nervosität – auch als „Tastenangst“ bezeichnet – ihre erste Reise antraten. Auch hier dürften Ausbildungsreisen mit der „Fichte“ dem positiv entgegengewirkt haben.

Unterschiede in der Abwicklung des Seefunkdienstes zwischen Funkoffizieren beider deutscher Staaten sind mir nicht bekannt. Die Morsezeichen waren damals ein wertvolles Mittel der Verständigung und öffneten damit den Weg zu einer Welt, die den meisten Menschen verschlossen blieb.

Bedingt durch den weltweiten technischen Fortschritt im Bereich Funk und in der Telekommunikation wurde der Beruf des Funkoffiziers überflüssig und im Wesentlichen durch die Satelliten-Kommunikation ersetzt. Viele Funkoffiziere mussten sich deshalb nach unterschiedlich langen Fahrenszeiten eine neue Tätigkeit an Land suchen. Den meisten gelang dies wegen ihrer erworbenen Erfahrungen und Fähigkeiten auch sehr erfolgreich.

Und hier zum Inhalt meines Tagebuches:

Montag, 04.11.1974, – Sonnabend, 08.02.1975

Bild 4: MS „J. G. Fichte“

Tag 1: Rostock-Überseehafen, MS „J. G. Fichte“, Montag, den 04.11.1974

Nach der „Fichte“-Reise wird mein Studium, das mich zum Funkoffizier machen soll, beendet sein. Das heißt, wir haben zwar noch einige Prüfungen zu bestehen; denen sehe ich aber mit Gelassenheit entgegen.

Am Sonntagabend war ich um 23:47 Uhr mit dem „Ostsee-Express“ aus Berlin abgereist, nachdem ich mich von meiner kleinen Familie, meine Frau Roswita und unsere Tochter Katrin – sie war am 10. Oktober gerade vier Jahre alt geworden – verabschiedet hatte, wie ich glaubte, für drei Monate. Die Fahrt verlief wie üblich normal. Gegen 04:45 Uhr am Montag war ich in Warnemünde im Internat der Ingenieurhochschule für Seefahrt Warnemünde/Wustrow (IHS) angekommen. Leider konnte ich mich noch nicht gleich schlafen legen, sondern musste meinen zweiten Koffer packen. Die Sachen sollten morgens um 07:30 Uhr mit einem Lastkraftwagen (LKW) abgeholt und zur „Fichte“ gefahren werden. Als ich den Koffer gepackt hatte, legte ich mich schlafen, in nicht bezogenen Betten! Denn diese Übernachtung war so nicht geplant. Die Bettwäsche hatte ich abgegeben, bevor ich am Donnerstagabend nach Hause, nach Berlin, gefahren war.

Um 07:00 Uhr standen wir auf (Peter B., Manfred N. [Namen geändert] und ich) und brachten unsere Koffer in den Internatsvorbau. Ich hatte zwei knackvolle Koffer. Die Uniformmütze bekam ich nicht mehr mit hinein. „Peter“ sprechen wir alle übrigens wie das englische Peter, also wie „Pieter“, aus.

Danach gingen wir zum S-Bahnhof „Werft“, kauften uns im Zug eine Fahrkarte und fuhren dann mit einem kurzen Zwischenaufenthalt in Rostock zum Überseehafen. Von Rostock zum Überseehafen sind es etwa 12 Kilometer.

Wenn man das Seefahrtsbuch vorzeigt, kommt man „ungeschoren“ durch die Wache in den Hafen hinein. Der Hafen ist überall sehr stark bewacht.

Nach der „Fichte“ brauchten wir nicht zu suchen, da einige von uns wussten, an welcher Pier sie lag.

Wir waren etwas geschockt, als wir dort ankamen; die „Fichte“ lag nämlich an der so genannten „Apatit-Pier“ davor MS „Görlitz“, ein größerer Massengutfrachter (mehr als 20.000 BRT), und war völlig eingestaubt. Apatit in Pulverform wird u.a. zur Herstellung von Dünger verwendet. Man kann es sich in der Konsistenz wie Gips oder Mehl vorstellen und bildet eine schmierige Masse, wenn es mit Wasser in Berührung kommt. Es hat einen leichten Grauschimmer. Die „Görlitz“ hatte es aus Klaipeda [WM: damals Sowjetunion, heute Litauen und ganz früher Meml] geholt.

Als wir uns von diesem Schock erholt hatten, meldeten wir uns bei der Bordwache, und man zeigte uns den Weg zu unserer Kammer. Auf einem größeren Schiff kann man sich anfänglich sehr leicht verlaufen.

Leider bekamen wir nur eine verhältnismäßig kleine Kammer zugeteilt. Wir, das sind Peter B., Manfred N., Siggi D. und ich. Ein Waschbecken mit fließendem, lauwarmem Wasser ist vorhanden. Allerdings besitzt der Wasserhahn des Waschbeckens aus Gründen des Einsparens von Wasser einen Mechanismus, mit dem man den Wasserhahn und einen Metallbügel oberhalb des Wasserhahns mit einer Hand umklammern muss, um das Wasser zum Laufen zu bringen. Und wer kann sich schon so richtig mit einer Hand waschen? Was haben wir also getan? Wir haben uns einen Einweckgummi beschafft und ihn um den Wasserhahn befestigt! Und schon konnten wir beide Hände zum Waschen nutzen. Eine Dusche gibt es in den sanitären Gemeinschaftseinrichtungen. Beide sind aber nicht in besonders einladendem Zustand. Wir trösteten uns damit, dass es sich hier um einen zeitlich befristeten und absehbaren Aufenthalt handelt und wir später, wie alle Schiffsoffiziere, eine eigene Kammer haben werden, auf manchen Schiffen sogar mit eigenem Bad und einem größeren „Fenster“ mit möglicherweise sogar Blickrichtung auf See.

Um 11:30 Uhr gab es Mittagessen in der Offiziersmesse, und was wir dort vorfanden, übertraf alle unsere Erwartungen. Die Offiziersmesse ist ein wunderbarer Raum mit holzgetäfelten Wänden, weinrot bezogenen Sesseln und auch sonst mit angemessener Einrichtung. Das Essen wird von Stewardessen serviert, ist sehr, sehr gut und reichlich. Für mich ist das genau richtig – deftige deutsche Hausmannskost. Man kann so viel nachbestellen, wie man möchte. Das alles geschieht in einer dezenten und gepflegten Atmosphäre. Die Stewardessen bedienen uns leise und schnell. Die Offiziersmesse darf nur entsprechend der jeweils gerade angeordneten Uniformordnung betreten werden.

An dieser Stelle möchte ich anmerken, dass Verpflegung und Unterkunft für alle Seeleute auf allen DDR-Schiffen kostenfrei sind (freie Kost und Logis).

Nach dem Essen hielten wir uns bis um 13:00 Uhr in unserer Kammer auf und gingen dann in den Musiksalon zur offiziellen Begrüßung und Einweisung. Salon ist übrigens schon die angemessene Bezeichnung für diesen Raum, denn er ist ähnlich gestaltet, wie die Offiziersmesse, nur zusätzlich mit einem dicken Teppich ausgestattet [WM: Der Teppich wird später noch eine besondere Erwähnung finden.]. Hier erfuhren wir, dass der Auslauftermin, der ursprünglich auf den 6. November festgelegt war, auf den 10. November verschoben wurde, aber auch der stehe noch nicht fest, da die „Fichte“ noch 3.000 Tonnen Zucker in ihren Laderäumen hat, die noch gelöscht werden müssen. Die voraussichtliche Route wird sein: Vlissingen in Holland (einige Tage Werftliegezeit), Kuba und zurück. Es können aber auch noch andere Häfen angelaufen werden. Weiterhin klärte man uns über einige Verhaltensmaßregeln auf, die auf diesem Schiff gelten. Sie sind dadurch, dass die „Fichte“ ein Ausbildungs- und Frachtschiff ist und dementsprechend eine Besatzungsstärke von etwa 300 Mann hat, gegenüber Schiffen mit einer Besatzungsstärke von üblicherweise 20 bis 30 etwas anders.

Wir als Praktikanten und angehende Schiffsoffiziere haben die gleichen Rechte wie die Offiziere der Besatzung des Schiffes und bekommen auch jegliche Unterstützung von ihnen. Das habe ich bereits mehrfach in verschiedenen Situationen eindrucksvoll bewiesen bekommen.

Bis zu dieser Einweisung trugen wir alle noch unsere Zivilsachen, aber ab morgen tragen wir an Bord ständig die Uniform; zurzeit noch blaue Hose und Khakijacke. Nach der Einweisung bekamen wir unsere Bettwäsche. Jeder erhielt komplette Bettwäsche sowie zwei Decken und drei Handtücher.

In der Mittagspause war auch der LKW mit unseren Koffern aus Warnemünde angekommen, so dass wir nach dem Wäscheempfang unsere Sachen in die Schränke einräumen und die Kojen einrichten konnten.

Um 17:30 Uhr gingen wir wieder in die Offiziersmesse. Dieses Mal zum Abendbrot, und die Atmosphäre war für mich wieder so faszinierend wie zum Mittag. Es gab jedenfalls wieder reichliches und gutes Essen.

Anschließend schrieb ich einen Brief nach Hause, um meine ersten Eindrücke vom Schiff zu schildern und meinen beiden Mädels mitzuteilen, dass ich am Wochenende wahrscheinlich noch einmal nach Hause kommen würde. Ich hoffe sehr, dass es geschehen wird.

Am Abend spielten wir Skat, um uns die Zeit zu vertreiben. Es blieb aber nicht bei einem kurzen Zeitvertreib, sondern wir spielten bis um 23:30 Uhr, weil wir großen Spaß daran hatten. Zum Durststillen hatten wir uns aus einer nahegelegenen Kaufhalle Cola geholt. Alkohol gibt es im ganzen Hafen nicht, und die Verkaufsstelle und der Transit-Shop auf der „Fichte“ haben erst während der Fahrt geöffnet.

Leider sehe ich meine Geldvorräte schwinden, wenn wir nicht bald auslaufen, denn ich hatte ja damit gerechnet, im Transit-Shop billig einkaufen zu können (beispielsweise Zigaretten F6 für 80 Pfennig), und der ursprüngliche Auslauftermin war der 6. November 1974!

Dann kam unsere erste Nacht auf der „Fichte“, und ich war mit der Situation eigentlich ganz zufrieden.

Tag 2: Rostock-Überseehafen, MS „J. G. Fichte“, Dienstag, den 05.11.1974

Meine „Kammergenossen“ hatten die ganze Nacht über jämmerlich gefroren und sollten sich wohl noch eine zusätzliche Decke geben lassen. Warum aber habe ich eigentlich nicht gefroren?

Um 07:00 Uhr standen wir auf und gingen um 07:30 Uhr zum Frühstück. Hier wiederholte sich alles wie bei den ersten beiden Mahlzeiten gestern, nur dass alle Praktikanten, wie man uns hier nennt, jetzt ihre Uniformen tragen. Es gab für jeden, der Appetit darauf hatte, Bockwurst; ansonsten Bohnenkaffee oder Milch, Brötchen, Butter und Marmelade. Alles selbstverständlich in großer Auswahl und ausreichender Menge.

Nun habe ich drei verschiedene Mahlzeiten etwas ausführlicher beschrieben und möchte sie deshalb später nur noch am Rande beziehungsweise stichwortartig erwähnen.

Für uns Praktikanten beginnt der Arbeitstag auf dem Schiff um 09:00 Uhr und endet um 16:00 Uhr. Der obligatorische Unterricht geht für uns von 09:00 bis 11:00 Uhr und von 14:00 bis 16:00 Uhr. Während der „echten“ Seefahrtzeit hat dann zusätzlich jeder von uns täglich einen vierstündigen Brückenwachdienst zu verrichten, so dass täglich mindestens etwa 8 Dienst- beziehungsweise Unterrichtsstunden zusammenkommen. Heute hatten wir allerdings noch keinen Unterricht, sondern mussten einige Arbeiten verrichten, die notwendig waren, um einen ordentlichen Ablauf des Praktikums zu gewährleisten. Peter und ich sollten zum Beispiel die defekten Lautsprecher in den Kammern der Studenten reparieren und an leicht zugänglichen Stellen anbringen. Wir schafften das innerhalb der beiden Stunden am Vormittag.

Gegen 11:30 Uhr zogen wir uns um und gingen wieder zum Mittagessen. Es gab gefüllte Paprikaschoten mit Kartoffeln oder Reis. Jeder konnte nach Belieben auswählen.

Zwischendurch erfuhren wir, dass die „Fichte“ zwischen 18:00 und 19:00 Uhr zur gegenüberliegenden Pier verholt werden soll und damit endlich von dem Apatit-Staub wegkommt, gereinigt werden und wahrscheinlich auch entladen werden kann.

Am Nachmittag schrieb ich an meinem Tagebuch.

Gegen 16:00 Uhr hatten Peter und ich die grandiose Idee, doch noch „auf ein Bier“ nach Warnemünde zu fahren. Die Fähre fährt um 16:15 Uhr vom Hafen nach Warnemünde und um 20:40 Uhr zurück. Wir zogen uns also „Zivil“ an und starteten durch. An der Pier lagen zwei kleine Fährschiffe. Wir bestiegen natürlich das falsche, und als wir das bemerkten, war es bereits zu spät; inzwischen legte der „Dampfer“ nach Warnemünde ab, und wir konnten nur noch zusehen, wie sich die Fähre entfernte und das weiße Hecklicht zu sehen war.

Dann überlegten wir uns, dass man ja auch in Rostock ein Bier trinken könnte und gingen zur Bushaltestelle. Leider war im Hafen gerade Schichtwechsel, so dass wir wegen Überfüllung mit keinem Bus wegkamen. Aber den Zug um 16:27 Uhr schafften wir gerade noch.

In Rostock tranken wir dann endlich unser Bier und wollten eigentlich mit dem Zug um 20:40 Uhr, das ist der letzte, der abends zum Überseehafen fährt, wieder zurückkehren. Dann geschah unser nächstes Missgeschick. Wir verpassten diesen Zug, sahen nur noch die Rücklichter – das hatten wir heute doch schon einmal! Was tun? Wir fuhren mit dem nächsten Vorortzug nach Warnemünde und schliefen dort im Internat in unserer „Studentenbude“. Kalle P. (Name geändert) war für die zweite Reise mit der „Fichte“ vorgesehen und guckte nicht schlecht, d.h., er guckte eigentlich gar nicht, weil er schon schlief, als wir kamen, und weil er noch schlief, als wir aufstanden und das Haus verließen.

Dazu eine kurze Erläuterung: Unsere Studiengruppe der angehenden Funkoffiziere bestand über die fast vier Studienjahre aus zwei Seminargruppen, F11 und F12, mit insgesamt knapp 50 Studenten. Da man nicht alle Studenten aus zwei Seminargruppen für die Praktikumsreise auf MS „J. G. Fichte“ gleichzeitig mit an Bord nehmen konnte, hatte man nach einem Auswahlkriterium gesucht und war dabei auf die Prüfungsergebnisse im Fach Morsetelegrafie gestoßen, warum auch immer.

Das heißt, diejenigen Studenten, die als erste und beste diese Prüfung bestanden hatten, durften an der ersten Praktikumsreise dieses Studienjahres teilnehmen. Bei den angehenden Nautikern wurde in ähnlicher Weise verfahren; allerdings kenne ich nicht das dort angewandte Auswahlverfahren. Demnach nahm also an unserer jetzigen Reise die entsprechend den Ergebnissen des Auswahlverfahrens gemischte Hälfte der beiden Funkseminargruppen und die gemischte Hälfte der Nautik-Studenten teil. Demnach waren wir auf der „Fichte“ insgesamt 48 Praktikanten aus insgesamt vier Seminargruppen. Kalle P. gehörte offensichtlich zu dem Teil der Seminargruppe, die nicht sofort ein gutes Prüfungsergebnis erzielt hatte und deshalb erst später, nach uns, die Praktikumsreise antreten durfte. Deshalb trafen wir ihn auch im Internat an, als wir dort in unseren nicht bezogenen Betten schlafen mussten. Meines Erachtens hat die eben erläuterte Einstufung jedoch keinen größeren Einfluss auf die Ausübung des späteren Berufes. Ich behaupte sogar, dass auch Kalle P. sowie alle anderen, die zur „zweiten Gruppe“ gehörten, ihren Job später ausgezeichnet ausüben werden.

In diesem Zusammenhang möchte ich noch ein für mich persönlich wichtiges und vielleicht auch interessantes Detail erörtern: Nach den damals geltenden internationalen Bestimmungen erhielten Funkoffiziere nach Abschluss des Studiums und zu Beginn ihrer Reisezeit zunächst „nur“ das so genannte Seefunkzeugnis 2. Klasse. Frühestens nach drei Jahren erfolgreicher Seefahrtzeit als Funkoffizier konnte das Seefunkzeugnis 2. Klasse unter bestimmten Bedingungen durch das Seefunkzeugnis 1. Klasse ersetzt werden. Voraussetzung dafür war allerdings der Nachweis einer erfolgreichen Morsetelegrafie-Prüfung mit einer Sendegeschwindigkeit von 120 Zeichen pro Minute. Ein Missgeschick beziehungsweise eine Unbedachtheit oder eine Fehleinschätzung hat mir dabei sehr schnell dazu verholfen, das Zehn-Finger-Schreibsystem auf der Schreibmaschine anwenden zu können. Und das kam so: Es stand wieder einmal eine Zwischenprüfung im Aufnehmen von Morsezeichen an. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich die Morsetelegrafie-Zeichen immer noch „von Hand“, also mit Bleistift oder Kugelschreiber aufgenommen. Jetzt war allerdings der Punkt erreicht, an dem die Geschwindigkeit für das handschriftliche Mitschreiben zu schnell wurde. Und urplötzlich hagelte es schlechte Bewertungen in diesem Fach, denn wir sollten und wollten die Abschlussprüfung mit der Morsetelegrafie-Geschwindigkeit absolvieren, wie sie für das Seefunkzeugnis 1. Klasse vorgesehen war, und zwar 120 Zeichen pro Minute. Ich hätte also beinahe den Anschluss verpasst! Mit dieser Erkenntnis setzte ich mich dann sofort auf den „Hosenboden“ und erlernte innerhalb von 14 Tagen das Schreibmaschineschreiben im Zehn-Finger-System. Und (fast) umgehend stellten Prüfungen in dem Fach „Morsetelegrafie“ kein Problem mehr für mich dar. Wenn man die Prüfungsgeschwindigkeit 120 Zeichen pro Minute möglichst fehlerfrei absolvieren möchte, muss die Übungsgeschwindigkeit bei bis zu 160 Zeichen pro Minute liegen. [WM: In meinem späteren Berufsleben hatte ich dann kaum eine Sekretärin in meinen jeweiligen Arbeitsbereichen, die mir hinsichtlich des Schreibmaschineschreibens „das Wasser reichen“ konnte. Und die spätere Umstellung auf die Computertastatur war auch kein Problem.]

Jedenfalls hat dieses Erlebnis dazu beigetragen, dass ich auf der Praktikumsreise mit MS „J. G. Fichte“ zu der so genannten ersten Gruppe gehöre.

Tag 3: Rostock-Überseehafen, MS „J. G. Fichte“, Mittwoch, den 06.11.1974

Heute Morgen hätten wir beinahe verschlafen. Wir packten schnell noch einige Sachen, die wir vorher vergessen hatten, in Peters Tasche und wollten das Haus verlassen. Auf dem Flur trafen wir Sprilli (Christian B.) und Jörg S. Die beiden waren gestern mit der Fähre, die wir verpasst hatten, nach Warnemünde gefahren, um das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden. Sie wollten nämlich, wie auch wir, ein Bier trinken und einige Sachen aus dem Internat holen. Heute Morgen hätten sie ebenfalls beinahe verschlafen. Sprilli hatte eine Riesentasche, die ich ihm dann tragen half. Die erste Fähre zum Hafen fährt um 06:30 Uhr, und wir kamen eine halbe Minute vor der Abfahrt dort an! Also alles in Ordnung!

Sprilli und ich hatten schon gemeinsam unseren Pflicht-Wehrdienst bei der Nationalen Volksarmee (NVA) in Prora auf Rügen (vom Ostseebad Binz etwa vier Kilometer entfernt) absolviert, sind dort gute Freunde geworden und haben dort in der wenigen Freizeit, die wir hatten, auch gemeinsam musiziert. Das hatte uns zusammengeschweißt und uns große Vorteile gegenüber den anderen verschafft, weil wir mehr Ausgang als die Kameraden hatten, wenn unsere Auftritte beispielsweise außerhalb der Kaserne stattfanden. Man hatte uns dafür „nur“ die Verpflichtung auferlegt, in Uniform aufzutreten. Das aber nur am Rande. Bevor ich zur Armee eingezogen wurde, hatte ich zwei Versuche unternommen, einen Studienplatz zu ergattern. In Wismar hatte ich mich beworben, um Bauingenieur zu werden. Dann aber wollte ich mit einem befreundeten Schüler ein Musikstudium in Berlin, Musikhochschule „Hanns Eisler“, absolvieren. Wir hatten uns zwar gut auf die Aufnahmeprüfung vorbereitet, Musiktheorie, Musikgeschichte usw., jedoch war uns nicht bekannt [WM: Internet gab es damals noch nicht!], dass wir zur Aufnahmeprüfung bereits mehrere spanische Konzertstücke mit einer Gitarre vorspielen können sollten. Somit war die Aufnahmeprüfung für uns gelaufen, und ich hing einigermaßen in der Luft. Denn ich hatte mich vorher in Wismar abgemeldet (welche Dummheit!), obwohl ich dort schon angenommen worden war. Man darf sich wohl nicht an zwei Stellen gleichzeitig bewerben, wie ich gehört hatte. Nun war ich gemeinsam mit Sprilli bei der Armee (18 Monate Grundwehrdienst), und er brachte mich auf den richtigen Weg. Er war nämlich bereits als Matrose zur See gefahren, hatte diesen Beruf, u.a. auf der „Fichte“ gelernt, und wollte nun ein Studium absolvieren, das ihn zum Funkoffizier macht, um danach wieder zur See zu fahren, dann jedoch als Funkoffizier. Ich war von dieser Idee so begeistert, dass ich mich ihm letztendlich anschloss, mich auch an der Ingenieurhochschule für Seefahrt, Warnemünde/Wustrow, bewarb und angenommen wurde. Hinsichtlich unseres künftigen Berufes hatten wir beide gute Voraussetzungen, denn wer musikalisch begabt ist, das ist zumindest meine Erfahrung, hat auch ein gutes Gefühl für die Morsetelegrafie, die ja einen wichtigen Bestandteil des Berufes darstellt. Die guten Morsetelegrafie-Kenntnisse brachten uns Vorteile bei der Armee, aber auch später während des Studiums. Weshalb beschreibe ich diesen Werdegang? Aus zwei Gründen: Einerseits möchte ich aufzeigen, wie ich überhaupt auf die „Fichte“ gekommen bin, aber andererseits möchte ich aus Respekt vor Sprilli diesen Spitznamen im Weiteren nicht mehr verwenden, weil er mir nicht so richtig gefällt. Er passt einfach nicht zu ihm; deshalb werde ich ab jetzt nur noch seinen richtigen Vornamen, Christian, verwenden. Wenn ich mich so richtig erinnere, hatte man ihm diesen Spitznamen während unserer Armeezeit „verpasst“. Das war im ersten von drei halben Jahren Armeezeit so üblich. Alle Soldaten des ersten Halbjahres wurden „Sprillis“ genannt, und bei Christian ist dieser Spitzname wohl einfach haften geblieben. Diese Zeit – so habe ich jedenfalls später empfunden – war über eineinhalb Jahre ein äußerst unmenschliches Martyrium. Durchgehalten haben wir das nur durch Willenskraft, enormen Zusammenhalt und gegenseitige Unterstützung. Heute weiß ich aber, dass es für so manchen ganz gut wäre zu wissen, wie tief man doch auch einmal in der Sch… stecken kann und dass Intelligenz dabei nicht hilft, weil nämlich in diesem Moment diejenigen das Sagen haben, die diese nicht besitzen………..

Es ist immer wieder ein schöner Anblick, so empfinde ich jedenfalls, wenn man in den Hafen von Warnemünde beziehungsweise Rostock hineinfährt und die vielen Lichter sieht. Zu der Zeit ist es noch dunkel.

Die „Fichte“ hatte inzwischen zur anderen Pier verholt, und man war auch schon dabei, die Ladung zu löschen.

Um 07:00 Uhr waren wir wieder in unserer Kammer. Dann wuschen wir uns, zogen unsere Uniformen an und gingen um 07:30 Uhr zum Frühstück.

Ab 09:00 Uhr sollten wir wieder kleinere Arbeiten verrichten, aber Peter und ich bekamen keine zugeteilt, so dass wir uns in der Kammer aufhalten konnten. Peter schlief, und ich schrieb an meinem Tagebuch.

Gestern Nachmittag ging das Gerücht um, dass, wenn die „Fichte“ am Montag, also am 11. November, noch nicht ausgelaufen ist, holländische Spezialisten hierherkommen werden, um den Schaden zu beheben, der sonst in Vlissingen in der Werft beseitigt werden sollte. Das bedeutet aber, dass sich der Auslauftermin noch mehr verschiebt und außerdem Vlissingen für uns „gelaufen“ ist. Aber ich glaube, Genaues wissen wir erst, wenn die „Fichte“ tatsächlich ausgelaufen ist.

Im Grunde genommen sitzen wir hier zeitweise untätig herum. Dann könnte man uns auch besser nach Hause fahren lassen!

Ich hatte heute Nachmittag wirklich die ganze Zeit frei und nutzte diese Zeit zum Lesen.

Um 17:30 Uhr gab es wieder Abendessen, und danach sahen wir uns im Fernsehen einige Fußballspiele an. Es spielten 1. FC Magdeburg gegen Bayern München und Dynamo Dresden gegen Dynamo Moskau. Magdeburg verlor 1:2, aber Dresden gewann nach Verlängerung und Elfmeterschießen mit 4:3 Toren [WM: Um welches Tournier es eigentlich ging, ist mir nicht mehr geläufig.] Während der Übertragung konnten wir jeder zwei Flaschen Bier trinken, weil Peter am Nachmittag in Rostock gewesen war, um für seine Kamera einen Filter zu kaufen. Bei der Gelegenheit brachte er auch das Bier mit. Was wäre Fußball ohne Bier?

Um 23:00 Uhr lagen wir in der Koje.

Die Lösch- und Ladearbeiten gehen jetzt zügig voran. Nur in der Nacht mussten sie wegen des Regens zeitweise eingestellt werden.

Übrigens fällt mir da gerade noch etwas zum Verholen des Schiffes ein: Das Verholmanöver erfolgte mit Hilfe von drei Schleppern. Eine Einsatzstunde jedes Schleppers kostet etwa 800,- Mark, wie ich gehört habe. Leider ist mir entgangen, wie lange das Verholmanöver gedauert hat. Ansonsten kann sich jeder selber ausrechnen, dass so etwas sehr teuer ist.

Tag 4: Rostock-Überseehafen, MS „J. G. Fichte“, Donnerstag, den 07.11.1974

Nach dem Frühstück, so gegen 08:00 Uhr, gingen Manfred und ich zur Bekleidungs- und Ausrüstungskammer. Wir brauchten noch einige Sachen für die Reise, ich z.B. eine blaue Uniformhose und weiße, kurzärmelige Hemden. Das können wir alles, wenn vorhanden, für unsere Wert-Coupons kaufen.