So sieht Feminismus aus - Lucy Delap - E-Book

So sieht Feminismus aus E-Book

Lucy Delap

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Beschreibung

Mary Wollstonecraft, Simone de Beauvoir, Judith Butler: Diese Ikonen des Feminismus sind in aller Munde. Aber was ist mit Funmilayo Ransome-Kuti, Alexandra Kollontai oder Rokeya Sakhawat Hossain? In ihrer 250 Jahre und fünf Kontinente umspannenden Geschichte macht Lucy Delap deutlich, dass der Feminismus keine westliche Erfindung ist: Kurzweilig und inspirierend zeigt sie auf, dass konkrete historische Ereignisse rund um den Globus seine mosaikartige Entwicklung vorangetrieben haben und diese nicht losgelöst von Hautfarbe, Klasse und Sexualität gedacht werden kann. Freiheits- und Klassenkampf, neue Formen des Zusammenlebens sind beeinflusst von feministischem Denken und umgekehrt.

Ein erfrischend neuer, postkolonialer Blick auf eine weltweite Bewegung, der in seinem Bezug zur Vergangenheit die Debatten der Gegenwart bereichert und öffnet.

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Seitenzahl: 494

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ÜBERDASBUCH

»Feminismus fand immer schon unter ungleichen Bedingungen statt, manche Stimmen wurden vielfach verstärkt, andere routinemäßig ignoriert. Es hat sich herausgestellt, dass die imaginierte Vorherrschaft der weißen, gebildeten euroamerikanischen Frau ein Mythos ist.« – Lucy Delap

Der Feminismus ist keine westliche Erfindung: Lucy Delap liefert in ihrem zweihundertfünfzig Jahre und fünf Kontinente umspannenden Buch einen postkolonialen Blick auf die Geschichte des Feminismus. Kurzweilig und inspirierend zeigt sie auf, dass konkrete historische Ereignisse rund um den Globus die mosaikartige Entwicklung des Feminismus vorangetrieben haben und umgekehrt Freiheits- und Klassenkampf sowie neue Formen des Zusammenlebens beeinflusst sind von feministischem Denken.

Anhand einer außergewöhnlich umfangreichen Sammlung von Beispielen aus Japan, China, Russland und Ägypten, bis hin zu Großbritannien und Deutschland erzählt Lucy Delap von ganz unterschiedlich motivierten feministischen Projekten, um zu zeigen, dass die Bewegung nicht nur auf einem einzigen Programm basiert.

Ein erfrischend neuer, postkolonialer Blick auf eine weltweite Bewegung und ihre diverse Geschichte, der in seinem Bezug zur Vergangenheit die Debatten der Gegenwart bereichert und öffnet.

»Eine Reise durch Raum und Zeit voller faszinierender Momentaufnahmen aus einer verblüffenden Fülle von Studien.« – New York Review of Books

ÜBERDIEAUTORIN

Lucy Delap, geboren 1972, ist Historikerin mit den Forschungsschwerpunkten Feminismus, Alltagsgeschichte, Arbeiterbewegung, Religion und Inklusion. Sie lehrt an der University of Cambridge und ist Fellow am Murray Edwards College. Für ihr Buch The Feminist Avant-Garde wurde sie mit dem Women’s History Network Prize ausgezeichnet.

LUCYDELAP

SO

SIEHT

FEMINISMUS

AUS

Die Geschichte

einer globalen Bewegung

Aus dem Englischen

von Alexandra Hölscher

Blessing

Das Buch erscheint unter dem Titel

FEMINISMS – A GLOBALHISTORY

bei Pelican Books, London

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2020 by Lucy Delap

Copyright © 2022 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung

by Karl Blessing Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: geviert.com, Nastassja Abel

Umschlagabbildung: © Geviert

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-27698-0V001

www.blessing-verlag.de

INHALTSVERZEICHNIS

EINFÜHRUNG

1  TRÄUME

2  KONZEPTE

3  RÄUME

4  OBJEKTE, DINGE, GEGENSTÄNDE

5  MODE

6  GEFÜHLE

7  AKTIVISMUS

8  LIEDER, PAROLEN, KLÄNGE

FAZIT  GLOBALE FEMINISMEN

DANK

ANMERKUNGEN

ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS

ABBILDUNGSVERZEICHNIS

LITERATURHINWEISE

EINFÜHRUNG

Im Januar 1886 zückte eine Frau in der ehemaligen britischen Kronkolonie Goldküste (heute Ghana) einen Stift, um der ein Jahr zuvor gegründeten lokalen Zeitung Western Echo einen flammenden Brief zu schreiben:

»Wir Frauen aus Afrika werden im Allgemeinen leider nicht nur falsch dargestellt, nein, wir werden zum Spielball für jedes Weißbrot, das an unsere Küste kommt … Traurigerweise sind wir von Menschen ebensolcher Beschreibung misshandelt worden, und weil wir nichts gesagt haben, machen sie ungestraft damit weiter … Auch wenn wir keine weißen oder engelsgleichen Gesichter haben, so sind wir zu mindestens ebenso viel Kultur fähig wie jede beliebige weiße Frau.«1

Wortgewandt führt die Frau in diesem Brief aus, wie es sich anfühlt, von den europäischen Kolonisatoren herumgestoßen zu werden, von ihrem fehlenden Respekt gegenüber ihrer Kultur und dem ungeahndeten Missbrauch, der mit der Kolonialherrschaft einherging und dem sich die Frauen ausgesetzt sahen. Die Urheberin war nicht nur verärgert, sie setzte außerdem gekonnt ironische Wortspiele ein und sprach von der Macht weißer Männer als Just Ass (nur ein Arsch), anstatt von Justice (Richter). Leider ist ihr Name nicht überliefert, aber die Selbstverständlichkeit, mit der sie von »wir Frauen aus Afrika« spricht, lässt uns angesichts ihrer vorausgesetzten Gemeinschaft afrikanischer Frauen aufhorchen. Ihre freimütige Art und Weitsicht verdankte sie den lokalen Gegebenheiten – ein seit vielen Jahren an der Goldküste befindliches Zeitungswesen in afrikanischer Hand – sowie der globalen Reichweite der Frauenrechtsbewegungen ihrer Zeit.

1886 war auch ein Jahr massiver Kolonialexpansion. Afrikanische und asiatische Territorien wurden eines nach dem anderen von einigen der bedeutendsten europäischen Großmächte annektiert, und sie entfachten damit eine von Brutalität geprägte Weltordnung, in der ethnische Hierarchien und sexuelle Normen streng kontrolliert wurden. Dies rief im Laufe des darauffolgenden Jahrhunderts Radikale, Nationalist:innen und Gegner:innen des Kolonialismus auf den Plan, die dagegen ankämpften. Es war auch eine Zeit, in der weltweit immer mehr Frauen nicht nur Zugang zu Bildung, sondern auch zu bezahlter Arbeit hatten (oder zu Letzterer genötigt wurden). Die Verbreitung des Fahrrads eröffnete neue Möglichkeiten der Fortbewegung und weckte neue Ambitionen, die sich in der Damenpumphosen tragenden »Neuen Frau« als Radfahrerin versinnbildlichten. Wir tauchen hier in eine umfassende Geschichte über den tief greifenden Wandel ein, den Frauen bezüglich der Art und Weise durchliefen, wie sie über ihre Körper und Lebenswelten dachten und diese bewohnten. Unsere Geschichte bewegt sich vor und zurück und umfasst insgesamt rund 250 Jahre voller Bestrebungen, die Ungerechtigkeiten der Geschlechter zu politisieren.

Wer sich dem Unrecht und den Missständen widersetzt, denen sich Frauen ausgesetzt sahen und sehen, tut dies basierend auf den jeweiligen historischen Zeitpunkten, die sie geprägt haben. Sie nennen sich selbst Feministinnen, Frauen, Ladys oder Schwestern; Bezeichnungen, die immer nur als provisorisch angesehen werden können. Ihre Politik befasst sich mit Klassen- und Kastengesellschaften, ethnischen Zugehörigkeiten, Religion, Sexualität, Nationalitäten und Alter. Die Bezeichnung eines Individuums als Feminist:in ist niemals eine selbstverständliche. Auch den Aktivismus von Frauen und Männern, die diesen Begriff gar nicht als solchen anerkannten oder ihn sogar energisch abgelehnt hätten, können wir nicht einfach als »Feminismus« bezeichnen.

Als Einstieg zum besseren Verständnis der möglichen gemeinsamen Anliegen und Strategien unterschiedlicher Bewegungen wie der »Frauenrechtsbewegung«, der »Neuen Frau«, dem »Erwachen der Frau« oder der »Frauenbewegung«, werden wir zunächst dennoch von »Feminismus« im Allgemeinen sprechen. Ich werde aber auch die Grenzen des Feminismus herausstellen, seine blinden Flecken und das Unausgesprochene, seine Besonderheiten und Vielschichtigkeit. Sogar der Begriff »Frauen« (von Kommentatoren des 19. Jahrhunderts gern einfach nur als »die Frau« bezeichnet) hat sich als umstritten herausgestellt. Und »Gender«, also das Geschlecht, das als kulturelle und gesellschaftliche Organisation des biologischen Geschlechts verstanden wird, fand erst seit dem späten 20. Jahrhundert als Bezeichnung Verwendung. Dieses Buch umreißt, wie Feminist:innen und Aktivist:innen sich zu Nationalismus, Glaubensvorstellungen, Imperialismus, Utopismus und Rassendenken positionierten.

Mein Ziel ist es, feministische Inspiration zu bieten und aufzuzeigen, wie sich unerwartete Verbindungen und Resonanzen quer durch verschiedene feministische Generationen und Epochen ziehen. Wir haben es hier mit einer andersgearteten Geschichte voller Konflikte und Spannungen zu tun, die inspirieren soll. Feministische Bündnisse sind lange immer wieder an ihre Grenzen geraten, und feministische Anliegen der Vergangenheit lassen sich nicht immer so einfach mit den dringenden gegenwärtigen Bemühungen, die Wunden der Geschlechter sichtbar zu machen und auszumerzen, in Einklang bringen.

Feminismus verfolgt das Anliegen, mit über der Hälfte der Menschheit ein Bündnis einzugehen. Womöglich hat es noch nie zuvor eine derartig ambitionierte Bewegung in der Geschichte der Menschheit gegeben. Aber was wollen Feminist:innen? Es herrscht Einigkeit über die Erkenntnis, dass Frauen Männern gegenüber benachteiligt werden und dass diese Benachteiligung bekämpft werden muss. Doch die politischen Forderungen, die im Lauf der Zeit daraus resultierten, waren höchst unterschiedlicher Natur und firmierten unter vielen verschiedenen Bezeichnungen. Feminismus lässt sich am besten als ein ineinandergreifendes, komplexes Zusammenspiel von Handlungen, Anliegen und Forderungen begreifen, das seit dem 18. Jahrhundert oder noch weiter zurückgehend immer wieder neu ausformuliert wird. Seine Anliegen verändern sich im Lauf der Zeit.

Vor einem Jahrhundert beschrieb die britische Sozialistin und Feministin Ethel Snowden Feminismus als ein Vorhaben, das nach der Reinheit von Männern und Frauen strebt, indem es sich »die instinktiven weiblichen Kräfte zum Schutz der Rasse zunutze macht«. Feminist:innen des 21. Jahrhunderts identifizieren sich wohl kaum mit dieser Rhetorik, und Snowdens Rassenpolitik wäre von der unbekannten Briefeschreiberin der Goldküste sicherlich missbilligt worden. Dennoch haben die feministischen Debatten der Vergangenheit, wenn wir sie aus der Sicht gegenwärtiger feministischer Anliegen betrachten, nichts an Aktualität und Relevanz verloren. So etwa Snowdens nachdrücklich vertretene Auffassung, dass Frauen das gleiche Recht zum Militärdienst wie Männer haben sollten, eine Forderung, die auch heute noch aktuell ist, da bei Kampfeinsätzen immer noch um Gleichberechtigung gerungen wird.

Feminist:innen waren von den schrecklichen Tatsachen des Kontrollverlusts motiviert, den Frauen in Bezug auf ihre Körper erlitten und erleiden: Vergewaltigungen, sexueller Missbrauch, ungewollte Schwangerschaften, der unerbittliche Druck des auf sie gerichteten männlichen Blicks. Sie haben auf die Armut von Frauen aufmerksam gemacht, darauf, dass ihnen der Zugang zu sichereren und besser bezahlten Tätigkeiten verwehrt blieb, auf ihre Verletzlichkeit durch Ehe und Mutterschaft, auf ihren Analphabetismus. Sie haben auf den Preis hingewiesen, den Frauen zahlen mussten, weil ihnen aufgrund einer unzureichenden Rechtsgrundlage das Sorgerecht für ihre Kinder entzogen wurde, sie Zwangsarbeit leisten mussten, mangelnden Zugang zu medizinischer Versorgung sowie keinen Anspruch auf Landbesitz hatten und während Besatzungen, Kriegen und Hungersnöten besonders schutzlos waren. Die durch die Geschlechterungleichheit verursachten Kosten und das dadurch entstandene menschliche Elend ließen und lassen sich nicht beziffern. Feministischer Aktivismus war jedoch immer auch kreativ und sorgte für Empowerment, indem Bündnisse geschlossen wurden und er dazu inspirierte, sich für einen Wandel einzusetzen. Aus Ideen und Träumen wurden Kampagnen und Proteste; es gab Menschen, die daraus Hoffnung schöpfen, Resilienz entwickeln und Gerechtigkeit erfahren konnten.

Als politische Bewegung ist dem Feminismus immer wieder nachgesagt worden, er habe seine Ziele erreicht – nur um dann mit neuer Kraft in Gestalt einer anderen Generation von Frauen wieder auf der Bildfläche zu erscheinen, die wütend auf ihr Unbehagen aufmerksam machten. Heutige Aktivist:innen zeigen großes Interesse an dem zuweilen – durchaus zweideutig – verwendeten Begriff »F-Wort« für die Bewegung. Viele sind jedoch verunsichert, wie ihr Aktivismus in der feministischen Geschichtsschreibung einzuordnen ist: So berufen sich manche auf Vorreiterinnen wie Concepción Arenal, Mary Wollstonecraft oder Funmilayo Ransome-Kuti, während sich andere von der Vergangenheit distanzieren und Wert auf die Einzigartigkeit »ihres« Feminismus legen.

Die Ambivalenz in Bezug auf den Begriff »Feminismus« und die Inhalte der feministischen Vergangenheit überraschen kaum. Der historisch in »feministische Wellen« unterteilte Rahmen wurde den komplexen Zusammenhängen feministischer Geschichte schlichtweg nicht gerecht. Bezeichnungen wie erste, zweite, dritte und vierte Welle des Feminismus oder Varianten wie »Neuer Feminismus« oder »Riot Grrrl« bildeten die Erfahrungen von Frauen mitunter nur lückenhaft ab. Und bei vielen Frauen war ihr Aktivismus derart mit anderen Bewegungen, beispielsweise sozialistischer, nationalistischer oder antikolonialistischer Prägung, verflochten, dass sie den Begriff »Feminismus« als zu spalterisch ablehnten, als zu euroamerikanisch, als zu weiß als zu sehr in der Mittelschicht verhaftet.

Im Folgenden werden einige bekannte Geschichten auftauchen, die von militanten Suffragetten und Steine werfenden Demonstrant:innen handeln oder von einem radikalen Feminismus, der die Stärke und Solidarität von Frauen zelebriert. Allerdings wird an keiner Stelle davon ausgegangen, dass Feminismus zu jeder Zeit und an jedem Ort gleich aussieht. Stattdessen gibt es einen roten Faden, der sich als zentrales Paradoxon des Feminismus durch das Buch zieht: Als Bewegung drängt der Feminismus auf die Inklusion von Frauen in allen Bereichen des sozialen und politischen Lebens und fordert einen radikalen Wandel dieser ausschließenden Strukturen; gleichzeitig wohnen ihm jedoch ganz eigene Formen von Marginalisierung inne, und er tut sich von jeher schwer damit, seine Grenzen so zu verschieben, dass alle Frauen auf gleicher Basis mit einbezogen werden. Schwarze Frauen, Arbeiterinnen, Lesben, trans- und bisexuelle Frauen, Frauen mit Behinderung, nicht westliche und nicht christliche Frauen sind oft ausgeschlossen von dem, was die Theoretikerin Chela Sandoval »hegemonialen Feminismus«2 nennt. Trotz seines kosmopolitischen Ursprungs, der in den folgenden Kapiteln thematisiert wird, wurde »Feminismus« oft mit einem abendländischen Modell emanzipierten Frauseins assoziiert. Die Stimmen von Frauen anderer Herkunft oder mit anderen Zielen wurden nicht immer angehört, und feministische Kampagnen wurden ihren Bedürfnissen nicht immer gerecht. Archivmaterial, so es denn überhaupt welches gibt, tendiert dazu, eher die Geschichten der einflussreicheren und privilegierteren Feminist:innen zu erzählen. Adele Murdolo schreibt hierzu, dass »es in feministischen Archiven nur sehr wenige Dokumente gibt, die ohne Weiteres eine konfliktgeladene und rassistische oder ethnisch gespaltene Bewegung offenlegen«.3

Schon so manches Mal wurde der feministische Kampf für gewonnen erklärt, mit der Erlangung des Frauenwahlrechts wurden wichtige Siege errungen, Wegbereiterinnen erkämpften sich das Recht, endlich als Ärztinnen zu praktizieren, Auto fahren zu dürfen oder das Sorgerecht für ihre Kinder zugesprochen zu bekommen. In den 1990er-Jahren war viel von einer »postfeministischen Welt« die Rede, in der Frauen Zugang zu politischer Macht, wirtschaftlichem Erfolg und kultureller Teilhabe hätten. Doch diese Überzeugung, es gäbe für den Feminismus nichts mehr zu tun, hat im Lauf des letzten Jahrzehnts voller wirtschaftlicher Sparprogramme, brutaler Kriege und autoritärer Regierungen erheblich nachgelassen. 2013 verkündete die berühmte nigerianische Romanautorin Chimamanda Ngozi Adichie in einem TED-Talk: »We should all be feminists.« (»Wir sollten alle Feminist:innen sein.«) 2014 veröffentlichte sie diesen Aufruf in Form eines Essays, und die Popikone Beyoncé, die während ihrer Tour 2013 unter einer riesigen Projektion des Wortes Feminist auf der Bühne gestanden hatte, bezog sich damit auf Adichies Appell. In Schweden erhielten alle Sechzehnjährigen nach der Veröffentlichung ein Exemplar von We should all be feminists (auf Deutsch 2016 unter dem Titel Mehr Feminismus! Ein Manifest und vier Stories erschienen).

Dennoch wurden die jüngsten politischen Debatten von antifeministischer und frauenfeindlicher Rhetorik beherrscht. 2016 konnte Hillary Clinton die US-amerikanische Präsidentschaftswahl nicht für sich entscheiden, nachdem sie massiver negativer Berichterstattung über ihr Äußeres ausgesetzt gewesen war. Ihr Gegner Donald Trump bedachte sie und andere Politikerinnen mit boshaften Bemerkungen, über Carly Fiona aus seiner eigenen Republikanischen Partei sagte er zum Beispiel: »Schaut euch doch mal ihre Visage an!« und »Wer wählt denn so was?«. Seine Äußerungen hatten Anfang 2017 einen Protestmarsch von Millionen von Frauen zur Folge. Sie empörten sich über Trumps Prahlerei, er habe »Frauen zwischen die Beine gegrabscht« (Anm. der Übers.: In der Aufnahme eines Gesprächs mit Billy Bush ist zu hören, wie er sagt »grab ’em by the pussy«), und skandierten den Slogan »pussy grabs back« (»Die Pussy grabscht zurück«). Der pinkfarbene Pussyhat erinnert an die roten phrygischen Mützen oder bonnets rouges, die die citoyennes – republikanische Bürgerinnen – während der Französischen Revolution trugen, und wurde international zum Symbol auf Demonstrationen und Protestmärschen von Frauen.

2017 war außerdem das Jahr, in dem ein bedeutendes amerikanisches Wörterbuch, der Merriam-Webster, »Feminismus« zum am häufigsten nachgeschlagenen Wort kürte. Eine weltweite Umfrage ergab, dass nur in Japan die Mehrheit der Befragten folgender Erklärung nicht zustimmte: »Ich befürworte und unterstütze Gleichberechtigung für Frauen – ich denke nicht nur darüber nach, ich erhebe auch meine Stimme und trete offen für sie ein, damit sich in meinem Land die Dinge für Frauen ändern.«4 Von Postfeminismus zu sprechen, erscheint in Anbetracht dieser gesellschaftlichen und politischen Tendenzen nur wenig überzeugend.

Der Begriff »Feminismus« wurde im späten 19. Jahrhundert geprägt und hat seitdem stets für Kontroversen gesorgt. Der Comic einer amerikanischen Zeitung nannte ihn »New Name for Masher« (eine »neue Bezeichnung für Weiberheldentum«) und zeigte einen Mann, der einer Frau unerwünschte Avancen macht und dabei verkündet: »Beachten Sie mich gar nicht, Mademoiselle, ich bin nur ein Feminist.«5 Es dauerte eine Weile, bis dem Begriff eine stabilere Bedeutung zukam, demgemäß es sich bei einer Feministin oder einem Feministen um eine Person handelte, die sich gegen die Ungleichbehandlung von Frauen engagierte. Rebecca West, die mit Anfang zwanzig begann, für ein feministisches Magazin namens The Freewoman zu schreiben, definierte das, was eine Feministin ausmacht, als das, wie Menschen ihr gegenübertraten »wann immer ich Gefühle zum Ausdruck bringe, die mich von einem Fußabtreter unterscheiden«. Dennoch schrieb sie unter einem Pseudonym, da sie befürchtete, ihre Familie in Verlegenheit zu bringen.

Nicht nur Frauen haben die Begriffe und Vorstellungen von Gleichberechtigung, Geschlechtergerechtigkeit und einer anderen Lebensweise inspiriert. In diesem Buch werden wir auch Männer kennenlernen, die sich für mehr Frauenrechte engagiert haben, indem sie – oft unter größtem persönlichem Einsatz – feministische Ziele verfolgten, die auch Männern zugutekommen sollten. Die erst im späten 19. Jahrhundert eingeführte Bezeichnung »Feministen« oder »Feministinnen« diente tatsächlich dazu, das Konzept der »Frauenbewegung« durch eine Identität zu ersetzen, die offener für beide Geschlechter war.

1906 unterbrach ein gewisser Monsieur Legendre eine Versammlung des International Council of Women in Paris und stellte sich als feministischen Kandidaten in einer unlängst abgehaltenen regionalen Wahl vor; die Teilnehmerinnen zeigten sich davon wenig beeindruckt, und die Times weiß zu berichten, dass er »gnadenlos aus der ausschließlich Frauen vorbehaltenen Versammlung hinausgeworfen wurde«.6 Er war nicht der einzige Mann, der im 20. Jahrhundert auf einer feministischen Liste zur Wahl stand. George Lansbury, der die Führung der British Labour Party übernehmen sollte, ließ sich 1906 in Middlesbrough als Kandidat für das Frauenwahlrecht aufstellen und tat dies 1913 erneut im Wahlkreis Bow and Bromley. Lansbury wurde vorgeworfen, ein »Weiberregiment« anzustreben, und er verlor beide Wahlen, was seinem Engagement aber keinen Abbruch tat. Im gleichen Jahr kam er ins Gefängnis, weil er im Kampf um das Frauenwahlrecht zu Gewalt aufgerufen hatte; dort trat er in den Hungerstreik, ein Mittel, mit dem auch viele Gefängnisinsassinnen gegen ihre Inhaftierung protestierten.

Jüngeren Datums ist ein von Aktivist:innen auch in Männergrößen produziertes T-Shirt mit dem Aufdruck »This is what a feminist looks like« (»So sieht ein:e Feminist:in aus«). Der Slogan geht auf einen Ausspruch des ehemaligen Präsidenten der Vereinigten Staaten Barack Obama aus dem Jahr 2016 zurück. Dennoch stehen viele Männer ihrem eigenen Feminismus immer noch mit ambivalenten Gefühlen und Unbehagen gegenüber.

Für manche Frauen und Männer hat sich der Feminismus als transformative, explosive, lebensverändernde Erfahrung und neue Sicht auf die Welt erwiesen. Andere wiederum haben mit tief sitzender Ablehnung, ambivalenter Haltung, Gelächter und Spott darauf reagiert. In Armut lebende Frauen, die ein Recht auf soziale Fürsorge fordern, Schwarze Frauen, die gegen Polizeigewalt und (schlechte) Wohnbedingungen protestieren, in Gewerkschaften organisierte Arbeiterinnen, die sich für gleiche Bezahlung bei gleicher Arbeit sowie sichere Arbeitsplätze einsetzen, sowie Männer, die sich in Männergruppen treffen, haben sich oft eher als Aktivist:innen für »Antisexismus«, »Soziale Gerechtigkeit« oder Womanism bezeichnet (der auf der Emanzipationsgeschichte und den Alltagserfahrungen von PoC-Frauen basiert). Diejenigen, die es bevorzugt haben, ihren Aktivismus anders zu definieren, sollten nicht als »Feminist:innen« bezeichnet werden. Ihre Beweggründe, sich von dieser Bezeichnung zu distanzieren, sind dennoch von Relevanz für auf die Geschichte des Feminismus spezialisierte Historiker:innen, die jegliche Art von Aktivismus gegen Geschlechterungerechtigkeit dokumentieren.7

Die Anfänge des Feminismus

Bislang ist es nur mäßig erfolgreich gelungen, Feministinnen und Feministen als solche auch in früheren Jahrhunderten zu verorten. Es gab Bestrebungen, Feminismus an bestimmten Personen festzumachen, beispielsweise an Christine de Pizan, einer Schriftstellerin aus dem späten Mittelalter, oder der alexandrinischen Philosophin Hypathia aus der Spätantike. Natürlich dachten diese historischen Figuren nicht in solchen Begriffen, und es wäre irreführend, sich aus der Perspektive unserer viel später entstandenen ideologischen Überzeugungen mit ihnen zu befassen.

Stattdessen sollten wir lieber fragen, in welchen Begrifflichkeiten und auf der Grundlage welcher Interessen sie damals über Frauen und Männer gedacht haben. So kann etwa eine Aufteilung der Welt in zwei Geschlechter nicht als selbstverständlich angesehen werden. In manchen Teilen der Welt ist kein deutlich erkennbares Konzept »Frau« nachweisbar. In China war die Kategorie »weibliche Personen« (funü) Historiker:innen zufolge eine relativ späte Erfindung und bezog sich direkt auf den Familienstatus. In vielen Kontexten gab es dort eine klare Unterteilung von weiblichen Personen – in der chinesischen Qing-Dynastie zum Beispiel in »Ehefrauen« und »Kurtisanen«. Damit vergleichbar ist der Klassenunterschied zwischen women (Frauen) und ladies (Damen) im Großbritannien des 19. Jahrhunderts.

Aufgrund der jeweiligen lokalen Vielfalt kamen die weltweit organisierten Forderungen nach einem Wandel auf sehr unterschiedliche Weise zustande. Dort, wo es sie gab, sprachen Feminist:innen in unterschiedlichen Registern zu unterschiedlichen Gruppierungen. So war im Europa und Amerika des 19. Jahrhunderts die Rede von der »Frauenbewegung« oder der »Frauenfrage«, während im Nahen Osten und in Nordafrika Anfang des 20. Jahrhunderts mehrheitlich vom »Erwachen der Frauen« gesprochen wurde. Andere sprachen damals lieber von der »Neuen Frau« (new woman), die für die neuen Möglichkeiten stand, welche sich Frauen auf wirtschaftlicher und kultureller Ebene eröffneten. Chinesische Radikale stellten unterschiedlichste Forderungen im Namen der Frauenrechte (funüjie) und Geschlechtergleichheit (nannü pingdeng). Feminismus lässt sich anhand dieser Beispiele zwar nur ansatzweise abbilden, und auf Feminismus spezialisierte Historiker:innen müssen darauf achten, die regionalen Eigenheiten des Kampfes um Geschlechtergerechtigkeit und des Aktivismus nicht auszulöschen. Dennoch wäre es ein Fehler, all diese Debatten und Bewegungen isoliert zu betrachten; sie teilten oft Kerngedanken oder dienten einander in ihren jeweiligen Anliegen als Inspiration. Wir können die umfangreichen Verflechtungen globaler Debatten über die Beziehung zwischen Gender und Macht erfassen und gleichzeitig Feminismus als ein zutiefst zeitgeschichtliches und kontextspezifisches Phänomen begreifen.

Trotz der oft höchst unterschiedlichen Definitionen von Feminismus wurde der Begriff Anfang des 20. Jahrhunderts weltweit rezipiert. Er steht sowohl für die Rechte von Frauen als auch für Kampagnen zu deren Förderung, Schutz und Gleichbehandlung. 1904 wurde in Chile die einzige Ausgabe eines Magazins mit dem Namen La Aurora Feminista (Die feministische Dämmerung) herausgegeben, im gleichen Jahr, in dem Rosika Schwimmer (1877–1948) die Feministák Egyesülete (Feministische Vereinigung) in Ungarn gründete. Im Jahr darauf folgte die Gründung des Centro Feminista in Buenos Aires, Argentinien. 1905 wurde auch die philippinische Asociación Feministagegründet: Philippinische Frauen sahen Feminismus als Chance, ihre Rolle als Frau in der Gesellschaft zu gestalten und zu versuchen, die Arbeitsbedingungen von Frauen zu verbessern sowie Frühehen zu verhindern.8 Im gleichen Jahr war Argentinien Gastgeber des ersten International Feminine Congress, und in La Plata, der Hauptstadt der Provinz Buenos Aires, wurde das Magazin La Nueva Mujer (Die neue Frau) herausgegeben. Das Motto des Kongresses lautete »Lasst uns arbeiten«, und in den Anfangsjahren des lateinamerikanischen Feminismus lag der Schwerpunkt auf Forderungen nach Sozialfürsorge und einem staatlichen Schutz für Frauen. Kritiker warfen den Feministinnen allerdings vor, marimacho zu sein – halb Mann, halb Frau. Aber der Begriff »Feminismus« war auch flexibel genug, um von religiösen Konservativen wie Laura Correa de Bustos übernommen zu werden, die 1907 in der uruguayischen Hauptstadt Montevideo einen Artikel über feminismo Christiano (christlicher Feminismus) veröffentlichte.9

Die Suffragetten-Bewegung in Großbritannien steht oft repräsentativ für die feministischen Anliegen der damaligen Zeit. Die Mitwirkenden an der ersten britischen Zeitschrift, die sich als »feministisch« bezeichnete und The Freewoman hieß, verwendeten 1911 jedoch den Begriff »Feminismus«, um sich von der Suffragetten-Bewegung zu distanzieren, die sich für das Frauenwahlrecht starkmachte. »Feminismus« war für die avantgardistischen Herausgeberinnen ein für beide Geschlechter offener Begriff und stand für eine ablehnende Haltung gegenüber konventionellen politischen Institutionen. Sie strebten nach revolutionären Veränderungen; eine der Herausgeberinnen, Dora Marsden, gab den umstrittenen Ausspruch von sich, dass »mit Gewehren bewaffnete Rebellen« sich wohl am ehesten Respekt verschaffen würden.

Es wurden auch andere Begriffe verwendet: Französische Radikale experimentierten mit der Bezeichnung éclaireuse (Wegbereiterin), um das Gefühl von Frauen als Pionierinnen einzufangen, »die sich von alldem befreit hatten, was noch immer auf vielen ihrer Mitstreiterinnen lastete«.10 Deutschsprachige Aktivistinnen schwankten zwischen »Feminismus« und »Frauenbewegung«, da sie befürchteten, der erstgenannte Begriff könnte Assoziationen zu »freier Liebe« oder der militanten britischen Suffragetten-Bewegung auslösen.11 Feminismus hat oft als »Lehnwort« fungiert und ein weites Spektrum an Gebieten abgedeckt, um verschiedene Formen von Genderpolitik zu benennen. In Japan war 1910 die Rede von feminizumu. Russische Aktivistinnen bevorzugten wiederum den Ausdruck ravnopravki (Gleichrechtlerinnen), als sie 1905 in der aufregenden Zeit des revolutionären Aufbruchs die Allrussische Union für die Gleichstellung der Frauengründeten.12 Dieses neue Konzept löste auf der ganzen Welt gleichermaßen Faszination sowie den Verdacht aus, europäischen oder amerikanischen Einflüssen zu unterliegen.

Gelegentlich blieben die Bezeichnungen, mit denen Frauen bedacht wurden, haften. Die britische Presse verspottete Anfang des 20. Jahrhunderts militante Aktivistinnen als suffragettes, eine Bezeichnung, die von denjenigen, die Steine werfend das Wahlrecht einforderten, begeistert übernommen wurde. In den 1970er-Jahren wurden Feministinnen als bra burners – als Emanzen, die ihre BHs verbrannten – verhöhnt, was die Aktivistinnen jedoch konterten, indem sie andere Wortspiele und subversive Wiederaneignungen ersannen: Harpies Bizarre, Hags, Lavender Menace, the Monstrous Regiment, the Society for Cutting Up Men. (etwa: Bizarre Harpyien, Hexen, lila Bedrohung, Weiberregiment, Gesellschaft zur Vernichtung der Männer.)

Die Bedeutung des Begriffs »Feminismus« hat sich stetig weiterentwickelt und Kontroversen ausgelöst. Aktivistinnen der 1970er- und 1980er-Jahre sprachen oft lieber von der »Befreiung der Frau«, denn sie assoziierten die Bezeichnung »Feminismus« mit einer reformerischen »liberalen« Politik hinsichtlich parlamentarischer Rechte und des Frauenwahlrechts. Französische Feministinnen, die zur »Psych-et-Po«-Gruppierung (Psychoanalyse und Politik) gehörten, standen dem Begriff »Feministin« als amerikanischem Import kritisch gegenüber, da sie ihn mit »feindlicher Gegenüberstellung« assoziierten. Sie sprachen lieber von femmes en lutte (Frauen im Kampf), um die Verschiedenartigkeit von Frauen und die Mutterschaft in den Vordergrund zu stellen. Japanische Aktivistinnen bevorzugten gegen Ende des 20. Jahrhunderts den Begriff einer »geschlechterfreien« Gesellschaft. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts sind viele Aktivist:innen dazu übergangen, ihre Form von Feminismus noch spezifischer zu definieren, wodurch Bezeichnungen wie »intersektionaler Feminismus« oder »transfreundlicher Feminismus« entstanden sind.

Trotz der vielen unterschiedlichen Ausprägungen von Feminismus gibt es den übergeordneten feministischen Traum einer Bewegung, der die Gesamtheit der Frauen umfassen könnte: »Einander in Einigkeit helfen« verkündete ein chinesisches Transparent im Rahmen der International Woman Suffrage Alliance im Jahr 1913. Eine Fantasie, die gleichzeitig das Paradoxon einer abstrakten politischen Agenda barg, welche genau diese Inklusivität zum Inhalt hatte, über konkrete Ausgrenzungen jedoch hinwegsah. Als Lösung für das Problem wurden gelegentlich Begriffe wie »Schwarzer Feminismus« oder »Chicana-Feminismus« verwendet, Kritiker:innen hielten jedoch dagegen, dies rücke lediglich die Ausgrenzung Schwarzer oder mexikanischer Frauen aus dem ethnisch unmarkierten »Mainstream-Feminismus« in den Vordergrund. Die afroamerikanische Schriftstellerin Alice Walker prägte 1984 den Begriff Womanism, der von einigen Schwarzen Frauen übernommen wurde. Dem englischen Ausdruck womanist (manche bevorzugen die Schreibweise womynist, um die englische Bezeichnung man für Mann, der in womanist lauert, vollends zu verbannen) droht das gleiche Schicksal wie dem englischen feminist, nämlich die Verallgemeinerung der eigentlichen Forderungen. Aber er dient als sinnvolle Erinnerung daran, dass ein Feminismus, der für Zusammengehörigkeit steht, auch Grenzen setzt und ausgrenzt. Die afroamerikanische Aktivistin Frances Watkins Harper (1825–1911) brachte es bereits 1866 auf den Punkt: »Ihr weißen Frauen, ihr redet hier von Recht. Ich aber rede von Unrecht.« Harper forderte von der Frauenbewegung eine klare Positionierung gegen die Rassentrennung in den Straßenbahnen, doch ihre weißen Mitstreiterinnen setzten sich nur ungern mit der Problematik rassistischer Ausgrenzung auseinander. Als afroamerikanische Frau und ehemalige Dienstmagd fuhr sie fort: »Als farbige Frau habe ich in diesem Land eine Form von Bildung genossen, die mir das Gefühl gab, in Ismaels Situation zu sein, meine Hand gegen jedermann, und jedermanns Hand gegen mich.«13 Sie und ihre afroamerikanischen Mitaktivistinnen gründeten 1897 die National Association of Colored Women, da sie es in einer Atmosphäre zunehmend rassistisch motivierter Ausgrenzungen bevorzugten, sich unabhängig von weißen Frauen und vom »Feminismus« zu organisieren, der ihnen keine adäquate Plattform bot.

Angesichts der Debatten über Namensgebung und Zugehörigkeit, ist es nur naheliegend, sich die unterschiedlichen Bezeichnungen im Laufe der Geschichte des Gender-Aktivismus genauer anzuschauen und sich intensiv mit den Inhalten der verschiedenen Bezeichnungen zu befassen. Dabei geht es nicht darum, die erste, echteste Feministin von allen zu identifizieren. Stattdessen gehen wir Erfahrungen von Ausgrenzung und Anderssein unter den Aktivist:innen nach, die sich für Geschlechtergleichheit und soziale Gerechtigkeit einsetzten, und widmen uns ihren leidenschaftlichen, schmerzhaften oder strategischen Koalitionen.

Trotz des gegenwärtig wieder aufflammenden Interesses an der Bedeutung von Feminismus sollte bedacht werden, dass diese immer veränderlich war. Feministische Symbole und Slogans waren dehn- und umformbar, wurden an das jeweilige Publikum angepasst. »So sieht Feminismus aus« wird sich mit Traditionen befassen, die islamischen, Schwarzen, indigenen und lesbischen Feminismus einbeziehen. Auf einer noch kontroverseren Ebene wird sich das Buch zudem mit Männern befassen, die sich mit Feminismus identifizieren, um die andauernden, sich aus der Fragestellung resultierenden Spannungen zu untersuchen, für wen Feminismus eigentlich bestimmt ist und wer Teil der Bewegung sein darf.

Warum global?

Warum bedarf es einer globalen Perspektive, um sich mit Feminismus zu befassen? Frühere historische Betrachtungen der Feminismen haben sich oft um ein »zivilisatorisches« und eurozentrisches Modell herum ausgerichtet. In ihnen lässt sich Feminismus bis hin zu den europäischen Autor:innen des 17. Jahrhunderts wie Aphra Behn, François Poullain de la Barre und Sarah Fyge zurückverfolgen, die damals begannen, Frauen als »versklavte Klasse« anzusehen. Diese Autor:innen waren von zumeist protestantisch-religiösen Traditionen inspiriert, deren Anschauungen nach die Frau auf spiritueller Ebene als gleichberechtigt angesehen wurde. Wenn sie von »Versklavung« sprachen, so waren jedoch nur selten die Frauen gemeint, die im wahrsten Sinne des Wortes als Sklavinnen auf Plantagen und Ländereien in Nord-, Mittel- und Südamerika sowie in der Karibik gehalten wurden. Sie begannen, Erfahrungen wie Vergewaltigung und Zwangsheirat zu benennen und sich von ihnen abzukehren – ohne wiederum Bezug auf entsprechende Erfahrungen von Sklavinnen zu nehmen. Diese Intellektuellen sind oft als maßgebliche »Wegbereiter:innen« der Geschichte des Feminismus angesehen worden.

In der früheren Geschichtsschreibung wurde die Fackel üblicherweise an Zeitzeug:innen der Amerikanischen und Französischen Revolution im späten 18. Jahrhundert wie Abigail Adams und Olympe de Gouges weitergegeben. De Gouges sprach sich in ihrer »Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin« (1791) für ebendiese aus, und sie wird oft zusammen mit der britischen Autorin Mary Wollstonecraft als Begründerin von Anschauungen und Polemiken genannt, die unverkennbar feministischer Art sind. Ihr Einfluss lässt sich im 19. Jahrhundert, das sich durch zunehmenden Aktivismus in Form zahlreicher Kampagnen für Bildung, Eigentumsrechte und das Frauenwahlrecht auszeichnet, bis ins 20. Jahrhundert nachverfolgen. Erst in jüngerer Vergangenheit wurden Persönlichkeiten wie die ehemalige Sklavin und Dichterin Phillis Wheatley (etwa 1753–1784) in die feministische Geschichtsschreibung aufgenommen, die häufig um eine begrenzte Auswahl an zumeist weißen und gebildeten Wegbereiterinnen herum strukturiert worden war. Die daraus resultierenden Strömungen verleiten nicht nur dazu, frühere Versionen feministischer Denk- und Handlungsweisen fehlzudeuten, sondern richten sich auch nach dem Bedürfnis aus, zu zeigen, »wer zuerst da war«. Kurz gesagt, die ersten Texte, die als »feministisch« angesehen werden können, wurden auch dazu genutzt, eine nationale Priorisierung festzulegen, was dazu geführt hat, dass weiße Bürgerinnen aus Imperialmächten wie Frankreich, England oder den Vereinigten Staaten als Begründerinnen der Bewegung betrachtet wurden.

Schon seit Jahrzehnten wird diese Darstellung in der Geschichtsschreibung der Weltgeschichte angezweifelt. Um ein globales Verständnis feministischer Geschichtsschreibung zu schaffen, haben Historiker:innen angeregt, von alternativen Ausgangspunkten und neuen Denker:innen auszugehen. Wir könnten etwa die Rasheed (Rosetta) Women’s Conference von 1799 als einen der ersten feministischen Ursprungsmomente festhalten, als sich eine Gruppe ägyptischer Frauen, die sich im Rahmen eines Protests gegen die 1798 stattgefundene französische Invasion in Alexandria radikalisiert hatte, zusammenfand, um über die Arbeitsbedingungen und den Status zu diskutieren, den Frauen in der Familie einnahmen. Ein alternativer Ausgangspunkt könnte der Zeitpunkt sein, als 1792 in Sierra Leone indigene Hauseigentümerinnen das Frauenwahlrecht erhielten – ein Recht, das die Frauen wieder verlieren sollten, als ihr Land 1808 Teil der britischen Kronkolonie wurde. In Neuseeland bekamen 1893 weibliche Indigene und Kolonistinnen das Wahlrecht zugesprochen, lange bevor das Frauenwahlrecht in Europa und Amerika durchgesetzt wurde. Diese Betrachtungsweisen helfen, die vermeintliche Priorität europäischen Feminismus zu hinterfragen.

Das Hauptaugenmerk der globalen feministischen Geschichtsschreibung liegt auf den umfangreichen Strukturen, die den Konzepten der »Frauenfrage«, den Rechten von Frauen und der Gleichberechtigung von Frauen, zugrunde lagen. Es wurde viel dazu geforscht, in welcher Form beispielsweise Kolonialmächte die Frauenbewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts und das Erschaffen einer Welt, in der den kolonialisierten Völkern Freiheit und Staatszugehörigkeiten aberkannt wurden, geprägt haben. Kolonialisierte Völker sahen sich aufgrund systematischer Arbeitsverpflichtung und Zwangsarbeit Massenmigrationen ausgesetzt. Frauen aus unterschiedlichsten Verhältnissen sahen sich ihrer Boden- und Handelsrechte beschnitten. Frauen der Kolonialmächte bedienten sich der Rhetorik rassischen und zivilisatorischen Aufstiegs und positionierten sich als den kolonialisierten Frauen übergeordnete Instanz. Sie nutzten ihre Rollen als Missionarinnen, Kolonistinnen und Ehefrauen, um zu reisen und die Leben der nicht westlichen Frauen zu beschreiben sowie Einfluss darauf zu nehmen, wie diese behandelt wurden, bisweilen im Namen der Gleichberechtigung oder des Feminismus. Als später über mehrere Jahrzehnte hinweg der Prozess der Entkolonialisierung seinen Lauf nahm, trugen auch die geopolitischen Auseinandersetzungen des Kalten Krieges dazu bei, den Aktivismus von Frauen und Feministinnen zu ermächtigen und zu formen.

Das 19. und 20. Jahrhundert waren außerdem von der Entwicklung zunehmenden Nationalismus geprägt, was zur Folge hatte, dass Status und Freiheit von Frauen oft an Debatten über den nationalen Fortschritt geknüpft waren. Schwerpunkt dieser Debatten war die problematische Vorstellung von »Rückständigkeit«, mit der die Unzufriedenheit über die hiesigen Verhältnisse der Frauen beschrieben wurde. Die Vorstellung von der europäischen oder nordamerikanischen emanzipierten, gebildeten Frau galt als Maßstab, wenn Forderungen nach einer positiven Entwicklung der Nation oder einer Region gestellt wurden. 1852 schrieb die Herausgeberin der brasilianischen Frauenrechtszeitung O Jornal das Senhoras (Die Zeitung für Frauen) im ersten Leitartikel der Zeitung:

»In Frankreich, England, Italien, Spanien, den Vereinigten Staaten und sogar Portugal gibt es eine Vielzahl von Fällen, in denen Frauen sich der Literatur verschrieben haben und an verschiedenen Zeitungen mitwirken. Ist Südamerika womöglich zum gesellschaftlichen Stillstand verdammt, während die gesamte Welt dem Fortschritt sowie der ethischen und materiellen Aufwärtsentwicklung einer Gesellschaft entgegenstrebt?«

O Jornal das Senhoras war in Rio de Janeiro gegründet und von der ursprünglich aus Argentinien stammenden Juana Paula Manso de Noronha (1819–1875) herausgegeben worden. Manso betrachtete die Zeitungals eine Plattform für die »soziale Besserstellung und moralische Emanzipation von Frauen«. Auch wenn Manso den Vergleich zwischen »fortschrittlichen« und »rückständischen« Regionen nur aus rhetorischen Gründen einsetzte, so waren die tatsächlichen (oder nur angenommenen) Reformen, die in Ländern wie England, Frankreich und den Vereinigten Staaten vonstattengingen, auch in Brasilien nachzuweisen. 1869 öffnete in England die erste Universität für Frauen, das Girton College in Cambridge, seine Pforten. 1879, nur ein Jahrzehnt später, wurden Frauen in Brasilien an Hochschulen zugelassen – im gleichen Jahr, in dem die französische Nation den Beschluss fasste, lycées (weiterführende Schulen) für französische Mädchen zu eröffnen. In Brasilien gab es im Rahmen der verfassungsgebenden Versammlung von 1891 ernst zu nehmende Debatten über das Frauenwahlrecht, während in England und den Vereinigten Staaten zur gleichen Zeit ähnliche Debatten geführt wurden. Und obwohl sie von Rückständigkeit sprach, war Manso davon überzeugt, dass sie Europa gar nicht brauchten, um es ihnen vorzumachen, schließlich »weht die Fahne der Aufklärung anmutig in der duftenden Brise der Tropen«.14

Mansos Fähigkeit, über die Landesgrenzen hinaus zu verreisen, erinnert uns daran, dass die Geschichtsschreibungen des Feminismus nicht nur innerhalb einzelner Nationalstaaten, Regionen oder Imperien zu verorten sind. Migrationen von Flüchtlingen, Studierenden, Vertriebenen und Arbeiter:innen sorgten für immer wieder neue Einflüsse rund um den Globus.

1851 organisierte beispielweise Anne Knight, Mitglied der Sheffield Female Political Association, eine Petition zum Frauenwahlrecht in England, nachdem sie während der revolutionären Tage von 1848 einige Zeit mit der französischen Aktivistin Jeanne Deroin verbracht hatte; diese wiederum veröffentlichte 1852 Harriet Taylor Mills Essay »The Enfranchisement of Women« (dt. Die Übertragung des Stimmrechts an Frauen) in ihrer Zeitung L’Almanach des Femmes.

Dank der technischen Fortschritte in der Reise- und Kommunikationsbranche konnten Frauen im 19. Jahrhundert eine Vielzahl an Ländern bereisen. So fuhr etwa die Historikerin Bonnie Anderson auf den Spuren der jüdischen Abolitionistin und Befürworterin des Frauenwahlrechts Ernestine Rose (1810–1892) durch Polen, nach Berlin, Paris, London und New York; Rose war mit dieser Reise vor einer arrangierten Heirat geflohen und hatte sich dem sozialistischen und feministischen Aktivismus verschrieben.15

Neuerdings widmen sich Historiker:innen vermehrt der früheren bewussten Kultivierung transnationaler Räume, sei es mithilfe von Zeitungen mit internationaler Verbreitung oder im Rahmen von Tagungen, Konferenzen, Bündnissen und Verbänden. Zuweilen wurde im 19. Jahrhundert Transnationalismus von Institutionen wie der Women’s Christian Temperance Union als bewusste Strategie angewandt, indem sie sich die globale Mobilwerdung zunutze machten. Internationale Organisationen wie das International Council of Women trugen dazu bei, bedeutsame, auf globaler Ebene führende Akteur:innen wie die League of Nations Committee of Experts on the Legal Status of Women (gegründet 1937) zu unterstützen. Die »links-feministische« Women’s International Democratic Federation baute in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ähnliche Kampagnen- und Mobilitätsnetzwerke auf und wirkte prägend an den einflussreichen UN-Weltfrauenkonferenzen in Mexiko-Stadt (1975), Kopenhagen (1980), Nairobi (1985) und Peking (1995) mit.16

Ein globales Geschichtsverständnis erlaubt es uns auch, das Wechselspiel zwischen international bekannten Texten und intellektuellem oder traditionellem Aktivismus zu erkennen, der lokal verortet ist.17 Nehmen wir John Stuart Mills wichtiges Buch Die Hörigkeit der Frau (neuer Titel der deutschen Neuübersetzung von 2012: Die Unterwerfung der Frauen);es war 1869 in England in dem Kontext erschienen, dass Mills zuvor versucht hatte, einen Gesetzentwurf zum Frauenwahlrecht im britischen Parlament vorzubringen, dem er als Mitglied des Unterhauses für den Wahlkreis City and Westminster angehörte. Schnell wurde das Buch in viele Sprachen übersetzt, unter anderem übertrug die Chilenin Martina Barros Borgaño das Werk 1872 ins Spanische, worauf es in der chilenischen Zeitschrift Revista de Santiago mit dem Titel La Esclavitud de la Mujer veröffentlicht wurde. Die chilenische Frauenbewegung stützte sich zwar auf europäische Texte, bewahrte sich jedoch ihre ganz eigenen Akzente. In Chile, wo überhaupt nur wenige Männer zur Wahl gingen, war nicht das Frauenwahlrecht das dringendste Thema, sondern die wirtschaftliche Ausbeutung von Frauen, die in den Mühlen der Industrie steckten, ein Zusammenhang, der Mills Vorstellung von »Sklaverei« eine neue Bedeutung verlieh.

Feminismus sollte mehr als Konversation und weniger als Import verstanden werden, allerdings eine Konversation mit vielen Registern. Feminismus fand immer schon unter ungleichen Bedingungen statt, manche Stimmen wurden vielfach verstärkt, andere routinemäßig ignoriert.18 Das Konzept der entangled histories, auch Verflechtungsgeschichte genannt, wird von Globalhistoriker:innen angewandt, um zu dokumentieren, wie Anschauungen, Menschen und Texte immer wieder Grenzen überquerten und auf diese Weise eine Vielzahl an »Überschneidungspunkten« geschaffen haben. Die Historikerin Kathryn Gleadle lädt uns ein, Geschichte als non-lineare Wurzelstockstruktur zu begreifen, voller unerwarteter Wachstumspunkte, Sackgassen und Muster.19 Einige Verästelungen dieser Strukturen zogen sich mit der Zeit in die Länge, und nicht nur Feminist:innen setzten sich immer wieder kritisch mit früheren Texten auseinander und formulierten ihre Ansätze neu. Es hat sich herausgestellt, dass die imaginierte Vorherrschaft der weißen, gebildeten euroamerikanischen Frau ein Mythos ist.20

In den folgenden Kapiteln werde ich mich mit spezifischen, regionalen Konstellationen von Ideen befassen, die dazu führten, dass sich feministische Träume, Konzepte und Aktionen entwickeln, diese aber auch infrage gestellt werden konnten. Gelegentlich werden zarte Wirkungslinien in Erscheinung treten, in gleichem Maße werden wir es aber auch mit Ablehnung oder Innovation zu tun haben. Statt nach den europäischen Ursprüngen zu suchen, arbeite ich eher mit der diffuseren Vorstellung eines »Feminismusmosaiks«, das zwar auf übernommenen Fragmenten basiert, dennoch ganz eigene Muster und Bilder kreiert. Wie bei Mosaiken ist es möglich, dass der Blick aus der Ferne und die nähere Betrachtung von Feminismus zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen führen können. Und vergleichbar mit Mosaiken entstanden feministische Bündnisse aus den Fragmenten dessen, was zur Verfügung stand – andere Bewegungen, engagierte Einzelkämpferinnen, Aktivismus und Anschauungen. Manche Mosaiken waren langlebig, andere zerfielen in ihre Einzelteile, aus denen neue Mosaiken entstanden, oder verschwanden gänzlich.

Die gewohnte Ausrichtung rund um Europa wird ersetzt und »provinzialisiert«, indem Geschichten anderer Netzwerke und Orte erzählt werden, zum Beispiel welche Bedeutung dem Umstand zukommt, dass Japan im frühen 20. Jahrhundert Exilchinesinnen aufnahm und auf diese Weise einen Ort des intensiven Austauschs schuf. Zudem werden internationale Aktivist:innen und Autor:innen zu den Themen Frauenwahlrecht, Abstinenz, Antikolonialismus und Friedensbewegungen ins Blickfeld gerückt, in Ablösung derjenigen, die fest im jeweiligen Kanon eines Landes verortet sind. Im weiteren Verlauf des Buchs wechsle ich perspektivisch zwischen Weitwinkelaufnahmen unterschiedlicher feministischer Ansichten oder Aktionen und Nahaufnahmen der Leben einzelner Frauen, die sich dem Kampf gegen die Ungleichbehandlung der Geschlechter verschrieben haben. Ich hoffe, auf diese Weise einige wichtige neue Lesarten feministischer Praktiken und Anschauungen von der Vergangenheit bis heute herausstellen zu können.

Unter Bezug auf Kimberly Springers Konzept der politics in the cracks (etwa: Bruchstellenpolitik) möchte ich dazu anregen, dass wir uns nicht nur die Plättchen und Kleinteile anschauen, aus denen ein Mosaik besteht, sondern auch die Lücken dazwischen. Springers Arbeiten über Schwarze feministische Gruppierungen wie die Third World Women’s Alliance beschreiben eine Politik, die an den »Bruchstellen« entstand – gestohlene Momente zwischen den alltäglichen Arbeitsanforderungen und der Fürsorge für die Familie. Auch der sich organisierende Schwarze Feminismus befand sich irgendwo zwischen den Stühlen der Bürgerrechtsbewegung und der Frauenbewegungen und entlarvte somit auf unbequeme oder kreative Weise die Schnittpunkte von Klassen, Geschlecht und Rasse.21 Springers Politik des »Zwischenraums« lenkt unsere Aufmerksamkeit auf Anliegen, die nicht so einfach in die bestehende Frauenpolitik passten, sowie auf die daraus resultierenden Möglichkeiten und Verlagerungen. In diesem Sinne könnten wir uns fragen, was für die Stabilität eines Mosaiks sorgt oder wodurch sich sein Muster auflöst. Das heißt, wir könnten untersuchen, wie aus Träumen, Kampagnen, Räumen und Orten, Emotionen und Liedern eine Art von feministischem »Zement« erschaffen werden könnte, in den eine politische Einstellung in ihre historische Form gegossen wird, die mit der Zeit zerbröckelt, sodass Mosaikteile herausfallen und neue Muster daraus entstehen können.

Mosaiken und Konversationen als Metaphern vermitteln ein Gefühl für die Vielfalt feministischer Debatten. Wir sollten dabei jedoch Uneinigkeiten, Gewalt und andere Schwierigkeiten, die den Feminismus auch charakterisiert haben, nicht aus den Augen verlieren. Die feministische Literaturwissenschaftlerin bell hooks verdeutlichte: »Frauen können sich an einer Politik der Vorherrschaft beteiligen, und sie tun es, sei es als Täterinnen oder als Opfer.«22 Einige der globalen Systeme, die in etwa im gleichen Zeitraum wie die »Frauenfrage« und Feminismus aufkamen – Systeme wie Imperialismus, Missionierung, Siedlungskolonien, Indentur (Vertragsknechtschaft) und Nationalismus –, beruhten allesamt auf Gewalt und Unterwerfung. Die Welt ist historisch gesehen kein Ort, den alle frei bereisen können. Wir, als Beobachter:innen des 21. Jahrhunderts, können eine globale Perspektive auf die Vergangenheit des Feminismus einnehmen, ein Privileg, das den historischen Akteur:innen selbst nicht zuteilwurde. Eine globale Geschichte des Feminismus wird, wie die Historikerin Mrinalini Sinha betonte, aus dem einen Bild, das wir haben, nicht einfach mehrere Bilder machen, damit wir von nun an in Feminismen denken.23 Stattdessen sollte unsere Darstellung von Feminismen das würdigen, was Sinha »die diskrepanten Geschichten unterschiedlicher Frauenbewegungen« nennt, die durch Dispute, Konflikte und Machtkämpfe geprägt sind.

Theorie, Aktivismus und Anwendbarkeit

Zu welchem Zweck wurden Feminismen gebraucht? Wozu sind sie heute gut? Die Vorstellung einer »anwendbaren Geschichte« lädt dazu ein, Geschichte im Dialog mit der Gegenwart zu betrachten – eine Geschichte, die helfen kann, Fragen zu feministischen Strategien, Prioritäten und Ausrichtungen in der Gegenwart zu klären, indem dargestellt wird, wie Dilemmata und Kampagnen in der Vergangenheit Gestalt annahmen. Feministische Konzepte und Kampagnen wurden gebraucht, um die Hausarbeit umzuverteilen, um ein Umdenken in der Erziehung und Bildung von Kindern, in der Art der Erschaffung von Kunst und Musik, in der Kategorisierung und Entlohnung von »Arbeit« und im Rechtssystem zu bewirken. Ohne behaupten zu wollen, dass die Geschichte von vornherein Wiederholungen bereithält, stoßen wir, wenn wir auf die Vergangenheit des Feminismus schauen, auf Vorboten der Probleme, die uns gegenwärtig beschäftigen. Wir könnten fragen, wer durfte sich historisch gesehen zur Kategorie »feministisch« zählen? Wer wurde ausgeschlossen? Wie unterschied sich der Umgang mit Individuen, Gesellschaften oder Nationen im feministischen Kontext?

Die Auseinandersetzung mit der Anwendbarkeit bedeutet nicht, dass wir uns nur unter dem Aspekt möglicher gegenwärtiger Inspiration mit der Vergangenheit des Feminismus näher beschäftigen. Vielmehr haben wir die Möglichkeit nachzuvollziehen, wie Spezifität und Besonderheiten von beispielsweise Religion Feminismus im späten 18. Jahrhundert geprägt haben oder wie sich Frauenbewegungen im Kontext der Staatenbildungen Anfang des 20. Jahrhunderts in China oder im Nahen Osten entwickelten. Anwendbare Geschichte impliziert nicht, dass die Vergangenheit aus der Perspektive heutiger Normen bewertet wird. Vielmehr steht Anwendbarkeit dafür, sich zu erinnern, mit welch höchst unterschiedlichen Methoden historische Akteur:innen Feminismen in ihrem Leben umsetzten, sei es auf rhetorischer, intellektueller oder materieller Ebene.24 Und zwangsläufig wird jede Leserin und jeder Leser ganz eigenen Fragen nachgehen und entscheiden, was für sie anwendbar ist. Anwendbare Feminismen müssen nicht doktrinär und ergebnisoffen sein, ausgeformt, aber nicht durch das Zusammentreffen von Vergangenheit und Gegenwart bestimmt sein.

Es mag Aspekte feministischer Vergangenheit geben, die heute Unbehagen in uns auslösen. Dem Konzept der Anwendbarkeit liegt jedoch die Notwendigkeit zugrunde, den gegenwärtigen Aktivismus mit historischen Gegebenheiten zu untermauern.25 Feministinnen steckten in Bezug auf ihre jeweilige Geschichte über lange Zeit hinweg in einer unangenehmen Situation fest; es kam zur Ablehnung der Glaubenssätze ihrer Mütter und Großmütter, einer Ablehnung, die durch das Bedürfnis motiviert war zu rebellieren, eine neue Ära einzuläuten und Vererbtes abzuschütteln. Neuere Technologien wie Social-Media-Plattformen mögen heutigen Feminist:innen das Gefühl geben, dass Bewegungen wie #Cuéntalo (Sag es) oder #MeToo sich grundlegend von früheren feministischen Erhebungen unterscheiden. Gleichzeitig ist der historische Bezug feministischer Bewegungen, die bisweilen voller Nostalgie auf die Vergangenheit zurückblicken, jedoch immer sehr ausgeprägt. Und nur ein kurzer Blick zurück offenbart stark verbindende Themen rund um sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz und auf offener Straße sowie die Kampfansage an männliche Gewalt, Straffreiheit und Respektlosigkeit gegenüber Frauen.

Ein Buch über feministische Geschichte stellt für viele zumindest teilweise eine intellektuelle Reise dar. Feminismus verstand sich immer schon auch als Aufforderung, sich intensiv damit auseinanderzusetzen, wie und warum eine Gesellschaft auf eine bestimmte Weise organisiert ist, und warum (manche) Männer mehr Autorität, mehr Ressourcen und lautere Stimmen haben als Frauen. Feministische Denker:innen haben sich immer schon mit den großen Ideen moderner Zeiten befasst: Sie haben das liberale Selbst infrage gestellt, den Sozialvertrag, die Anforderungen demokratischer staatsbürgerlicher Werte, die Konzepte von Staat und Nation sowie die Ideale des revolutionären Sozialismus. Feminismus hat sowohl Schnittpunkte mit anarchistischen Kritiken und zu diesen beigetragen als auch mit ökologischen und theologischen Wissenschaften sowie der Critical Race Theory. Dank der Expansion von Hochschulbildung im späten 20. Jahrhundert konnte sich Feminismus fast auf der ganzen Welt als fester Bestandteil der Hochschullandschaft etablieren. Dennoch wurden auch an vorderster Front von Protesten, Consciousness-Raising (Bewusstseinsbildung) und Aktionen Theorien entwickelt. Feminismus zielte oft darauf ab, gleichermaßen aktivistisch anwendbar zu sein wie auch für Veränderungen im Privaten.

Die Geschichtsschreibung hat sich in den letzten zwanzig Jahren verändert und ist diverser geworden. Auf dem Gebiet der Kulturgeschichtsschreibung hat sich ebenso viel getan wie in der Entwicklung neuer Methoden zur Erforschung von materieller Kultur, Raum, Kapitalismus und Emotionen, um nur einige Wachstumsbereiche aus der jüngsten Vergangenheit zu nennen. Dieses Buch stützt sich auf diese neuen Methoden und setzt sich, anders als die sonst üblichen Analysen feministischer Geschichte, über deren typische Verortung in intellektuellen und sozialen Bewegungen hinweg. Ich werde nicht versuchen, eine chronologische Geschichte über die feministischen Bewegungen der letzten zwei Jahrhunderte zu erzählen – ein derartiges Unterfangen wäre hier gar nicht zu bewältigen. Stattdessen biete ich einige neue Ausgangspunkte an, die aus innovativen Begebenheiten der jüngeren Vergangenheit hervorgegangen sind.

Das erste Kapitel über feministische Träume wendet sich dem literarischen und psychoanalytischen Denken zu, eine Herangehensweise, die unsere Träume sowie die potenziell kreative und unterbewusste Arbeit, die sie leisten, ernst nimmt. Im zweiten Kapitel werden die theoretischen Ressourcen gewürdigt, die Feministinnen geschaffen haben, und es wird darauf eingegangen, wie das Patriarchat und andere Umstände dafür gesorgt haben, dass sich geschlechtsspezifische Muster innerhalb sozialer menschlicher Organisationen gefestigt haben. Außerdem beschäftigt es sich mit dem Einfluss weit zurückreichender Traditionen wie dem Republikanismus und jüngsten Entwicklungen von Intersektionalität und Sexismus. Das dritte Kapitel untersucht – inspiriert vom wachsenden wissenschaftlichen Interesse an der Fragestellung, inwiefern Ort und Raum soziale Bewegungen prägen – das Konzept eines feministischen Raums. Es macht Feminismus in Bereichen der Arbeit und des Kultischen ausfindig und zeigt Bestrebungen auf, Schutz- und Rückzugsorte zu schaffen. Das vierte Kapitel befasst sich mit einigen feministischen Objekten. Wo frühere Geschichtsschreibungen Feminismus als Ideologie verstanden haben, als etwas, das sich am besten mithilfe von Biografien einfangen ließ, hebt dieses Kapitel die materielle und visuelle Kultur des Feminismus hervor, sowohl anhand politischer Statements auf Buttons und Postern als auch anhand von Alltagsgegenständen wie dem profanen, dennoch wirkungsmächtigen Buch und der Hutnadel. Das fünfte Kapitel beschäftigt sich vertiefend mit der materiellen Kultur und geht näher auf den »Stil« feministischer Kleidung und Mode ein, während das sechste Kapitel an neue Arbeiten über Emotionen anknüpft, um sich mit den von Feminismen hervorgerufenen Gefühlen zu befassen. Das siebte Kapitel blickt auf den ausgeprägten Aktivismus zurück, der sich durch die gesamte Geschichte der Feminismen gezogen hat, und untersucht die Formen von Protesten, die sich sowohl auf körperlicher als auch räumlicher Ebene vollzogen. Das achte Kapitel erkundet schließlich die lautstarken und musikalischen Ausdrucksformen von Feminismus, die mit Aktivismus verbundenen Sprechchöre, Gesänge und musikalischen Innovationen.

Diese neuen Perspektiven verorten feministische Geschichte in einigen der innovativsten Gebiete der Geschichtsforschung und verändern auf dramatische Weise unsere Wahrnehmung von den Einsatzformen und Anwendungen des Feminismus. Sie nehmen uns mit auf eine Reise quer durch die Kontinente und zeigen uns, warum universelle Definitionen von Feminismus, Zeiträumen und Orten nicht funktionieren. Stattdessen lade ich dazu ein, »Feminismus« auf einer den Globus umspannenden Leinwand über einen Zeitraum von 250 Jahren in Augenschein zu nehmen. Die Geschichten, die daraus entstehen, handeln weniger von der Gleichberechtigung der Geschlechter, sondern vielmehr von Forderungen nach Geschlechtergerechtigkeit in einer Lebenswelt, in der alle prosperieren können. Zum Beispiel durch faire Löhne, den Rauswurf kolonialer Besatzer oder eine matriarchale Spiritualität. Manchmal kam es deshalb auch zu Konflikten zwischen verschiedenen feministischen Zielen und Träumen. Ich behaupte, dass die feministische Vergangenheit uns nicht nur als Inspiration dienen kann, sondern auch zu einem besseren Verständnis führt, weshalb Chimamanda Ngozi Adichies Forderung, dass »wir« alle »Feminist:innen« sein sollten, niemals eine einfache Aufgabe sein wird.

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TRÄUME

Als ich mich in den 1990er-Jahren während meines Studiums zum ersten Mal mit der Geschichte der Feminismen befasste, veranlasste mich eine zufällige Begegnung während eines Seminars dazu, mich intensiv mit der Frage auseinanderzusetzen, von welcher Art von Träumen Feminist:innen wohl angetrieben würden. Eine Kommilitonin aus einem höheren Semester hatte sich neben mich gesetzt, und wir verfolgten beide eine Debatte über feministische Philosophie. Oder vielleicht hörte ich zwar zu, habe aber zugleich eine höchst lebhafte Erinnerung an ihre regenbogenfarbenen Zehensocken. In ihrer Art der Selbstdarstellung wirkte sie auf unbekümmerte Weise unkonventionell. Wir begannen, uns über Feminismus zu unterhalten, und ich war aufrichtig geschockt, als sie mir erzählte, ihre Vision von Feminismus bestehe darin, dass er das Geschlecht vollständig auslösche. Sie träumte von einer Welt, in der die Kategorien männlich und weiblich schlichtweg irrelevant wären. Mit den heutigen nicht binären trans- und genderneutralen Formen von Identität, auf die experimentell oder auch sehr bestimmt zurückgegriffen wird, wirkt dieser Traum womöglich weniger Grenzen sprengend, und auch meine eigenen Ansichten sind unkonventioneller geworden. Aber diese Begegnung war ein wichtiger Moment für mich, denn sie offenbarte mir, wie divers die mit Feminismus verbundenen utopischen Hoffnungen sind und dass ich mich mit den bestehenden Kategorisierungen von Männlich- und Weiblichkeit weiter auseinandersetzen würde. Träume haben ein großes Potenzial, um Impulse für Veränderung und Andersartigkeit zu schaffen. Im späten 18. Jahrhundert nannte die Schriftstellerin Mary Wollstonecraft sie wild wishes, »wilde Wünsche«, Momente der Vorstellungskraft, die offenbaren, was Frauen und Männer dazu brachte, ein feministisches Bewusstsein zu entwickeln.

Träume bieten einen sehr persönlichen, intimen Einblick in die Beweggründe, aus denen feministischer Aktivismus entstanden ist. Sie entstehen im Kontext der Lebensverhältnisse der Träumer:innen – ihrer Familie, ihren Erfahrungen in der Arbeitswelt, den Büchern, die sie lesen, ihrer Gemütsverfassung. Träume stehen aber auch in direktem Zusammenhang mit dem historischen Moment, mit dem, was im Kontext von beispielsweise Besatzungszeit, Revolution, Urbanisierung oder Hungersnot vorstellbar ist. Es ist vorstellbar, dass feministische Träume klein anfingen und das Hauptaugenmerk auf der Gleichberechtigung der Geschlechter oder auf der Erlangung bestimmter Rechte lag, etwa des Sorgerechts für Kinder. Doch nur ein kurzer Blick auf die Verschiedenartigkeit der Träume und Träumer:innen, die wir in den Jahrzehnten des späten 18. Jahrhunderts und im 19. Jahrhundert vorfinden, belehrt uns eines Besseren. Die Träume des Charles Fourier (1772–1837) und seiner Anhänger:innen sind bezeichnend für die Ambitionen und verblüffende Heterodoxie früherer Zukunftsvisionen einer neuen Geschlechterordnung. Fourier argumentierte damit, dass die Voraussetzungen für ein glückliches Leben sinnstiftende Arbeit und Freiheit in der Liebe seien. Für die korrumpierten sexuellen Sitten seiner Zeit fand er folgende Worte:

»Gleicht eine junge Frau nicht einer Ware, die dem Höchstbietenden zum Verkauf angeboten wird? Erfolgt ihre Zustimmung zum Eheband nicht geradezu erzwungenermaßen und gleicht sie nicht einer Farce, nachdem sie von Kindheit an mit fixen Ideen darauf gedrillt wurde? Man will sie davon überzeugen, dass sie nur aus Blumen geflochtene Ketten trägt. Aber ist sie sich ihrer Erniedrigung bewusst?«26

Alternativ schlug Fourier einen weiteren feministischen Traum vor: eine ideale Gesellschaft, die er Harmonie nannte und die sich durch kreative, angenehme Arbeit auszeichnete, eine Art genossenschaftlicher Ordnung, in der Männer, Frauen und Kinder ihren jeweiligen Neigungen entsprechend eine Vielfalt an Aufgaben übernehmen konnten. In sexuellen Angelegenheiten hätten alle die Freiheit, »eine Vielzahl an amourösen, bislang kaum vorstellbaren Innovationen« zu leben. Frauen sollten an der Regierung von Harmonie beteiligt werden, die laut Fouriers Prophezeiung bald den gesamten Globus umspannen würde. Aber da die Art der Umsetzung dieser Ziele eher vage blieb, bezeichneten spätere Denker:innen seinen Ansatz eher als Utopie denn als ernsthafte sozialistische Zukunftsvision. Einige seiner Anhänger:innen hatten in den 1830er- und 1840er-Jahren Gemeinschaften in Frankreich, Spanien, Algerien, den Vereinigten Staaten und anderen Staaten gegründet und drängten auf die Abschaffung von Ehe, Eigentum und der konventionellen Mutterrolle zugunsten eines équilibre passionnel (etwa: leidenschaftliche Ausgewogenheit). Ihre subversiven Experimente halten uns vor Augen, dass Feminismus danach und bis heute nie radikaler gedacht wurde.

In diesem Kapitel untersuche ich verschiedene Quellen und Orte feministischer Träume, einschließlich derer, die sich für die Abspaltung von Männern aussprechen, derjenigen, die in ihrer Zukunftsvision Liebe und Sexualität priorisieren, und derer, die dafür sorgen wollten, »die Rasse voranzubringen«. Starke literarische oder Science-Fiction-Fantasien stehen unbewussten und chaotischen Fragmenten des Traumlebens gegenüber. Träume sind zugleich ein Ort unermüdlichen Utopismus und manchmal ein Indikator für Unbehagen und Konfliktpotenzial, die oftmals mit Visionen eines neuen Lebens einhergingen.

Ladyland und Herland

1905 veröffentlichte die fünfundzwanzig Jahre alte bengalische Schriftstellerin Rokeya Sakhawat Hossain Sultana’s Dream, die fiktive Erzählung einer feministischen Utopie über ein technologisch hoch entwickeltes Land, das sie Ladyland nannte. In ihrer Vision waren Männer in die Abgeschiedenheit der zenana oder des Harems verwiesen worden, und Frauen regierten nun ohne Schleier oder das burkaartige Gewand Parda. Ladyland war ein parkähnlicher Schauplatz, in dem die Kompetenzen und Technologien von Frauen maximal ausgeschöpft wurden. Sie stellte sich Universitäten in Ladyland vor, die von Frauen geleitet wurden und deren Forschung ökologisch nachhaltige Landwirtschaft ermöglichte.

Vielleicht weil sie von der Kultur und den Gartentraditionen des Mogulreichs beeinflusst war, erschien es ihr von äußerster Wichtigkeit, dass Frauen freien Zugang zu reichlich Wasser hatten, vielleicht aber auch weil sie die Umweltzerstörungen während der britischen Kolonialherrschaft in Indien miterleben musste. Rokeya stellte fest, dass Männer in der »realen Welt« Wissenschaft ausschließlich militärischen Zwecken vorbehielten. Ihre Herrscherinnen jedoch waren stark und bereit, ihre Macht zu verteidigen; Rokeya malte sich aus, wie sie mit Heizstrahlwaffen Männerarmeen aus benachbarten Ländern zurückschlugen.

Ihre Vision war zwar keine säkulare, aber die Religion, der die Muslimin Rokeya angehörte, war unorthodox. Sie beschrieb diese als eine auf Liebe und Wahrheit basierende, in der »heilige« Beziehungen neu definiert würden. In der bengalischen Gesellschaft galten direkte Familienangehörige als »heilige Beziehungen«, Mischehen waren verboten. Auf spielerische Weise weitete Rokeya in Ladyland das »Heilige« so aus, dass alle »Familie« darstellten, sodass Männer und Frauen frei und ohne sexuelle Konnotationen miteinander umgehen konnten. Trotz ihrer Kritik am Parda und der Verschleierung stellte Rokeya den Islam nicht als einen Raum der Einschränkung dar. Wie viele andere auch begründete sie ihre Ansichten mit dem Denkmodell der Wiederherstellung der Frauenrechte, die früher einmal Teil des Islam gewesen waren. »Wir wollen weder Almosen noch ein Gnadengeschenk. Unsere Forderung besteht in nichts Geringerem, als das wiederzuerlangen, was der Islam uns vor 1300 Jahren gegeben hat.«27

Ihren Unmut über bengalische Musliminnen, die folgsam einen Parda trugen, äußerte Rokeya zu Lebzeiten (1880–1932) folgendermaßen: »Warum lasst ihr es zu, dass man euch so einschränkt? Ihr habt wohl vergessen, dass ihr euch selbst gegenüber verpflichtet seid, und ihr habt eure natürlichen Rechte verloren …« Sie war eine leidenschaftliche Befürworterin der Frauenbildung als Weg in die Freiheit für ihre Zeitgenossinnen und schlug selbst eine Laufbahn als Sozialarbeiterin und in der Frauenbildung ein.28 Die Abschottung von Frauen durch Parda und Schleier war für Rokeya »ein lautloser Mörder wie Kohlenstoffmonoxid«. Mit ihrer Ablehnung des Parda stimmten Rokeyas Ansichten mit einem Großteil der kolonialen Kommentatoren überein, die die Abgeschirmtheit der muslimischen Frauen sowie die hinduistischen Traditionen der Kinderehe und der »Witwenverbrennung« als primitive oder wilde Praktiken ansahen. Rokeya entschied sich dazu, Sultana’s Dream auf Englisch zu schreiben, und ihre Utopie wurde im Indian Ladies Magazine veröffentlicht. Die Leserschaft dieser christlichen, englischsprachigen Zeitschrift entsprach in ihren Augen eher einer gebildeten kolonialen Elite. Rokeya selbst positionierte sich auf Augenhöhe mit der Elite der einheimischen Bevölkerung, die mit ihrer Einflussnahme darauf abzielte, die Praktiken ihres Landes, das unter britischer Kolonialherrschaft stand, zu »modernisieren«. Nichtsdestotrotz veröffentlichte Rokeya auch viel in bengalischen Magazinen und gründete eine Sparte einer Wohlfahrtsorganisation für muslimische Frauen, die Anjuman-e-Khawateen-e-Islam. Zudem übersetzte und zitierte sie progressive feministische Erzählungen und Texte aus Afghanistan und England und engagierte sich in der Zwischenkriegszeit für die Frauenbildung.29

Rokeyas Vision einer selbstverwalteten, autonomen Frauengemeinschaft hatte viel mit den Träumen einer anderen großen feministischen Persönlichkeit gemeinsam, deren kultureller Hintergrund jedoch ein ganz anderer war. Charlotte Perkins Gilman (1860–1935) war eine der bedeutendsten und sichtbarsten Feministinnen des frühen 20. Jahrhunderts, die sich für eine verblüffende Vielfalt an Themen engagierte, von Reformkleidung über Frauenwahlrecht und Sexualreform bis hin zu Geburtenkontrolle und Prostitution. Wie Rokeya präsentierte Gilman Feminismus als einen Traum von einer anderen Zukunft. Sie war väterlicherseits in eine Familie berühmter Aktivist:innen für das Frauenwahlrecht und andere gesellschaftliche Belange geboren worden, zu der unter anderem die Abolitionistin Harriet Beecher Stowe gehörte, die ihre Großtante war. Doch ihr Vater verließ seine Frau und die Kinder, und Gilman verbrachte ihre ersten Jahre sozial ausgegrenzt und in Armut. Ihr Bruder wurde auf die Universität geschickt, Gilman nicht. Sie sah sich gezwungen, erfinderisch und unabhängig zu werden, auch nachdem sie 1884 geheiratet hatte. Ihre finanzielle Situation wurde noch schwieriger, nachdem sie den relativ ungewöhnlichen Schritt gewagt hatte, sich 1888 von ihrem Ehemann zu trennen. All diese Eigenschaften kamen ihr in ihrer Karriere als ausgesprochen produktive Schriftstellerin zugute. Von 1909 bis 1916 veröffentlichte sie im Alleingangdie Monatszeitschrift The Forerunner, sie schrieb sämtliche Leitartikel, Buchbesprechungen, Gedichte und sonstige Artikel selbst. Sie schrieb sogar ihre eigenen Werbetexte, wie beispielsweise die glühende Reklame für die Holeproof Hosiery Company aus Wisconsin im Jahr 1909, mit der sie ihre Leserschaft informierte: »Ich trug sie und trug sie und trug sie, bis ich von diesen unzerstörbaren, unempfindlichen, unnatürlicherweise immer noch einwandfreien Seidenstrümpfen dermaßen genug hatte, dass ich sie verschenkte!«

Gilman war Vertreterin eines sehr zugänglichen Feminismus, der auf eine ganz »normale« weibliche Leserschaft abzielte. Sie bezeichnete Feminismus als eine Form von Humanismus und propagierte »die Entwicklung menschlicher Qualitäten und Aufgaben von Frauen«. Das Schreiben von Prosaliteratur half ihr dabei, sich Alternativen zur wirtschaftlichen Abhängigkeit von Frauen vorzustellen, und ihre höchst komplexe Utopie Herland wurde 1915, ein Jahrzehnt nach Rokeyas Ladyland, veröffentlicht. Herland wurde zu Zeiten erhöhter, durch die Suffragetten-Bewegung ausgelöster Spannungen und der weltweit zunehmenden Verheerungen im Zuge des Ersten Weltkriegs geschrieben. Die Utopie stellte eine ausschließlich aus Frauen bestehende Gemeinschaft vor, die sich dem Meliorismus (im Sinne einer Verbesserung des Menschen bzw. »Rassenarbeit«) ohne die Zwänge männlicher Herrschaft verschrieben hatte. Gilmans Arbeiten waren stark geprägt von den Theorien matriarchaler oder gynozentrischer Kulturen, zu denen sich frühe Formen menschlicher Gesellschaften zunächst entwickelt hatten. In diesen war es Soziolog:innen und Ethnograf:innen zufolge zu einem Umsturz der sozialen Dominanz von Frauen gekommen, als Männer sich Verwandtschaftsbande zunutze gemacht und Gebietsansprüche durchgesetzt hatten. Dieser Umsturz brachte eine von Gilman als »androzentrisch« bezeichnete Gesellschaft hervor, in der »parasitäre«, nicht arbeitende Frauen von Männern unterjocht wurden.