Skandinavisches Viertel - Torsten Schulz - E-Book

Skandinavisches Viertel E-Book

Torsten Schulz

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Beschreibung

Nach Jahren im Ausland kehrt Matthias Weber ins Skandinavische Viertel zurück. Schon als Zwölfjähriger kannte er jede Straße in diesem Teil Ostberlins an der Mauer. Heute stemmt er sich als selbsternannter Anti-Gentrifizierungs-Makler gegen eine Entwicklung, die er nicht aufhalten kann. Das Skandinavische Viertel in Ostberlin kennt niemand so gut wie Matthias Weber. Als Kind unternimmt er hier in den siebziger Jahren Streifzüge, beflügelt von seiner reichen Phantasie, zugleich auf der Flucht vor inneren Dämonen. Vater, Onkel, Großmutter: nette Leute, und doch jeder auf seine Weise in Schuld verstrickt. Nur sehr langsam durchdringt der Junge das Geflecht aus Geheimnis und Verrat in seiner Familie. Jahre später kehrt Matthias in sein Revier zurück, das sich seit dem Fall der Mauer im Umbruch befindet. Er wird Wohnungsmakler, und da sich der umgängliche Grübler nicht zum Haifisch eignet, macht er es sich zur Aufgabe, Neureiche und Großkotze aus seinem Viertel fernzuhalten. Zwischen Geld und Moral, vergänglichen Amouren und existentieller Einsamkeit führt er einen letztlich aussichtslosen Kampf. Eine Geschichte um Verlust, Trauer und Wut, in der sich die Abgründe des eigenen Lebens offenbaren.

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EPUB

Seitenzahl: 320

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Torsten Schulz

Skandinavisches Viertel

Roman

Klett-Cotta

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© Torsten Schulz

© 2018 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: ANZINGER UND RASP Kommunikation GmbH, München

unter Verwendung einer Abbildung von SLUB Dresden / Deutsche Fotothek / Messbildstelle Dresden

Datenkonvertierung: Dörlemann Satz, Lemförde

Printausgabe: ISBN978-3-608-98137-7

E-Book: ISBN 978-3-608-11014-2

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Für Angelika.

Wenn Matthias schnell geht, ist er in zehn Minuten in Skandinavien. Er muss nur die Mühlenstraße hinunter in die Schönhauser Allee und von dort in die Bornholmer. Erst hier wird sein Schritt langsamer. Dann und wann bleibt er stehen, hält sein Gesicht in den Sprühregen. Er stellt sich vor, auf einem Kontrollgang oder in einer Geheimmission unterwegs zu sein, biegt links in die Seelower, dann rechts in die Dänenstraße, überquert die Brücke über die S-Bahn-Gleise und landet in der Kopenhagener. Von dort geht er weiter in die Ystader und Korsörer.

Er liebt den Klang dieser Namen: Ystad, Korsör. Ystad liegt, wie er aus dem Weltatlas weiß, in der Provinz Schonen an der schwedischen Südküste, Korsör ist eine Hafenstadt am Großen Belt auf der dänischen Insel Seeland. Am Ende der Korsörer stehen zwei Grenzposten. Wer im Grenzgebiet wohnt und seinen Ausweis vorzeigt, darf passieren. Den Ausweis bekommt man mit vierzehn, bis dahin darf jeder ins Grenzgebiet. Er ist erst zwölf. Doch er hat keine Lust, dorthin zu gehen. Flügel müsste man haben, denkt er, um über die Grenze fliegen zu können.

Die beiden Posten kennt er nicht. Kein Wunder, die Wachleute wechseln alle paar Tage, weil sie sich nicht an die Straßen und die Bewohner gewöhnen sollen. Sie sind zumeist nicht älter als achtzehn oder zwanzig Jahre und kommen von weiter her, aus Thüringen oder Sachsen oder Mecklenburg. Einen der beiden, den offenkundig Freundlicheren, dem seine Uniform zu groß ist und die Kalaschnikow nachlässig über der Schulter hängt, lächelt er an. Der Mann lächelt zurück, kommt näher an ihn heran. »Na, Kleiner, suchst du wen?«

Am liebsten würde er sofort entgegnen, dass er nicht Kleiner genannt werden will. Aber besser, er gibt auf bestimmte Art zu verstehen, dass es ein Fehler ist, ihn zu unterschätzen.

»Nein«, antwortet er betont ruhig, »ich suche niemanden.« Und dann eröffnet er das Spiel. Sein Spiel. »Ich möchte mal wissen, warum die Straßen hier eigentlich heißen wie Städte oder Länder in Skandinavien.«

»Keine Ahnung«, erwidert der Mann und zuckt mit den Schultern. Der andere kommt jetzt ebenfalls näher, ein großer, dicker mit leicht schaukelndem Gang. »Wen interessiert das?«, mischt er sich ein. Während der erste in einem Hochdeutsch gesprochen hat, das keinen Dialekt erkennen ließ, redet der zweite in breitem Sächsisch, das gemütlich klingt, zugleich drohend. »Ist doch egal«, setzt er nach, »wie die Straßen heißen. Absolut egal.«

Es hört sich an wie eine Aufforderung, schleunigst zu verschwinden. Aber wann er geht, möchte er schon selbst entscheiden. Er neigt den Kopf zur Seite und hebt die Augenbrauen. Diesen unschuldigen Ausdruck hat er sich antrainiert. Der erlaubt ihm, so zu antworten, wie er es sonst nicht wagen würde.

»Mich«, sagt er. »Mich interessiert das. Und überhaupt, warum soll es denn egal sein? Es hat vielleicht einen Sinn. Bestimmt hat es einen Sinn. Einen ganz besonderen.« Er kostet die Verblüffung der beiden Grenzposten aus. »Ich hatte gedacht, Sie würden mir das erklären können.«

Der erste Posten ist nicht weit davon entfernt, sich zu entschuldigen. »Junge, ich würde es dir gerne erklären, wenn ich’s selber wüsste.«

Das haben, so oder ähnlich, die meisten Posten gesagt, die Matthias in den letzten Monaten gefragt hat, seitdem er hier unterwegs ist. Oder sie haben behauptet, das wäre einfach so und basta. Oder sie sagten freiheraus, dass er mal schleunigst nach Hause solle, andernfalls müssten sie ihn festnehmen.

»Meine Güte, was heißt hier Skandinavien?«, mischt sich der Sachse wieder ein. »Seelow liegt in Richtung Polen, Rhinow im Havelland, Schönfließ sogar in der Nähe von Berlin. Und Bornholm« – er sagt es, als ziehe er nun seinen größten Trumpf – »liegt zwar in Skandinavien, ist aber weder Stadt noch Land, sondern eine Insel. Da staunst du, was?«

»Warum soll ich da staunen?«, erwidert Matthias und weiß, dass er spätestens jetzt so altklug erscheint, wie es ihm selbst schon unangenehm ist. Doch es muss sein, es ist Teil seines Spiels. »Ueckermünde liegt in Mecklenburg an der Ostsee. Paul Robeson ist ein amerikanischer Freiheitssänger, Willi Bredel Spanienkämpfer und proletarisch-revolutionärer Schriftsteller …«

»Guck mal an«, unterbricht ihn der Sachse. »Bist ja ein ganz Schlauer. Fleißig gelernt, was? Und nun mach, dass du wegkommst. Hau ab!«

»Ja«, hält er dagegen und weicht keinen Zentimeter, »hab ich fleißig gelernt. Alle Straßennamen in diesem Viertel. Alle, auswendig. Eine heißt sogar nach einem Volkspolizisten, der an der Grenze erschossen wurde. Vom Klassenfeind. Hier gleich um die Ecke. Helmut Just. Schon mal gehört von dem?«

Der Sachse schaut wie überfordert von einer unerwarteten Dreistigkeit. Der andere grinst, er freut sich über das Erstaunen seines Kompagnons; plötzlich aber packt er Matthias am Arm. »So, Schluss jetzt mit dem Hokuspokus, du Würstchen. Hast gehört, was der Genosse gesagt hat. Mach, dass du wegkommst. Sonst nehmen wir dich fest und übergeben dich der Polizei.«

Dass der freundliche Posten so reagiert, damit hat er nicht gerechnet. Aber gut, es zeigt nur, dass man auf alles vorbereitet sein muss. Matthias schaut ihm fest in die Augen, spannt die Muskeln an. Bloß nicht zittern. »Ach ja? Ich soll machen, dass ich wegkomme?« Seine Stimme ist brüchig. Dagegen weiß er im Moment kein Mittel. Egal. »Ich kann ja nicht weg. Ihr lasst mich nicht. Habt euch schon viel zu lange mit mir unterhalten, von euerm Dienst ablenken lassen. Ihr dürft das nicht, das weiß ich von meinem Onkel. Der ist als Funktionär für die Grenztruppe zuständig. So, und jetzt lass mich los, sonst erzähl ich ihm alles und euch blüht was, das ihr noch nie erlebt habt.«

Der Posten löst die Hand von Matthias’ Arm. Wie der große, dicke Sachse scheint er nun nach Worten zu suchen, die sich versteckt halten und nicht gefunden werden wollen.

»Wenn euch euer Vorgesetzter zu sich befiehlt, dann wisst ihr, warum.«

Seine Stimme ist nicht mehr brüchig. Was für ein Siegesgefühl! Er wartet noch kurz, als wolle er den beiden die Chance geben, etwas zu erwidern, dann dreht er sich langsam um und geht die Korsörer zurück, um daraufhin in die Ystader einzubiegen und den Rückweg nach Hause zu nehmen.

Es war das erste Mal, dass er auf die Androhung von Festnahme nicht wegrannte, sondern seinen Onkel ins Feld führte, ihn sogar zum Funktionär machte. Einfach so. Wie Zauberei ist das und zugleich ganz einfach. Es ist ein berauschendes Gefühl, sich mit einem Funktionärsonkel wehren und Angst einjagen zu können.

Der Sprühregen hat nachgelassen; Wind ist aufgekommen und kündigt einen kalten Herbstabend an. Er atmet tief ein und aus und legt einen Schritt zu.

Zu Hause erzählt Matthias nichts davon, dass er im Skandinavischen Viertel war, geschweige denn wie er seinen Onkel zum Funktionär gemacht hat. Er weiß, dass der Vater über seinen Bruder nicht reden will. Ein Säufer, ein Parasit, ein Lügner, das ist der Onkel in den Augen des Vaters.

Dass er ein Säufer ist, steht außer Zweifel, und da er noch im Elternhaus wohnt, bei Oma Lisbeth und Opa Paul, und nicht mal Kostgeld zahlt, ist er vielleicht sogar ein Parasit. Aber ein Lügner?

»Wo warst du bloß wieder so lange?«, fragt die Mutter. Sie lächelt müde und legt die Hand an ihre Stirn wie um zu prüfen, ob sie Fieber hat.

»Ich war noch in der Schule«, sagt er. »Wir haben geübt, Mathezirkel. Für die Klassenarbeit. Morgen, dritte Stunde.« Er weiß, dass eine Lüge umso überzeugender klingt, je genauer die Angaben dazu sind. Den Onkel hat er, sofern es stimmt, was der Vater behauptet, noch nie beim Lügen ertappt.

Matthias geht in sein Zimmer, nimmt den Weltatlas zur Hand und schlägt die Skandinavien-Seite auf. Die wichtigsten Städte, Seen und Flüsse kennt er auswendig. Oulujärvi, Vänern, Skagern, Bolmen, Haldenvassdraget, Oslo, Odense, Aarhus, Stockholm, Göteborg, Uppsala, Reykjavik, Helsinki, Turku … Er beschließt, die Straßen, die noch keine skandinavischen Namen haben, umzubenennen. Jetzt, sofort. Aus der Seelower wird die Göteborger, aus der Ueckermünder die Aarhuser, aus der Schönfließer die Odenser Straße. Er nimmt seinen Stadtplan und schreibt die neuen Namen über die alten. Die Czarnikauer wird zur Turkustraße, die Sonnenburger zur Oulujärvi, die Gleim zur Helsinkier. Die Driesener zur Tromsöer, die Rhinower, wegen des R am Anfang, zur Reykjaviker, die Schönhauser zur Schonenschen, auch wenn es die in Pankow bereits gibt. Die Pankower Schonensche wird indessen – ein logischer Tausch – zur Schönhauser. Unpassenderweise sind außerhalb des Skandinavischen Viertels noch weitere Straßen mit skandinavischen Namen: Wisbyer, Upsalaer, Trelleborger, Gudvanger … Die tauscht er gegen Gaudy-, Mila-, Topsstraße und Am Falkplatz. Aus der Cantianstraße macht er die Osloer, obwohl die, soviel er weiß, schon in Westberlin vertreten ist, allerdings nur als simple Fortführung der Bornholmer. Helmut Just, neun Jahre vorm Mauerbau erschossen, als die Grenze noch Sektorengrenze war, bekommt eine eigene Würdigung, indem seine Straße in Stockholmer umgetauft wird. Damit wäre auch die klangvollste aller skandinavischen Hauptstädte vergeben. Willi Bredel, langweiliger Schullesestoff, muss mit dem schwer aussprechbaren Haldenvassdraget vorliebnehmen. Schließlich Paul Robeson, der eindrucksvolle schwarze Sänger, der mutige amerikanische Bürgerrechtler; der hat die Schwedische Straße verdient, womit nach Island, Finnland, Norwegen und Dänemark endlich auch das wichtigste skandinavische Land im Viertel vertreten wäre.

Matthias legt den Stadtplan ins Regal hinter eine Bücherreihe; die Eltern sollen nicht sehen, was nunmehr zu seiner Geheimmission gehört. Später, stellt er sich vor, im Kommunismus oder wo auch immer, werden die Straßen so heißen, wie er es jetzt in seinen Stadtplan geschrieben hat. Später wird er der zuständige Funktionär für das Viertel sein und der Onkel sein Stellvertreter, sofern er sich bis dahin nicht zu Tode gesoffen hat.

Zwei Strassen und drei Termine stehen für heute in seinem Kalender. Das ist wenig im Vergleich zu anderen Tagen, an denen er bis zu acht oder zehn Termine hat. Wenn ihn nicht alles täuscht, ist er der am meisten beschäftigte und erfolgreichste Makler im Skandinavischen Viertel. Und vor allem: Man kennt ihn als den einzigen Makler, der nur in diesem Viertel und nirgendwo sonst aktiv ist. Über die Jahre ist das zu einem Ausschlussprinzip geworden. Sobald er eine Wohnung jenseits seines Gebietes zum Verkauf angeboten bekommt, und sei es in der Nähe oder gar in einer der angrenzenden Straßen, gibt er sie an einen Kollegen weiter, von dem er weiß, dass er sich bei Gelegenheit mit einer Immobilie aus dem Skandinavischen Viertel revanchiert. Das hat sich in der Branche herumgesprochen, berlinweit, sogar über die Grenzen der Stadt hinaus.

Als er vor zehn Jahren anfing, selbständig als Makler zu arbeiten, hätte er nicht zu hoffen gewagt, dass ihm dieses Ausschlusskriterium bei den Kunden ein so besonderes Renommee einbringt: Einer, der mit Wohnungen handelt, die sich nur im Umkreis einiger Straßen befinden, dem muss das wohl eine Herzensangelegenheit sein. Und wer anders als so ein Mann sollte diesen Teil von Prenzlauer Berg besser kennen? Matthias Weber – Ihr Fachmakler für das Skandinavische Viertel in Berlin-Prenzlauer Berg – so heißt es auf seiner Webseite. Der verkaufspsychologische Clou besteht allerdings darin, dass er selbst hier wohnt und dies auf der Webseite auch kundtut: Ich kenne das Viertel seit meiner Kindheit. Später habe ich Jahre im Ausland gelebt. Heute wohne ich hier in der Malmöer Straße. Damit sagt er etwas Fundamentales: Sie kaufen die Wohnung von Ihrem künftigen Nachbarn; wem könnten Sie mehr vertrauen als diesem Menschen? Obendrein Jahre im Ausland: Matthias Weber hat die Welt kennengelernt, trotzdem ist er zurückgekehrt, hierher, nirgendwohin sonst.

Dass es sich bei seiner Wohnung um die seiner Großeltern Lisbeth und Paul handelt, lässt er unerwähnt. Sie ist zwar sein Eigentum, nicht geerbt, sondern gekauft; trotzdem könnte mancher meinen: Hat er sonst nichts fertiggebracht, als in die Wohnung seiner Großeltern zu ziehen? Er will nicht zu seiner Familie befragt werden, obwohl er erzählen könnte, was er will; mit der sogenannten Wahrheit hat er es nie allzu genau genommen. Wenn er etwas erwähnt, dann von sich aus. Zum Beispiel zu Onkel Winfried: eine Erfindung, die tatsächlich existiert hat. So kommt es ihm vor, immer wieder. Und immer wieder fällt ihm etwas Neues ein, das er über den Onkel zum Besten geben kann.

Zwei Straßen, drei Termine. Ein überschaubares Programm; der Nachmittag und der Abend sind frei. Wer kann sich die Arbeitszeit so gut einteilen wie ein Makler, der seinem Geschäft nicht hinterherrennen muss? Er könnte sich sogar, wenn es darauf ankäme, zur Ruhe setzen und nur von Mieteinnahmen leben, denn vier der Wohnungen, die ihm in den Jahren als Makler angetragen wurden, hat er selbst gekauft. Keiner der Käufe war ein Fehler, jedes Mal ist der Wert der Immobilie weiter gestiegen. Und doch, auf seiner ungeschriebenen Webseite, sagt er sich, könnte oder müsste es heißen: Ich bin Teil von etwas Überflüssigem und lebe ziemlich gut davon. Aber denkt nicht, mir ginge es wahnsinnig gut damit, denkt das bloß nicht, denn so einfach ist es nicht, das sag ich euch …

Von der Malmöer geht er in die Bornholmer, von dort in die Nordkap und Ibsen, um einen Umweg über die Stavanger zu machen. Ibsen Ecke Stavanger befindet sich die letzte Brache des Skandinavischen Viertels, ein Refugium aus verwilderten Büschen und Laubbäumen – für Matthias ein anachronistischer Ort, von dem er hofft, dass er so erhalten bleibt wie er ist. Über die Bornholmer geht er durch die Seelower Richtung Arnimplatz. Es ist wie damals, denkt er, obwohl er weiß: Es ist überhaupt nicht wie damals. Wie sollte es auch?

Einmal in der Woche, eine Stunde oder zwei, nie länger als bis zum Einbruch der Dunkelheit, macht Matthias seine Runde durch Skandinavien: Die Ibsen entlang, wo er meist an den Brachen Ecke Gotland und Ecke Stavanger verweilt, die er nur mit stark klopfendem Herzen betritt, weil hier neben alten Haushaltsgeräten und anderem Schrott Bombensplitter und Munition aus dem Zweiten Weltkrieg herumliegen sollen. Von den Brachen über die Bornholmer in die Schönfließer Straße. Am Arnimplatz entlang in die Seelower … Wenn er dabei auf den Onkel trifft, der gerade von einer Kneipe zur nächsten unterwegs ist, gehen sie ein Stück gemeinsam, und der Onkel redet von seiner Zeit im Zirkus oder davon, dass er unbedingt in den Zirkus zurückkehren möchte. Aber nicht als Manegeumbauhilfsarbeiter – so nennt der Onkel diese Tätigkeit und betont jede Silbe dabei –, sondern als Zauberer oder Clown oder am besten beides zusammen. Keinen Tropfen werde er trinken, wenn er wieder mit dem Zirkus von Stadt zu Stadt fahre oder ins Ausland, vielleicht sogar ins westliche, und jeden Abend seinen Auftritt habe als Zauberer im Clownskostüm. Keinen Tropfen, nicht mal einen klitzekleinen.

Ein einziges Mal war der Onkel mit dem Zirkus tatsächlich im westlichen Ausland. In Finnland, Helsinki, Hauptstadt der Trinker. Kein Wunder, dass er da in eine Falle getappt ist: Es war Winter, bitterkalt, er trank einen Glühwein und noch einen; dann kam ein Kollege auf die Idee, ein bisschen in der Stadt umherzuziehen. »Ich wollte nicht«, beteuert der Onkel jedes Mal, wenn er davon erzählt, »aber der Kollege ließ nicht locker: nur ein Stündchen. Na ja, leider landeten wir in dieser Kneipe, wo sie uns Freibier und finnische Schnäpse spendierten. Die hatten mindestens fünfzig Umdrehungen.« Irgendwann wachten der Onkel und der Kollege in einer Ausnüchterungszelle auf. Er wisse bis heute nicht, sagt er an dieser Stelle mit verwundertem Kopfschütteln, wie er da hingekommen sei. Er müsse glatt vergessen haben, dass er ohne Erlaubnis der Zirkusdirektion gar nicht in der Stadt unterwegs sein durfte. Logisch also, wenn auch ungerecht, dass die vom Zirkus ihn rausgeworfen haben. »Aber«, fügt er wie vor großem Publikum hinzu, »ich komme wieder, darauf könnt ihr euch alle verlassen. Und wie ich wiederkommen werde!«

Matthias liebt diese Geschichte; so oft er sie hört, ist sie immer wieder spannend und auch anrührend. Und er glaubt an den Onkel. Er stellt ihn sich als Clown vor: riesige Schuhe, buntes Hütchen, rote Pappnase. Im weißgeschminkten Gesicht die dunkelgelben, teils verfaulten Zähne. Keine Frage, der Onkel sollte den Mund nicht öffnen, wenn er als Clown auftritt, es sei denn, er will dem Publikum einen Schreck einjagen. Sein naturgegebenes Schielen könnte man ihm schon als Clownsnummer auslegen. Während das linke Auge etwas zu sehr nach links schaut, starrt das rechte unentwegt auf die Nasenspitze. Das ist beeindruckend, Zauberei ist es noch nicht.

»Und was für Kunststücke willst du da zeigen?«, hat Matthias ihn einmal gefragt. »Na, hast du ’ne Ahnung«, antwortete der Onkel prompt und grinste vor sich hin, während er ihm den Zeigefinger hinhielt. »Hier, zieh mal dran.« Kaum zog er dran, furzte der Onkel, streckte den Zeigefinger in die Höhe und erklärte mit ernster Miene: »Der Onkel furzt, die Kinder lachen, so kann man mit kleinen Dingen große Freude machen.« Matthias spürte, wie er rot wurde, und war froh, dass auf der Straße niemand etwas gehört zu haben schien.

»Soll ich dir übrigens mal erklären«, fuhr der Onkel fort, »was ein Clown genau macht? Ein Clown muss etwas können, aber dabei so tun, als könne er es nicht. Das heißt, um etwas nicht zu können, musst du es umso besser können. Am besten, du kannst es perfekt. Das ist die Definition des Clowns.«

Matthias fragte sich, was diese Definition mit dem Furzen zu tun haben sollte, während Onkel Winfried feststellte: »So, mein wissbegieriger Neffe, mehr Tricks verrat’ ich dir nicht.«

»Wieso nicht?«, entgegnete Matthias. Und Winfried, fast empört: »Würdest du denn einfach so deine Zaubertricks verraten?« Matthias musste lachen. »Nein.«

Und jetzt, da er daran denkt, muss er wieder lachen. Er ist stolz auf den versoffenen Onkel, der schlagfertiger ist als alle anderen Familienmitglieder zusammen. Und wer zaubern kann, der kann auch zaubern, von einem Tag zum andern nichts mehr zu trinken. Das dürfte wohl klar sein.

Am Tag nach seinem Auftritt vor den Grenzposten möchte Matthias dem Onkel von der Begegnung erzählen. Um nicht zu warten, bis er ihn auf der Straße trifft, muss er in die Kneipen des Viertels hineinschauen. Im Gegensatz zu den meisten Säufern hat der Onkel keine Stammkneipe. Mal ist er im Kummer-Eck, mal in der Gute-Laune-Destille oder im Schluckspecht, gelegentlich auch in der Weiber-Bar. Die Namen hat er selbst erfunden. »Alles meine Kreaturen«, sagt er manchmal und lacht, weil er weiß, dass es eigentlich Kreationen heißt. Je nach Stimmung ist er mal in der einen, mal in der anderen Kneipe; oder ein, zwei Stunden in einer und den Rest des Abends in einer anderen. Bei Schwermut naheliegenderweise im Kummer-Eck, das »Zum Weißen Hirschen« heißt, bei Frohsinn in der Gute-Laune-Destille, offiziell »Seelower Eck«, mit viel Durst im Schluckspecht (»Der goldene Anker«), und wenn er, wie er sagt, flirten will – er spricht das Wort mit langem i aus, sodass es sich fast anhört wie frieren –, geht er in die Weiber-Bar, die schlicht »Zur Bierstube« heißt und sich von den anderen Kneipen dadurch unterscheidet, dass hinterm Tresen zwei Frauen stehen. Die sind schon über sechzig, tragen aber immer noch ziemlich kurze Röcke. Wenn der Onkel »kurze Röcke« sagt, wiegt er den Kopf genussvoll hin und her, als erinnere er sich an etwas oder schwelge in Vorfreude.

Am häufigsten ist er im Schluckspecht, doch der Schluckspecht hat heute Ruhetag. Im Kummer-Eck erklärt der Wirt, dass der Onkel dagewesen sei, aber nur drei Bier lang. In der Gute-Laune-Destille sitzt er auch nicht, wie durch die gardinenlosen Fenster zu sehen ist. Bleibt die Weiber-Bar. Und tatsächlich, dort steht der Onkel am Tresen. Er schwankt leicht und starrt eine Weile in sein Schnapsglas, ehe er es in einem Zug austrinkt und mit Bier nachspült. Mit Bier nachspülen – auch so eine Redewendung des Onkels. Ruckartig dreht er seinen Kopf zum Fenster hin und macht mit beiden Armen eine weitausholende Bewegung: eine Aufforderung hereinzukommen.

Hat er, während er ins Schnapsglas gestarrt hat, sehen können, wer hinterm Fenster steht? Ist das schon Zauberei oder einfach nur eine Gabe, die sich dem Schielen verdankt?

Bevor Matthias sich entschließt, die Weiber-Bar zu betreten, kommt der Onkel heraus. Er trägt drei Strickjacken übereinander, eine graue, eine dunkelgelbe, eine blassrote. Selbst im Hochsommer trägt er mehrere Strickjacken. Das liegt, wie er einmal meinte, daran, dass er gleichwarm sei. »Egal welche Außentemperatur, für mich ist sie immer gleich.« Deshalb habe er auch dieses große Sortiment an Strickjacken, von Weiß bis Dunkelbraun; kein Geburtstag, kein Weihnachtsfest, an dem er nicht mindestens eine geschenkt bekommt.

»Was ist denn«, fragt der Onkel und grinst übers ganze Gesicht, »hast du Durst oder suchst du wen?«

»Dich suche ich«, antwortet Matthias, wie selbstverständlich. Dabei ist es das erste Mal, dass er ihn gesucht hat.

»Ich weiß«, sagt der Onkel und gibt sich geheimnisvoll. »Ich hab’s gesehen.«

Er hat’s gesehen! Wenn das stimmt, wäre es unzweifelhaft Zauberei.

»Na dann, schieß los, Junge«, fährt der Onkel fort, boxt ihm freundschaftlich gegen die Schulter und beginnt, die Schönfließer Richtung Bornholmer hinunterzuschlendern.

Matthias geht an seiner Seite; nach ein paar Metern fragt er: »Weißt du, wie die Schönfließer inzwischen heißt?« Er registriert den verwunderten Blick des Onkels und gibt die Antwort: »Die heißt Odenser. Wie die Stadt in Dänemark. Vielleicht kommst du da mal hin, wenn du wieder im Zirkus arbeitest.«

»Guck mal an«, entgegnet der Onkel, schaut zu einem Straßenschild und stellt fest: »Da steht aber trotzdem Schönfließer. Was sagst du nun?«

»Noch ist alles nur in meinem Kopf«, antwortet Matthias. »Aber vielleicht kann ich eines Tages bestimmen, wie die Straßen hier heißen.«

»Na, größenwahnsinnig bist du wohl überhaupt nicht, was?«

Das könnte zurechtweisend gemeint sein, hört sich aber zärtlich und bewundernd an. Wie gern hätte es Matthias, wenn der Onkel den Arm um seine Schulter legt, kumpelhaft, beschützend, und sie gemeinsam skandinavische Namen erörtern, um jede Ecke, jedes Haus zu benennen. Am liebsten nach den Straßen in Helsinki, die der Onkel auf seiner Sauftour durchquert hat! Vielleicht gibt es in Helsinki sogar im Gegenzug ein deutsches Viertel. Er nimmt sich vor, ihn zu fragen; zunächst aber will er ihm von seinem Erlebnis vom Vortag erzählen.

»Weißt du was?«, sagt er und boxt dem Onkel gegen die Schulter. »Ich hab zwei Grenzposten gefragt, warum manche Straßen hier heißen wie Städte und Länder in Skandinavien. Die konnten mir das nicht erklären, sind wütend geworden und wollten, dass ich verschwinde. Da hab ich ihnen gesagt, dass mein Onkel ein hoher Funktionär ist und für die Grenztruppen zuständig. Da haben sie Angst bekommen und mich in Ruhe gelassen.«

»Du hast was?« Der Onkel bleibt stehen. »Wie kommst du auf den Schwachsinn, dass ich Funktionär wäre?«

Matthias setzt seinen unschuldigen Blick auf, diesmal, um sich die Verunsicherung nicht anmerken zu lassen. »Na, um denen Angst einzujagen. Deshalb.«

Der Onkel starrt ihn an und schielt noch mehr als sonst. »Ich will mit denen nichts zu schaffen haben, verstehst du? Ich will in Ruhe mein Bier trinken, sonst nichts. Merk dir das.«

»Aber die wissen doch nicht, dass du es bist, den ich gemeint hab, als ich sagte, mein Onkel …«

»Hör auf! Die wissen mehr als du denkst, das kannst du mir glauben. Außerdem, man lügt nicht. Merk dir das. Ein für alle Mal.«

Der Onkel geht weiter, aber er schlendert nicht mehr, er geht, als wäre er in Eile.

Matthias folgt ihm nicht. Er überlegt kurz, ihm hinterherzurufen: Du bist ja noch feiger als die! Aber das tut er nicht. Seine Beine zittern noch, als er das Skandinavische Viertel bereits verlassen hat.

Als hätte der Onkel seine Geheimmission in alle Welt hinausposaunt, meidet Matthias das Viertel erst einmal. Stattdessen geht er durch Pankower Straßen, aber er hat keine Lust, deren Namen zu ändern.

Zwei Wochen nach der Begegnung mit dem Onkel fragt ihn die Mutter, warum er so oft erst am Abend nach Hause komme, ob es ihm nicht gut ginge … Die Mutter, scheint ihm, würde am liebsten nicht aufhören mit ihren Fragen, als wäre diese Art zu reden eine Methode, alle Dinge des Lebens im Lot zu halten.

»Weißt du«, sagt er in ihr Reden hinein, »ich gehe einfach so durch die Straßen, stundenlang. Das macht mir Spaß.«

»Allein? Stundenlang? Hast du denn keine Freunde?«

»Klar, hab ich. In meiner Klasse. Weißt du doch. Aber durch die Straßen geh ich lieber allein.«

Matthias hat das Gefühl, nicht die Wahrheit gesagt, aber auch nicht gelogen zu haben: Einige aus seiner Klasse könnte er als Freunde bezeichnen, doch niemand ist dabei, dem er Geheimnisse anvertrauen würde. Die Mutter gibt sich mit seiner Antwort zufrieden, ohne dass ihre Besorgnis weicht. Doch Besorgnis gehört zu ihr wie die Porzellankanne mit Kamillentee, die entweder auf dem Küchentisch steht oder auf dem Nachtschränkchen neben ihrem Bett. »Es kann immer passieren, dass einem ganz schnell übel wird«, lautet eine These der Mutter. Sogar wenn sie unterwegs ist, hat sie nicht selten eine Thermoskanne mit ihrem Tee dabei, dem sie offenbar Allheilkräfte zuspricht. Was wäre, stellt er sich vor, wenn es mit einem Mal keinen Kamillentee mehr zu kaufen gäbe? Vielleicht würde die Mutter vor Schreck ihre Besorgnis verlieren.

Später am Abend kommt sein Vater ins Zimmer, setzt sich zu ihm auf die Bettkante. Der Vater mit seinem Walrossbart, der ihm zusammen mit dem schweren, kräftigen Körper etwas Gemütliches, fast Behäbiges gibt. Aber das Gemütliche täuscht; Matthias muss sich nur die angespannten Wangenmuskeln ansehen. Trägt der Vater den Bart vielleicht nur, um darüber hinwegzutäuschen? Und warum schielt er eigentlich nicht wie sein Bruder? Der Blick des Vaters streift den aufgeschlagenen Weltatlas auf dem Schreibtisch. Hätte er ihn doch nur wieder ins Regal zurückgetan. Andererseits: Dass der Vater darauf reagiert, löst bei Matthias eine erwartungsvolle Freude aus.

»Ist doch Blödsinn«, sagt der Vater, »dass es bei uns Bücher gibt, in denen von Städten und Ländern die Rede ist, in die man nicht reisen darf. Soll der Staat doch gleich verbieten, dass man solche Bücher überhaupt kaufen kann, oder?« Der Vater lacht bitter, auf diese Art unterstreicht er den Sarkasmus seiner Worte. Er faltet die Hände, die rissig sind von Kalk und Zement, presst sie aneinander.

Matthias weiß, dass der Vater lieber im Westen leben würde, aber natürlich nur mit ihm und der Mutter. Alleine zu flüchten wäre vielleicht möglich; zu dritt ist es geradezu ausgeschlossen.

»Aber es ist gut«, fährt der Vater fort, »wenn du dir Wissen aneignest. So viel wie möglich. Mathezirkel, alles was sich bietet. Tausend Bücher, tausend Atlanten. Das kann dir niemand nehmen. Und wenn du später studierst, bringt dich dein Beruf vielleicht ins westliche Ausland. Ich wäre der letzte, der es dir übel nimmt, wenn du einfach dort bleibst. Wenn du jung bist, keine Familie hast … da kannst du auch einfach drüben bleiben.«

So hat der Vater noch nie zu ihm geredet. Dort und drüben. Das klingt wie etwas, das sich auf den Weg machen möchte, eine Zauberformel zu werden.

»Schlaf gut«, sagt der Vater, streicht ihm über den Kopf und verlässt das Zimmer.

Kaum wieder allein, fragt er sich, ob denn der Vater und die Mutter und auch der Onkel und die Großeltern etwa nicht seine Familie sind. Sobald er im Westen bliebe, würde die Mutter ganz bestimmt krank werden und sich nie mehr erholen. Mit der aufkommenden Wut nimmt er sich den Atlas und verunziert die Skandinavien-Seite mit wilden Kugelschreiberstrichen. Nie wird er dort hinkommen. Dort und drüben … Er klappt den Atlas zu und stellt ihn ins Regal.

An einem kalten Sonntag Anfang Dezember hat Oma Lisbeth ihren vierundsiebzigsten Geburtstag. Das erste Mal seit der Auseinandersetzung mit dem Onkel ist Matthias wieder im Skandinavischen Viertel. Der Vater geht mit eiligem Schritt, Sohn und Mutter haben Mühe, ihm zu folgen. Sie biegen von der Bornholmer in die Malmöer; zwischen Ueckermünder, also Aarhuser Straße, und Isländischer gegenüber der Kohlenhandlung wohnen Oma Lisbeth, Opa Paul und der Onkel.

Der Vater zog aus der Elternwohnung fort, nachdem er neunzehn geworden war. Manchmal trifft er sich mit Oma Lisbeth in einem Café auf der Schönhauser, doch in die Malmöer geht er nur, wenn sie Geburtstag hat.

Kaum hat der Vater an der Wohnungstür geklingelt, öffnet Lisbeth sie auch schon und ruft aus: »Ach, endlich seid ihr da.«

Hat die Großmutter hinter der Tür gewartet, um sie so schnell öffnen zu können? Kommen die kleinen Schweißperlen auf ihrer großen rundlichen Nase von der Aufregung oder einfach nur von der Wärme in der Wohnung? Am liebsten würde Matthias sie fragen, doch die Mutter überreicht schon eine Packung Pralinen, Mon Chéri, worauf Oma Lisbeth sich so überschwänglich bedankt, dass sie kaum noch Energie übrig hat, als der Vater ihr gratuliert, eine Zellophantüte unterm Mantel hervorzieht und feierlich sagt: »Das hier ist der Höhepunkt des Abends. Riech mal.«

Oma Lisbeth öffnet die Tüte, steckt die Nase hinein, und sofort ist ihre Energie wieder da. »Gott, mein Lieblingsessen. Ich könnt mich reinlegen und nie wieder rauskommen.«

Sie wickelt einen dreißig Zentimeter langen Aal aus mehreren Schichten Zeitungspapier und geht mit ihm ins Wohnzimmer, wo die Gäste um den großen ovalen Tisch sitzen. Nur der Onkel ist nicht dabei. »Hier gibt’s den Höhepunkt des Abends«, ruft Lisbeth in die Runde.

Sie platziert den Aal auf einen schnell freigeräumten Kuchenteller, und sofort übertreffen sich ihre Schwestern Grete, Agathe und Mimmi mit Beifallsbekundungen. Zwar gibt es Aal sehr selten zu kaufen, meist nur mit Beziehungen, aber das ist doch kein Grund, findet Matthias, so sehr außer sich zu geraten. Er schämt sich für die Großmutter und ihre Schwestern, deren Freude, gerade weil sie echt zu sein scheint, ihm peinlich ist. Opa Paul verzieht keine Miene. »Na«, brummt er vor sich hin, »sag erst mal Guten Tag.«

Die Aufforderung gilt ihm, und er weiß, was jetzt folgt. Jedes Jahr das Gleiche. Er geht zur anderen Seite des Tisches, wo Opa Paul ihm schon die frisch rasierte Wange hinhält, wie immer die linke. Er küsst die Wange, kurz genug, dass ihm nicht schlecht wird von der Mischung aus Schweiß, Zigarettenqualm und Kölnisch Wasser, lang genug, dass es dem Alten nicht auffällt, wie sehr ihn der Kuss ekelt.

Die Eltern haben keinen Blick für Opa Paul übrig; ein Säufer ist er für sie, genau wie der Onkel, dem er das Saufen vererbt hat, und vor allem ist er einer, der Oma Lisbeth schlecht behandelt. Nicht dass er sie jemals geschlagen hätte oder auch nur angeschrien, nein, schlimmer: Er kann tagelang schweigen und unablässig saufen. Er wird dabei nicht betrunken, aber Schluck für Schluck immer griesgrämiger. Schließlich starrt er hasserfüllt zum Fenster hinaus, sodass sich kein Vogel, kein Käfer, keine Fliege in seinen Blick zu geraten traut. So hat es einmal der Vater beschrieben. Und arbeitsfaul sei er, schon sein ganzes Leben lang. Oft krankgeschrieben, als hätte er eine chronische Krankheit, die ihm zu schaffen macht, während sich Oma Lisbeth als Verkäuferin tagein, tagaus die Beine in den Bauch stehen musste. Keine drei Tage würde er es mit dem Alten in einer Wohnung aushalten.

Wo ist der Onkel?, fragt sich Matthias. Er verspürt so etwas wie Sorge, aber er will sich nicht sorgen. Das hätte der Onkel nicht verdient, so wie er ihn angeblafft hat, angeblich aus Angst, nie mehr in Ruhe sein Bier trinken zu können.

»Langt zu«, sagt Lisbeth in die Runde, »sonst ess’ ich euch alles weg.«

Sie lacht, schneidet ein Zehnzentimeterstück vom Aal ab, wiegt es in der Hand und schnuppert dran; dann sagt sie feierlich: »Das ist für Winfried.« Sie nickt bekräftigend. »Der ist in der Küche. Macht den Abwasch, bereitet Abendbrot vor, ganz allein. Und vor allen Dingen« – sie legt eine Pause ein, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen – »trinkt er … keinen Schluck mehr. Und zwar: nie mehr! Stellt euch das vor. Das ist sein Geburtstagsgeschenk für mich. Das schönste, das ich jemals bekommen habe.«

Einen Moment lang wirkt sie wie betäubt vom Stolz auf Winfried, während dem Vater die Wut in die Knochen fährt. Matthias ist froh, dass der Vater kein Wort sagt. Er kann ihn ja verstehen; dennoch wäre es gut, wenn er souveräner sein könnte. Matthias stellt sich vor, wie der Vater zum Onkel in den Zirkus geht und sich zu einem Lob durchringt: Das hätte ich dir nicht zugetraut, dass du es schaffst, nicht mehr zu saufen, niemals hätte ich dir das zugetraut, alle Achtung. Endlich wäre Frieden zwischen den beiden, Bruderfrieden. Und der Onkel – so stellt er sich weiter vor – würde vor Tausenden begeisterten Zuschauern mit vollgefüllten Schnapsflaschen jonglieren, fünf, sieben, dreizehn Flaschen. Dreizehn Flaschen, das wäre keine Akrobatik mehr, das wäre schon Zauberei. Und nicht einen Schluck würde der furioseste aller Jongleure trinken, nicht einen winzigen.

»Na, Junge, bringst du das mal deinem Onkel?« Es ist mehr Aufforderung als eine Frage, die Matthias aus seinen Vorstellungen reißt. Oma Lisbeth hat ihm das Stück Aal in die Hand gedrückt. »Na los. Was denkst du, wie der sich freut.«

Der Onkel sitzt mit baumelnden Beinen auf dem Küchentisch und poliert Gläser. Wieder trägt er drei Strickjacken übereinander, die blassrote vom letzten Mal, darunter eine dunkelblaue und eine lindgrüne. Er kaut einen Kaugummi und sagt, ohne das Kauen zu unterbrechen: »Na? Langweilig da drüben?«

Es klingt lässig. Oder eher: gewollt lässig. Ganz bestimmt will der Onkel nicht auf die letzte Begegnung im Skandinavischen Viertel zu sprechen kommen. Matthias könnte ihn einfach fragen, ob er etwas über Helsinki erzählt, über die Kneipen oder wie es dort im Zirkus war. Aber der Onkel schaut auf das Stück Aal.

»Ich soll dir was bringen«, sagt Matthias und reicht ihm das Stück.

»Na, leg’s mal in ’n Kühlschrank. Vielleicht will’s nachher noch irgendwer essen.«

Die abfällige Art, in der der Onkel redet, erzürnt ihn, doch das zeigt er ihm nicht.

»Hat dein Vater wieder Holz von ’ner Baustelle geklaut, um es gegen Aal zu tauschen?«

»Keine Ahnung«, antwortet Matthias. Er weiß es tatsächlich nicht. Und wenn er es wüsste, würde es den Onkel nichts angehen. Er legt das Stück Aal in den Kühlschrank. »Wer klaut«, sagt er, »ist jedenfalls kein Feigling.«

Er kann nicht erkennen, ob der Onkel die Anspielung versteht. Soll er ihm schöne Grüße von den Wachposten ausrichten? Oder – was er natürlich lieber tun würde – endlich auf Helsinki zu sprechen kommen?

»Sag mal«, beginnt er, »als du in Finnland warst, mit deinem Zirkus …«

»Soll ich dir mal verraten«, unterbricht ihn der Onkel, »was ich der Oma geschenkt habe?«

»Das weiß ich schon«, entgegnet Matthias.

»Und, was hältst du davon?«

»Keine Ahnung, ob so was überhaupt ein Geschenk ist.«

Der Onkel grinst. »Die Oma jedenfalls hat sich gefreut. So sehr, dass sie gleich gesagt hat: Das ist ja das schönste Geschenk, das ich jemals bekommen hab.«

Matthias ist es plötzlich zuwider, den Onkel grinsen zu sehen und prahlen zu hören. »Ich glaub dir nicht, dass du keinen Schluck mehr trinkst. Vielleicht kaust du den Kaugummi nur, damit man deine Fahne nicht riecht.«

Ihn freut die Empörung im Blick des Onkels, der, ohne vom Tisch aufzustehen, den Kaugummi über zwei Meter in die Spüle spuckt. »Von wegen … Mach ich mit links, du kleiner Angeber.«

Matthias weiß nicht, worauf sich »du kleiner Angeber« bezieht, doch er glaubt, wieder dieses Zärtlich-Bewundernde herausgehört zu haben. »Soll ich dir beweisen«, sagt der Onkel, »dass ich weg bin vom Alkohol? Wenn du den Schnabel halten kannst, zeig ich’s dir.«

»Ja, klar«, entgegnet Matthias, ohne darüber nachzudenken, dass diese Bemerkung regelrecht ein Versprechen ist.

Der Onkel ist bereits vom Tisch gestiegen und öffnet den Einbauschrank unter der Spüle. Hinter einem Stapel Putzlappen holt er eine Flasche Pfefferminzlikör hervor. »Hier, bitte, der Schraubverschluss ist zu. Daran siehst du, dass die Flasche unberührt ist. Guck es dir an, das ist der Beweis. Staunst du, was?« Die Eindringlichkeit seiner Worte unterstreicht der Onkel, indem er Matthias die Flasche hinhält. »Hier, na los. Mit deinen eigenen Händen und Augen.« Er nimmt die Flasche, begutachtet sie von allen Seiten, ohne dass er sich getraut, den Schraubverschluss auch nur anzufassen.

»Jetzt willst du wahrscheinlich wissen«, sagt der Onkel, »warum ich hier überhaupt Schnaps versteckt habe.« Er nimmt ihm die Flasche aus der Hand, legt sie zurück hinter die Putzlappen, schließt den Einbauschrank. »Könnte ja sein, dass ich mal Besuch krieg, zum Beispiel von ’ner Dame, und die möchte gern ’n Pfeffi trinken. ’n Pfeffi in Ehren kann niemand verwehren. Schon gar nicht ’ner schmucken Dame.«

Das Wort »schmuck« hat er noch nie gehört. Es kommt ihm altmodisch vor. Wie aus einer Zeit, als der Onkel noch ein ganz anderer war. Ist das überhaupt vorstellbar, fragt er sich: der Onkel ein ganz anderer? Außerdem kann er sich nicht erinnern, jemals von ihm gehört zu haben, dass er sich Frauenbesuch erhofft. Doch ehe er etwas dazu sagen kann, steht der Vater in der Tür und lächelt bemüht.

»Wenn du schon so ein braver Sohn bist«, sagt der Vater zu seinem Bruder, »dann bring deiner Schwägerin ein Kännchen Kamillentee.«

Der Onkel versucht wieder sein Grinsen, doch diesmal gelingt es ihm nicht. »Ist schon unterwegs«, sagt er wie ein Kellner, der sich über eine Bestellung freut.

»Komm«, sagt der Vater. Es hat etwas Bittendes und Forderndes zugleich. Matthias folgt ihm aus der Küche und sieht noch, wie der Onkel, ohne ihnen nachzuschauen, den Kessel vorsichtig auf den Herd setzt.

»Was hast du so lange bei dem gemacht?«, fragt der Vater, nachdem er die Küchentür geschlossen hat. Matthias spürt, wie wichtig es dem Vater ist, dass der Onkel ihm nichts zu bieten hat, was er, der Vater, ihm zu bieten nicht imstande wäre. Er spürt, dass er eine Antwort geben sollte, die dem Vater Genugtuung verschafft, zumindest eine gewisse Freude. Und ihn ärgert, dass er es nicht geschafft hat, mit dem Onkel über Helsinki zu reden. Dass er gar nicht richtig zu Wort gekommen ist, weil er einfach unterbrochen wurde. Auf einmal hat er das Gefühl, eine Entscheidung treffen zu müssen: Vater oder Onkel, wer ist ihm näher?

»Er hat«, sagt Matthias, »eine Schnapsflasche versteckt. Die hat er mir gezeigt. Für Damenbesuch, hat er behauptet.«

Kaum dass er begonnen hat, den Onkel preiszugeben, ist ihm schwindlig geworden. Er lehnt sich an den Vater. Der umfasst ihn so fest, dass er, selbst wenn er wollte, nicht umfallen könnte. Das beschert ihm ein Gefühl von Sicherheit, von Behaglichkeit sogar.

»Ich glaub dir aufs Wort«, sagt der Vater. Es hört sich an, als hätte Matthias beteuert, dass er nicht gelogen habe, diesmal nicht. »Für Damenbesuch«, sagt der Vater und lacht höhnisch.

Als sie das Wohnzimmer betreten, ruft der Vater aus: »Alle mal herhören.« Oma Lisbeth und ihre Schwestern lassen von ihren Aalstücken ab und schauen erwartungsvoll. Opa Paul blickt mürrisch vor sich hin, die Mutter irritiert, erschrocken.