So war die Welt - Louise Erdrich - E-Book

So war die Welt E-Book

Louise Erdrich

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Beschreibung

Der neue Roman der Pulitzer-Preisträgerin Louise Erdrich.

In Argus, North Dakota, dreht sich alles um eine heikle Vermählung. Kismet Poe steht vor einer Entscheidung, die ihr ganzes Leben bestimmen wird: Gary, Footballstar der Schule und Erbe einer großen Zuckerrübenfarm, hat um ihre Hand angehalten. Die ganze Stadt ist auf den alles verzehrenden Süßstoff ausgerichtet – mit verheerenden Folgen für die Umwelt. Auch Crystal, Kismets Mutter, verdient ihren Lebensunterhalt mit dem Transport von Zuckerrüben, doch sie hat ganz andere Sorgen als den ökologischen Kollaps: Warum wollen Gary und seine Mutter unbedingt diese Hochzeit? Und warum spricht niemand über den schrecklichen Unfall am Fluss? Louise Erdrich erzählt mit zartem Humor und starken Bildern vom amerikanischen Land, von den Menschen, die es bewirtschaften, und von der Liebe in all ihrer Absurdität und Schönheit. 

»Ein neuer Roman von Louise Erdrich ist immer ein literarisches Ereignis.« – The Guardian.

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Seitenzahl: 511

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über das Buch

Argus, North Dakota, 2008. Während Radiomeldungen vom Zusammenbruch der Wirtschaft künden, fährt Crystal in zwölfstündigen Nachtschichten Zuckerrüben über das Land. Ihre Sorgen drehen sich um ihre kleine Familie: ihren Mann Martin, einen gescheiterten Schauspieler mit Hang zu teuren Seidenkrawatten, und ihre Tochter Kismet, impulsiv und Goth auf Zeit. Gary, Erbe einer großen Zuckerrübenfarm, will sie unbedingt heiraten – doch nicht nur die Frauen in Crystals Buchclub spüren, dass etwas nicht stimmt. Und er ist nicht der Einzige, der um Kismets Liebe wirbt: Hugo, ein sanfter, rothaariger Riese, ist fest entschlossen, alles zu tun, um sie für sich zu gewinnen. Unter den Frauen sorgt jedoch nicht nur die mögliche Heirat für Diskussionsstoff. Auch mit ihrer Umwelt ist etwas aus dem Gleichgewicht geraten: Die Erde ist ausgelaugt, der Regen sauer und es gibt kaum noch Insekten. Mit feiner Ironie, großer Wärme und einem seltenen Gespür für Zwischentöne erzählt die Pulitzer-Preisträgerin Louise Erdrich von der Liebe, dem amerikanischen Land und seinen Menschen – und davon, wie man nicht verloren geht, wenn alles ins Wanken gerät. 

Über Louise Erdrich

Louise Erdrich, geboren 1954 als Tochter einer Ojibwe und eines Deutsch-Amerikaners, ist eine der erfolgreichsten amerikanischen Gegenwartsautorinnen. Sie erhielt den Pulitzer-Preis, National Book Award, den PEN/Saul Bellow Award und den Library of Congress Prize. Louise Erdrich lebt in Minnesota und ist Inhaberin der Buchhandlung Birchbark Books.Alle lieferbaren Titel der Autorin sehen Sie unter aufbau-verlage.de. 

Gesine Schröder übersetzt seit 2007 aus dem Englischen und hat u. a. Louise Erdrich und Maya Angelou ins Deutsche übertragen. Nach Aufenthalten in den USA, Australien, Indien, England und Kanada lebt sie in Berlin.

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Louise Erdrich

So war die Welt

Roman

Aus dem Amerikanischen von Gesine Schröder

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Widmung

Buch lesen

Nächtliche Fahrt — 2008

Crystal

Teil eins — Der Antrag – 2008

Der Diamant

Der Schrei

Erinnerungsmathematik

Nevermore

Kein Trauerkloß

Der Tölpel

Bev’s Bookery

Die menschliche Suche nach dem Sinn im Kontext geologischer Zeiträume

Erics Plan für eine Bella Notte

Icy Hot

Skillet in the Sky

Autsch

Martin Poe

Der fehlende Käse

Der Efeu der Erde

Der zweite Antrag

Ein blaues Auge im Pookie’s

Die Schriftrolle

Hugo

Das Haus

Die Sahneschnitte

Blut der Götter

Die billige Kombi

Showdown in Bev’s Bookery

Risiken und Nebenwirkungen der Tasertherapie

Winnie

Das Treffen

Weiter im Text

Der Cutie-Pie-Bandit

Winnie

Pfirsichschnaps

Spaghettikürbis

Teil zwei — Das Gelübde – 2009

Die Macht des Flusses

Die rote Leiter

Dangercat

Hohe Decken

Kein Heiligenschein

Liebe, Reality-Shows, fettige Pizza

Die Teetasse

Will ich

Splendor Stripe

Eine ephemere Erscheinung

Das goldene Licht

Perfect Advantage

Grüne Seide

Der faulige Regen

Teil drei — Das Hochzeitsmahl – 2009

Ein Mängelexemplar

Alarm gesichert

Die Leichenschmaustorte

Mushroom Love

Der Schlag

Die Opfergabe

Teil vier — Flitterwochen – 2009

Frühstück

Magische Bohnen

Durch den Flieder

Die Weide

Zwei kleine Hunde

Staub vs. Erde vs. Boden

Der Götterboden

Happys Marsch

Rübenackerknochen

Knochenschwarz

Das Törtchen und die Schlüssel

Weltall

Das Farmauto

Rasputin

Der verrückte Mönch

Diz und Gusty

Gänsefuß

Die Gebeine der Venus

Kismet

Emmas Ende

Der Vesperflug

Eric

Der Erwachsene

Drei Überfälle und eine Geschichte

1

2

3

Aliens

Tiefgekühlte Trauben

Crystal

Teil fünf — Ehe – 2009

Crystal

North Dakotas Unkraut des Jahres

Erledigt

Der Westenfundus

Hugo

Prä-Wurm

Wurm

Ruhe im Kühlschrankkarton

Zaubersaatgut

Eric

Die Party

Im göttlichen Rausch voller Fahrt

Jordan

Der Ast

Ich verweigere mich

Jordans Treue

Rustikale Kiefer

Die Postkarten

Hugo

Der Mudlogger

Einfältige Worte

Ephemera

Die Mausefalle

Der apokalyptische Buchclub

Auf der Schwelle

Martin

Auf der Schwelle

Ichor

Über die Schwelle

Ichor

Nachehen

Die Pappel ist der gütigste aller Bäume

Kohlschwarz, dieselschwarz

Martin — 2011

Charley

Die Süße — 2012

1

2

Evolution — 2023

Evolution — 2024

Immer wieder

Dank

Impressum

Denen, die Vögel lieben und für ihren Platz auf der Erde kämpfen

Der Red River ist jung. Ein Faden, vom Himmel gesehen, auf einem Brett zu einem dichten Gekrakel sich windender Schlaufen geordnet. Aus dem Ottertail und dem Bois de Sioux gespeist, läuft er mit leichtem Gefälle von Wahpeton bis Winnipeg nach Norden. Der Fluss ist schlammig, von Sedimenten getrübt, vom Ablauf der Äcker giftig. Kein Fluss zum Schwimmen, aber nah am Ursprung zumindest zum Angeln brauchbar. Der Fluss ist wandelbar, im Sommer ein langsames, schläfriges Rinnsal, im Frühjahr ungestüm wie ein wütendes Kleinkind, wenn er das Land überschwemmt und den Himmel spiegelt wie seine Ahnin, ein prähistorischer See. Jahrtausendelang gab das Wasser dem Red River Valley Böden, seine Schwärze, sein Leben. Der Fluss ist seicht, er ist tief, ich bin dort aufgewachsen, er ist alles.

Nächtliche Fahrt

2008

Crystal

In einer milden Herbstnacht im Red River Valley, North Dakota, zog sich Crystal auf den Fahrersitz eines Zweiseitenkippers von International hoch, verließ das Gelände der Zuckerfabrik und begann mit ihrer ersten Fuhre. Draußen im Umland wurden auf den Feldern der Geists Rüben gerodet und auf dem Lagerplatz zu einer riesigen Miete aufgetürmt. Crystal folgte dem Highway, bog in den Feldweg ab und ließ sich von dem Stapel beladen. Sie kehrte zur Fabrik zurück, lud ab. So oft, wie sie es in einer Zwölfstundenschicht schaffte.

Für Nachtfahrten packte sie immer den gleichen Proviant ein. Zwei Sandwiches – Putensalami auf Vollkorn –, Möhren, Apfelringe, Erdnüsse, zwei Cookies. An ihrer isolierten Lunchbox hatte sie eine in Fächer aufgeteilte Werkzeugtasche befestigt. In deren Fächern waren immer dieselben Gegenstände: Telefon, Multitool, Black-Jack-Kaugummis, Icy-Hot-Salbe mit Roll‑on-Applikator, Tylenol, Lippenpflege. Sie hatte Jalapeño-Minisalamis dabei und ihr Zahnbürstenetui. In der Tasche hatte sie eine von ihrer Tochter gestrickte glückbringende Mütze. Außerdem trug Crystal ein Kreuz aus Olivenholz, ein Mitbringsel von Father Flirty aus dem Heiligen Land. Sie war keine sehr fromme Katholikin, aber wie viele Menschen, die sich nach Ordnung sehnen, war sie abergläubisch. Ihre Schicht dauerte von sechs Uhr abends bis sechs am Morgen. Wenn sie zur Arbeit losfuhr, saß ihre Tochter an den Hausaufgaben, es sei denn, sie kellnerte gerade. Crystal kam rechtzeitig zurück, um sie zu verabschieden, wenn sie zur Schule musste.

Um elf Uhr aß Crystal ihre erste Jalapeño-Salami und trug Icy Hot auf. Sie fuhr von der Fabrik wieder ins Umland, und ihr Fernlicht durchdrang seltsame, sich hebende und senkende Nebelschwaden, als ein glänzender Schatten quer über den Highway jagte. Ehe sie das Bremspedal anrühren konnte, wurde das Tier von der Nachtschwärze verschlungen. Es war ein Puma, der erste, den sie je gesehen hatte. Etwas Fließendes war da, der Widerschein ihrer Lichter im Pelz, die kraftvolle Neigung des Kopfes. Crystal stieß sich den Ellbogen am Seitenfenster und bremste. Seit sie die Großkatze hatte verschwinden sehen, spürte Crystal eine leichte elektrische Spannung am Kiefer. Selbst im Fahrerhaus des schweren LKW hatte etwas sie berührt. Ein Anflug von Unrast. Ein Omen. Sie versuchte, es abzuschütteln. Ihre Tochter Kismet und ihr Ehemann Martin waren zu Hause und ließen den Tag ausklingen. Vielleicht hatte Kismet Popcorn gemacht, und Martin hatte sich den Einschlaftee gebraut, den er so mochte. Sie waren in Sicherheit.

»Stell deine Gedanken auf einen besseren Kanal ein«, murmelte sie.

Dann verlor sie den Empfang, denn sie bog in den Feldweg ein und näherte sich den mächtigen Halogenstrahlern auf dem Lagerplatz.

Auf dem Rückweg zur Fabrik fiel Crystal ein, dass die Sichtung mit Happy Frechette zu tun haben könnte, ihrer Großmutter, die sie aufgezogen hatte. Happy hatte zu Prohibitionszeiten Whiskey nach Fargo geschleppt, um ihn zu verkaufen. Sie war zu Fuß gereist und hatte eine ihrer Flaschen einem Puma über den Schädel gezogen. So eine Geldverschwendung! Noch siebzig Jahre später hatte sie sich darüber geärgert. Bei jeder Wiederholung wurde der Fußmarsch länger und die Reise ereignisreicher. Bedeutete das Auftauchen dieses Pumas, dass sie endlich gestorben war? Gier und Grausamkeit hatten Happy am Leben erhalten, aber niemand lebte ewig. Wenn es allerdings überhaupt jemand konnte …

Crystal taumelte in Gedanken, bediente in der Zuckerfabrik die Hebeplattform. Sie setzte die Mütze auf, die Kismet ihr aus funkelndem goldenem Garn gestrickt hatte; sie sah aus wie der Helm eines Kriegers. Manche Kollegen spotteten darüber, aber Crystal feuerte zurück, sie seien neidisch. Das mit dem Puma hallte noch nach, und sie sagte kein Wort darüber. Die Großkatze war nur für sie erschienen. Die Plattform hob sich, bis der Quecksilberschalter die seitliche Klappe öffnete und zweiunddreißig Tonnen Rüben freigab.

Als Crystal wieder unterwegs war, lief die Anrufsendung, die sie gerne hörte.

Heute waren Engel das Thema. Existieren sie? Beobachten sie uns? Kurze Antwort: Ja. Al Ringer, der Moderator, sprach mit einer Expertin. Es ging um die Gemeinschaft der Heiligen, den Engel des Angesichts, das Tetragrammaton, die neun himmlischen Chöre. Die Engelexpertin sagte, sie werde das alles mal aufschlüsseln. Wenn man nachts den Himmel beobachte, könne man von dem Engelherrscher Hilfe erflehen, der gerade die Bahnen der Gestirne regierte. Das Sternbild Waage zum Beispiel, das im Augenblick zu sehen sei, werde von Zuriel beherrscht. Lohnte es sich, Zuriel anzurufen? Wahrscheinlich. Zuriel war zwar über die Sprache erhaben, teilte sich dem Herrn der Heerscharen aber über Gesten mit. Berichtete, was auf Erden gebraucht und erbeten wurde. Zuriels stumme Bitten erregten umso mehr Aufmerksamkeit, als er spezielle blitzende, glitzernde Ringe trug.

Ein Hörer namens Boris wurde zugeschaltet. Boris hatte als Kind Besuch von einem Engel bekommen. Der Engel hatte am Fußende des Bettes leise seinen Namen gerufen, um ihn zu wecken. Als er aufstand, führte ihn der Engel ins Freie, wobei er eigens die Tür zuwarf, um seine Eltern zu wecken. Die Eltern schauten aus dem Fenster und sahen ihren Sohn im Vorgarten stehen. Sofort liefen sie hinaus. Der Engel befahl Boris, zu laufen, so schnell er nur konnte. Seine Eltern ihm nach. Sie waren fast an der nächsten Straßenecke, als hinter ihnen das Haus explodierte.

»Der Engel hat uns beschützt«, sagte Boris.

»So ist das mit Engeln«, sagte die verblüffte Expertin.

»Wie sah der Engel aus?«, fragte Al.

»Wie ein Seehund.«

»Ein Seehund.«

»Ich meine, er hat irgendwie golden geleuchtet, aber ansonsten, ja.«

»In der Antike hat man Seehunde den Fischen zugerechnet«, sagte die Expertin.

»Sie haben gesagt, der Seehund, also der Engel habe Sie die Treppe hinunter in den Vorgarten geführt«, sagte Al. »Wie hat er das gemacht, rein körperlich, meine ich?«

»Aus dem Ende der Flosse kam eine Hand, und der Seehund-Slash-Engel ist irgendwie geschwebt. Mir kam das ganz normal vor.«

»Sie können in vielerlei Formen erscheinen. Ich muss gestehen, dass ich keine besondere …«

Al fiel der Expertin ins Wort. »Moment, hier kommt schon der nächste Anruf.«

Der nächste Anruf kam von jemandem, der selbst ein Engel war oder sich dafür hielt.

»Warum?«

»Ganz einfach: weil ich auserwählt wurde.«

»Was sagt denn unsere Expertin dazu?«

»Ich will mich bemühen, es Ihnen schonend beizubringen, aber Engel sind keine irdischen Wesen.«

»Ich auch nicht.«

»Sie existieren außerhalb der Zeit.«

»Tue ich auch.«

»Engel sehen die Welt in allen nur denkbaren Dimensionen.«

»Genau wie ich.«

»Sie begegnen Gott von Angesicht zu Angesicht.«

»Natürlich, ja.«

»Tja«, sagte Al, »dann sind Sie wohl ein Engel. Vielen Dank. Der Nächste, bitte.«

»Hallo. Ich bin die Mutter eines Sohnes. Wir leben auf einer Farm. Als mein Sohn ganz klein war, ist er mal in ein Getreidesilo gefallen, wo man normalerweise am Getreide erstickt wäre, aber er nicht. Er wurde nicht verschluckt. Etwas hätte ihn von unten hochgehoben, hat er mir gesagt. Und später, im Zoo, da ist er einen Maschendrahtzaun hochgeklettert und auf der anderen Seite runter. Es war das Tigergehege. Der Tiger hat sich um ihn rumgelegt und ihm nichts getan. Mein Sohn hatte jede Menge brenzlige Situationen. Letztes Frühjahr sind seine Freunde und er nach einer Party in den Schnee raus. Sie sind auf ihren Motorschlitten rumgefahren. Und da ist was passiert. Aber er war mehr oder weniger unverletzt. Meine Frage ist jetzt, erstens, hat er einen Schutzengel, und zweitens, wie kann man sich bedanken, also speziell bei einem Engel? Oh, und drittens, wie können wir verhindern, dass so was überhaupt passiert?«

Crystal drehte das Radio lauter, beugte sich vor, starrte im Weiterfahren auf den leeren Highway.

»Generelle Frage. Sie wollen wissen, was da los ist?«, fragte Al.

»Ja, ja, genau«, sagte die Anruferin.

Die Expertin meldete sich aufgeregt zu Wort.

»Offensichtlich wird ihr Sohn tatsächlich von einem Schutzengel behütet! Und nach der Schwere der Zwischenfälle zu urteilen, würde ich sagen, dass der Engel in den höheren Sphären angesiedelt sein muss, vielleicht sogar zur Rechten Gottes. Was Sie beschreiben, beweist, dass …«

Die Expertin referierte weiter, aber Crystal hörte schon nicht mehr zu. Sie kannte die Anruferin. Diese Stimme gehörte Winnie Geist aus ihrem Buchclub, zu deren Ackerland und deren Lagerplatz sie gerade abgebogen war. Wenn Crystal über die vollkommen flachen Felder spähte, die wie stille schwarze Meere im Mondlicht glänzten, konnte sie sogar erkennen, dass im Obergeschoss von Winnies Wohnhaus ein Fenster erhellt war. Jeder kannte die Geschichte mit dem Tiger und wusste, was bei der Party passiert war, von der Winnie in der Sendung gesprochen hatte. Aber nicht das mit dem Getreidesilo und dass es noch weitere Errettungen gegeben hatte. Al Ringer wandte sich dem Nächsten zu. Crystal stellte das Radio ab und fuhr eine Weile still dahin; die Scheinwerfer bohrten friedlich leuchtende Kreise ins Dunkel. Den Jungen hatte sie nie gemocht. Gary. Aber die Leute sagten, wie man es so sagt, er müsse einen Schutzengel haben. Gary war an der Highschool mit ihrer Tochter im selben Jahrgang. Sie hatten sogar ein paar Dates gehabt – gegen Crystals Rat. Sie konnte nicht vergessen, dass Gary zu der Jungsclique gehörte, die Kismet gemobbt hatte, als sie ihre Phase als ehrlicher, einfacher Goth durchmachte. Crystal traute ihm nicht über den Weg, und seiner Mutter schon gar nicht. Winnie Geist mochte tragische Geschichten, sogar unsere tragische Geschichte, und tat, als hätte sie Ahnung von der Physik des Ackerbaus, wie sie es nannte.

Crystal hatte ihre Tochter Kismet genannt, um Glück anzuziehen und eine Leichtigkeit des Herzens. Aber das Schicksal gab es auch noch. Und der Puma war ein hungriger Schatten. Oder vielleicht – sie berührte das Olivenholzkreuz auf ihrer Brust und erinnerte sich an das Strahlen des Scheinwerferlichts in seinem Pelz – vielleicht hatte sie einen schadenbringenden Engel gesehen. Ihr fiel ein, dass eine andere Großkatze Gary nicht gefressen hatte, und sie berührte noch einmal das Kreuz. Kismet datete Gary Geist. Crystal wusste nicht einmal, ob es was Ernstes war, aber sie wusste genau, dass Schutzengel nur den ihnen zugeteilten Menschen schützten. Jemandem zu nahe zu kommen, dessen Engel so mächtig war wie Garys, das forderte das Schicksal heraus.

Teil eins

Der Antrag – 2008

Der Diamant

An manchen Tagen war der Stein matt, als hätte er keine Lust zu glänzen, aber heute funkelte er. Garrick Geist, aka Gary, achtzehn Jahre alt und in Zeitnot, öffnete die kleine Klappschachtel und drehte den Ring hin und her, um das Licht einzufangen. Der Stein blinzelte ihm zu. Er legte die Schachtel in den Getränkehalter zwischen den Sitzen im Auto seiner Mutter. Oft hatte er sie schon geöffnet, um sich den schmalen Goldring anzuschauen. Und doch wollte er, sobald er den Deckel zuklappte, gleich noch einmal nachsehen. Die Verkäuferin oben in Fargo hatte gesagt, da hätte er einen tragbaren Krümel der Unendlichkeit erstanden. Er wünschte, sie hätte nicht Krümel gesagt. Sie hätte vielleicht von einem Stück Unendlichkeit sprechen können oder einem Symbol. Die Leute hielten ihn für einen selbstbewussten Menschen, überheblich, besonders in der Footballsaison, also jetzt. Seine Mutter bestand immer darauf, er sei von Anfang an ein Heißsporn gewesen, aber ein übernatürlicher Glückspilz, der dem Ertrinken, dem Zerfleischtwerden entkam, immer dieser oder jener Katastrophe. Bis zu der Party war er so gewesen. Und er glaubte, dass er wieder so werden würde. Trotzdem hätte ihm gerade jetzt ein anderes Wort als Krümel geholfen.

Während er darauf wartete, dass seine Freundin, die sagte, sie sei gar nicht seine Freundin, die Vordertreppe ihres schiefen alten Hauses am Ende der Hauptstraße von Tabor heruntergerannt kam, streckte er die Hand aus und zog sie zurück, widerstand noch einmal dem Drang, den Ring hervorzuholen und zu betrachten. Drei Stunden Zeit hatte er zwischen der Zuckerrübenernte und einem Heimspiel. Hatte der Stein wirklich geblinzelt? Allmählich kam er sich lächerlich vor, aber vielleicht sollte er doch zumindest sichergehen, dass der Ring wirklich da war. Gary hatte ihn von seinem eigenen Geld gekauft, nicht von dem seiner Eltern, und darauf war er stolz. Sein Vater bezahlte ihn inzwischen für einige seiner Arbeiten auf der Farm. In Wahrheit waren sie gar nicht so reich, wie die Leute dachten. Ja, er würde dreitausend Acres erben, von seinem Onkel vermutlich noch was obendrauf, und mit einundzwanzig Mitinhaber werden, aber sie hatten im Herbst mit dem Bau des neuen Hauses begonnen, und auf der Farm lasteten Schulden. Trotzdem fand sein Vater, ein junger Mann brauche Bares. Neben seinem eigenen Motorschlitten – das war letztes Jahr – hatte Gary jetzt diesen Ring gekauft. Beide Anschaffungen hatten mehr miteinander zu tun, als irgendjemand ahnte, denn der Motorschlitten war der Grund, warum er den Ring brauchte und Kismet R. Poe einen Antrag machen musste. Da war sie schon an der Beifahrertür. Gary sprang aus dem Wagen, umrundete ihn und machte ihr die Tür auf. Seine Mutter hatte ihm beigebracht, wie man eine Lady behandelt, und Kismet R. Poe war eine – hoffentlich seine Lady.

Sie hätte ihn natürlich ausgelacht und gesagt, er wäre ein Vollidiot. Oder – auch wenn sie sich manchmal rebellisch kleidete, war sie im Grunde ein nettes Mädchen – vielleicht würde sie doch nur lächelnd den Kopf schütteln. Er spürte, wie sich sein Mund zu einem dermaßen peinlich nervösen Lächeln verzog, dass er auf dem Rückweg um das Auto die Hand hob, um es wegzuwischen. Beim Losfahren hatte er sein Gesicht wieder voll im Griff. In der Stadt fiel ihm nichts ein, wo man hinfahren könnte. Er brauchte einen bedeutungsvollen Ort, einen Aussichtspunkt, der kein Damm war, einen Hügel, aber es gab keine Hügel, einen majestätischen Baum. Aber in Tabor wurden alle alten Bäume gefällt. Keiner wusste, warum. Der einzige Ort, der ihm einfiel, lag eine halbe Stunde entfernt. Deshalb hatte er ihr eine Spritztour vorgeschlagen, und sie fuhren los.

Nach der letzten der drei Ampeln der Stadt folgten sie der Kurve der ersten Überführung, kamen an Steve’s Autobody und an Reihen riesiger Landmaschinen vorbei. An einem Saatgutladen, aufgestapelten Paletten, Pookie’s Valley Steakhouse. Auf der Geraden steuerte Gary mit den Knien und legte hin und wieder zwei Finger unten aufs Lenkrad. Kismet war mit den Gedanken woanders. Sie hatten ihre Gesprächsthemen in den ersten Minuten aufgebraucht. Das störte Kismet nicht weiter; sie dachte gern nach und wusste ein unkompliziertes Schweigen zu schätzen. Dann fragte Gary, ob sie sich langweile. Das wischte sie beiseite und sagte, sie sei mehr der visuelle Typ.

»Ich meine, wenn du dich langweilst, könnten wir ja reden oder so«, bot er an.

»Nein, ist schon okay. Ich lasse die Welt an mir vorbeiziehen. Ist genauso gut wie reden.«

Es war sogar besser, jedenfalls mit Gary. Ihr gefiel der Anblick von Feldern und Gräben im späten Oktober: die sanften, verblichenen Farben, die bleichen Stoppeln in den abgeernteten Reihen, die nackten, gesträubten Bäume. Sie zählte die ebenmäßigen Zacken der Kiefern, die als Windschutz die Farmgebäude umgaben.

Aber ein, zwei Meilen weiter verdarb Garys Frage nach ihrer Langeweile das Schweigen und machte ihr bewusst, dass sie sich sehr wohl langweilte, ziemlich schlimm sogar, und dieses Bewusstsein erinnerte sie daran, was ihre zynische beste Freundin Stockton gesagt hatte – dass Langeweile ein fester Bestandteil des Kleinstadtlebens war, den man nur betrunken ertragen konnte. Kismet trank nicht oft. Sie wusste allerdings, wenn sie viel Zeit mit Gary verbrächte, dass sie dann besser eine Flasche in Reichweite haben sollte.

Und doch hatte er was …

Sie atmete tief ein, hielt die Luft an und betrachtete blinzelnd den rechteckigen See. Ja, rechteckig. Auf einem Feld war Erde ausgehoben worden. Aus dem Aushub war die zweite Überführung entstanden. Kismet atmete langsam aus und ließ den See an sich vorüberziehen.

»Es ist schön, einfach schweigend draufloszufahren«, sagte sie.

Kismet wollte verhindern, dass Gary zu erzählen anfing. Womöglich würde er dann ernst und erklärte ihr seine Vorstellungen vom Landbau oder seine Philosophie, die daraus bestand, dass man immer auf seine Mutter hören sollte. Kismet kannte Garys Mutter und hatte da ihre Zweifel. Gary glaubte, dass Funkwellen Krankheiten übertragen konnten. Er begann viele Sätze mit den Worten: »Es gibt zwei Sorten Menschen …« An Gott glaubte er nicht, konnte sich aber durchaus vorstellen, dass das Gewebe des Lebens von Aliens geschaffen worden war. Manchmal redete er aber auch von den zehn Geboten und fragte sich, ob »Du sollst nicht töten« für Hirsche galt. Hirsche liebte er. Er weinte, wenn er ein totes Exemplar sah. Oder ein lebendes. Das war eine Seite an ihm, die Kismet tatsächlich faszinierte. Er ging nie jagen. Sein Vater und sein Onkel versuchten, ihn mitzunehmen. Er weigerte sich. Er liebte Tiere, nicht bloß Hirsche, sondern jede Tierart. Trotzdem mochte Kismet es nicht, wenn er sagte, mit ihren dunkelbraunen Augen und ebensolchem Haar erinnere sie ihn an eine Hirschkuh im Winter. Hirsche waren wunderbare Wesen, aber sie waren Beutetiere.

Das College wird mich hier rausbringen, dachte Kismet, und ein Anflug von Angst machte sie schläfrig. Sie stellte ihren Sitz zurück. Die Sonne schien durch die Windschutzscheibe, und es war ein Herbstlicht, das sanfte Licht eines frühen Nachmittags. Sie döste, und Gary dachte laut darüber nach, ob Dinosaurierknochen echt waren, oder ob eine hyperintelligente frühe menschliche Spezies sie ausgelegt hatte, oder Aliens. »Aliens schon wieder«, murmelte sie.

»Ganz genau«, sagte er mit seiner Heldenstimme.

»Du weißt, dass die Knochen echt sind«, sagte Kismet.

»Wahrscheinlich«, sagte Gary. »Hier geht’s zu dem Ort, den ich meine. Erinnerst du dich an Blosnik? Der war ein Mann der Praxis. Es gibt zwei Sorten …«

»Ich weiß«, sagte Kismet. »Deine Eltern …«

»Genau, Winnie und Diz.«

Er nannte sie gern beim Vornamen.

»Die sagen immer, es gibt zwei Sorten Menschen: Menschen der Praxis und Menschen der Theorie. Ihnen hat echt gefallen, dass Blosnik mit unserer Klasse Fossilien suchen gegangen ist …«

»Am Ufer des Sheyenne«, sagte Kismet. »Wo du den Bisonzahn gefunden hast. Der nicht von Aliens dort hinterlassen wurde.«

Sie schloss die Augen und fragte sich, warum sie ihren freien Tag damit verbrachte, sich von Gary anzuhören, wie er immer und immer wieder dasselbe erzählte. Obwohl – manchmal kam auch ein überraschender Gedanke dazwischen. Nur nicht heute.

»Okay. Ein Bisonzahn.« Gary nickte. »Ein fossilisierter. Das heißt …«

»Versteinert«, sagten sie gleichzeitig. Kismet wandte sich ab. Gary zog es die Kehle zu. Nervös, wie er war, hatte er sich in alte Gesprächsmuster zurückfallen lassen. Er bremste ab. Es war nicht mehr weit. Zu Hause bewahrte er den Bisonzahn unter einer gläsernen Käseglocke bei den Pokalen auf. »Ich liebe das Ding«, sagte er immer, wenn er daran vorbeikam. Im Augenblick steckte der braune steinerne Zahn in seiner Hosentasche. Als Glückbringer. Zu dem Ort, wo er den Zahn ausgegraben hatte, würden Kismet und er laufen müssen. Dort wollte er ihr den Antrag machen. Er hielt.

»Siehst du das?«

Er zeigte auf das Feld, hinter dem, sagte er, sie das Flussufer erreichen würden.

Kismet wollte nichts davon wissen.

»Über den Acker laufen? Machst du Witze? Ich habe meine guten Stiefel an.«

Kismet hob ein Bein und stellte ihren Absatz auf die Konsole. »Keine Chance, Gary.«

»Jetzt sei kein Sturkopf. Ich will dir zeigen, wo ich den fossilisierten Bisonzahn ausgegraben habe.«

»Der Zahn ist cool, das gebe ich zu, aber?« Kismet wies mit dem Kinn auf ein paar Jäger, die in orangefarbenen Westen an einem Windschutzstreifen entlangliefen. Gary folgte ihrem Blick.

Tja, unter Beschuss zu geraten würde wohl eher nicht ihre Heiratswilligkeit steigern.

»Hey.« Sie pflückte die Schachtel aus dem Getränkehalter und klappte sie auf, bevor er etwas sagen konnte. »Ein Ring.« Sie legte ihn zurück. »Lass uns heimfahren.«

Er griff nach der Schachtel und bat sie zu warten.

»Gib den deiner Mom«, sagte Kismet.

»Ich geh vor dir in die Knie.«

»Im Auto?«

Er parkte aus, und die Schachtel klapperte zurück in den Getränkehalter. Kismet hielt sich fest, als sie über den Schotterweg schleuderten und schließlich ein verlassenes, von riesigen Disteln überwuchertes Farmhaus erreichten. Junge Bäume reckten sich durch die zerzausten Dachziegel. Gary brachte den Wagen ruckartig zum Stehen und wandte sich gepeinigt zu ihr um. Er brachte kein Wort heraus. Sein leidendes, schönes Gesicht brachte ihr Herz zum Schmelzen.

»Awwww, guck mich nicht so an.«

»Heirate mich.«

Kismet platzte heraus, sie hätte einen Freund, obwohl das streng genommen nicht stimmte.

»Das ist mir egal!«

Gary schnappte sich die Schachtel und hielt ihr den Ring hin. Ihm zitterten die Hände. Seit dem letzten März hatte er abgenommen, und seine hohlen Wangen verliehen ihm eine gespenstische Autorität. Kismet wollte sich abwenden, aber sie konnte sich nicht rühren. Seine Verzweiflung lähmte sie. Er griff nach ihrer Hand, ließ nicht los, und ehe sie reagieren konnte, hatte sie den Ring am Finger.

»Ahhh, ahhh, ahhh«, brachte sie heraus.

»Ja? Sagtest du Ja? Du hast Ja gesagt!«

Gary warf sich über die Mittelkonsole mit den Getränkehaltern auf sie drauf und schluchzte ekstatisch: »Ja, ja, ja, o mein Gott, ich liebe dich, ich werde alles tun.« Und so weiter ohne Ende, was sie erschreckte und sie schließlich, als er ruhiger wurde, von seiner Leidenschaft überzeugte, seiner Hingabe, seiner Inbrunst, seiner Verehrung und – seiner Liebe? Denn das musste Liebe sein, dachte Kismet, der große Augenblick. Sie hatte ihn erobert. Ihr Herz weitete sich. Er würde alles, aber auch alles für sie tun. Was sie selbst davon hielt, schien hier keine Rolle zu spielen. Er war nie lange mit demselben Mädchen gegangen. Und plötzlich hatte er Kismet gedatet, und in der Schule hatten sie alle mit einer Mischung aus Skepsis und verwundertem Respekt behandelt.

Konnte man zumindest sagen, dass sie ihn erträglich fand?

Oder war dieser Sog, den sie spürte, das Gefühl des Unabänderlichen? Gary bekam immer, was er wollte, sagten alle. Aber wollte sie auch in diesen beglückenden Wahnsinn mitgerissen werden, denn so benahm er sich gerade, in den Wahnsinn der Liebe? War das wahre Leidenschaft?

Als sie denselben Weg wieder zurückfuhren, schaltete Kismet das Radio an und hörte nicht auf die Musik. Sie versuchte, nachzudenken. Gary hatte gesagt, es sei ihm egal, wenn sie einen anderen Freund hätte. Gab es den anderen Freund überhaupt, wenn sie nie seinen Namen nannte? Vielleicht musste sie Gary Geist ja nicht heiraten, sondern konnte einfach eine Weile mit ihm verlobt sein. Sie brauchte den Ring nicht zu tragen, beschloss sie. Es konnte nicht schaden, zu schauen, wie es mit ihnen weiterging, abgesehen, na ja, von Sex, den sie einmal, oder beinahe, hinter einem alten Getreidesilo gehabt hatten und auf der Kellercouch seines Freundes Charley. Während der Footballsaison übernachtete Gary oft bei Charley, um nicht noch zur Farm rausfahren zu müssen.

Gary war gut aussehend, aber Charleys Anziehungskraft war eine ganz andere Nummer. Sein Aussehen machte die Leute nervös. Charley Jura, Knieval Rappatoe und Harlan Gall waren mit bei dieser Party gewesen. Und dann gab es Eric Pavlecky, Garys besten Freund. Eric lebte auf einer benachbarten Farm und war auch dabei gewesen. Er fuhr jeden Tag mit Gary zusammen zur Schule und war der Einzige der Jungs, der Kismet grüßte, wenn sie sich zwischen den Stunden auf dem Schulflur trafen.

»Wirst du es Eric sagen?«

»Er weiß schon Bescheid.«

»Über den Ring?«

»Yep, wir waren zusammen in Fargo. Er hat im Auto gewartet.«

»Hast du ihn Eric gezeigt?«

»Das wollte ich, aber er fand, das sei eine Sache zwischen dir und mir und sollte eine persönliche Überraschung werden. Warst du überrascht?«

»Ja, total.«

»Wie du vielleicht weißt«, sagte Gary, als wäre er ein Lehrer oder so was, »kommen Diamanten aus der Zeit der Dinos. Sie sind fossilisierte Kohle. So alt wie die Zeit.« Nach einer dramatischen Pause sagte er: »Du trägst ein Symbol der Unendlichkeit an deinem Finger.«

»O mein Gott«, flüsterte Kismet, dann verschloss es ihr die Kehle. Ein plötzlicher Schweißausbruch nässte ihr die Stirn und die Achseln und erschreckte sie so sehr wie der Ring. Der Druck von Millionen oder Milliarden Jahren. Sie streifte den Ring ab und legte ihn still in den Getränkehalter. Sie war auch in Mr. Blosniks Kurs gewesen und meinte sich zu erinnern, dass Diamanten sogar älter als die Dinos waren. Schwelende Übelkeit, ein Anflug von Kopfschmerzen und Fluten der Angst verdrängten den Schweißausbruch, legten sich aber, sobald sie bei ihr zu Hause ankamen. Gary hielt und sprang aus dem Wagen, schaffte es aber nicht schnell genug bis zu ihrer Tür. Kismet war die Auffahrt aus zerbrochenem Zement schon halb hochgelaufen. Sie winkte. Er warf ihr eine Kusshand zu, dann schaute er sich um, ob es irgendjemand gesehen hatte. Also merkte er nicht, dass sie ihm keinen Kuss zurückwarf. Sie war schon im Haus. Er holte den Bisonzahn hervor. Hielt ihn einen Moment in der Hand und beugte in stillem Gebet den Nacken. Die Leute fanden, er hätte Glück gehabt, als er die Sache bei der Party überlebte, aber es gab Zeiten, wo er sich fragte, ob er nicht besser gestorben wäre. Er ließ sich wieder ins Auto gleiten, hinters Lenkrad, und erst als er auf den Highway einbog, auf das Lenkrad hämmerte und zur Radiomusik röhrte, warf er einen Blick in den Getränkehalter und bemerkte das Funkeln des Rings.

Der Schrei

»Mom …! Mom …!«

Es war Kismets Panikruf, und er kam von der Haustür. Crystal sprang von der Unordnung ihres kleinen Schreibtischs auf und rannte hinüber. Es war ihr freier Abend. Kismet lief ihrer Mutter in die geöffneten Arme. Crystal legte Kismet die Hände auf die Schultern, um sie sich anzusehen.

»Was ist passiert?«

»Gary hat mir einen Heiratsantrag gemacht.«

Crystal trat einen Schritt von ihrer Tochter zurück und hob die Hände ans Gesicht.

»Mom, du siehst ja aus wie Der Schrei.«

»Werd nicht sarkastisch«, sagte Crystal. »Das hier ist ernst.«

Sie ließ ihre Finger auf das Kreuz aus Olivenholz sinken. Kismet fuchtelte aufgebracht mit den Händen. Crystal bemerkte, dass sie zumindest keinen Ring trug, und folgerte, sie hätte den Antrag nicht angenommen. Mühsam zügelte sie die Erleichterung in ihrer Stimme und sagte: »Lass uns einen Tee trinken.«

»Ich will den Bauchtee.«

Kismet klang wie ein nörgeliges Kind, was Crystal irritierte, aber sie antwortete: »Gern.«

Mitten auf dem runden Küchentisch stand ein kleiner Honigtopf in der Form eines Bienenkorbs. Kismet setzte sich und betrachtete ihn, während sich das Wasser auf der altersschwachen Herdplatte erwärmte. Ihre Stimme klang schwermütig, gedämpft.

»Jeder weiß, dass Bienen in Kisten wohnen. Wo kommt also diese Form her?«

Diese zusammenhanglose Beobachtung klang wie ein Hilferuf. Aber wenn Crystal jetzt mit ihrer Meinung zu Gary herausplatzte, würde sie Kismet dem nervtötenden, aber vom Glück verfolgten Typen direkt in die muskulösen Arme treiben. Sie ließ sich Zeit, goss das kochende Wasser über ein Sieb voller Pfefferminzblätter, stellte die Tassen auf Untertassen mitsamt Löffeln und trug den Tee zum Tisch.

»Vielleicht, ähm, die Dorfidylle in England«, sagte Kismet mit einem dieser aufgesetzt entrückten Blicke. »Weißt du, sie ist ein Symbol!«

Sie teilten ein kurzes Schweigen und pusteten auf den heißen Tee. Crystal nippte unbeholfen daran, als hätte sie vergessen, wie man seinen Mund gebrauchte. Sie erkannte ihre eigenen jugendlichen Abwehrstrategien wieder und musste daran denken, wie sie sich selbst im Treibsand der Hormone und der neuen Gefühle abgestrampelt hatte.

»Was … empfindest du denn für ihn?«

Crystal hielt ihren Tonfall so neutral wie möglich. Um nicht zu viel preiszugeben, stellte sie die Tasse ab und kniff sich seitlich ins Knie.

»Es könnte sein, dass, ich glaube, dass ich ihn liebe«, sagte Kismet und schaute ihre Mutter an, als käme ihr eine große Erkenntnis. »Ja, vielleicht bin ich verliebt. Verliebt. Wie fühlt sich das an? Wie ging es dir mit Dad – als ihr mich bekommen habt, meine ich? Ich schätze, du liebst ihn, aber wart ihr damals ganz verrückt vor Liebe?«

Kismet tauchte den Löffel in den Honigkorb und schaute zu, wie der Honig vom Löffel glitt und sich im Tee auflöste. Dann öffnete sich ihr Gesicht wie eine sanft flehende Blüte und wandte sich zu ihrer Mutter.

Ich muss jetzt echt vorsichtig sein, dachte Crystal. Ihre Ehe mit Kismets Vater war am Ende. Das hatte Crystal schon öfter geglaubt, aber es hatte immer irgendeinen Grund gegeben, sich nicht von ihm zu trennen. Diesmal war es ihr ziemlich sicher ernst. Sie schob die Sache nur auf, bis Kismet mit der Schule fertig und sicher am College war. Ihr Herz zog sich zusammen, auf, zu, auf. Sie nahm einen beruhigenden Atemzug. Das durfte sie nicht erwähnen! Wie schon so oft, seit Kismet ein Teenager war, stellte sich Crystal eine baufällige Brücke vor und suchte nach einem Weg hinüber.

»Verrückt vor Liebe? Das habe ich damals gedacht.«

»Gedacht?«

»So habe ich meine Gefühle damals verstanden.«

Sie sah, dass Kismet etwas zu sagen hatte, mit dem sie ihre Mutter nicht schockieren wollte. Lieber Gott, lass sie nicht schwanger sein, dachte Crystal und schloss die Augen. Aber Kismet hatte nur eine Frage. »War es der Sex?«

»Teilweise.« Crystal öffnete die Augen. »Du nimmst noch die Pille, oder?«

»Klar. Wie viel davon war Sex? Ich will harte Zahlen.«

»Zahlen?«

»Na, einen Prozentsatz.«

Crystal hob in gespieltem Entsetzen die Arme. Dann bedeckten sie ihre Gesichter mit den Händen und juchzten vor Lachen, bis sie keine Luft mehr bekamen. Ich will harte Zahlen! Ich will harte Zahlen! Schließlich japste Crystal: »Achtzig.« Kismet kreischte und tat, als würde sie sich an ihrem Tee verschlucken. Schließlich konnte Crystal nicht mehr, sie hielt es einfach nicht aus. Sie legte den Kopf auf den Tisch und murmelte vernehmlich.

»Er ist nicht gut genug für dich.«

Crystal richtete sich auf. Kismets Gesichtsausdruck hatte sich fast unmerklich verhärtet. Jetzt war es, als spielten sie Poker und wollten nur ja keine Regung zeigen. Kismet knickte als Erste ein und brachte die Teetassen zur Spüle. »Er liebt mich wirklich sehr, Mom«, sagte sie und schaute durch das Fenster in den braun verdorrten heiligen Garten.

Ich bin so ein Idiot, dachte Crystal.

Sie waren praktisch gleich groß, Kismet nur einen halben Zoll drüber. Zwei geschmeidige, aber robuste Frauen, keine konventionellen Schönheiten nach heutigem Maßstab, sondern eher wie Filmstars der Dreißiger mit geschwungenem Herzmund, die Brauen breit und dunkel, die Gesichter klassisch oval mit markanten Wangenknochen, konturierte Kiefer. Ohne zu lächeln, konnte Kismet ein umwerfendes Grübchen in Stellung bringen, das einer Seite ihres Gesichts einen ironischen oder komplizenhaften Touch gab. Sie hatte schmelzend braune Augen, üppige schwarze Wimpern. In Crystals Augen lag ein schärferes Funkeln, weil das Leben sie gelehrt hatte, misstrauisch zu sein. Beide waren sie kurvig, gelenkig, mit kleinen gewölbten Füßen, perfekt für Highheels. Sie konnten darin meilenweit laufen mit nur geringen Schmerzen. Ihre träge wirkenden dicklichen Hände waren in Wirklichkeit kräftige Pfoten. Crystals waren lenkradgestählt durch die Fahrten im International, Kismets geschickt vom Balancieren der Teller von Wärmelampen zu Tischen. Sie konnten hart arbeiten, stammten von Ojibwe-Landarbeitern, Erntehelfern, passionierten Schwarzhändlerinnen ab. In alten Filmen hätten sie zwei Gangsterbräute spielen können. Crystals Mädchenname war sogar der Nachname der Menimonee-Lady von John Dillinger, Billie Frechette. Ihren Namen hatte sie behalten, aber Martin erlaubt, Kismet seinen weiterzugeben. Poe. Noch ein düsterer Name mit einem Namensvetter, dessen Haar sich an den Schläfen krauste. Ihr Haar war nicht sinnlich gewellt, sondern glatt und dunkel. Crystals reichte bis zu den Schultern, Kismets den halben Rücken hinunter. Wenn Kismet ein Gespräch beenden wollte, ließ sie ihre Mähne mit Nachdruck über die Schulter fliegen. Das tat sie jetzt, marschierte in ihr Zimmer und ließ Crystal am Fuß der Treppe stehen.

Erinnerungsmathematik

Als ihm auf dem Heimweg der Ring aus dem Getränkehalter entgegenblinkte, beschloss Gary, nicht zu viel darauf zu geben. Seine Mutter hatte den Ring für ihn bezahlen wollen. Winnie wusste alles, oder fast alles, weil er kurz nach der Party mit ihr geredet hatte. Sie wusste, wer, oder vielleicht was ihn heimgesucht hatte, als er an dem Ast festhing. Sie wusste, dass es immer wiederkam, manchmal sogar auf dem Spielfeld. Für eine Farmerfamilie war es ein Unglück, wenn der Sohn zum Beginn der Erntekampagne Football spielte. Nach allem, was im Jahr davor passiert war, hätte man daher erwarten können, dass er diese Saison ausließ, aber es war sein letztes Schuljahr. Und er hatte noch andere Gründe. Also heuerten sie einen Erntehelfer aus der Stadt an, und Gary rodete und transportierte spätabends, so lange er konnte, Rüben, und was machte es schon, wenn er in Specks Mathekurs durchfiel? Er kannte sich besser mit Mathe aus, als sein Lehrer ahnte. In der Landwirtschaft brauchte es jede Menge davon. Es war nicht seine Schuld. Speck hatte ihn auf dem Kieker, so viel war klar.

Ein paar Monate davor hatte seine Mutter Angst vor Chemikalien bekommen. Seit Diz auf den Feldern Gramoxone einsetzte, das Paraquat enthielt, hatte sie Panik, dass er damit Mist bauen könnte. Ein versehentlicher Schluck von dem Zeug zerstörte Leber und Nieren. Selbst Hautkontakt war gefährlich. Es gab kein Gegengift. Diz und Gusty waren extrem vorsichtig, aber sie blieb nervös. Und dann war da Atrazin, das Diz für den Mais benutzte. Das war eine Chemikalie, die das Grundwasser verunreinigte. Winnie beschäftigten vor allem die Auswirkungen von Atrazin auf den Penis, den es verkleinern oder verweiblichen konnte. Warum? Sie wollte Diz dazu bringen, auf sich aufzupassen, sagte sie. Aber Gary verunsicherte es, dass sie dermaßen drastische Sachen sagte. Als dann das Schuljahr anfing, hatte er sich natürlich diskret in der Umkleide umgesehen. Er schien normal zu sein, aber die Chemikalie konnte sie ja alle verändert haben. Vielleicht war dadurch der ganze Vergleich verzerrt. Er war online gegangen, ziemlich oft sogar, nicht, weil er pornosüchtig gewesen wäre, wie die anderen glaubten. Vermutlich nicht. Er hatte wissen wollen, ob er buchstäblich der Welt da draußen gewachsen war. Was er sah, deprimierte ihn unbeschreiblich. Es gab so viele Sorten, und zu welcher gehörte seiner? Ihm fiel auf, dass er ihn nur aus einem Blickwinkel sehen konnte, nämlich von oben, und dass ein Spiegel nicht half. Er klappte sein kostbares RAZR V3 auf und machte aus unterschiedlichen Blickwinkeln Fotos. Neben ein paar anderen Sachen, die im Herbst passiert waren, hatte Knieval auf Garys Handy durch seine Fotos gescrollt. Dann hatte Knieval lauthals behauptet, er hätte Angst, mit dem schwulen Gary allein im Raum zu sein, was wiederum Gary dazu gebracht hatte, ihm in der Mathestunde eine zu zimmern und so weiter. Das war der Moment, in dem Mr. Speck in den Klassenraum zurückkam.

Gary stand über Knieval, dem das Blut aus der Nase über das Gesicht lief.

»Gary, hast du Knieval geschlagen?«

»Yep.«

»Ja, Sir.«

»Ja, Sir.«

Mr. Speck, der einen Quadratschädel hatte und hervorstehende schwarze Brauen über kleinen, glänzenden schwarzen Augen. Mr. Speck, der eine wilde Haarmähne und einen hyperintelligenten Blick hatte und für einen Mathelehrer ganz cool war, sagte Folgendes:

»Hast du zu Hause gelernt? Weißt du, was exponentiell bedeutet?«

»Nein … Sir.«

Knieval saß noch immer am Boden. Als Gary hinsah, lachte Knieval ihn mit Blut auf den Zähnen aus. »Raus mit dir«, sagte Speck zu Knieval. »Pass auf, dass du auf dem Weg zum Direktor kein Blut auf den Boden kleckerst.« Mit einem Buch in der Hand trat Speck auf Gary zu und schaute ihn mit einem Ausdruck geduldiger Verachtung an.

»Es bedeutet, mal auf die echte Welt angewendet, Gary, dass etwas sehr schnell anwächst, Fahrt aufnimmt, und bevor du es überhaupt bemerkt hast, ist es außer Kontrolle. Als du den Hang runtergerast bist, zum Beispiel? Ja, Gary? Sagen wir, du hättest den Tod von zwei Menschen herbeigeführt und hättest einen verstümmelt, oder vielleicht war es Eric, aber die Wetten stehen auf dich. Und dabei hättest du rausgerissene Eingeweide, gebrochene Herzen, vor Trauer überschäumende Gehirne in drei Familien verursacht, ganz zu schweigen von den Auswirkungen auf sehr viele Freunde und Bekannte in einer eng verflochtenen Gemeinschaft. In diesen Familien hast du eine tiefe, dunkle Kluft der Trauer aufgerissen, und die, junger Freund, wird sich nie wieder schließen. Es wächst Gras darüber, aber sie verheilt nicht. Danach gibt es in der Familie immer eine weiche, schmerzende Mulde, einen Erdfall, vor dem die Menschen zurückschrecken. Sie wird immer schmerzen, immer gemieden werden. Und so viele Menschen! Dieser Schaden also, den du angerichtet hast, als du ungebremst diesen Hang runtergerast bist, als du die Kontrolle verloren hast oder was auch immer, der war exponentiell. Exponentiell ist für dich eine schreckliche Vokabel, weil es über die Todesfälle hinausgeht. Du hast so viel mehr auf dem Gewissen: alles Gute, das die Menschen hätten tun können, die jetzt tot sind – verloren. Die Liebsten, die sie hätten glücklich machen können – verloren. Die Kinder, die sie hätten großziehen können – verloren. Verloren, verloren, verloren. Exponentiell.«

Mr. Speck verließ das Klassenzimmer. Gary stand im Schweigen seiner Gleichaltrigen auf.

Und dafür hatte er bei Speck Mathematik belegt?

Gary trug seine Mannschaftsjacke, weil am Abend ein Spiel anstand.

Sein Team. The Mighty Red. 63. Er drehte sich mit ausgebreiteten Armen im Kreis und wartete darauf, dass jemand einen Witz machte. Es kam nichts.

Und dafür hatte er überlebt?

Gary verließ den Matheraum und ging den Flur hinunter. Er brodelte. Er bebte. Niemand würde ihn je zittern oder weinen sehen. Er schwenkte in die leere Sporthalle ein und setzte sich auf die Tribüne. Das namenlose, unerträgliche Gefühl stieg in ihm auf. Er wollte sich zu Boden werfen und sich den Schädel brechen, war sich aber leider sicher, dass das nicht funktionieren würde. Der Boden der Sporthalle war aus Holz. Er spürte, wie seine Gedanken in jene Nacht auf dem Fluss zurückrasten, zu der Frage, was er hätte machen sollen, aber diese Gedanken waren sinnlos, sinnlos. Es blieb ihm nichts übrig, als sich normal zu verhalten. Er stand auf. Er ging. Er wusste, dass Kismet in der dritten Stunde Sozialkunde hatte. Vor ihrem Klassenraum blieb er stehen. Sofort beruhigte sich sein Atem, und sein Puls verlangsamte sich. Kismet hatte etwas Mysteriöses, Magisches an sich, und wenn er mit ihr zusammen war, fühlte sich Gary geheilt. Er vermutete, dass es an ihrem indianischen, oops, indigenen Blut lag – was er allerdings seit dem einen Mal nicht mehr laut aussprach. Gary war verblüfft von der Wirkung, die sie auf ihn ausübte, dabei war sie ihm in den Jahren, die sie auf dieselbe Schule gingen, die meiste Zeit einfach nur weird vorgekommen.

Nevermore

Wie alle Mütter und Töchter machten Crystal und Kismet zusammen Kismets Phasen durch. Bis sie einen Job annahm und ihr Leben auf die Reihe brachte, war Kismet ein Goth – ein Ramschladen-Goth, und war das nicht gerade passend? Eines trüben Abends hatte sie ihr glänzendes Haar mit einem harten, stumpfen Blauschwarz gefärbt, ihre schmalen Augen mit dicken schwarzen Rändern gerahmt und sich Farbverläufe aus Lila und Weinrot auf die Lider gepinselt. Crystal reagierte nicht, als Kismet am nächsten Morgen die Treppe herunterkam und zur Schule losging. Also setzte sie noch einen drauf. Ihre Stick-and-Poke-Tattoos versuchte sie geheim zu halten. Kismet und Martin hatten Texte ihres Namensvetters Edgar Allan auswendig gelernt. Crystal erhaschte einen Blick auf das Wort Nevermore an Kismets Schulter und auf einen Raben, der mehr wie eine Taube aussah. Sie tat, als merkte sie nichts. In Wahrheit war sie wochenlang deprimiert deswegen. Kismet trug Klamotten von Flohmärkten oder vom Thrifty Life, alles in Schwarz natürlich. Manche zerlegte sie kunstvoll, anderen waren schon eingerissen oder durchgescheuert. Für Risse unter dem Hintern, die zu hoch lagen und einen lila Slip durchblitzen ließen, wurde sie heimgeschickt. Ein anderes Mal wurde sie nach Hause geschickt, weil sie sich in einem T‑Shirt aus dem Haus geschlichen hatte, das mit falschen Brüsten inklusive Nippel bedruckt war – das T‑Shirt hatte sie in einer Mülltonne gefunden.

»Hör auf, mit Müll rumzulaufen!«, schrie Crystal sie an. Ihre Schichten gingen von sechs Uhr abends bis sechs Uhr früh, und sie wurde vom Anruf des Direktors aus dem entscheidenden Schlaf gerissen.

»Mehr als Müll können wir uns nicht leisten«, sagte Kismet.

Das saß, und Crystal kamen die Tränen.

Kismet war zerknirscht und murmelte Entschuldigungen. Crystal fuhr einfach weiter, ließ das Elend sacken und fragte sich, was sie falsch gemacht hatte. Vielleicht hätte sie Kismets Vater heiraten sollen, aber das verbot ihr der Geschäftssinn. Wenn Martin in finanzielle Schwierigkeiten geriet, und das schien absehbar, wollte sie nicht dafür geradestehen müssen.

»Ist das eine Art Strafe, weil ich deinen Dad nicht geheiratet habe?«

»Nein«, sagte Kismet. »Das respektiere ich. Ich find’s cool.«

»Hat es irgendetwas mit mir zu tun?«

»Nope.«

»Womit dann?«

»Mir gefällt bloß nicht, wie sich alle verhalten. Also zeige ich, dass ich anders bin.«

So müde sie auch bei der Arbeit sein würde, Crystal konnte nicht leugnen, dass es ihr genauso ging und dass sie für die rebellischen Anwandlungen ihrer Tochter Verständnis hatte. Immerhin schien dabei nicht viel Drogenmissbrauch im Spiel zu sein (soweit sie das beurteilen konnte), nicht viel Alkohol (leichter zu beurteilen) oder Sex (unangenehmer Gedanke). Ihre Tochter datete insgesamt nicht viel und schien nichts von den heftigen Partys zu halten, von denen Crystal im Buchclub hörte oder von Dale, der sie meistens zur Arbeit fuhr. Nein, ihre Auflehnung gegen die Konventionen bestand vor allem aus ihrem auffälligen Make-up und ihrer Kleiderwahl, und weshalb sollte man sich darum streiten?

Kein Trauerkloß

Kismet wusste, dass Kleidung und Frisuren oberflächliche Marker waren. An der Highschool war ihre Bedeutung allerdings nicht zu unterschätzen. Richtigen Ärger bekam Kismet aber, als sie anfing, sich ihre Intelligenz anmerken zu lassen. Sie beantwortete im Unterricht jede Frage, schlug jeden im Schach, und konterte bei Meinungsverschiedenheiten mit denen, die sie bald ihre sogenannten Freunde nannte. Selbst Stockton fand, dass sie damit zu weit ging. Das zehrte an Kismet. Beim Mittagessen allein am Tisch zu sitzen und ausgeschlossen zu werden, hätte sie leicht in einen Trauerkloß verwandeln können, aber es härtete sie ab. Als sie die Stimme erhob und sich wütend mit Mr. Speck anlegte, wurde sie ins Büro geschickt und musste auf dem Stuhl der Schande sitzen. Wenn ein beliebtes Mädchen diesen Platz einnahm, wurde er zum Stuhl der Coolen, aber für den Rest war es erniedrigend, durch die Glaswände des Schulbüros von allen gesehen zu werden. Als sich die Flure mit Schülern auf dem Weg in den nächsten Unterrichtsraum füllten, erntete Kismet Blicke voller Neugier, Verachtung oder Mitleid, und die Jungs aus den unteren Jahrgängen zeigten ihr grinsend den Stinkefinger. Nur einer war da, der, statt ihr den Finger zu zeigen, sich selbst zum Direktor schicken ließ, um sich neben sie zu setzen. Das war Hugo.

Der Tölpel

Nachdem Hugo in der neunten Klasse neben Kismet gesessen hatte, brach er die Schule ab.

»Warum bist du hier?«, hatte sie gefragt.

»Ich hab mich gelangweilt.«

»Ich meine, was du getan hast.«

»Gelacht. Blosniks Ohr war voller Rasierschaum. Jedes Mal, wenn er den Kopf gedreht hatte, fand ich’s witzig.«

»Verständlich.«

»Und deshalb bin ich hier.«

»Nein, ich meinte, warum du überhaupt hier bist, in der Schule? Du bist ein Genie.«

»Ich?«

»Ja, du Idiot.«

Am nächsten Tag wollte Hugo nicht in die Schule. Ein paarmal schleiften ihn seine Eltern bis vor die Flügeltüren, aber Ichor und Bev brachten es nicht übers Herz, ihn hindurchzudrängen. Er war schlau, er war brillant, also beantragten sie, Hugo zu Hause unterrichten zu dürfen, und strichen den kühlen Keller weiß an, damit er dort einen Raum zum Lernen hatte. Sie sparten auf einen Computer für ihn, aber er überraschte sie damit, dass er aus der Bibliothek und dem Junior College Einzelteile zusammenklaubte. Den Computer baute er selbst. Und da saß er dann im Keller gekrümmt vor seinem Bildschirm, in fingerlosen Handschuhen und Parka. Am späten Nachmittag half Hugo in Bev’s Bookery aus, dem an der Hauptstraße gelegenen Buchladen seiner Mutter. Manchmal setzte er sich zu Ichor in den Pick-up, um mit ihm im Auftrag der Stadtverwaltung Straßen zu streuen oder Schlaglöcher aufzufüllen. Manchmal überprüfte er gemeinsam mit seinem Vater Felder und Weiden. Oder sie gingen Beschwerden von benachbarten Farmern nach. Als Beauftragter des Countys für Unkrautbekämpfung beriet Ichor die Landwirte zum Thema Pflanzenschutzchemie. Hugo erwarb die Allgemeine Hochschulreife und belegte Kurse am College. Er wollte erwachsen werden und Geld verdienen, damit er Kismet auf ein Date ausführen konnte. Einige Hürden hatte er genommen. Sie hatten vielleicht oder vielleicht doch nicht angefangen, miteinander auszugehen. Wenn Hugo ehrlich mit sich war, wusste er, dass die Zeichen eher auf ›vielleicht doch nicht‹ standen. Aber es konnte alles noch werden. Er brauchte nur Geld und ein Auto.

Eines Tages erklärte sich Kismet bereit, am helllichten Tag mit ihm spazieren zu gehen, und er erwähnte das Auto.

»Mir doch egal, ob du ein Auto hast«, sagte Kismet. »Was hätte ich davon?«

Sie kamen am Park vorbei, also setzten sie sich auf eine der Tribünen.

»Privatsphäre. Mobilität. Reife.«

»Manche autofahrende Jungs sind aber so was von unreif. An dem mit der Mobilität mag was dran sein.«

»Privatsphäre?«

»Oh, jetzt verstehe ich, was du meinst. Also echt, Hugo.«

»Also echt was?«

»Aus dem, was du dir jetzt vorstellst, wird niemals was.«

»Wieso nicht?«

»Wegen der Reife. Deiner. Ob mit oder ohne Auto.«

»Und wenn wir einfach nur rummachen?«

»Oh, super Idee. Das wäre wie ein Streichholz im trockenen Grasland für dich.«

»Ich stelle einen Löscheimer bereit«, sagte Hugo, beugte sich vor und gab ihr den Kuss der wahren Liebe.

»Hey, was geht denn hier«, sagte Kismet. »Das ist ja fast so, als hättest du was drauf.«

»Ich habe mich kundig gemacht.«

»An einer Versuchsperson?«

»Nein, nein, ich habe von dir geträumt.«

Sie lachte. »Im Ernst.«

»Und in der Buchhandlung meiner Mutter.«

Im nächsten Moment fragte sie, ob es ein bestimmtes Buch gewesen sei, und er sagte: »Eine Melange.«

»Wohl Vokabeln gelernt?«, fragte sie.

Er wirkte beleidigt. Sie saßen hinter dem Gemeindezentrum auf der Rückseite des Damms mit Blick auf das unkrautbewachsene Hockeyspielfeld. Sie hatten sich nur kurz hinsetzen wollen, um dann den sich windenden Parkweg zum Golfplatz runter zu spazieren. Aber sie küssten sich weiter. Als sie endlich aufstanden, war ihnen schwindlig, und sie mussten sich noch einmal kurz setzen. Schließlich sagte Kismet: »Bring mich nach Hause, Tölpel.« An der Treppe zur Haustür boxte sie ihn auf den Arm und sagte: »Wach auf! Du bist noch ein Kind!«

Bev’s Bookery

Schimmel. Schrecken aller Bücher. Die Oktober waren jetzt feuchter und wärmer. Hugo machte sich an dem Lüftungssystem zu schaffen, das er für die Buchhandlung ausgetüftelt hatte. Gestern Abend hatte er sich wieder mit Kismet getroffen, diesmal am Rand eines Parkplatzes. Jetzt versuchte er, sich abzulenken. Er betrachtete den Entfeuchter und beschloss, dass es einfacher wäre, die Luft in einen durch eine Spule beheizten Bereich zu pumpen, wo sie sanft erwärmt und dann trockener, sauberer, sporenfrei wieder ausgeatmet wurde, ohne das Leeren der Wasserbehälter, die ständigen Reparaturen und Filterwechsel. Mütterlich bastelte er an seiner Erfindung herum. Die Regale wirkten frischer, musste er sagen. Keine aufgebogenen Buchcover mehr und keine Stockflecken in Bev’s Bookerys Beständen. Der ständige Kampf gegen den Schimmel ermüdete ihn. Oder das Problem war, dass die Routinearbeit ihn dazu brachte, seinen Gedanken und Gefühlen freien Lauf zu lassen, und dass er dieses ungehinderte Abdriften zu fürchten begonnen hatte …

Er setzte sich hinter den Tresen. Seine Zukunft zu planen half. Schwammig war sie, gallertartig. Aber er würde seine Pläne hegen, bis sie sich festigten – wie Götterspeise. Wackelig würden sie bleiben. Auf der anderen Seite des Romance-Regals stöberte eine Kundin herum. Es war Mary Sotovine, eine stämmige, muntere Putte und ein Mitglied des hiesigen Buchclubs. Er hatte keine Lust, mit ihr zu reden, aber wie immer nützte es nichts. Er beugte sich stirnrunzelnd über seine handgeschriebenen Listen. Zog eine Mauer der Konzentration um sich herum. Mary zertrümmerte sie wie üblich mit ihren machtvollen Cornball-Strahlen.

»Howdy Doody!«, grüßte sie.

Hugo hob langsam den Blick.

»Hallo, Mrs. Sotovine. Wie kann ich Ihnen helfen?«

»Du bist so höflich!«

Sie quiekte und gluckste. Ihre mahagonibraune, lockige Haarkrone, von einer riesigen blauen Plastikkralle in Position gehalten, bebte vor Entzücken. Er musste sie bedienen. Denn als dunkelhaarige Frau betrachtete er sie plötzlich als Angehörige einer spirituellen Frauenmeute, zu der seine große Liebe zählte. Seine Miene hellte sich auf. Er musterte Mary Sotovine nachdenklich und sagte: »Ich glaube, ich habe etwas für Sie. Ein Buch, das Ihnen gefallen könnte. Vielleicht wäre es was für den Buchclub.« Er zog ein tränenbenetztes Exemplar von Eat Pray Love aus dem Regal und hielt es ihr hin. Hugo hatte es gelesen, wie er alles las – es heruntergeschlungen. Sich in die Autorin hineinversetzt. Dieses Buch hatte in großer Finsternis zu ihm gesprochen, und er verneigte sich leicht, als er es ihr mit beiden Händen überreichte.

Mary las den Titel und sagte: »Wenn man jetzt noch Mord dazuschreibt, wäre es perfekt.« Sie las nur Romance-Bücher oder True Crime.

»Zur menschlichen Suche nach Liebe«, sagte Hugo, »passt die menschliche Suche nach Sinn. Vielleicht kann sie ja auch einen Mord aufklären. Hier. Das geht aufs Haus.«

Hugo ergänzte ein zerfleddertes Taschenbuch von Viktor Frankl und packte beide ein. Zärtlich faltete er die Tüte um das gebundene Buch mit Schutzumschlag und das ramponierte Ja zum Leben.

Die menschliche Suche nach dem Sinn im Kontext geologischer Zeiträume

Hugo stützte den Kopf in die Hände, die empfindlichen Ohren bedeckt, und starrte in die Tiefen der Zeit. In seinem Lehrbuch waren Äonen als Zeiträume von Milliarden von Jahren definiert, die wiederum mehrere Ären umfassten, die in Millionen gerechnet wurden. Da gab es das Paläozoikum, das Mesozoikum und das Känozoikum. Diese Begriffe stammten aus dem Griechischen und bezeichneten das alte, das mittlere und das neue Leben. Auch Perioden, wie der Jura oder das noch immer andauernde Quartär, umfassten Millionen von Jahren, Epochen und Zeitalter Tausende. Was bedeutet es angesichts all dessen, von Augenblick zu Augenblick zu leben, wie ich es tue? Jeder Moment, in dem ich nicht weiß, ob sie mich liebt, fühlt sich an wie ein Super-Äon, dachte Hugo. Wenn ich dann bei ihr bin, implodiert die Zeit. Kismet ist ein implodiertes Super-Äon. Hugo war ein schwülstiger Denker. In Kismets Gegenwart hört die Zeit auf zu existieren. Oder wir rasen in einem Geisterschiff des Verlangens von einer Epoche zur nächsten.

»Ich weiß es nicht«, sagte er laut. »Ich versuche das nur gerade klarzukriegen.«

Unter seinen Füßen waren Dielen, unter den Dielen ein Keller, aus einer dreißig Fuß tiefen Lage Mutterboden ausgehoben und mit Feldsteinen ummauert, mit Findlingen also. Gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts bemerkte ein Geologe namens Horace-Bénédict de Saussure Granitfelsen aus entfernten Regionen auf dem Kalkgestein hoch oben im Schweizer Jura. »Blocs erratiques« nannte er diese Funde nach dem lateinischen »erratus« – »wandernde Steine«. Bis heute bezeichnete man so Gesteinsbrocken, die von Gletschern zurückgelassen wurden.

Das ist mein Herz, dachte Hugo. Von urzeitlichen Kräften getrieben und hierher versetzt: ein einsamer Erratiker, ein Findling.

Hugo legte das Buch weg, weil die Tränen überliefen. Es war, als hätten sie sich in seinem Herzen angestaut angesichts von so viel Sinn und Bedeutung. Manchmal trennten Sedimente einen Teil eines Gletschers ab, umlagerten das Toteis und schlossen sich darüber. Bei ansteigenden Temperaturen wurde der Boden von innen von eisigen Tränen benetzt. Es entstanden temporäre Gewässer oder Eiszeitquellen. Davon hatte es viele gegeben, als das Land noch fürsorgliche Hüter hatte, als Dinosaurierknochen aus der Hell-Creek-Formation offen herumlagen und der Nil des Nordens, der Red River, trüb, aber rein war.

Jetzt pumpte man im Flusstal das Grundwasser leer, um für McDonald’s die perfekte Pommeskartoffel anzubauen. Heimlich sprudelnde Quellen gab es keine mehr.

Zwischen den Lanzen des Bogenhanfs und den klaffenden Herzen des Fensterblatts in der Auslage hindurch beobachtete Hugo den Verkehr. Früh am Tag hatte er Gary allein im Auto seiner Mutter vorüberfahren sehen. Später kam er aus der anderen Richtung mit Kismet wieder zurück. Wenigstens lachten sie nicht. Es gab keine sichtbaren Anzeichen von Freude. Kismet lächelte nicht mal, aber warum saß sie bei Gary Geist im Auto? Was machte sie mit Gary, nachdem sie gestern mit ihm zusammen gewesen war?

Erics Plan für eine Bella Notte

Viele Generationen war es her, dass die Pavleckys in der ersten Welle böhmischer Auswanderer vor der Einberufung in die Armee des österreichisch-ungarischen Kaisers geflohen waren. Sie arbeiteten noch immer in der Landwirtschaft, und manche besaßen noch immer Land. Das von Erics Eltern lag nah an dem der Geists, und da die Pavleckys keine Zuckerrüben anbauten, halfen Eric und seine Brüder nach dem Footballtraining bei der Erntekampagne aus, bedienten den Roder oder transportierten die Rüben von den Feldern zum Ablageplatz, solange das trockene Wetter anhielt. Doch eines Tages fuhr Eric im strömenden Regen zu den Feldern der Geists und erfuhr dort von Gary, dass Kismet den Verlobungsring nicht angenommen hatte.

»Und das, nachdem sie Ja gesagt hat. Kalte Füße vielleicht?«

»Könnte sein.«

»Wie kriege ich sie dazu, ihn doch noch anzunehmen?«

»Willst du meinen ehrlichen Rat hören?«

»Sicher.«

»Warte ab. Lass ihr Zeit. Tu einfach gar nichts.«

»Niemals.«

»Mein Gott, mach doch langsam! Du bist immer zu schnell, Mann, gehst immer direkt voll aufs Gas.«

Gary schwieg. Und schwieg eine ganze Weile.

Schließlich sagte Eric: »Vergiss das. War nicht wörtlich gemeint. Lass ihr einfach Zeit.«

»Wie viel denn?«

»Shit, was weiß ich! Stress halt nicht!«

»Ich meine, eine Woche? Zwei?«

»Ein Jahr, Gary. Warum so eilig?«

»Eric, sie ist die Einzige für mich.«

Gary sagte das im tiefen, dringenden, unerschütterlichen Ton der Wahrheit. Eric bekam Mitleid. Er fand Kismet ganz nett, oder vielleicht mochte er sie lieber, als er es sich eingestehen wollte, aber welche Macht sie plötzlich auf seinen Freund ausübte, gefiel ihm gar nicht, und ihr schien es auch nicht zu gefallen.

»Okay, Mann, hör zu. Führ sie zum Essen aus. Aber was Besonderes, mit Kerzen. Italiener? Fargo. Schenk ihr eine Rose, nur eine. Keinen Nelkenstrauß von der Tanke. Schau vorher im Restaurant vorbei. Sag denen, sie sollen extra für euch ein Dessert machen, eine Eisbombe oder so was, und gib ihnen einen Brief, den du wie eine Schriftrolle aufrollst. Die soll dann ins Dessert. Sag dazu, dass es nicht um einen Geburtstag geht, sondern um eine Verlobung. Dass du in dem Brief um ihre Hand anhältst. Dass du direkt am Tisch vor ihr in die Knie gehen möchtest. Wenn sie wollen, können sie zuschauen, wie sie den Brief liest, und, ach ja, gib ihnen dein RAZR mit angeschalteter Kamera, kurz bevor du loslegst. Den Ring hast du dabei, und wenn sie Ja sagt, steckst du ihn ihr an, und alle machen Fotos und so. Alle werden losheulen, Mann, garantiert.«

Eric hatte selbst einen kleinen Kloß im Hals. Er hatte sich die ganze Szene spontan ausgemalt. Als sähe er es mit eigenen Augen. Und er beneidete Gary. Eric war daran gewöhnt, dass Gary bestimmte Dinge kriegte, wie sein stylishes Handy, das er mit einer wichtigen Geste aufklappte, als würde er einen Anruf annehmen, der ihm Millionen von Dollars einbringt. Eric hatte sich an den Pick-up gewöhnt und die Partyscheune und den Großbildfernseher. Das alles würde nicht ungeschehen machen, was geschehen war. Aber Gary tat so, als würde eine Heirat genau das erreichen. Für Gary mochte das funktionieren. Aber für Eric nie, so sehr er es sich wünschte. Er verpasste den Abzweig.