10,99 €
Was passiert, wenn wir sterben? Sterben, Tod und Trauer sind unumgänglich, für jeden von uns. Und doch wissen wir wenig darüber. Roland Schulz findet Worte für das Unbeschreibliche und gibt Antworten auf die tiefsten Fragen des Lebens.. Was passiert mit deinem Körper, wenn du stirbst? Was fühlst du – Trauer, Schmerz? Und dann, wenn dein Herzschlag verstummt ist? Was geschieht mit deinem Leichnam, bis du bestattet wirst? Wie wird man um dich trauern? Zwischen Schockeffekt und Samthandschuhen bleiben Ratgeber zur Sterbe- und Trauerbegleitung häufig vollkommen abstrakt. Roland Schulz hat das Tabu des Todes gebrochen und mit »So sterben wir: Unser Ende und was wir darüber wissen sollten« einen eindringliches, aufwendig recherchiertes und schonungslos ehrliches Sachbuch verfasst. Schon mit seiner direkten Leseransprache lässt er keinen Zweifel daran, dass sich unser Denken über Verlust, Tod und Trauer ändern muss. Gewinner des Preises »Wissensbuch des Jahres 2019« Die Lektüre ist weder bequem noch lädt sie zum Wohlfühlen ein. Sie ist ein Appell an unsere Vernunft, eine Einladung zur Auseinandersetzung mit unserer Endlichkeit und nicht zuletzt ein Leitfaden, wie wir den Verlust lieber Menschen als Teil des Lebens verarbeiten können. »Ein ergreifendes Buch, besonders formuliert und voller spannender Fakten.« – dpa
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 319
Mehr über unsere Autoren und Bücher: www.piper.de
© Piper Verlag GmbH, München 2018Covergestaltung: zero-media.net, München
Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.
In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Wir weisen darauf hin, dass sich der Piper Verlag nicht die Inhalte Dritter zu eigen macht.
Cover & Impressum
Sterben
Tod
Trauer
Nachwort
Dank
Weiterführende Literatur
Tage vor deinem Tod, wenn noch niemand deine Sterbestunde kennt, hört dein Herz auf, Blut bis in die Spitzen deiner Finger zu pumpen. Wird anderswo gebraucht. In deinem Kopf. Im Kern deines Körpers, wo deine Lunge liegt, dein Herz, deine Leber. Auch aus den Zehenspitzen zieht sich das Blut zurück. Deine Füße werden kalt. Dein Atem verflacht. Die Sinne schwinden. Dein Körper leitet den Abschied vom Leben ein.
Später, wenn der Arzt den Totenschein ausfüllt, wird es so aussehen, als wäre dein Sterben einem streng geregelten Ablauf gefolgt, amtlich festgehalten im vertraulichen Teil deines Totenscheins, Blatt 1, Absatz I, Zeilen a) bis c). Aber das stimmt nicht. Dein Sterben ist ein Prozess voller Dynamik, so einzigartig wie dein Leben. Jeder Mensch erlebt diesen Prozess auf seine eigene, einmalige Weise. Erst danach, wenn du tot bist, lässt sich dein Sterben in drei Stufen staffeln, die der Arzt in den Totenschein einträgt.
Wenn dein Arzt ein Siebengescheit ist, wird er dein Sterben im ICD-Code abfassen, den Kürzeln aller Krankheiten weltweit. Vielleicht bist du eine J-18er-Lungenentzündung, wie Guido Westerwelle. Vielleicht ein Krebsfall der Kategorie C-22, wie David Bowie.
Wenn dein Arzt ein Simpel ist, wird er dein Sterben in Schlagworten abhandeln, die auf alle zutreffen. Vielleicht erfasst er dich als Atemstillstand. Am Ende steht jeder Atem still. Vielleicht als Herz-Kreislauf-Versagen. Am Ende versagt jedes Herz.
Wahrscheinlich aber wird er einfach die Kette der Krankheiten anführen, die dir den Tod brachte: von der unmittelbaren Todesursache vor wenigen Stunden über ihren Auslöser vor Monaten bis zum Grundleiden vor vielen Jahren. Aus Sicht der Statistik hat dein Sterben damals begonnen.
Du erinnerst dich sicher daran. Die Herzsache damals. Die Krebsdiagnose. Dieser dumme Sturz. Wie die Ärzte darüber redeten, war klar: Ist etwas Ernstes diesmal. Sie versprachen, es in den Griff zu kriegen. Sie hielten Wort, wie sie dein Leben lang Wort gehalten und dich geheilt hatten, bei jeder Krankheit, jedem Fieber, jedem Bruch. Sie schickten dich heim, und für ein Jahr oder fünf war es wieder gut. Aber jetzt liegst du hier, der Schwarm in weißen Kitteln war schon da, und auch wenn niemand deine Prognose in den Mund genommen hat, wird dir klar, wie es um dich steht. Du hast Angst.
Über Sterben ist schwer sprechen. Es lohnt sich aber, sagen die Spezialisten, die dem Sterben nahestehen. Sie waren anfangs skeptisch, als sie von der Idee dieses Buches hörten: Sterben, Schritt für Schritt? Sterben folgt keinem Fahrplan, sagten sie. Sterben ist dynamisch, Sterben ist komplex. Das beginnt schon mit dem Begriff. Sterben ist Teil des Lebens. Tod, das ist danach. Sie empfahlen Studien, Aufsätze, Statistiken. Dann erzählten sie doch, alte Ärzte und junge, Professorinnen der Palliativmedizin, Hospizleiter, Hospizhelfer, Pfleger, erfahren in tausenden Toden – weil sie ein Erlebnis aus ihrer Arbeit mit Sterbenden eint: Schmerzlicher als Sprechen ist Schweigen.
Deine Angst ist natürlich. Manche Forscher meinen, wir Menschen sind auch deswegen denkende Wesen geworden, weil wir uns lebenslang bemühen müssen, unsere Sterblichkeit zu leugnen. Das kennst du. Sterben? Das betraf dich nicht. Das war weit weg. Der Tod, das bedeutete immer den Tod der anderen, nie deinen eigenen. Auf diese Art hast du, wie wir alle, außer Acht gelassen, was uns gewiss ist: Wir werden alle sterben – aber wissen nicht, wann. Du weißt es jetzt. Bald.
Sterben zu schildern, birgt eine Gefahr: Wer Sterben zu erklären sucht, erzeugt – ob er will oder nicht – ein Gefühl des Wissens und damit der Kontrolle. Das, warnen Wissenschaftler, ist eine Illusion. Keiner kann wissen, was im Tod ist. Im Sterben stoßen der Verstand, das Denken, die Vernunft an ihre Grenzen: Da gibt es keine Gewissheiten mehr. Sicher ist jedoch: Sterben ist genau das Gegenteil von Kontrolle. Nicht lange, und du wirst die Hoheit über Körper und Geist vollkommen verlieren, unwiderruflich.
Fragen drängen sich in deinen Sinn; was nun, warum ich, wann genau, wie denn. Ärzte, die vielen Sterbenden zur Seite standen, sind am Anfang vorsichtig mit Antworten. Sie stellen lieber selber Fragen. Wie sehen Sie Ihre Situation? Was wissen Sie über Ihre Krankheit? Was haben Sie für ein Gefühl, wie geht es weiter? Was wäre, wenn es nicht so kommt? So stupsen sie dich, sachte, ganz sachte, und du kannst entscheiden, wie weit du der Wahrheit entgegentreten willst. Es gibt Kranke, denen wäre die volle Wahrheit zu viel. Es gibt Kranke, die wollen alles wissen. Ärzte und Pfleger auf Palliativstationen antworten daher nach einer Faustformel: Alles, was sie dir sagen, muss aufrichtig, muss wahrhaftig sein. Aber nicht zwingend gleich die ganze Wahrheit.
Du kannst jedoch jederzeit danach fragen. Das Wissen darum kann befreien. Schwerstkranke scheinen oft von einem Schweigen umstellt, das gegenseitiger Rücksichtnahme entspringt, der des Kranken wie der Gesunden:
… ich kann das den Kindern nicht zumuten …
… wir dürfen Mama damit nicht belasten …
… ich will ihnen nicht zur Last fallen …
… wir müssen Papa schonen …
… das ertragen sie nicht …
… das hält er nie aus …
Sehr häufig, dieses Phänomen. Sich beidseits schonen, um jeden Preis. Speziell, wenn es ans Sterben geht. Es gibt eine Geschichte dazu, die Ärzte in so vielen Spielarten erzählen, dass sie wie eine Fabel wirkt, obwohl sie sich wahrhaftig so zugetragen hat, jedes Mal. Sie handelt von einem Ehepaar.
Sie liegt drinnen auf dem Bett und flüstert: »Ich spüre es, ich werde sterben – aber sagen Sie das auf keinem Fall meinem Mann!«
Er steht draußen vor der Tür und sagt: »Meine Frau wird sterben, ich merke das – bitte sagen Sie ihr bloß nicht, wie ernst ihre Lage ist!«
Sie haben in der Medizin einen schönen Begriff gemünzt für diese Strategie: barmherzige Lügen. Solche Lügen bringen nichts. Auch die anderen Ausweichmanöver sind nutzlos, Aussitzen, Weglaufen, Schönreden. Sie funktionieren nicht; nicht beim Sterben.
Es ist erschütternd, wenn sie dir eröffnen, es geht zu Ende. Sie setzen an, und dir zerspringen die Sinne. Du hörst die Ärzte wie durch Watte. Du siehst die Dinge so entrückt wie durch das falsche Ende eines Fernrohrs. Du ringst um Atem. Danach kannst du dich nicht erinnern, was sie eigentlich gesagt haben. Gute Ärzte führen dieses Gespräch deswegen zweimal. Einmal, damit du vernimmst, wie es um dich steht. Und einmal, damit du verstehst.
Es gibt allerdings auch viele Ärzte, die führen dieses Gespräch gar nicht. Weil sie es nie gelernt haben in ihrer Ausbildung. Weil sie es nicht können, weder als Mensch noch als Arzt. Weil sie die Zeit dafür nicht haben, in der Hektik der Kliniken und Krankenhäuser. Und vor allem: Weil es so viel einfacher scheint, die Aussicht deines Sterbens zu leugnen, ob stillschweigend oder tatkräftig durch immer neue Therapien. Dabei können sie auf einen Komplizen hoffen – dich. Du willst dein Sterben nicht wahrhaben, du hast noch Hoffnung. Und Hoffnung springt auf jede Verheißung auf. Daraus kann sich eine Dynamik entwickeln: Du willst nicht sterben, dein Arzt nicht darüber sprechen, einmütig verliert ihr euch in Spiegelfechterei. Viele Sterbende bereuen das später. Sie sagen, für solche Possen sei die Zeit, die dir bleibt, zu kostbar. Du könntest längst anfangen, dich mit deinem Tod auseinanderzusetzen. Dafür muss dein Arzt dir aber offenlegen, dass du sterben wirst. Dafür muss dir bewusst werden, dass du sterben wirst.
In ihren Lehrbüchern steht, dass dein Gemüt im Kreis laufen wird, von jäh schwankenden Stimmungen gejagt. Du willst es nicht wahrhaben; sterben, du doch nicht. Dich packt der Zorn; wer ist hier verantwortlich, wer trägt hier die Schuld. Du versuchst zu verhandeln; ab jetzt jeden Sonntag in die Kirche und jeden Preis für eine neue Therapie. Dich schluckt Selbstmitleid; ist doch sinnlos, das alles. Du erkennst dein Sterben an; so schlecht waren sie nicht, die Jahre.
Das klingt nach einem fixen Programm in fünf Phasen. Doch sie vermengen und verflechten sich, in einem Wirrwarr von Gefühlen: erst das Selbstmitleid, dann der Zorn; gleich das Anerkennen – oder nie; wieder und wieder das Verleugnen. Dieses Unstete ist vielleicht der wichtigste Grundsatz des Sterbens. Sterben gehorcht keinen starren Gesetzen. Sterben nimmt sich alle Freiheiten.
Manche Menschen wühlt es auf, wenn ihr Sterben in Sicht kommt. Manche beruhigt es, wenn aus ihren Ahnungen endlich Gewissheit wird. Der Mehrzahl geht es wie dir. Du verstummst. Selbst wenn du sprichst oder scherzt oder schreist. Du bist stumm. Im Inneren. Oft auch außen. Das ist der Schock. Wissenschaftler sprechen vom existentiellen Schlag, dem Schaudern des Ichs, einem Ersttrauma des Sterbens. An diesen Beschreibungen zeigt sich der Spalt, der auf einmal zwischen dir und denen aufklafft, die im Leben stehen: Sie können spielend in Worte kleiden, was dir wie ein Dolch in die Eingeweide dringt. Du wirst sterben. Du wirst sterben. Du wirst sterben. Es dauert, das zu verdauen. Aus Sicht der Psychologie setzt dein Sterben damit ein: Sobald dir bewusst ist, dass dein Tod bevorsteht. Sobald dieses Bewusstsein dein Leben bestimmt.
Du gewinnst das Gefühl, wie in einer Luftblase durch deine Tage zu gehen. Die Welt da draußen ist voller Leben. Du bist dem Tod geweiht. Dabei macht er sich noch kaum bemerkbar. Ein Aussetzer ab und an. Der Schmerz dann und wann. Diese Mattigkeit. Sterben kündigt sich langsam an, je nach Krankheit.
Was immer du hast, deine Krankheit tritt ins Schlaglicht. Die Medizin hat den Hang, alles wissen zu wollen, und deine Ärzte bieten dafür auf, was das Arsenal hergibt: Ultraschall, Kernspin, CT. Laborproben, Röntgenbilder, Gewebeanalysen. Kann sein, dass du dabei in den Augen deiner Ärzte hinter deiner Diagnose verschwindest – sie nehmen dich weniger als Mensch wahr denn als Wirt einer Krankheit, die bekämpft gehört.
Das macht dich klein. Alles, was dich ausmacht – deine Augen, dein Lachen, deine Ängste, deine Lüste, dein Können, dein Wissen, deine Erfahrungen, deine guten und schlechten Eigenschaften, deine Lieblingslieder, deine Rückzugsorte, deine Erinnerungen und Sehnsüchte, deine Narben, deine Errungenschaften, deine Leibspeise, deine Traumlande, dein Geruch, deine List, deine Gesten, deine dunklen Geheimnisse und deine liebend gern offengelegten Triumphe, deine Macken und Stimmungen und Verdienste, deine Wünsche und Pläne und Ziele und der kleine Tick, mit dem dich deine Freunde immer aufziehen – alles das scheint von dir abzublättern, bis allein deine Diagnose dich definiert.
Auch wenn du den Eindruck hast: Die meinen das nicht persönlich, deine Ärzte. Sie sind so ausgebildet. Sie kämpfen seit Generationen auf diese Art um die Gesundheit ihrer Patienten; Diagnose, Therapie, Prognose – ein durchdachtes, planmäßiges, nüchternes Vorgehen. Ihr gesamtes System ist inzwischen auf dieser Form des Arbeitens aufgebaut: Abrechenbar ist Aktion, belohnt werden Behandlungen. Dadurch entsteht ein Drall, eine Dynamik, die auf Taten drängt, auf Therapien, auf Attacke gegen diese Krebszellen oder Keime, wer auch immer ihr Träger ist. Die moderne Medizin wirkt deshalb oft unpersönlich. Doch in erster Linie ist sie nüchtern und methodisch. Und so nüchtern und methodisch kämpfen deine Ärzte auch um das Leben des Menschen, der sich hinter der zehnstelligen Nummer verbirgt, die auf die Gesundheitskarte in deinem Geldbeutel gedruckt ist.
Du spürst, wie deine Stellung verrückt. Menschen beginnen, auf dich anders zu reagieren, in Worten, in Taten, besonders in Gedanken. Diese verstohlene Rücksicht. Dieses unterdrückte Unbehagen. Das hektische Überspielen. Es fühlt sich an, als hätten sie auf einen Schlag verlernt, auf natürliche Weise mit dir umzugehen. Du kannst dabei zusehen, wie deine Krankheit den Kreis deiner Freunde und Kollegen verformt.
Manche meiden dich. Weil ihnen das jetzt einfach zu viel ist. Weil sie jetzt auch nicht wissen, wie sie da helfen sollen. Kein Anruf mehr, kein Kontakt, sie sind fort wie die Schwalben, wenn der Winter naht. Auch wenn es wehtut: Das ist gut so. Du kannst jetzt keine Menschen brauchen, die mit nichts als Angst auf dich blicken.
Manche bestürmen dich. Weil sie selbst sich über jeden Besuch freuen würden, an deiner Stelle. Weil sie genau wissen, was gut für dich ist. Kuchen, Blümchen, von Herzen viel Kraft; sie päppeln dich, als gehe es um ihr eigenes Leben. Auch wenn es lieb gemeint ist: Bestehe auf Abstand. Sie sind keine Stütze, diese Menschen, die denken, das hier, das drehe sich nicht nur um dich. Doch. Dieses Mal dreht sich alles um dich allein.
Die meisten Menschen in deinem Umfeld sind sich jedoch überhaupt nicht sicher, wie sie mit dir umgehen sollen. Das zeigt sich in erster Linie an ihrer Sprache. Es dauert nicht lang, und du kannst Bingo spielen mit den Sprüchen, die ihnen unbedacht aus dem Mund schlüpfen.
Guten Morgen!
Du denkst: Nein, kein guter Morgen. Gar kein guter Morgen. Und auch kein guter Tag.
Du sagst: Morgen.
Wie geht’s dir?
Du denkst: Beschissen, wie denn sonst.
Du sagst: Na ja, so la-la.
Also an deiner Stelle würde ich mal das versuchen.
Du denkst: An meiner Stelle würdest du weinen und schreien und wütend sein.
Du sagst: Mhm, merk ich mir.
Glaub mir, ich kann mir genau vorstellen, wie du dich fühlst.
Du denkst: Nein, das kannst du ganz und gar nicht, sei froh drum.
Du sagst: Glaub ich dir.
Hast du gehört, der Dingsbums spielt trotz Chemo noch Tennis.
Du denkst: Und ich bin müde. Und mir ist übel. Und ich bin mir nicht sicher, ob ich so was hören mag.
Du sagst: Wer noch mal?
Du musst jetzt stark sein.
Du denkst: Bin ich aber nicht, schon länger nicht. Ich kann spüren, wie ich schwächer werde. Ich will’s nur nicht sagen.
Du sagst: Ich versuch’s ja.
Weiß gar nicht, ob du das wusstest, aber an so was ist auch mein Onkel/Kollege/Nachbar gestorben.
Du denkst: Will ich nicht wissen. Will ich nicht wissen.
Du sagst: Wusste ich nicht.
Kopf hoch, du musst jetzt kämpfen!
Du denkst: Wie soll ich denn dagegen kämpfen. Ich will nicht kämpfen. Ich will leben.
Du sagst: Ich geb mein Bestes.
Entschuldige, dass ich weinen muss, aber das macht mich alles so traurig.
Du denkst: Und mich erst.
Du sagst: Kopf hoch. Du musst jetzt stark sein.
Und wenn ich irgendwas für dich tun kann, egal wann, sag einfach Bescheid, okay?
Du denkst: Mensch, du hast doch Arbeit und Familie und Termine und Freunde, du stehst voll im Leben, verdammt – egal wann, das ist doch gelogen!
Du sagst: Okay.
Wird schon wieder!
Du denkst: Eben nicht. Oh Gott.
Du sagst: nichts.
Mach’s gut.
Du denkst: Mach’s besser. Mach’s besser in deinem Leben.
Du sagst: Du auch.
Du kannst ihr kaum entkommen, dieser krummen Kommunikation. Sterben übt eine Kraft aus, die deine Bindungen zu den Menschen unter Zug setzt; besonders zu jenen, die dir nicht so nahestehen. Das spricht selten einer aus, doch die meisten spüren es, manche bewusst, manche als Bauchgefühl – es ist, als stehe eine Spannung zwischen dir und der Welt: Du musst gehen. Die anderen bleiben. Diese Spannung kann stabile Beziehungen stabiler machen, zerbrechliche zerbrechlicher, aber es kann auch anders herum sein. Sterben prüft, wie belastbar deine Bindungen sind.
Du lernst, das Doppeldenk der Lebenden zu lesen. Sie muntern dich auf, doch sie sind niedergeschlagen. Sie feuern dich an, doch fühlen sich hilflos. Sie geben dir Ratschläge, doch wissen nicht weiter. Sie erklären deine Krankheit zu einem Kampf, doch sie sind sich im Klaren, dass es keinen Sieg über den Tod geben kann. Häufig steht hinter ihren Worthülsen gar nicht der Drang, dich zu trösten. Sondern das stille Verlangen, sich selbst die Situation zu erleichtern: Sie versuchen, ihre beklemmenden Gefühle in deiner Gegenwart in irgendetwas umzuschichten, das leichter zu ertragen ist.
Ausflüchte solcher Art gibt es unzählige, aber die meisten folgen einem von drei Mustern, die Sterbenskranke häufiger hören. Es gibt, erstens, die Verniedlicher. Sie ordnen deine Krankheit sofort ein, setzen sie in Bezug zu anderen Schicksalsschlägen wie dem Krieg am Hindukusch oder der Hungersnot in Afrika, stellen die Universalität des Sterbens fest – so viele Weisheiten und nur eine Botschaft: Hab dich nicht so, das ist der Lauf der Welt. Dann gibt es, zweitens, die Lehrmeister: Sie sehen deine Krankheit als wertvolle Erfahrung für dich, als eine existenzielle Übung, als Exerzitien für Körper, Geist und Seele – sie glauben, nichts im Leben geschieht ohne Grund, alles hat seinen tieferen Sinn, sieh das doch endlich ein. Und es gibt, drittens, die Lösungsanbieter: Sie haben deine Rettung schon in Sicht, sie kennen das eine Geheimmittel, die Gedankenübung oder das Gebet, das dich hundertprozentig heilen wird, und wehe, wenn du es nicht versuchst, denn deine Heilung liegt in deiner Hand – es ist alles eine Frage der Einstellung, du darfst dich nur nicht unterkriegen lassen! Manche Sterbenskranke sagen, in solchen Momenten kommen sie sich vor, als säßen die Gesunden über sie zu Gericht.
Solche Tribunale sind ein Zeichen, wie sehr der Tod außer Sicht gerückt ist. Es ist ein paradoxes Phänomen: Auch in der Moderne ist der Tod allgegenwärtig, jeden Morgen in der Zeitung, jeden Abend im Fernsehen, rund um die Uhr im Internet – aber im Alltag ist er kaum sichtbar. Der Fortschritt der Medizin, der Wandel der Gesellschaft, die Kultur der Moderne haben den handfesten Tod aus der Wahrnehmung verdrängt. Manche Menschen sehen den ersten Leichnam ihres Lebens erst im Alter von fünfzig oder sechzig Jahren, wenn ihre Eltern sterben. Aus der Sicht der Geschichte ist das eine Anomalie: Sterben und Tod waren über Jahrtausende ein sichtbarer, fassbarer, spürbarer Teil des Lebens, in allen Altersstufen. Aber inzwischen ist Sterben abstrakt. Der moderne Mensch denkt über den Tod wie über den Weltraum: Er existiert zweifelsohne irgendwo da draußen – aber im tiefsten Herzen sind wir sicher, niemals durch seine Dunkelheit zu wandeln. Deswegen reagieren viele Menschen um dich so verquer auf die Aussicht deines Sterbens: Du bist die leibhaftige Mahnung, dass der Weltraum Wirklichkeit ist und auf uns alle wartet.
Demut. Demut und Respekt. Davon, sagen Ärzte, solle jeder Umgang mit Sterbenskranken geprägt sein. Aber das ist – wie bei vielen Weisheiten des Lebens – leichter gesagt als getan. Einige Sterbenskranke haben sich daher an einer Etikette versucht, einem kleinen Knigge für den Umgang mit Menschen, die sterben werden. Sie sagen, wichtig sei eines: Wer Sterbenskranken begegnet, sollte sich zuerst über seine eigenen Gefühle klar werden. Fühle ich mich unbehaglich? Fühle ich mich bedrückt, trostlos, ohnmächtig? Spüre ich im Angesicht des Kranken Angst? Alles menschlich; geht den meisten so. Aber ich muss mir bewusst machen, warum mich diese Gefühle überkommen. Weil mir der Sterbende so wichtig ist? Weil mich sein Anblick daran erinnert, dass die Krankheit auch mich hätte treffen können? Weil mir die Tatsache vor Augen tritt, dass mich ebenfalls der Tod erwartet? Das hilft, die Gefühle zu trennen: Welche drehen sich in Wahrheit um mich, welche um den Sterbenden. Dann ist es leichter, dir eine Hilfe zu sein. Leichter, nicht leicht. Ein Sterben erleben ist nie leicht.
In ihrem Knigge empfehlen die Sterbenskranken Menschen in der gleichen Situation einen Kniff. Er nennt sich das Modell der Ringe. Zeichne einen Kreis. Im Zentrum des Kreises, da stehst du, der Sterbenskranke. Ziehe einen zweiten Kreis um den ersten. Das ist der Mensch, der dir am nächsten ist: deine Liebe, dein engster Freund. Zeichne einen dritten Kreis um den zweiten. Das sind die Menschen, die dir nahestehen, deine Tochter, dein Sohn, deine Schwester, dein Bruder. Zeichne einen vierten Kreis. Deine besten Freunde. Einen fünften Kreis. Deine Kollegen. Einen sechsten. Nachbarn. Zieh so viele Kreise, wie du nötig hast, um dein Umfeld zu ordnen, von deinen Eltern bis zu entfernten Verwandten, von engen Freunden bis zu losen Bekannten. Sieht am Ende aus wie eine Krikelkrakel-Skizze des Sonnensystems: Das Zentralgestirn du, und um dich kreisen alle übrigen Himmelskörper auf ihren Umlaufbahnen. Das ist die Ordnung deiner Helferkreise. Oberste Regel für deine Freunde und Angehörigen: Trost rein, Klagen raus. Du, der Sterbenskranke im Zentrum, darfst alles, egal in welchem Kreis: Du kannst weinen und klagen und wüten und leiden und wimmern und toben und Gott und die Welt verfluchen. Auch die anderen werden das wollen, klagen, sich ausweinen, abladen, was sie belastet. Dürfen sie auch. Aber ausschließlich nach außen hin, zu Menschen auf äußeren Umlaufbahnen. Nach innen hin nicht. Nach innen, zum Zentrum zu, immer trösten.
Manche Sterbenskranke verteilen ihr Modell; sie kleben dann überall am Kühlschrank, die Kreise. Andere setzen auf Daumenregeln wie diese: Sobald jemand den drängenden Wunsch verspürt, etwas unbedingt für einen Sterbenskranken tun zu wollen – Stopp. Was der Gesunde wünscht, steht nicht an erster Stelle. Wichtig sind die Wünsche des Sterbenskranken. Und die sind, das weißt du, oft ganz andere als angenommen. Ein mitgebrachtes Essen kann eine schöne Geste sein oder ein Schlag ins Gesicht, weil deine engsten Gefährten, deine Familie dir deine letzten Mahlzeiten selbst kochen wollen, mit viel Liebe. Wenn du willst: Sprich darüber, was du dir wünschst, was dir ein kleiner Trost sein könnte. Wenn du nicht willst: Sprich darüber, wie sinnlos Wünsche dir erscheinen, wie wenig tröstet. Nur nicht verstummen, nicht ins Schweigen fliehen.
Es braucht seine Zeit, bis sich die Menschen auf die Aussicht deines Sterbens eingestimmt haben. Vielleicht hast du das Glück, Freunde zu haben, die bereits Erfahrung mit Sterbenden besitzen. Vielleicht kennst du Charakterköpfe, die derart im Leben wurzeln, dass sie alles instinktsicher anpacken, sogar das Sterben. Alle anderen werden es schnell lernen.
Trau dich ruhig, frag deine Ärzte. Sie wissen sowieso schon, was du fragen willst, weil es fast alle fragen: Wie viel Zeit bleibt mir noch?
Es gibt mehrere Antworten darauf. Eine handfeste. Eine ungefähre. Eine wahre. Das ist eine Sache der Statistik. Die moderne Medizin misst ihre Arbeit genau: Auswirkungen von Medikamenten, Ergebnisse von Operationen, Folgen von Therapien, dazu Neuerkrankungen, Behandlungsverläufe, Todesfälle – alles erfasst und ausgewertet. Manche dieser Daten münden in einer einzelnen Kennziffer, manche in endlosen Kurven, die Mortalität, Letalität, Inzidenz messen. Ist nicht so kompliziert, wie es klingt.
Angenommen, sie entdecken in deinem Kopf einen Gehirntumor. Bösartig. Genannt: Glioblastom. Der häufigste unter den bösartigen Gehirntumoren. Deswegen gibt es viele Daten dazu, sehr viele. Diese Daten erlauben die Vorhersage, wie lange Menschen mit Glioblastom noch leben werden. Das geschieht mit statistischen Methoden; eine gute, die Ärzte gerne anwenden, misst die Zahl der Patienten, die bis zu einem bestimmten Zeitpunkt überleben – die Kaplan-Meier-Kurve. Sieht aufgezeichnet aus wie eine Treppe abwärts. Bei Glioblastomen aber gleicht die Kurve einer Klippe, die schroff abfällt. Nach zwei Jahren sind nahezu alle Patienten tot.
Wie viel Zeit dir noch bleibt? Das kann ein Arzt anhand der Kurve ablesen: Im Mittel überleben Menschen mit Glioblastom elf Monate. Aber – da liegt der entscheidende Unterschied zwischen einer Statistik und einem Einzelfall – das bedeutet nicht, dass auch du noch elf Monate lebst. Manche sterben wenige Wochen nach der Diagnose. Manche leben länger als zwei Jahre. Das macht die handfeste Antwort auf deine Frage heikel. Die Statistik kennt die durchschnittliche Überlebensdauer für etliche Krankheiten auf Wochen, auf Tage genau. So präzise diese Statistiken sind, sie geben Wahrscheinlichkeiten an, keine Gewissheiten – kein Arzt der Welt kann voraussagen, wo genau du auf der Kaplan-Meier-Kurve deiner Krankheit liegst. Viele Ärzte wählen daher die zweite, die ungefähre Antwort: Sie nennen dir keinen Zeitpunkt, sondern einen Zeitraum. Die meisten Menschen mit Glioblastom, sagen sie, leben einige Monate oder Jahre. Die wahre Antwort auf deine Frage weißt du ohnehin selbst. Vielleicht stirbst du später, als alle glauben. Aber sicher früher, als du wünschst.
Du beginnst, dich zu verändern. Dein Körper geht voran. Er verändert sich schleppend. Aber nicht in jener gemächlichen Abdrift, die jedes Lebensjahr mit sich bringt; das Gewicht, das sich auf die Hüften sattelt, die Falten, die sich ins Gesicht furchen. Diese Veränderung ist anders, radikaler, als ob dein Körper auf einmal eine Unwucht bekommen hätte.
Deine Kräfte versiegen, Schwäche bemächtigt sich deiner Glieder. Dein eigenes Fleisch wird dir fremd. Das erniedrigt dich, dieses Gefühl. Als du als Kind aufgewachsen bist, hast du Zeit gebraucht, deinen Körper und seine Signale kennenzulernen: Aha, dieses Stechen in der Seite, das tritt nach atemlosem Laufen auf; der sauer metallische Geschmack im Mund, da ist Galle aufgestoßen; das Kribbeln in den Beinen, sie sind eingeschlafen. Aber dann war dir dein Körper vertraut; die innige Heimat deines Selbst, über Jahrzehnte hinweg. Nun bekommst du das vage Gefühl, diese Heimat bliebe zurück, schrittweise, so wie Festland zurückbleibt, wenn du in See stichst.
Dein Körper fühlt sich anders an, folgt weniger. Sterben vereint viele Symptome, und manche schleichen sich früh an. Vielleicht bekommst du Verstopfung. Vielleicht Durchfall. Vielleicht überfällt dich Schluckauf. Vielleicht Juckreiz. Mal bist du müde. Mal schlaflos. Dir wird öfter übel. Du musst eher brechen. Deine Erschöpfung macht dich mürbe. Alles zusammen nennen Ärzte die Symptomlast. Der Ausdruck trifft. Die Last, die du zu schultern hast, drückt dich nieder, wie ein Joch. Aber es ist nicht allein das Leid, das so schwer wiegt. Es ist auch die Erkenntnis, deinem Körper nicht mehr trauen zu können. Du beginnst, anders auf ihn zu achten, argwöhnischer. Jedem Schaudern spürst du hinterher. Jedes Pochen horchst du aus. Du beobachtest dich wie ein Wächter, mit scharfen Sinnen, um die geringste Veränderung, den leisesten Vorboten wahrzunehmen. Dein Körper scheint zum Feind übergelaufen. Ärzte sprechen von der existentiellen Erniedrigung, die so schwere Krankheiten wie deine bedeuten. Sterbende, die den Anfang ihres Weges aufgezeichnet haben, schildern diesen Verfall so: Du blickst eines Morgens in den Spiegel und siehst jemanden, den du kaum mehr kennst. Dein Körper verändert sich, und mit ihm der Mensch, der in ihm wohnt.
Trauer tritt in dein Leben. Vielleicht wirft es dich um, wenn dir bewusst wird: Das gerade eben, das war das letzte Mal. Das letzte Mal am Meer. Das letzte Mal in den Bergen. Auf Arbeit. Am Steuer. Ein letztes Mal mit dem Menschen schlafen, den du liebst. Der letzte Schnee. Die letzte Rechnung im Restaurant. Das letzte Mal über dir der Mond. Das letzte Mal tun, was deine Gabe war.
Vielleicht streckt dich das Wissen nieder, so vieles nicht mehr erleben zu werden. Weihnachten. Die Geburt deines Enkels. Den Wein künftiger Jahrgänge. Wie deine Tochter laufen lernt, und dein Sohn sprechen. Ihr erster Schultag. Sein erster Liebeskummer. Dass dein Wunsch Wirklichkeit wird, der, von dem niemand weiß. Die nächste WM, und wer den Oscar, den Nobelpreis gewinnt. Die Sommersonne.
Egal, welche Form sie wählt – sie ist normal, deine Trauer. Wohin du dich wendest, was du unternimmst: Überall überschattet der Tod dein Tun. Das lässt die Schönheit des Lebens so ans Licht treten.
Deine Welt beginnt zu schrumpfen. Der Radius deiner Reisen wird kleiner und kleiner, ganz gemächlich erst, dann zügiger. Kein Urlaub im Ausland mehr, wo Ärzte andere Sprachen sprechen. Keine Ausflüge in andere Städte, weil der Weg allein dich auslaugen würde. Die Orte deines Lebens, die einst einmal – und wenn es nur in Träumen war – in aller Welt verstreut lagen, werden weniger. Mit den Orten rücken auch die Menschen aus deiner Reichweite. Die Dörfer und Städte deines Aufwachsens, wie ein ferner Kontinent. Das Theater am anderen Ende der Stadt, zu weit weg. Der Supermarkt um die Ecke, unerreichbar. Du bist selten auf der Straße. Du bist kaum mehr draußen. Dein Blick wird enger, die Sicht aus dem Fenster, der Fernseher. So nimmt Sterben langsam seinen Lauf. Du nimmst Abschied von Orten, du nimmst Abschied von Menschen, und schließlich nimmst du Abschied von dir selbst.
Es ist Zeit, an deinen Tod zu denken. Übereile nichts. Überlege nur. Was willst du noch tun? Welchen Wunsch erfüllen, dir und anderen? Welche Vorkehrungen treffen? Gerade die gilt es nicht zu vergessen, die Vorkehrungen für Tod und Sterben. Einige treffen diese schon früh, mitten im Leben. Andere erst spät, im Angesicht einer Krise oder Krankheit. Viele nie, wie du vielleicht. Doch es ist wichtig. Sonst wird es schwer für jene, die dich im Sterben und danach umsorgen, deine Ärzte, Bestatter, Aufbahrer, deine Familie und Freunde. Wenn sie deinen Willen nicht kennen, können sie ihn nicht erfüllen.
Es braucht nicht viel. Patientenverfügung, Totenfürsorge, Testament, diese drei. Papierkram, aber ganz anders. Du schreibst an die Lebenden, schon aus der Sicht eines Toten.
Die Patientenverfügung ist das kniffligste. Sie setzt deinen Willen für den Fall fest, dass du ihn nicht mehr äußern kannst. Sie dient dazu, deinen Ärzten zu sagen, was sie in solchen lebensbedrohlichen Situationen tun sollen und vor allem: was nicht. Knifflig daran ist, dass eine Patientenverfügung nur in Situationen wirksam wird, die du ausdrücklich benannt hast. Keine Sorge, es gibt Hilfe. Viele Stellen – das Justizministerium, Ärztekammern, Wohlfahrtsverbände – bieten Vordrucke an, die du nutzen kannst. Musst du nicht. Solltest du aber. So gehst du sicher, dass dein Wille auch wirksam ist, wenn es so weit ist. Die Vordrucke haben zwei Teile: Wann genau deine Verfügung gelten soll, im Endstadium einer unheilbaren Erkrankung zum Beispiel, und was dann geschehen soll – was verlangst du von deinen Ärzten, was verbietest du ihnen? Maschinelle Beatmung? Künstliche Ernährung? Im Kern geht es um eine einfache Frage, die schwer zu beantworten ist: Sollen sie dein Leben unter allen Umständen zu erhalten versuchen?
Es ist hart, das mit sich auszumachen. Den eigenen Tod durchdenken, und das im Detail. Dabei hilft, dem eigenen Leben Fragen zu stellen. Was ist dir wertvoll daran? Bist zu zufrieden? Möchtest du möglichst lange leben? Oder ist dir die Qualität deines Lebens wichtiger als seine Dauer? Wie bist du bislang mit Krankheit, mit Leid umgegangen? Wie mit dem Tod derer, die vor dir gegangen sind? Was half dir dabei? Kannst du Hilfe annehmen? Hast du Angst, anderen zur Last zu fallen? Warum?
Fragen wie diese legen die Werte frei, nach denen du lebst. Schreib deine Antworten auf. Das hilft dir jetzt, in deinem Denken. Hefte die Antworten an deine Verfügung. Das hilft den Menschen an deiner Seite später, in deinem Sterben. Aus deinen Worten können Ärzte etwas ablesen, was sie den mutmaßlichen Willen des Patienten nennen: Sollte eine Situation eintreten, die du nicht bedacht hast, treffen sie ihre Entscheidung auf Grundlage der Werte, die aus deinen Worten sprechen. Wenn du Zweifel hast, während du deinen Tod durchdenkst – rede mit einem Arzt, der dich kennt, dem du vertraust.
Viele koppeln ihre Patientenverfügung mit einer Vorsorgevollmacht: Sie bestellen einen Menschen, dem sie vertrauen, zu ihrem Vertreter – er entscheidet in ihrem Namen, wenn sie es nicht mehr können. Andere verzichten auf jede Art der Verfügung, weil sie auf ein wohlwollendes Schicksal vertrauen.
Achtung verdient beides. Wer vorausdenkt und verfügt, begreift den Tod als gestaltbar, in gewissen Grenzen zumindest. Das ist er heutzutage in der Tat – die Medizin und das Menschenrecht, im Notfall auch auf sie zu verzichten, haben das Sterben verändert. Doch der Tod ist alt. Seit Anbeginn ist Sterben das Los aller Lebewesen. Wer vorausdenkt und vertraut, erkennt den Tod als Schicksal an, ohne das Leben nicht zu haben ist – und dem man sich als Mensch auch überlassen kann.
Egal, zu welcher Seite du neigst: Hauptsache, du setzt dich mit deinem Sterben auseinander. Welche Vorkehrungen du dann triffst? Das steht dir frei. Es ist dein Sterben. Erst dein Tod, der gehört dir nicht mehr allein.
Später, bevor die Bestatter deinen Leichnam holen, wollen sie drei Dinge wissen. Feuer oder Erde? Wo soll deine Asche, dein Leichnam bestattet werden? Sind Sonderwünsche verfügt? Du hilfst den Menschen, die du zurücklässt, wenn sie Antworten darauf wissen. Denn deine Angehörigen haben das Recht, über deinen Leichnam und deine Bestattung zu entscheiden, das Gesetz sagt: das Totenfürsorgerecht. Es reicht weit. Außer, du hast auch hier deinen Willen kundgetan.
Das geht im Großen. Ein Schriftstück, das Order für Art und Ort deiner Bestattung festhält, das die Totenfürsorge an andere überträgt, an Freunde, an Bestatter auch. Es geht auch im Kleinen. Ein Gespräch mit dem Menschen, den du liebst. Wie er sein soll, dein Abschied. Wie nicht.
Es gibt allerdings eine Faustregel. Alles, was ein wenig außergewöhnlich ist, besser schriftlich festhalten.
Wenn du deinen Leib als Leichnam der Wissenschaft vermachen willst und in der Anatomie nur anrufst – das reicht nicht aus.
Wenn du deine Asche im Wald oder auf See wissen willst und nur der Prospekt dafür neben deinem Sterbebett liegt – das reicht nicht.
Wenn du auf einem anonymen Gräberfeld beigesetzt werden willst und nur der Pastorin davon erzählst – reicht nicht.
Aufgeschrieben – und unbedingt: unterschrieben! – aber sind deine Wünsche bindend. Sie lassen sich hinterlegen, beim Bestatter, zur Not beim Notar. Nur Teil des Testaments sollten sie nicht sein. Wenn es nach deinem Tod eröffnet wird, ist deine Bestattung in der Regel bereits gelaufen.
Wenn du sichergehen willst, machst du beides, mit deinen Menschen sprechen, es schriftlich festhalten. Wenn du ganz sichergehen willst, dass du im Tod in guten Händen bist, suchst du dir deinen Bestatter selbst, so früh wie möglich, lange vor deinem Sterben. Vielleicht standst du vor Jahren einmal am Sarg eines Freundes, dessen Begräbnis dir gefiel. Vielleicht fragst du jemanden, dem du vertraust, ob er einen guten Bestatter kennt. Dann besuchst du die empfohlenen Bestatter – ja, in der Tat: Besuch sie. Lass dir schon im Leben erklären, was sie im Tod mit deinem Leichnam machen werden: Wie holen sie ihn? Wo verwahren sie ihn? Wer wäscht, wer kleidet ihn? Was kostet das? Und: Was davon könnten sie dir nicht nur erklären, sondern auch zeigen? So testest du sie. Ein Bestatter, der bereits bei deinem Besuch ungehalten wird, springt auch im Tod abweisend mit dir um. Einer, der deine Suche nach gewissenhafter Totenfürsorge ernst nimmt, behandelt auch deinen Leichnam mit Achtung. Im Grunde ist es wie immer im Leben, wenn es wichtig wird: Du suchst jemanden, dem du und der dir in die Augen blicken kann. Du suchst jemanden, der sein Geschäft versteht, aber nicht als Geschäft allein.
Manche machen dann gleich alles fest: Sie schließen vorab einen Vertrag mit dem Bestatter ihrer Wahl, in dem sie ihre Bestattung planen, anordnen, das Geld dafür hinterlegen. Kann sein, dass Bestatter dafür komplizierte Konstruktionen wie eine Sterbegeldversicherung anbieten. Die lohnen sich selten. Auch das Angebot, alles im Voraus zu zahlen, ist unlauter: Geht der Bestatter bankrott, ist das Geld weg. Verbraucherschützer raten zu einem Treuhandkonto.
Ganz gleich, wie du im Detail über deine Totenfürsorge entscheidest: Auf diese Art wirkt dein Wille über den Tod hinaus. Doch Vorsicht. Darin liegt eine Verlockung. Manchen Menschen gefällt das Gefühl, einmal Macht über ihren Tod zu haben, so sehr, dass sie bis ins Detail vorschreiben, wie ihre Bestattung über die Bühne zu gehen hat. Welcher Sarg. Was sie anhaben wollen. Was die anderen anhaben sollen. Welcher Friedhof, welches Grab, welcher Stein. Welche Blumen. Welche Lieder. Wer spricht. Wer nicht. Welche Kerzen, Gäste, Kränze. Welches Foto neben den Sarg, welches Foto auf die Trauerkarte, den Ort des Leichenschmauses, dazu Sitzordnung und Speisefolge und bitte – bloß kein »Ave Maria« vom Band.
Das kannst du alles bestimmen, klar. Bedenke nur: Deine Bestattung, die ist nicht für dich. Deine Bestattung dient jenen, die um dich trauern. Sie ist ein erster Schritt, deinen Tod anzuerkennen. Es hilft, wenn du ihnen dafür Raum lässt. Vielleicht singen sie ein Lied für dich. Vielleicht schreiben sie auf deinen Sarg. Vielleicht spielen sie das Rauschen des Meeres an deinem Lieblingsort über Lautsprecher.
Bleibt dein Testament. Das ist einfach. Schreib eigenhändig, aber leserlich. Setz das Datum darunter, den Ort. Unterschrift nicht vergessen, und zwar Vor- und Nachname. Erfahrene Anwälte empfehlen, ansonsten alles so schlicht wie möglich zu halten. Versuche, gerecht zu sein. Benachteilige niemanden. Am besten hast du bereits mit allen gesprochen. Falls nicht, bringen auch Befehle aus dem Grab wenig. Das ausgeklügelte Steuersparmodell? Ändert null, wenn dein Testament eröffnet wird. Du sparst gar nichts. Du bist dann tot.
Eine Frage kreist in deinem Kopf. Warum. Warum. Warum ich. Warum jetzt. Warum, warum, warum. WARUM? Gibt keine Antwort. Schon gar keine, die zufriedenstellt. Nur Versuche, sich einer zu nähern.
Manche Sterbende suchen Trost in der Tatsache, dass sie nicht allein sind. Sie sterben, wie ihre Eltern starben, wie ihre Großeltern und deren Eltern und wie deren Großeltern, bis ins letzte Glied. Die Geschichte des Menschen reicht gut 8000 Generationen zurück, und die Statistiker, die dies berechnen, gehen von gut 200 Milliarden Menschen aus, die bis heute auf Erden gestorben sind. Jetzt bist du an der Reihe.
Manche rechnen sich ihren Trost aus, der rationale Lauf der Statistik, gründend auf dem Gompertz’schen Sterbegesetz: Ab einem Alter von dreißig verdoppelt sich alle acht Jahre das Risiko eines Menschen, im nächsten Lebensjahr zu sterben. So gesehen ist Sterben mit vierzig Pech, mit sechzig Schicksal, aber schon ab siebzig kannst du dich statistisch nicht mehr beschweren.
Manche stützen sich auf ihren Ursprung aus Sternenstaub. Die Bausteine deines Körpers – Wasserstoff, Kohlenstoff, Sauerstoff – bildeten sich im Urknall, in Sternenexplosionen. Astrophysiker schätzen: Die Hälfte aller Atome auf Erden – in Berg und Baum, in Meer und Mensch – stammt von Sternen jenseits der Milchstraße. Sie sind Milliarden von Jahren alt. Die paar Jahre in dir sind da nur ein Blinzeln, bevor der Weg durch die Ewigkeit weitergeht.
Manche suchen sich einen Schuldigen, die Zigaretten, den Alkohol, das Fleisch, die Schadstoffe in der Arbeit, und wären sie doch, hätten sie nur.
Manche versuchen, ihr Sterben zu begreifen, indem sie es als ihre biologische Pflicht betrachten – mach Platz, wie andere dir Platz gemacht haben.