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»Six Feet Under« ist das, was passiert, wenn HBO sich der Familienserie zuwendet. Leben und Sterben in L.A., im ganz und gar unglamourösen Milieu der amerikanischen Mittelschicht, die hier in dritter Generation das Bestattungsinstitut Fisher & Sons betreibt. So wie es war, wird es nicht mehr werden. Wie es sein könnte, wissen sie noch nicht. Die Leichen im Keller gehören zum Inventar; an den Toten der anderen lässt sich das Sterben nicht üben; der längste Abschied findet in der eigenen Familie statt; aber wenn David am Ende die Geschichte von Nate und der Spinne erzählt, werden sie dem Glück viel näher sein, als man es je vermutet hätte.
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Seitenzahl: 74
Veröffentlichungsjahr: 2018
booklet
herausgegeben von Simon Rothöhler
Stefanie Diekmann
Six Feet Under
Inhalt
Die Toten I(Die Serie)
Family Business
Das Haus
Die Toten II(Die Passage)
Die Toten I (Die Serie)
Wenn Nathaniel Fisher (Richard Jenkins), Seniorchef des Bestattungsunternehmens Fisher & Sons, in der ersten Folge der ersten Staffel von Six Feet Under zum ersten Mal ins Bild kommt, bleiben ihm noch etwa zwei Minuten zu leben. In dieser Zeit führt er ein Telefongespräch, erhält einen Auftrag, macht einen Witz, erzählt eine Lüge oder zwei, wirft eine Zigarette aus dem Autofenster und zündet eine weitere an, die er dann nicht mehr zu Ende raucht. Das Rauchen wird dich umbringen, hat seine Frau Ruth (Frances Conroy) eben noch gesagt, aber sie behält damit nicht recht, denn Nathaniel Fisher Sr. stirbt nicht an seinen Zigaretten, und sein Tod erfolgt derart plötzlich, dass er nur für einen Moment vorausgesehen werden kann, bevor im Umbruch von der vierten zur fünften Minute die erste Figur der Serie ihr Ende findet.
Dabei hatte man ihn gerade erst kennengelernt. Und er war eben dabei, etwas wie ein Profil (auch: eine Kontur) zu erhalten. An diesem Prinzip: mit dem Ableben zu beginnen, eine Figur einzuführen, um sie gleich darauf zu Tode zu bringen, wird Six Feet Under von nun an festhalten, in den Folgen 1 bis 13 der ersten Staffel und in fast allen Folgen der zweiten bis fünften. Jede Episode hat ihre eigene Leiche (body of the week, wie sollte man auch sonst sagen); jeder Anfang wird in Six Feet Under mit einem Ende verknüpft; und kein Ende ist wie das andere, wenngleich bestimmte Umstände in den Staffeln, die der Sender HBO von 2001 bis 2005 ausstrahlte, häufiger auftreten als andere. Unfälle auf der Straße oder im Haushalt; Tode im Krankenbett und im Krankenhaus; einige Morde, einige Selbstmorde, einige Fälle von Totschlag. Wo fünf Jahre Zeit gegeben sind, um vom Tod zu erzählen, ist Raum sowohl für die Variation als auch für eine gewisse statistische Häufung.
Dem Projekt, das Six Feet Under war, wohnt ein enzyklopädisches Moment inne, nicht ganz unähnlich jener Aufzählung, mit der Leonard Cohen 1974 seinen Song Who By Fire eröffnete:
And who by fire? / Who by water? / Who in the sunshine? / Who in the night time? / Who by high ordeal? / Who by common trial? / Who in your merry merry month of May? / Who by very slow decay? / And who shall I say is calling?
Und wer? Und wo? Und wie? Und immer: unter welchen Umständen? Man sammelt die Todesarten, reiht eine an die andere, was sich ohne Weiteres auf drei Strophen (Leonard Cohen) oder auf fünf Staffeln (Alan Ball) erweitern lässt und noch darüber hinaus. (Alan Ball, in dem ansonsten ziemlich unsäglichen DVD-BonusfilmLife and Loss: The Impact of Six Feet Under: »We had a bank of ways to kill people.«1) Ein paar Überraschungen sind einer solchen Reihung stets inbegriffen; allerdings werden sie nur zum Teil mit Fragen der Form zu tun haben, zum Beispiel der Auswahl oder Erfindung der Todesarten. Tatsächlich könnte man sagen, dass die Form (wie und mit welchen Mitteln lässt sich eine Figur zu Tode bringen?) für die Konzeption der einzelnen Todesfälle von Six Feet Under eine immer geringere Rolle spielen wird. In der ersten Staffel ist noch ein größeres Bemühen um Variation, Originalität zu erkennen, das in den späteren Folgen weniger ausgeprägt ist. Als hätte sich das Interesse an der ständigen inventio erschöpft. Oder als sei man sich einig geworden, dass es nicht primär um die Variation der Todesarten geht, und auch nicht darum, sie möglichst ungewöhnlich oder spektakulär zu gestalten. (»There are an infinite number of ways to die«, sagt Alan Poul, Executive Producer, ebenfalls auf dem BonustrackLife and Loss:»We worked very hard to balance serene, quiet naturalistic deaths with sometimes more violent, certainly more untimely deaths.«1)
In der ersten Staffel von Six Feet Under sterben die Figuren: beim Zusammenstoß eines Leichenwagens mit einem Bus (1); bei einem Kopfsprung in den Swimmingpool (2); in der Knetmaschine einer Großbäckerei (3); an drei Kugeln in den Oberkörper (4); an elektrischen Lockenwicklern in der Badewanne (5); im Schlaf und bei der Totenwache (6); am Golfkriegssyndrom, im Krankenhausbett (7); beim Aufprall gegen einen Ampelkasten (8); beim Spielen mit einer Pistole (9); am Küchentisch, durch einen Schlag auf den Kopf (10); im Bettchen, durch plötzlichen Kindstod (11); als Opfer eines Hate Crimes (12); an einem mit zu viel Schwung abgeschlagenen Golfball (13). Sie sterben also auf unterschiedliche Weise und in ganz unterschiedlichem Alter (nicht zu reden von der Verfassung oder der Haltung, mit der sie dem Tod gegenübertreten); indes bleibt die Antwort auf die Frage »Who is calling?« nicht weniger repetitiv als in Cohens Song. Niemand entgeht hier dem Tod; allenfalls bekommen sie einen Aufschub. Aber das geschieht nur höchst selten und wird nicht vor dem Beginn der Staffel 3 (und später dem der Staffel 5) in Szene gesetzt.
Wie Nathaniel Sr., der am ersten Weihnachtstag auf dem Weg zum Flughafen nicht an seinen Zigaretten stirbt, ist den Figuren, mit deren Ableben die einzelnen Folgen eröffnen, ein Intervall von höchstens zwei Minuten gegeben, das heißt: ein clipförmiger Auftritt, und innerhalb dieses Clips, wenn es gut läuft, ein Profil, eine Story und manchmal die Ahnung eines ganzen Lebens. Derart sorgfältig gestaltete Miniaturen haben ihre Liebhaber, umso mehr, als sie wie dafür gemacht scheinen, von der Episode gelöst und separat gesammelt zu werden. Auf YouTube begegnet man ihnen unter dem Titel »Six Feet Under Deaths«, auch: »Top Ten Six Feet Under Deaths« oder »Six Feet Under Deaths (Tribute 1)«, ein Ensemble von Videogalerien und Ausschnittsammlungen. Einige Clips, die von ihren Liebhabern als Solitäre behandelt werden, finden sich natürlich auch. Jedoch dominiert noch in der Auswertung durch die User die Liste, die Aufzählung, die aus der großen Serie eine kleinere extrahiert.
Was in der Enzyklopädie der Todesarten zurückgestellt wird, sind die konventionelleren Funktionen des Serien-Intros: die mnemotechnische, die unter dem Vorzeichen »Previously on ...« die vorangegangenen Folgen resümiert; die prologische, die darauf ausgerichtet ist, den Plot oder den Konflikt der aktuellen Folge zu konturieren. Aber letztlich ist das, was sich in den sukzessiv gereihten Fallstudien der Enzyklopädie abspielt, von der prologischen und der mnemotechnischen Dimension gar nicht so weit entfernt. Dann wäre der Plot der anhaltende Umgang mit den Toten (von denen gleich der erste aus der eigenen Familie stammt), der Konflikt die logistische, emotionale, technische Herausforderung ihrer Aufbewahrung und Bestattung (irgendein Problem gibt es fast immer), und der mnemonische Inhalt wäre sowohl in der Vergangenheit als auch in der Zukunft der Beteiligten zu verorten: memento mori, falls irgendjemand seit der letzten Woche nicht mehr daran gedacht haben sollte.
Anders als in der kurz darauf gestarteten und dann zwei Staffeln lang parallel laufenden Showtime-Serie Dead Like Me (2003–2004) zeigt Six Feet Under bei der Produktion des body of the week kaum Interesse an einem ausgedehnten Transit vom Leben zum Tod. Wer hier stirbt, stirbt rasch oder jedenfalls rasch nach Beginn der jeweiligen Folge; Ausnahmen bestätigen nur die Regel. Entsprechend findet der Umgang mit den Toten vorwiegend post mortem statt, während es in Dead Like Me darum geht, dass die Figuren allererst zu Tode gebracht werden müssen, mit diskreter Nachhilfe sowie, abhängig von individuellen Widerständen und Verhältnissen, durch umständliche logistische Anbahnung.
Was Roland Barthes einmal über den Tod schrieb: »Als ob der Schrecken des Todes nicht gerade in seiner Gewöhnlichkeit läge«,2 könnte auch eine implizite Prämisse von Six Feet Under sein, wo sich der Tod oft genug gewöhnlich gestaltet, und zwar selbst dort, wo er gewaltsam oder plötzlich ist, oder wo darauf geachtet wird, die Todesarten zu variieren. Originalität, wie gesagt, ist hier kein zentraler Teil der Agenda, Erfindungsreichtum auch nicht; also gibt es keine Prozedur, keine Goldberg-Maschinen,3 wie gelegentlich in Dead Like Me oder in der ebenfalls seriellen Kinoproduktion Final Destination (2000), mit ihren Pre- und Sequels (2003–2011), die das Prinzip des Slapsticks (Tücke des Objekts, Feindlichkeit der Dingwelt) in eine Horrorstory verwandelt haben.
Wer, wodurch, wie und wann, auf welchem Weg und durch welche Verkettungen: Als Stoff taugt das für die Comedy (Dead Like Me) ebenso wie für den Splatter (Final Destination), insofern der Angriff der Dingwelt auf den Menschen sich im einen wie im anderen Genre inszenieren lässt. (Die Kettenreaktion, die Eskalation, die unwahrscheinlichste Verbindung von Cause-and-Effect, das Repertoire der widerständigen und der verfluchten Objekte, das wirklich schlechte Timing, der falsche Ort, die falsche Zeit: All das sind die Parameter, aus denen die dramaturgischen Goldberg-Maschinen aufgebaut werden.) Die melancholische Perspektive hingegen, die in der Serie über das Bestattungsunternehmen Fisher & Sons eingenommen wird, ist nur denkbar unter der Voraussetzung jenes gewöhnlichen Todes, der durch seine Umstände nicht wesentlich an Distinktion gewinnt. Die Melancholie gilt dann der Unausweichlichkeit ebenso wie der unentrinnbaren Banalität.