So schwer, sich leicht zu fühlen - Déborah Rosenkranz - E-Book

So schwer, sich leicht zu fühlen E-Book

Déborah Rosenkranz

4,3

Beschreibung

"Entweder du hungerst dich zu Tode, du kotzt, oder du trainierst, bis dein T-Shirt vor lauter Muskeln aus den Nähten platzt. Dazu gehören. Diese große Sehnsucht danach, nicht nur ein Teil der Gesellschaft zu sein, sondern auch eine wichtige Rolle darin zu spielen. Den Idealen nicht nur zu entsprechen, sondern sie sogar noch zu übertreffen. Dann bist du etwas wert. Erst dann wirst du gesehen und beachtet. Dicke sind out und haben kein Recht, ohne Reue in einen Burger zu beißen ... Wer in Size Zero passt, regiert die Welt. Das ist die größte Lüge auf Erden! Wieso ich das weiß? Ich hab beide Welten erlebt. Bin durch dick und dünn gegangen und war nie glücklicher als an dem Tag, als ich zu mir selbst wurde!" Déborah Rosenkranz Die Geschichte einer Frau, die sich fast zu Tode hungert, doch den langen Weg aus der tiefen Krise geschafft hat ....

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© 2011 der deutschen Ausgabe by adeo Verlag in der Gerth Medien GmbH, Dillerberg 1, 35614 Asslar 

1. Auflage 2011

ISBN 978-3-86334-701-7

Umschlaggestaltung: Buttgereit & Heidenreich GmbH, Haltern am See

Titelfoto: Peter Sturn, www.foto-shooting.ch

Satz: Marcellini Media GmbH, Wetzlar

Inhalt

Einleitung

Wie alles begann ...

Das Fett muss weg

Im Light-Wahn

Wahnsinn mit Methode

Ich gehe kaputt

Es wird ernst

Ein Skelett auf Tournee

Wieder zu Hause

Tränen in der Nacht

Austauschschüler und andere Abenteuer

Klassentrend Bulimie

Zum Kotzen

Radtour des Grauens

Auf Jobsuche

Wenn Liebe krank macht

Die unsichere Flugbegleiterin

Tiefe Einsamkeit

„Neville Naidoo“

Die lebensrettende Zyste

Zurück zur falschen Liebe

Herz weg, Job weg

„The show must go on“

Die Versuchung

Down under

Ein herber Schock

Die singende Flugbegleiterin

Miss Intersky

Lügen und Schmerz

Das „gute Mädchen“ im TV

Back to normal – dachte ich

Medienstress

Wenn ein Leben endet

Um jeden Preis?

Einfach mal weg

Alle hassen Déborah

Unmoralische Angebote

Viel Erfolg und nichts in der Tasche

Alles fügt sich zusammen

Im Jetzt und Hier

Laufsteg, Hunger und Tod

Worte haben Macht

Anhang

Über die Autorin

Einleitung

Es gibt unzählige Arten, wie man auf ungesunde Weise mit seinem Körper umgehen kann. Entweder du hungerst dich zu Tode, du kotzt, oder du trainierst, bis dein T-Shirt vor lauter Muskeln aus den Nähten platzt.

Und wozu? Um dazuzugehören. Diese große Sehnsucht danach, nicht nur ein Teil der Gesellschaft zu sein, sondern auch eine Rolle darin zu spielen. Den Idealen nicht nur zu entsprechen, sondern sie sogar noch zu übertreffen. Dann hast du es geschafft, erst dann bist du etwas wert. Erst dann wirst du gesehen und beachtet.

Dicke sind nicht angesagt, sie stören, sie nehmen zu viel Platz ein und haben kein Recht darauf, ohne Reue in einen Burger zu beißen. Denn sie werden beobachtet von den Schlanken, die alles dürfen. Von diesen Frauen mit ihren dünnen Beinen, die sich einfach nur an eine Bar stellen müssen und ganz von allein mit Drinks beschenkt werden. Von denen, die einfach an der Kasse der Clubs vorbeigehen können, weil sie schön sind.

Beim Schlussverkauf profitieren nur die Frauen, die in Größe XS passen. Es scheint, als wären große Größen nie on sale. Wahrscheinlich wird das durch den größeren Stoffverbrauch gerechtfertigt. Wirklich schöne Kleidung gibt es eh nur für schlanke Frauen. Es scheint so zu sein, dass es den Designern und Schneidern einfach leichter fällt, ein Outfit für eine Frau mit Größe 34 zu machen, als für eine Frau, die schöne, weibliche Kurven hat. Und das nennt man dann kreativ!

Dünn zu sein ist im Moment die Währung mit dem besten Kurs, und leider scheint er täglich zu steigen. Wer in „Size Zero“ passt, regiert die Welt, dessen Leben läuft sorgenfrei ab und der bekommt, was auch immer er will – so wird es uns verkauft. Doch das ist die größte Lüge auf Erden!

Wieso ich da so sicher bin? Ganz einfach: Ich habe beide Welten erlebt. Ich bin im wahrsten Sinne des Wortes durch dick und dünn gegangen ... und ich war nie glücklicher als an dem Tag, an dem ich endlich ich selbst wurde! Nie war ich unglücklicher als in dem Moment, in dem ich in Hosen passte, für die mein Körper nicht bestimmt war. Jeden Tag habe ich panische Angst davor gehabt, aus Versehen zu viel gegessen zu haben. Nie habe ich mehr Aufmerksamkeit bekommen als damals –und wusste doch gleichzeitig, dass diese ganz schnell wieder verschwinden würde, wenn die Kilos wieder auf meinen Hüften landeten.

Ich möchte dich mitnehmen in meine Geschichte. Das wird eine Reise, die für mich mit viel Schmerz, Leid und Selbsthass verbunden ist. Doch wenn ich mir anschaue, wo ich heute stehe, dann weiß ich, dass dieses Buch geschrieben werden muss. Soviel steht fest.

Dieser Wahnsinnsdruck, perfekt zu sein und so auszusehen wie ein Topmodel hat mich mindestens vier Jahre meines Lebens gekostet! Dieser Preis war sehr hoch, und ich hoffe sehr, dass ich ihn gleich für dich mitbezahlt habe und du nicht auch da durch musst. Ich schreibe dieses Buch nicht, damit du dir weitere Abnehmtipps rauslesen kannst, so wie ich es damals tat. Als Essgestörte las ich sämtliche Bücher und jeden Artikel über dieses Thema, um auf weitere gefährliche Ideen zu kommen, wie ich mein Gewicht noch mehr reduzieren könnte.

Ich flehe dich an, die Augen zu öffnen und zu verstehen, dass es hier um viel mehr geht als um ein paar Gewichtsproblemchen. Es geht um dein Leben!

Immer, wenn ich an diesem Buch gearbeitet habe, habe ich wieder neu gemerkt, wie krank und verblendet ich gewesen bin. Gefangen in den Ketten einer Krankheit, die mein Denken, Handeln und Leben komplett bestimmt haben. Voller Angst vor der Realität, geplagt von Selbstzweifeln und Unsicherheit. So oft habe ich den Stift wieder aus der Hand gelegt, weil es mir zu schwer gefallen ist, die Vergangenheit nochmals zu durchleben.

Nein, es fällt mir ganz sicher nicht leicht, dir meine Geschichte zu erzählen. Ich werde meine sehr persönlichen Gedanken und Gefühle mit dir teilen, ganz authentisch und ehrlich, weil ich weiß, dass viel zu viele Menschen ähnliche Erfahrungen machen. Ich habe lange überlegt, ob ich tatsächlich damit an die Öffentlichkeit gehen soll. Ob wirklich jeder so einen tiefen Einblick in meine Seele haben soll? Doch mit dem Bewusstsein, dass so viele Menschen da draußen gerade im Moment dabei sind, sich ihr Leben zu ruinieren und sich frühzeitig ihr eigenes Grab zu schaufeln, kann ich nicht anders – ich muss es aufschreiben. Die Wahrheit muss ans Licht!

Ich spreche ganz bewusst von „Menschen“ und nicht nur von Mädchen, weil der krankhafte Umgang mit dem eigenen Körper längst unsere gesamte Generation befallen hat! Mädchen, Frauen, Jungs, Kinder, ältere und immer jüngere Menschen.

Meine Hoffnung ist es, dass du, wenn du mit dem Buch durch bist, verstanden hast, welche Not und Last ich heute, als gesunde junge Frau, in mir trage. Diese Last bist du! Ich wünsche mir, dass du erkennst, wie wertvoll du bist und dass es keinen Grund gibt, dich selbst zu quälen und zu verletzen! Dann weiß ich, dass sich jede Träne gelohnt hat, die ich während des Schreibens geweint habe.

Es ist nicht leicht, sich aus den Klauen dieser Krankheit zu befreien. Doch du bist zu etwas Besserem geschaffen worden! Zu einem Leben im Sonnenschein!

Für dieses Buch habe ich mich intensiv mit meinen Tagebüchern befasst, die ich zu dieser Zeit geführt habe, und bin über mich selbst furchtbar erschrocken. Diese Déborah von damals ist mir heute so fremd – Gott sei Dank! Ich führe heute ein völlig anderes Leben, viel freier und viel mehr bei mir selbst. Ich empfinde eine ganz starke Freude am Leben, weil ich erkannt habe, dass mein Wert weder von meinem Aussehen noch von dem abhängig ist, was andere über mich sagen.

Ich bin gewollt und geliebt und werde gebraucht! So wie du!

Ich lese in meinen alten Tagebüchern und erkenne den Menschen nicht wieder, der so eine furchtbar verdrehte Sicht vom Leben und von sich selbst hatte! Bin es wirklich ich gewesen, die diese Worte geschrieben hat? Es war ganz schön schockierend für mich, dies nochmal zu erleben und zu sehen, wie besessen ich von dem Gedanken gewesen bin, um jeden Preis dünn zu sein. Wie ich dachte, dass mein Gewicht über mein Leben bestimmen würde und dass man mich nur lieben kann, wenn ich schlank bin.

Viel zu viele Menschen gehen durch das gleiche Leid, auf der Suche nach Bestätigung, nach sich selbst. Sie wollen geliebt und akzeptiert werden. Ich habe all dies an den falschen Orten gesucht ... nur um schließlich zu erkennen, dass ich die Wahrheit schon immer kannte. Doch ich bin einen schmerzhaften Umweg gegangen.

Dieses Buch soll dich vor diesem Umweg bewahren und dich dazu ermutigen, die Schönheit zu erkennen, die in dir steckt. Das verborgene Potenzial in dir ans Licht zu bringen! Es soll dich wachrütteln, damit du endlich deine Träume lebst, so wie ich es heute tue! In dir ist ein Wunder verborgen, das nur darauf wartet, geschehen zu dürfen!

Wie alles begann ...

„Déborah, ich weiß gar nicht, wie du mit so viel Fett überhaupt rennen kannst!“

Diese Worte saßen! Mein heimlicher Schwarm saß auf der Bank in der Sporthalle und schaute uns Mädchen wieder einmal beim Handballtraining zu. Mein Herz klopfte jedes Mal wild, wenn er da war, und ich gab mir besonders viel Mühe, gut zu spielen und ihn zu beeindrucken. Doch als diese Worte fielen, brach meine heile Welt zusammen. Es war ein einfacher Satz, der mein Leben jedoch komplett verändern sollte.

Ich war 12 Jahre alt, eine sehr gute Handballspielerin, sogar Mannschaftsführerin, und andere Teams versuchten mich abzuwerben. Mein Ehrgeiz war fast grenzenlos, wie in vielen Bereichen meines Lebens, und wehe, es kam eine neue Spielerin in die Mannschaft, die besser war als ich. Dann trainierte ich umso härter, bis ich wieder an der Spitze war. Nicht selten kam ich mit einem Gipsarm nach Hause!

Ich war aber immer sehr stolz auf meine „Kriegsverletzungen“. Einmal konnte ich 4 Monate lang in der Schule nicht mitschreiben. Offiziell wären es wohl nur drei Monate gewesen, aber ich habe das dann noch ein bisschen in die Länge gezogen, denn ich genoss die Aufmerksamkeit, die ich dadurch bekam. Es war nicht schwierig, sich daran zu gewöhnen, dass einem alles getragen und zurechtgelegt wurde. Die Schiene, die ich zum Schluss getragen hatte, behielt ich einfach noch länger an als nötig, besonders, wenn in der Schule Nähen auf dem Stundenplan stand. Oh, wenn es was gibt, das ich überhaupt nicht leiden kann, ist es Handarbeit! Meine Lehrerin war nicht blöd, sie hatte mein Spiel natürlich sofort durchschaut! Aber ich denke, dass sie mich lieber damit durchkommen ließ, als ständig eine weitere kaputte Nähmaschine reparieren lassen zu müssen!

Eigentlich hatte ich eine sehr unbeschwerte und glückliche Kindheit und liebte meinen Sport. Bis zu jenem Tag, an dem mir die Augen geöffnet wurden ...

Ja, mein Schwarm hatte Recht: Ich war zu dick. Jedenfalls fing ich nun an, das zu glauben.

Ich bin nie ein zierliches Mädchen gewesen und hatte mich auch immer mal wieder etwas unwohl in meiner Haut gefühlt. Aber wenn mal wieder ein verletzender Kommentar über mein Aussehen gemacht wurde, lachte ich einfach los und riss den nächsten Witz, um vom Thema abzulenken. Auch vor dem Nachbarn floh ich immer, der mir jedes Mal, wenn er mich sah, in die Wangen kniff und meinte: „Da ist wenigstens was dran!“

Doch innerlich litt ich sehr darunter, nicht so schön zu sein wie die anderen, und mit jeder Kränkung zog ich meine innere Schutzmauer etwas mehr hoch. Meine Stärke in solchen Momenten war meine Familie. Nie im Leben hätten sie mich für meine überschüssigen Pfunde kritisiert oder gar ausgelacht. Die meiste gemeinsame Zeit verbrachten wir bei Tisch, teilten unsere Erlebnisse des Tages miteinander und genossen es, köstlich zu essen. So vergaß ich auch immer schnell die bösen Bemerkungen wieder, die regelmäßig in der Schule fielen.

Doch schon in der Grundschule hatte ich bemerkt, dass ich anders war. Anders als die hübsche Nadine, die nach der Schule immer von den Jungs nach Hause begleitet wurde. Anders als Jessica, der die Jungs in der Pause Geschenke machten. Mein Bruder war auf der gleichen Schule wie ich, und ich war stolz darauf, einen älteren Bruder zu haben. Immer wieder suchte ich in der Schulpause nach einem Vorwand, mit ihm zu sprechen, damit seine Freunde mich beachteten. Ich wollte gesehen werden!

Doch der Schuss ging in die andere Richtung los. Statt Aufmerksamkeit bekam ich verletzende Worte zu hören: „Hey, da kommt ja deine dicke Schwester wieder!“

Ja, ich war dick. Mit meinen neun Jahren zählte ich zu den dicksten Mädchen der Klasse. Dennoch kann ich nicht sagen, dass ich unbeliebt war. Die anderen Mädchen in der Klasse waren immer gern mit mir zusammen, und die Jungs fürchteten sich vor mir, da ich bei Schlägereien immer erfolgreich dazwischenging, um den Schwächeren zu verteidigen. Auf den Mund gefallen war ich nicht, zu frech auch nicht. Aber ich wusste mich zu verteidigen. Die Lehrer schätzten mich wiederum wegen meiner Ehrlichkeit, und außerdem war ich eine sehr gute und ehrgeizige Schülerin.

Trotzdem machten mich diese Bemerkungen ganz schön fertig. Regelmäßig kehrte ich auf halber Strecke zur Schule um und ging wieder nach Hause zurück, um meine Mutter davon zu überzeugen, dass ich krank war und den Unterricht nicht besuchen konnte. Doch sie kannte mich, und es half alles nichts. Sie schickte mich jedes Mal wieder zurück.

Nach dem Unterricht, wenn Jessica und Nadine sich von den Jungs auf ein Eis einladen ließen, lief ich zu meiner Oma. Sie war die herzlichste Frau auf Erden, und ich ließ mich so gern von ihr verwöhnen. Sie liebte mich so, wie ich war, und kochte mir immer mein Lieblingsgericht: Milchreis mit Zimt und Zucker. Dabei vergaß ich meinen Frust.

Als meine Oma starb, war ich unendlich traurig. Ich hatte die Person verloren, der ich immer alles erzählen konnte. Sie war immer für mich da gewesen. Nie wieder habe ich einen so ehrlichen, treuen, liebevollen und selbstlosen Menschen kennengelernt wie sie.

Bis ich etwa 12 war, lebten wir in einem Hochhaus. Ein richtiges Paradies für ein Kind! Immer hatte man Freunde um sich. Einmal wurde im 4. Stock zu Mittag gegessen, dann im 11. Stock ein Film angeschaut oder im Keller Verstecken gespielt. Eines Tages zog Nancy ein, eine junge Mutter mit ihrem Baby, das einfach zuckersüß war. Wir freundeten uns an, und ich genoss es, bei ihr in der Wohnung zu sitzen. Sie war sehr schön, gertenschlank und sehr liebevoll, und sie hatte in ihrem Leben schon vieles durchgemacht, war sogar für ihren Freund zum Islam konvertiert. Diese Entscheidung hatte sie aber bald bereut, und sie wollte ihre Tochter so nicht erziehen.

Eines Tages kam ihre Stieftochter Jess zu Besuch. Auch sie war unglaublich hübsch und so schlank. Jeder schwärmte von ihr! Ich konnte es kaum erwarten, dass sie wieder abreiste. Nicht, weil sie nicht nett gewesen wäre, sondern einfach nur, weil ich es nicht ertragen konnte, neben ihr wieder einmal „die Dicke“ zu sein.

Ständig hieß es: „Du solltest Model werden!“ Und tatsächlich kam dann jemand auf die Idee, Fotos von Jess und mir zu machen. Ich versuchte, mich zu verstecken, doch es blieb mir keine Wahl. Tapfer lächelte auch ich in die Kamera, um später auf den Bildern ganz deutlich den Unterschied zwischen „schön“ und „süß“ zu sehen. Zwischen dünn und dick. Zwischen ihr und mir.

Ein paar Jahre später zogen wir um, und ich kam in eine neue Klasse. Hier gab es neben mir nur noch ein etwas dickeres Mädchen, und mit der Zeit zweifelte ich mehr und mehr an meinem Aussehen. Es hatte mich nie so belastet, dass ich mich wertlos gefühlt hätte, aber ich kann nicht leugnen, dass ich oft nachts im Bett lag und darüber nachdachte, wie es wohl sein würde, wenn ich schlank wäre. So schlank wie die anderen Mädchen, die in die engsten Jeans reinpassten und einfach alles tragen konnten!

Natürlich hatte auch ich schon mal versucht, ein paar Kilos abzunehmen ... oder es mir eher gewünscht. Doch so richtig Lust, auf irgendwas zu verzichten, hatte ich auch nicht. So glaubte ich lieber den Werbesendungen, in denen einem versprochen wurde, man könne abnehmen, ohne weniger essen zu müssen! Diese sättigenden Pillen, die es in der Apotheke gab, konnte ich mir aber auch nicht leisten. Doch einmal sah ich einen Gürtel in der Werbung, den man unter der Kleidung tragen sollte und der durch vermehrtes Schwitzen zu Gewichtsverlust führen würde. Den musste ich haben!

Ich schaffte es, meine Mutter zu überreden, dass sie mir das Ding kaufte. Voller Hoffnung trug ich ihn dann fast ununterbrochen unter meiner Kleidung. Tatsächlich schwitzte man mit dem Teil sehr stark. Dadurch nahm ich allerdings kein bisschen ab! Stattdessen fing der Gürtel tierisch an zu stinken und zu jucken. Aus der Traum!

Ich liebte Sport in der Schule, doch ich hasste den Winter, denn dann war Geräteturnen angesagt. Davor und vor den Bundesjugendspielen hatte ich wirklich Panik; das hatte für mich nichts mit Sport zu tun. Wie sollte ich mit meinem Gewicht über das Pferd springen? Wie sollte ich nicht am Stufenbarren hängenbleiben, weil ich den Aufschwung nicht schaffte? Und das Reck war mein absoluter Albtraum.

Doch in diesem Jahr löste sich das Problem von ganz allein. Die erste Station bei den Bundesjugendspielen war der Kasten. Ich nahm Anlauf ... und blieb mit dem Bein hängen. Ich knallte mit meinem Arm gegen den Kasten, flog drüber und landete nochmals auf dem Arm, der sofort blau und schwarz wurde.

„Sie muss sofort zum Arzt!“, befand mein Lehrer. Von den Schmerzen bekam ich gar nichts mit, so sehr freute ich mich, Reck, Barren und Co. entkommen zu sein! Und dann durfte ich auch noch mit dem Taxi zum Arzt fahren!

Tatsächlich hatte ich mir den Arm angebrochen und musste drei Monate einen Gips tragen. Ich genoss es, von allen bemitleidet zu werden, und ließ mich verwöhnen. Doch ganz tief drinnen dachte ich: „Wärst du schlanker, wäre das nicht passiert.“

Der Sommer war genauso ein Horror für mich. Mir graute davor, in den Nachrichten den Satz zu hören: „Ab morgen erwarten uns ein paar herrliche Sommertage.“ Dann wusste ich, es war wieder soweit: Ich würde wieder Ausreden erfinden müssen, um nicht ins Freibad zu gehen. Viel lieber war es mir, wenn es den ganzen Sommer regnete. Ich hasste es, mit meinen superschlanken und hübschen Freundinnen in ihren winzigen Bikinis im Schwimmbad zu liegen. Daher zog ich mich immer als Letzte aus und behielt mein T-Shirt an. Selbst im Wasser ließ ich es an, bis ich Ärger mit dem Bademeister bekam. Ich erfand wilde Geschichten: „Ich habe aber so einen Sonnenbrand!“

In einem Jahr wurde es zum Trend, im Wasser das T-Shirt anzulassen. Mensch, war ich froh darüber!

Seit meiner Kindheit hatte ich keinen Bikini mehr getragen. Ich hatte einen dicken Bauch, der durch einen Zweiteiler unvorteilhaft betont wurde, daher zog ich nur Badeanzüge an und legte mich auf der Wiese immer sofort auf den Bauch, um ihn zu verstecken. Dennoch wäre ich nie auf die Idee gekommen, die Finger von den leckeren Pommes mit Ketchup und Mayonnaise zu lassen.

In der Schule schämte ich mich, wenn ich an der Tafel stand. Immer dachte ich: „Die finden mich bestimmt alle furchtbar fett.“

Als ich in einem Jahr in eine neue Klasse kam, riefen alle Mädchen: „Ist das ein Mädchen?“ Und die Jungs: „Ja, und sie ist fett!“

Komischerweise hat mich das damals zwar verletzt, aber es war erträglich. Schlimmer war für mich, dass sie sich über meinen Minnie Mouse-Pullover lustig machten, den ich an diesem Tag anhatte.

Zwischendurch hatte ich aber immer auch Phasen, in denen ich nicht groß über mein Gewicht nachdachte und mein Aussehen eigentlich ganz okay fand.

Doch nun war es also passiert: Er hatte es gesagt! Er, einer der begehrtesten Jungs der Schule! Es war wie ein Schlag ins Gesicht. Deswegen habe ich also keinen Freund? Deswegen interessieren sich Jungs nicht für mich? Deswegen werde ich nie auf die coolen Partys eingeladen?

Ich war nicht hübsch genug und eindeutig zu fett. Ich blickte an mir herunter, und alles, was ich noch sah, war Fett! „Ich bin fett, fett, fett, fett, fett!“, hämmerte es in meinem Kopf.

Das Fett muss weg

Ich bin in einer tollen Familie mit drei Brüdern aufgewachsen und hatte das Privileg und gleichzeitig den Nachteil, die einzige Tochter im Haus zu sein. Natürlich hatten auch wir unsere schlechten Tage, und wenn ich ganz ehrlich bin, war ich als Mädchen eine kleine Zicke und konnte sehr anstrengend sein. Ich wollte immer mit den Jungs spielen, da mir Mädchen zu langweilig waren, doch ich glaube nicht, dass die Jungs das so toll fanden.

Obwohl wir aufgrund der finanziellen Lage bei uns zu Hause nicht gerade im Luxus gelebt haben, habe ich viel Liebe bekommen, die kein Geld der Welt hätte aufwiegen können und die in sehr vielen Familien leider fehlt. Ich hatte mich immer gewollt und angenommen gefühlt.

Doch dieser Tag, diese eine Bemerkung von meinem Schwarm, riss mir den Boden unter den Füßen weg. Plötzlich spürte ich eine grenzenlose Leere in mir. Zum ersten Mal überhaupt fühlte ich mich nicht mehr akzeptiert, nicht geliebt. Und nun kannte ich auch gleich den Grund dafür: Ich war einfach zu dick, um geliebt zu werden.

Mir wurde bewusst, wie unästhetisch es wirken musste, wenn ich beim Handball rannte und sprang, während das bei den schlanken Kolleginnen elegant und geschmeidig aussah. Plötzlich ging es gar nicht mehr um mein Können im Sport, sondern eher um das Aussehen. Ständig zupfte ich an meinem T-Shirt herum, aus Angst, es könne hochrutschen und man würde meinen Bauch sehen! Einen passenden BH zu finden, der sporttauglich war und dann auch noch bezahlbar, erwies sich als großes Problem. Also entschied ich mich, zwei BHs übereinander zu tragen.

Shoppen war sowieso nie ein Spaß für mich gewesen, da ich nur selten fündig wurde. Alles, was mir gefiel, gab es nur in kleinen Größen, und so wurde ein Bummel durch die Stadt oft zu einem deprimierenden Erlebnis für mich. Wenn meine Freundinnen sich zum Shoppen trafen, hatte ich immer Ausreden parat. Nie im Leben wollte ich sie sehen lassen, dass ich in gar nichts reinpasste und nur Stretch-Hosen tragen konnte. Die Blamage, aus der Umkleidekabine rauszukommen und jedem zu zeigen, wie dick ich war, wollte ich mir wirklich ersparen! Wenn, dann ging ich immer allein einkaufen.

Plötzlich fielen mir Dinge auf, die ich vorher nie registriert hatte. Die schönen, schlanken Beine meiner Freundinnen! Während sie über das Spielfeld „schwebten“, rieben meine Oberschenkel aneinander und verursachten mir Schmerzen. Ich schämte mich schrecklich für mein Äußeres und fing an, meinen Körper so weit wie möglich zu verdecken. Ich entwickelte komische Angewohnheiten, zum Beispiel hielt ich beim Sitzen immer eine Hand vor den Bauch. Als ob das etwas genützt hätte! Aber es fühlte sich für mich sicherer an.

In der Parallelklasse war ein wunderschönes Mädchen namens Marie. Ich mochte sie sehr, weil sie unheimlich lieb war! Marie war einfach perfekt. Sie hatte ewig lange Beine, blonde, lockige Haare und ein Lächeln, das jede Wolke am Himmel verschwinden ließ. Außerdem war sie sehr groß und total schlank, und jeder, der sie sah, hielt sie für ein Model. Sie war der wahr gewordene Traum jedes Jungen, und ich bewunderte sie dafür. Marie hatte diese Gabe, trotz ihrer Schönheit andere Menschen um sich herum wahrzunehmen und sich liebevoll um sie zu kümmern. Wir freundeten uns an und waren bald unzertrennlich.

Und natürlich konnte sie essen, was sie wollte, ohne auch nur ein Gramm zuzunehmen. Ich war jedes Mal überrascht, wie viel sie vertilgen konnte. Ihr Speiseplan bestand hauptsächlich aus Cola, Schokolade und Chips – all die Dinge, die es bei uns zu Hause nicht oft gab, weil meine Eltern mit vier Kindern genau kalkulieren mussten. Bei Marie gab es alles, was das Herz begehrte, und ich besuchte sie, so oft es ging! Ihre Mutter kochte leckere Gerichte, während wir auf dem Bett lagen und uns Filme ansahen (natürlich hatte sie auch einen eigenen Fernseher!). Selbst neben dem Bett hatte sie eine Flasche Cola stehen, falls sie in der Nacht Durst bekommen sollte. Cola!

Ach, wie sehr wünschte ich mir, einmal in Maries Haut zu stecken! Ich stellte mir vor, wie es sein würde, wenn mich alle so ansahen, wie man sie ansah! Einfach mal shoppen gehen, und alles würde passen!

Einmal fuhr ich mit ihr und ihrem Papa in einen großen Outlet-Store von Carhartt. Zu diesem Zeitpunkt war das die angesagteste Klamottenmarke überhaupt. Während Marie von Hose zu Hose schlüpfte und immer noch kleinere Größen verlangte, traute ich mich nicht aus meiner Umkleidekabine. Mühsam versuchte ich, die Hose zuzubekommen, die ich mir rausgesucht hatte. Da es mir zu peinlich war, meine tatsächliche Größe zu wählen, hatte ich eine kleinere mitgenommen. Doch nun hatte ich ein Problem und quälte mich in der Umkleidekabine mit dem Knopf ab, der einfach nicht zugehen wollte. Gleichzeitig hörte ich, wie Maries Vater sie mit Komplimenten überschüttete: „Wow! Das sieht aber toll aus, Marie! Die musst du auch noch nehmen.“

Wir verließen den Laden mit mehreren vollgepackten Tüten. Davon gehörte keine mir. Erstens konnte ich mir im Grunde nur die ganz stark reduzierten Sachen leisten, bei denen die Auswahl natürlich sehr klein war. Doch noch schlimmer war, dass mir einfach nichts passen wollte. Traurig und deprimiert saß ich auf dem Rücksitz im Auto, während Marie und ihr Papa, den Mund voller fettiger Pommes, glücklich zur Musik aus dem Radio mitsangen. Wieso konnte ich nicht so sein wie sie? Wieso hatte ich solche schrecklichen Gene geerbt? Meine Brüder waren doch auch so schön schlank!

Marie sprang zu Hause aus dem Auto und zeigte allen ihre neuesten Errungenschaften. Sie hatte gar nicht bemerkt, wie traurig ich war. An diesem Abend wollte sie unbedingt noch weggehen, doch mir war der Spaß daran vergangen, und so verabschiedete ich mich. Zu Hause warf ich mich auf mein Bett und weinte. Wie ich mich und mein Leben verabscheute!

Am nächsten Morgen begegneten wir uns wie immer in der Schule am Treffpunkt der „Coolen“. Dank meiner schönen Freundin, mit der jeder Junge der Schule zusammen sein wollte, durfte auch ich dort stehen, auch wenn ich nicht viel Beachtung bekam. Marie wartete schon auf mich und hatte ihre neuen Klamotten an, in denen sie natürlich fantastisch aussah. Sie wollte mir gerade zuwinken, als sich schon die ersten Jungs um sie sammelten. Ich stand komplett im Schatten ihrer Schönheit.

Marie war verliebt in Marc, für dessen Zwillingsbruder Ben ich total schwärmte. Natürlich hatte der mich bisher nie beachtet. An diesem Tag war aber plötzlich alles anders! Endlich sah auch mich jemand, und zwar Ben! Ben sprach mich an, unterhielt sich mit mir und sah mir dabei tief in die Augen. Mein Herz pochte wie wild, und ich befürchtete, vor lauter Aufregung irgendwas Peinliches zu machen. Dann läutete die Schulglocke, und ich wusste nicht, ob das gut war oder nicht!

Ben drehte sich noch mal zu mir um und meinte: „Wollen wir nach der Schule was zusammen machen?“

Wie? Was? Hatte er das wirklich gerade gesagt? Marie freute sich total mit mir! Und wirklich, Ben holte mich nach dem Handballtraining ab und wir gingen zusammen ein Eis essen. Ich war ja schon ab und zu mit ihm, seinem Bruder und Marie unterwegs gewesen, doch das hier war etwas ganz anderes! Wir setzten uns auf eine Parkbank, und nachdem er mir gesagt hatte, dass ich eine sehr gute Handballspielerin sei, wechselte er das Thema und blieb dann auch bei diesem hängen: Marie.

Der Abend wurde zu einem Desaster. Selbst so blind, wie ich war, begriff ich schnell, dass Ben sich nur mit mir abgab, um mehr über Marie zu erfahren. Ich hatte davon geträumt, dass Ben sich in mich verlieben würde! Aber was hatte ich mir dabei nur gedacht?! Natürlich war sie die Schöne und ich nur das Aschenputtel. Sie war die mit den langen Beinen! Sie war die, die jeder wollte! Sie war schlank! Sie passte in jede Jeans! Und ich, ich war einfach nur die kleine Dicke, die ganz gut Handball spielte.

Der Tag der Schuldisco rückte näher. Mir war klar, dass ich da nicht hingehen würde. Was hatte ich dort schon verloren? Doch meine Freundinnen meinten es gut mit mir und versuchten, mich zu überreden. Ich hatte Angst. Noch nie war ich in einer Disco gewesen, und ich hatte auch gar nichts Passendes zum Anziehen. Überhaupt besaß ich nur einen Rock, den ich sonntags im Gottesdienst anzog. Ich hatte keine Ahnung davon, wie man sich in einer Disco kleidet.

Unsicher stand ich am Rand der Tanzfläche im Schatten meiner hübschen Freundinnen und beobachtete, wie mein Albtraum Realität wurde. Ständig kamen Jungs vorbei, um meine Freundinnen zum Tanzen aufzufordern, und wer blieb allein stehen? Ich. Äußerlich ließ ich mir nichts anmerken, doch innerlich lag ich am Boden und heulte. Bin ich denn so hässlich, dass wirklich niemand mit mir tanzen will? Es tat weh, sehr weh!

Ich hörte noch, wie ein Mädchen zu einem der Jungs sagte: „Komm, jetzt frag sie doch. Nur für einen Tanz.“

Doch es half alles nichts. Ich war die Dicke, die es nicht verdient hatte, glücklich zu sein. Geschweige denn, eine von ihnen zu sein.

Tagebucheintrag vom 8. April 1995

Ich bin so dick! Ich muss abnehmen, sonst liebt mich keiner mehr!

Zur gleichen Zeit begann ein Kurs, den meine Krankenversicherung im Fitnessstudio anbot: Kostenlose Einheiten mit einem eigenen Personal Trainer. Ich war sofort dabei und ging neben meinen harten Handball-Trainingsstunden auch noch ins Fitnessstudio. Dafür nahm ich es auch gern in Kauf, dass ich mit dem Zug hinfahren musste.

Erst war es mir etwas peinlich, das Fitnessstudio voller Muskelprotze zu betreten, und ich stand unsicher am Eingang und merkte, dass ich weit und breit die Jüngste war. Um meinen Umfang zu verstecken, trug ich ein viel zu großes T-Shirt. Egal, jetzt war ich hier und würde auch loslegen!

Ich trainierte fleißig genau nach den Anweisungen des Trainers, und „Ich kann nicht mehr“, das gab es bei mir nicht. Schließlich wollte ich auch bald so aussehen wie die hübschen Frauen, die an den anderen Geräten trainierten. Ich versuchte gleichzeitig, weniger zu essen. Noch hatte ich nicht so viel Ahnung von Diäten und dachte, es würde reichen, einfach „FDH“ zu machen, „Friss die Hälfte“.

Einmal saß ich nach dem Training in der Umkleidekabine und wollte gerade meinen Fruchtsaft trinken, als mir eine Frau zurief: „So etwas Zuckerhaltiges trinkst du?“

Gut, von nun an würde ich das also von meinem Speiseplan streichen. Bisher hatte ich ja keine Erfahrung mit Diäten gemacht, und in einer französischen Familie aufzuwachsen war nicht gerade figurförderlich. Meine Mutter legte immer großen Wert darauf, dass wir mittags und abends alle gemeinsam aßen. Das ist eine sehr gute und wertvolle Sache, doch in solch einer gemütlichen Runde schmeckt es gleich noch mal so gut.

Ich fing also an, auf meine Ernährung zu achten. Es waren zu Beginn nur Kleinigkeiten, wie eben Süßgetränke durch Wasser zu ersetzen oder mal das Abendessen zu streichen und stattdessen nur einen Apfel zu essen.

„Du bist schon fertig?“, fragte meine Mutter und blickte mich ungläubig an. „Hast du denn gar keinen Hunger? Geht es dir nicht gut?“

Alle Blicke waren auf mich gerichtet, und ich schüttelte einfach nur den Kopf. „Nein, nein. Ist alles okay.“

Sonntagnachmittags gab es immer leckeren Kuchen. „Déborah, es ist noch etwas von deinem Lieblingskuchen da!“ Doch ich blieb hart und trank nur meinen Kaffee, während mir das Wasser im Mund zusammenlief. Was hätte ich jetzt für ein Stück von dieser Schwarzwälder Kirschtorte gegeben! Doch gleichzeitig sah ich mein Gesicht im Spiegel und hörte immer und immer wieder meinen Schwarm diese verletzenden Worte sagen. Na warte! Ich würde ihm und der ganzen Welt beweisen, dass ich auch anders konnte!

Mein Magen knurrte wie verrückt, doch ich blieb eisern. Mein Kampf gegen mich selbst hatte begonnen – der Kampf gegen den Hunger.

Gleichzeitig wurde der Hunger aber auch mein Freund. Denn jedes Mal, wenn mein Magen so heftig knurrte, stellte ich mir vor, wie mein Körper jetzt an meine Fettreserven ging und ich dünner wurde!

Um den Hunger besser ertragen zu können, ging ich sehr viel früher ins Bett als alle anderen. Somit kam ich nicht in die Versuchung, noch etwas zu essen. Ich lag oft wach und hatte Mühe einzuschlafen, doch das war es mir wert.

Als ich merkte, wie die Kilos zu purzeln begannen, spornte mich das an, weiterzumachen. Warum hatte ich nicht schon viel früher damit angefangen? Ich hätte eine viel glücklichere Kindheit gehabt! Und warum fiel es den Menschen so schwer, eine Diät durchzuhalten, wenn es doch so leicht ging? Weshalb überhaupt waren die Zeitschriften immer voll mit den neuesten Diäten? Es war doch gar nicht so schwierig, sich ein bisschen zusammenzureißen und nicht alles wahllos in sich hineinzustopfen!

So fing es an.

Im Light-Wahn

Ich schwor mir, nie wieder zuzunehmen. Eisern machte ich mit meiner Diät weiter. Dass ich mich schon nach kurzer Zeit ständig an Stühlen und an der Wand festhalten musste, weil mir schwindelig wurde, störte mich nicht. Immer wieder wurde mir schwarz vor Augen, ich sah Sternchen und befürchtete, jeden Moment umzukippen. Doch das gehörte schon bald zu meinem Alltag.

Auch wenn ich nicht sofort extrem abnahm, ich hatte ein Ziel vor Augen, und davon konnte mich nichts mehr abbringen. Die Schwindelanfälle schoben alle anderen auf Müdigkeit oder meinen niedrigen Blutdruck, denn krank sah ich ja vorerst nicht aus.

Anfangs hatte ich mich nie auf die Waage gestellt, eher aus Angst, der Realität in die Augen blicken zu müssen. Doch jetzt fühlte ich mich wohler, hatte schon ein paar Wochen trainiert und weniger gegessen, also wagte ich den Schritt und schlich mich ins Badezimmer.

Dort stand sie, die Waage, um die ich in den letzten Jahren immer einen großen Bogen gemacht hatte. Eigentlich hatte sie mich auch nie wirklich interessiert. Ich hatte viele Freunde, ging mehrmals die Woche ins Handballtraining und genoss das gute Essen. Ich war glücklich. Wieso hätte ich mich täglich wiegen sollen?

Doch jetzt war alles anders. Meine Hosen saßen sehr locker, und es war klar, dass ich abgenommen hatte. Trotz allem hatte ich Angst vor der Zahl, die ich gleich vor mir sehen würde, und ließ deshalb vorsorglich meine Kleidung, sogar die Schuhe an. Sollte ich über mein hohes Gewicht erschrecken, konnte ich das ja immer noch ausziehen. Mein Joker sozusagen.

So stellte ich mich also komplett angezogen auf die Waage und stieß sofort einen kleinen Jubelschrei aus! Ich hatte tatsächlich 4,5 Kilo weniger drauf als das letzte Gewicht, das ich von mir in Erinnerung hatte! Denn mit meinen 12 Jahren hatte ich schon 76 kg erreicht gehabt. Jetzt hatte sich das Blatt gewendet. Das bedeutete für mich: „Weiter, weiter, Déborah.“

Ich stellte meine komplette Ernährung um, die sowieso schon nicht mehr viel Abwechslung enthielt, und nahm nur noch Light-Produkte zu mir. Wir lebten direkt an der französischen Grenze und gingen immer in Frankreich einkaufen, was für mich perfekt war, da es dort eine viel größere Auswahl an Light-Käse, Light-Joghurt, Light-Drinks und so weiter gab! Ich konnte Stunden damit verbringen, im Laden die Nährwerttabellen der verschiedenen Lebensmittel durchzugehen. Beim Joghurt wollte ich sicherstellen, dass ich den mit den allerwenigsten Kalorien gefunden hatte. Und da achtete ich auch auf die Zahl hinter dem Komma!

Ich regte mich beim Einkaufen immer fürchterlich darüber auf, dass nicht auf jedem Etikett detailliert die Nährwerte und Kalorienangaben standen! Wenn ich die Kalorienmenge eines Lebensmittels nicht kannte, dann wurde das auch nicht gegessen! Ein Satz wie: „Ach, das ist doch Obst, das hat kaum Kalorien“, wäre nie aus meinem Mund gekommen!

Doch auf mein geliebtes Baguette zu verzichten fiel mir sehr schwer. Als Kind hatte ich es immer geliebt, zum Frühstück Baguette mit einer dicken Schicht Butter zu essen und dies dann noch in die großen französischen Tassen (Bol genannt) mit Milchkaffee oder Kakao zu tunken. Klingt ziemlich ekelhaft, schmeckt aber umso besser. Das stand nun aber ganz sicher nicht mehr auf meinem Speiseplan.

Anfangs dachte sich niemand etwas dabei, weil ein paar Kilo weniger mir ja wirklich nicht schadeten. Ich bekam sogar von allen Seiten Unterstützung bei meiner Diät. Besonders genoss ich die Komplimente, die ich in der Schule und irgendwann auch im Handball bekam! Jedes Kompliment war für mich eine Bestätigung, weiterzumachen.

Der Verzicht auf das Abendessen zeigte so viel Wirkung, dass ich bald auch morgens auf das Frühstück verzichtete. Mittags stocherte ich auf meinem Teller herum und kaute bei jedem Bissen mindestens 100-mal. Irgendwo hatte ich gelesen, dass man dadurch eher ein Sättigungsgefühl empfinden und gleichzeitig auch die Verdauung anregen würde. Das war eigentlich ziemlich peinlich mit anzusehen, doch es war mir ziemlich egal, was andere dachten! Hauptsache, ich nahm ab!

Ich entwickelte ständig neue Methoden, um noch weniger zu essen oder Mahlzeiten ganz zu ersetzen. Eine Weile lebte ich nur noch von Babybrei. Doch selbst da musste es entweder reine Karotte oder ausnahmsweise mal Apfel sein. Alles andere hatte ja wieder zu viele Kalorien. Nicht selten fand man im Kühlschrank einen halben Joghurt von mir. Ein ganzer hätte ja dick machen können und wäre laut meiner Tageskalkulation einfach zu viel gewesen. Selbst bei TicTacs, die bekanntlich nur zwei Kalorien pro Stück haben, überlegte ich, ob es das jetzt wirklich wert war. Kaugummis, natürlich zuckerfrei, waren erlaubt, aber immer nur eine Hälfte auf einmal.

Einige Wochen und Monate gingen so ins Land. Irgendwann schlug die Sache von „Déborah hat ein paar Kilo abgenommen und sieht jetzt toll aus“ um, und ich wurde nicht nur schlank, sondern richtig dünn. Aber ich war schon so lange gefangen von dem ständigen Gedanken, ich müsse abnehmen, dass ich gar nicht mehr merkte, wie dürr ich geworden war.

Der Zeiger auf meiner Waage hatte sich mittlerweile schon lange von der 70 vor dem Komma verabschiedet. Auch die 60 hatte ich irgendwie ganz schnell verlassen und befand mich nun bei 58,5 Kilo. Das mag immer noch nach viel klingen, doch immerhin bedeutete es, dass ich schon 17,5 kg verloren hatte. Das fiel natürlich deutlich auf.

Es war komisch: Ich verstand die Menschen nicht, die so schwer damit zu kämpfen hatten, 3 oder 4 Kilo abzunehmen. Bei mir ging das plötzlich so einfach. Ich musste einfach nur das Essen weglassen!

Doch mit dem Weglassen des tatsächlichen Essens drehte ich mich in meinen Gedanken seitdem durchgehend um alles, was mit der Nahrungsaufnahme zu tun hatte.

Ich dachte an nichts anderes mehr als ans Essen, oder vielmehr ans Nicht-Essen und daran, wie ich um die nächste Mahlzeit herumkommen konnte. Mir fiel nicht auf, dass meine Knochen begannen, überall herauszustehen, und meine Klamotten immer schlabberiger an mir hingen.