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Im Widerstand gegen antirassistische Stereotype über indigene Gesellschaften und insbesondere gegen die Kolonisierung des Wallmapu – ihres historischen Territoriums im Süden des heutigen Chiles und Argentiniens – wehren sich die Mapuche schon lange erfolgreich gegen die Vereinnahmung von außen. Sie weben Allianzen mit zahlreichen nicht-indigenen Organisationen und Einzelpersonen und führen ihren Kampf um Autonomie auch auf internationaler Bühne. Sebastian Garbe nimmt dieses weitgespannte Netzwerk zum Anlass, um die Möglichkeiten und Grenzen von Solidarität auszuloten – nicht nur im aktuellen Kampf um die Dekolonisierung des Wallmapu. Er analysiert die Transnationalisierung des Widerstands der Mapuche und die damit einhergehenden gegenwärtigen Praktiken internationaler Solidarität, führt dabei vielfältige historische Beispiele für Solidarität zwischen Europa und Lateinamerika an und entwickelt theoretische Werkzeuge und methodische Zugänge, die helfen können zu verstehen, was Solidarität eigentlich ist und meint.
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Seitenzahl: 297
Veröffentlichungsjahr: 2024
Für Macarena Valdés und Rubén Collío
Sebastian Garbe ist promovierter Soziologe und arbeitet zu post- und dekolonialer Theorie, sozialen Bewegungen und antikolonialem Widerstand. Er ist u.a. Herausgeber der im Unrast Verlag erschienen Titel Kolonialität der Macht (2013) und Ch’ixinakax utxiwa – Eine Reflexion über Praktiken und Diskurse der Dekolonisierung (2018).
Sebastian Garbe
Solidarität mit Wallmapu
Der transnationale Widerstand der Mapuche
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar
Sebastian Garbe:
Solidarität mit Wallmapu
(Studien zur globalen Gerechtigkeit, Band 11)
1. Auflage, März 2024
eBook UNRAST Verlag, April 2024
ISBN 978-3-95405-193-9
© UNRAST Verlag, Münster
www.unrast-verlag.de | [email protected]
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Umschlag: Su Rivas
Satz: Andreas Hollender, Köln
Vorwort und Danksagung
– Kapitel 1Einleitung: Still Loving Solidarity?
– Kapitel 2Eine kurze Geschichte der (internationalen) Solidarität
– Kapitel 3Ein kurze Geschichte der Mapuche Autonomie
– Kapitel 4Menschen- und Indigenenrechtsverletzungen in Wallmapu
– Kapitel 5Wallmapu transnational
– Kapitel 6Internationale Solidarität weben
– Kapitel 7Informationspolitik und digitaler Aktivismus
– Kapitel 8Translokale Protestformen
– Kapitel 9Ökonomische Solidarität
– Kapitel 10Im Dialog sein
– Kapitel 11Privilegien in der Solidaritätsarbeit
– Kapitel 12Vom linken Internationalismus zu einem ökologischen Kosmopolitismus von unten
– Kapitel 13Eine Kritik des Maputhusiasmus
– Kapitel 14Praktiken und Begegnungen in Solidarität
– Kapitel 15Schlussfolgerung: Verwebende Solidarität
– Kapitel 16Epilog: Eine Rekonstitution anstatt einer neuen Verfassung
Literatur
Anhang
Anmerkungen
Das 50-jährige Gedenken an den Militärputsch gegen den Präsidenten Chiles, Salvador Allende, im Jahr 1973 stellt eine besondere Herausforderung für das vorliegende Buch dar: So erinnert uns dieser Jahrestag nicht nur daran, dass ein demokratischer Sozialismus historisch möglich ist, sondern auch, dass seine Gegner*innen bis zum Äußersten gehen, um ihn zu verhindern. Gleichzeitig erinnert dieser Jahrestag auch an die darauffolgenden Jahre und Jahrzehnte solidarischer Vernetzung zwischen Südamerika und Europa. In den letzten Jahren schien sich die Geschichte zunächst zu wiederholen, als das Land mit dem sozialen Aufstand von 2019, dem estallido social, erneut im Zentrum der internationalen Aufmerksamkeit stand und weltweit die Hoffnung auf einen demokratischen und sozial gerechten Wandel nährte. Im Anschluss stimmte eine überwältigende Mehrheit in einem auf den sozialen Aufstand folgenden Plebiszit im Oktober 2020 für einen Verfassungskonvent, in den im Mai 2021 eine beeindruckende große Zahl unabhängiger, progressiver, indigener und linksgerichteter Kandidat*innen gewählt wurde. Der historische Wandel schien seinen Lauf zu nehmen, als der linksorientierte Gabriel Boric schließlich im Dezember 2021 zum Präsidenten gewählt wurde und nicht wenige fühlten sich an den sozialistischen Aufbruch unter Salvador Allende zwischen 1970 und 1973 erinnert. Doch auf die überraschende Ablehnung des vom Konvent entworfenen Verfassungstextes im September 2022 folgte eine weitere Enttäuschung, als sich die Regierung Boric weit weniger progressiv als erwartet herausstellte. In Gedenken an Salvador Allende darf 50 Jahre nach dem Putsch daher gefragt werden, wie viel von der unter seiner Regierung entfachten Hoffnung noch übrig und zu welchem sozialen und politischen Wandel das Land vier Jahre nach dem estallido noch fähig ist.
Das vorliegende Buch möchte jedoch den Blick auf einen Zusammenhang richten, der unter Anbetracht dieses historischen Erbes und unter der aktuellen politischen Konjunktur leicht aus dem Bilde fallen könnte: der historische und aktuelle Kampf der Mapuche in Wallmapu[1] um Autonomie und Selbstbestimmung, der durch internationale Allianzen und solidarischen Aktivismus über den lokalen Kontext Chiles hinaus geführt wird. Ob und inwiefern die Entwicklungen in Chile seit 2019 einen tiefgreifenden politischen und wirtschaftlichen Wandel im Land angestoßen haben, der auch positive Effekte auf die Beziehungen zwischen chilenischem Staat und Gesellschaft auf der einen und der Mapuche Gesellschaft auf der anderen Seite haben, wird versucht in einem Epilog zu beantworten. Dabei gehe ich davon aus, dass ein Blick auf Wallmapu helfen kann, die Grenzen und Möglichkeiten eines generellen sozialen, politischen und kulturellen Wandels in Chile zu beleuchten. Den Schwerpunkt des Buches bilden jedoch die vielfältigen solidarischen Beziehungen zwischen Wallmapu und Europa, welche allen voran von den Mapuche selbst und in Unterstützung durch nicht-indigene Akteur*innen gewebt werden.
Bevor die Suche nach Solidarität mit Wallmapu auf den folgenden Seiten beginnt, sind jedoch einige formale Bemerkungen erforderlich: Zitate aus ethnographischen Interviews mit den meisten Gesprächspartner*innen sind anonymisiert. Um den Lesefluss nicht zu stören, werden Zitate aus diesen Interviews daher teilweise ohne Quellenangabe aufgeführt. Einige Interviewpartner*innen werden mit vollem Namen genannt, weil sie entweder eine öffentliche Rolle als politische oder kulturelle Repräsentant*innen innehaben oder weil sie einen wichtigen Beitrag zu internationalen Solidaritätsbemühungen geleistet haben. Im Anhang findet sich eine genaue Auflistung der im Folgenden zitierten Interviews. Darin enthalten sind zudem Glossare der häufigsten Abkürzungen und der in Mapuzugun, der Sprache der Mapuche, verwendeten Wörter. Als Hinweise auf Ort und Sprache werden Wallmapu und Mapuzugun weiterhin großgeschrieben. Alle anderen Begriffe in anderen Sprachen als dem Deutschen, darunter auch Mapuzugun, werden nach ihren eigenen Rechtschreibregeln und in Kursivschrift verwendet. Soweit möglich, werden die Begriffe in Mapuzugun nach dem von Raguileo Lincopil vorgeschlagenen Mapuche-Alphabet geschrieben (Berreta, Cañumil und Cañumil 2008).
Dieses Buch ist das Produkt zahlreicher inspirierender, kämpferischer und herausfordernder Begegnungen zwischen Europa und Lateinamerika und ist daher aus Solidarität entstanden, um Solidarität zu verstehen.
Allen voran möchte ich mich bei Alex Mora und Alina Rodenkirchen aus der Mapuche-Regionalgruppe in Köln für ihr Vertrauen, Unterstützung und Offenheit sowie beim Team der Göttinger Zentrale der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV), allen voran Yvonne Bangert, bedanken. Die Erkenntnisse der folgenden Seiten gehen zurück auf die zahlreichen Begegnungen mit Mapuche und nicht-Mapuche-Aktivist*innen in Europa, insbesondere Llanquiray Painemal, Andrea Cotrena, Rafael, María und Rosario Railaf, Alex Hespe, Ronja und Adriane Lavieri – ihr alle habt zu diesem Buch mit eurem Wissen und eurer solidarischen Zuwendung beigetragen. Ich möchte Britt Weyde von der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn und dem Team des Informationsbüros Nicaragua für ihre freundliche und großzügige Unterstützung meiner Archivarbeit danken. Der Unrepresented Nations and Peoples Organisation (UNPO) und Adveniat danke ich für ihre Einblicke und die Bereitstellung ihrer Kontakte. Und natürlich danke ich all den engagierten Aktivisten der Lateinamerika-Solidarität in ganz Europa, denen ich in den letzten Jahren begegnet bin.
Die Forschungsarbeit in Chile wäre nicht möglich gewesen ohne die Unterstützung meiner Freund*innen, compañeras und compañeros, Anna Piquard und Rayen Kvyeh, Vicente Painel und Jorge Huichalaf, Iris Mora und Familie, Gastón Manquecoy, Rubén Collío und Familie, Godofredo Cotrena, Ingrid Conejeros, Jaime und Griselda Huenchullán und Familie, Eric Catrileo und Familie, Fernando Díaz, Juan Fuenzálida, Luis Rodríguez Tupper und sein Team, Victor Carilaf, José Luis Calfucura, Pablo Calfuqueo und die gesamte Gemeinde Llaguepulli, Manuel und Ceferino Painiqueo und ihre Familien, Isabel Cañet, und Ingrid Wehr und ihr Team sowie meine chilenische Familie Cárcamo Calderón.
Ursprünglich als Doktorarbeit an der Justus-Liebig-Universität Gießen verfasst, möchte ich mich bei meinen beiden Betreuer*innen, Encarnación Gutiérrez Rodríguez und Olaf Kaltmeier für ihre kritische und ermutigende Begleitung bedanken, sowie bei meinen ehemaligen Kolleg*innen und Studierenden an der Justus-Liebig-Universität Gießen und dem International Graduate Centre for the Study of Culture (GCSC) für die finanzielle und logistische Unterstützung für meine Forschung. Der beständige kritische und kollegiale Austausch innerhalb meiner wissenschaftlichen und aktivistischen Netzwerke ist für diese Arbeit fundamental gewesen: Dazu gehören die Kolleg*innen der University of the West Indies/St. Augustine, der Forschungsverbund Lateinamerika der Universität Wien, insbesondere Tobias Boos und René Kuppe, das Decolonising Development Netzwerk, das Convivial Thinking Collective, die Fachgesellschaft für rassismuskritische, postkoloniale und dekoloniale Theorie und Praxis FG DeKolonial e.V., das Forschungsnetzwerk DFG Reconstructing Interdependencies – Postcolonial and Postsocialist Relations in the Framework of Cross-Border Interactions, frankfurt postkolonial, und das Decolonize! Netzwerk. Insbesondere möchte ich mich bei meinen lieben Kolleg*innen an der Hochschule Fulda, Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften, sowie am Fulda Graduate Centre for Social Science und Promotionskolleg Human Rights & Social Justice bedanken. Besonders erwähnten möchte ich dabei Eva Gerharz, Christina Kurdum, und Katharina Juszczak für die wunderbare Zusammenarbeit und kollegiale Unterstützung. Ein ganz besonderer Dank geht an Johann Erdmann für die Übersetzung des ersten Manuskriptes, Katharina Juszczak für die Unterstützung in der Formatierung und Thomas Billstein vom Unrast Verlag für die angenehme und unkomplizierte Zusammenarbeit. Schließlich möchte ich mich bei meiner Familie und Freund*innen, insbesondere meinen lateinamerikanischen Freund*innen zwischen Anden und Alpen sowie dem gesamten Fuchsbau bedanken. Der abschließende Dank gilt meiner Partnerin Johanna Roos für ihre liebevolle, zuversichtliche und geduldige Begleitung während dem Schreiben dieses Buches.
Während die Kämpfe um Dekolonisierung für die Menschen im Globalen Norden eher abstrakt und weit entfernt scheinen, sind sie in den Gesellschaften des Globalen Südens ein wichtiger Bestandteil des Alltags. Vor allem indigene Gesellschaften leben weiterhin unter kolonialen Verhältnissen in formal unabhängigen Nationalstaaten.[2] Neben vielen anderen indigenen Gruppen sind die Mapuche im heutigen Chile und Argentinien wichtige Protagonisten in den Kämpfen um Dekolonisierung in Lateinamerika. In Chile bezeichnen sich laut der letzten Volkszählung (Instituto Nacional de Estadísticas 2017: 16), etwa 10 % der Bevölkerung als Mapuche, aber neuere Studien zeigen, dass sich heute immer mehr Menschen im Land als Indigene identifizieren (CIIR 2020: 9). Vor allem seit der formalen Rückkehr zur Demokratie in Chile 1990 ist der Kampf der Mapuche für die Dekolonisierung ihrer Territorien, für politische Autonomie und ökologische Gerechtigkeit sowie gegen staatliche Repressionen und Verfolgung national und international immer stärker in den Vordergrund getreten. Gleichzeitig hat ihr Kampf internationale Unterstützung und Solidarität von nicht-indigenen Akteur*innen und Organisationen aus der ganzen Welt, insbesondere von chilenischen Exilant*innen und der Mapuche-Diaspora[3], erhalten.
Die Ende 2019 in Chile begonnene soziale Revolte hat das Land in jüngster Zeit erneut ins internationale Rampenlicht gerückt. Im Zuge dieser Proteste und den darauffolgenden Entwicklungen, die zur Wahl eines Verfassungskonvents im Jahr 2021, der Wahl einer linksgerichteten Regierung unter Gabriel Boric und der überraschenden Ablehnung einer emanzipatorischen, feministischen und ökologischen Verfassung führten, erhielten auch die Forderungen und die Situation der Mapuche-Gesellschaft mehr Aufmerksamkeit. So trug beispielsweise das ikonische Foto der größten Demonstration vom 25. Oktober 2019, wahrscheinlich die größte in der Geschichte des Landes, statt der chilenischen, die wenufoye[4], die Nationalflagge der Mapuche, in ihrer Mitte.
Diese Proteste und die soziale Revolte in Chile sind eine regionale Antwort auf global geteilte Krisenkonstellationen in unseren Gesellschaften. Innerhalb dieser Konjunktur und insbesondere seit dem Ausbruch der COVID-19-Pandemie und des russischen Überfalls auf die Ukraine scheinen sich alle darüber einig zu sein, dass wir mehr Solidarität brauchen. Diese scheinbar einfache Lösung ist jedoch so weit gefasst, dass sie widersprüchliche und konkurrierende Weltanschauungen, Überzeugungen und eine Vielzahl sozialer Praktiken und politischer Strategien umfassen kann. Es gibt keinen Konsens darüber, was Solidarität eigentlich ist – weder im öffentlichen, politischen noch im wissenschaftlichen Diskurs. Gleichzeitig verdient etwas über das sich alle einig sind, unseren berechtigten Zweifel. Denn wie jede soziale Praxis und politische Forderung ist auch die Solidarität nicht unumstritten oder unschuldig, sondern widersprüchlich und umkämpft. Vielmehr wirken unterschiedliche politische Überzeugungen und Ideologien, erkenntnistheoretische und kosmologische Perspektiven, ethische und moralische Rahmenbedingungen sowie soziale Strukturen innerhalb – und nicht außerhalb – dessen, was wir Solidarität nennen. Kurz gesagt, Solidarität ist genauso umstritten wie alle anderen sozialen Praktiken und Diskurse auch. Während die vielfältigen Krisen unserer heutigen Gesellschaften[5] mehr Solidarität verlangen, ist der Rahmen, wie wir Solidarität wahrnehmen, nicht nur verkompliziert, sondern auch vermachtet und hierarchisiert: So sind im Zuge der Proteste gegen das europäische Grenzregime weiße[6] Unterstützende öffentlich meist sichtbarer als geflüchtete Aktivist*innen; Geflüchtete aus der Ukraine werden an der Grenze zur EU nach Hautfarbe selektiert, während die Flucht aus anderen Kriegsregionen nach Europa fast verunmöglicht wird; und während der COVID-19 Pandemie wird vermeintliche Solidarität mit Gesundheitsarbeiter*innen durch Klatschen auf den Balkonen zelebriert, während die Gesundheitssysteme kaputtgespart und Konzerne durch staatliche Hilfen gerettet werden. Warum erhält also das Engagement oder der Aktivismus von gewissen Personen oder Gruppen so viel Prominenz? Wessen Geschichten erzählen wir, wenn wir Solidarität einfordern? Wer kann sich entscheiden, solidarisch zu sein und sind manche Gruppen aufgrund ihrer Vulnerabilität dazu verpflichtet? Und bedeutet das kritische Hinterfragen von Praktiken, die als solidarisch bezeichnet werden, eine Entsolidarisierung?[7]
Der Schnappschuss der chilenischen Schauspielerin Susana Hidalgo vom 25.10.2019 wurde zum Symbol der landesweiten Proteste für ein plurinationales und interkulturelles Chile. Mauricio Lepin Aniñir aus der Mapuche Gemeinde Pelantaro im Süden Chiles hält auf dem Bild die Mapuche-Flagge wenufoye in die Höhe. Die zahlreichen Verletzungen auf seinem Rücken durch Gummigeschosse zeugen von der schweren Repression während dieser Wochen.
All diese Fragen verweisen darauf, wie Solidarität durch ungleiche Handlungsmacht, Privilegien, Verletzlichkeiten und Sichtbarkeiten beeinträchtigt wird und dadurch umkämpft ist. Dieses Buch geht davon aus, dass dies alle Fälle ›externer‹ Solidarität oder Solidarität mit anderen – eine Art von Solidarität, bei der die Gruppe, die sich solidarisch verhält, nicht von denselben Mechanismen der Ausgrenzung oder Diskriminierung betroffen ist wie die Gruppe, auf die sich die Solidarität richtet – betrifft. Viele zeitgenössische Bewegungen für soziale Gerechtigkeit – ob sie nun antirassistisch, feministisch oder dekolonial sind – kämpfen gegen diese Mechanismen der Diskriminierung, Unterdrückung, Verfolgung, Verletzung usw. auf der Grundlage ihrer gemeinsamen Verwundbarkeit. Gibt es also einen Horizont für die Solidarität zwischen Gruppen, die diese Verwundbarkeit nicht teilen und darüber hinaus ungleichen Zugang zu Ressourcen und Privilegien haben? Und wenn es einen Horizont gibt, wie sieht er in der Praxis aus? Welche Möglichkeiten der Solidarität gibt es für einen weißen US-amerikanischen Bürger mit der #blacklivesmatter-Bewegung und wo sind ihre Grenzen? Was bedeutet es, die sogenannte Willkommenskultur in Deutschland nach 2015 nicht nur zu proklamieren, sondern auch in die Praxis umzusetzen? Sind symbolische und öffentliche Handlungen, wie das Applaudieren für die Beschäftigten im Gesundheitswesen auf unseren Balkonen in den ersten Monaten der COVID-19-Panik wirklich Ausdruck von Solidarität? Was ist eine Position der Solidarität für cis-Männer in feministischen Kämpfen wie #metoo und #niunamenos? Was bedeutet es für weiße Menschen, für Dekolonisierung einzutreten, und welche Art von Aktionen verlangt eine solche Absicht?
Dieses Buch stellt den gegenwärtigen transnationalen Solidaritätsaktivismus der Mapuche und mit den Mapuche als einen internationalen Kampf um Solidarität mit Wallmapu vor und diskutiert dabei die Grenzen und Möglichkeiten der Solidarität zwischen Gruppen, die nicht die gleiche Betroffenheit aufweisen. Bei diesen beiden Gruppen handelt es sich einerseits um indigene Mapuche und ihre Gemeinden, Organisationen und Diaspora in Europa und andererseits um nicht-indigene, meist weiße europäische Akteure und Organisationen, die ihre Solidarität mit den Mapuche bekunden und ihre Unterstützung auf vielfältige Weise anbieten. Doch wer genau sind die Akteure und Protagonist*innen dieser Solidaritätsbemühungen, welche Handlungsfähigkeit haben sie und wessen Handlungen werden (un-)sichtbar gemacht? Und werden diese Solidaritätsbemühungen in Europa gemeinsam oder unabhängig von den Mapuche in Wallmapu koordiniert? Gleichzeitig ist es interessant zu fragen, welche Art von Solidaritätsaktionen diese verschiedenen Akteur*innen durchführen und ob und wie sie die Mapuche in Wallmapu tatsächlich unterstützen. Haben sich diese Aktionen im Laufe der Zeit verändert? Wenn wir davon ausgehen, dass die Kämpfe für Dekolonisierung für die Menschen im Globalen Norden eher abstrakt und weit entfernt sind, wäre es von weiterem Interesse zu untersuchen, wie nicht-Mapuche-Akteur*innen ihre Beteiligung an Solidarität und Lobbyarbeit selbst wahrnehmen. Welche Beziehung haben sie zu den Mapuche und was sind ihre politischen Überzeugungen? Welche Rolle spielen koloniale Stereotype in den Beziehungen zwischen Mapuche und nicht-Mapuche und wie wird damit umgegangen? Wenn schließlich viele zeitgenössischen Aufrufe zur Solidarität als leere Phrasen kritisiert werden, was bedeutet dann Solidarität für die beteiligten Akteur*innen in der gelebten politischen Praxis? Und welche Art von Beziehungen bauen diese untereinander auf? Verändern die Begegnungen in Solidarität diese Beziehungen?
Das Wallmapu erstreckte sich im 16. Jahrhundert während der Kolonisierung der Amerikas über weite Teile des heutigen Chiles und Argentiniens. Auf der chilenischen Seite reichte das Gulumapu vom Fluss Copiapó im Norden bis zur Insel Chiloé im Süden. Auf der argentinischen Seite in Ost-West Ausdehnung von Mendoza bis nach Buenos Aires im Norden und bis in die südlichen Provinzen von Neuquén und Chubut. In dieser Abbildung ist das ehemalige Territorium des Wallmapu vom 16. Jahrhundert auf die heutige politische Karte des südlichen Südamerikas projiziert (eigene Abbildung).
Dies sind einige der Fragen, die in dem vorliegenden Buch auf der Grundlage einer aktivistischen Ethnografie, die ich zwischen 2014 und 2018 durchgeführt habe, diskutiert werden (Garbe 2022). In diesem Zeitraum habe ich selbst an Mapuche-Solidaritätsveranstaltungen in Europa teilgenommen und 17 leitfadenorientierte Interviews mit Mapuche und nicht-Mapuche Akteur*innen aus der Solidaritätsszene geführt. Auf zwei Reisen nach Chile habe ich mit insgesamt 33 Gesprächspartner*innen die internationalen Solidaritätsbeziehungen mit Europa kritisch diskutiert und mich selbst als Menschenrechtsbeobachter vor Ort engagiert. Dadurch betrat ich multiple und verwobene Beobachtungs- und Teilnahmeräume internationaler Solidarität. Gerade dies ist der Vorteil ethnografischer Vorgehensweisen im Gegensatz zu anderen empirischen Methoden. Dabei interessierten mich vor allem die Grenzen und Möglichkeiten von Solidarität zwischen diesen Gruppen (Mapuche und nicht-Mapuche) vor dem Hintergrund der rassifizierten, geschlechtsspezifischen und kolonialen Hierarchien und Unterschiede zwischen ihnen. Daher werde ich Solidarität nicht in abstrakten Begriffen diskutieren, sondern mich auf ihre konkreten sozialen und politischen Ausdrucksformen beziehen, die ich während dieser Forschung beobachten konnte. Dabei folgte ich einem methodologischen Ansatz, den ich als Ethnografie in und über Solidarität bezeichne[8]: ›in Solidarität‹ beschreibt mein politisches Engagement innerhalb des Solidaritätsnetzwerkes, u.a. als Menschenrechtsbeobachter. Das konstante Reflektieren und Hinterfragen meiner Rolle als nicht-indigener Unterstützer eröffnete mir dadurch neue Verständnisräume meiner Forschungsfrage. Dies verlangt gleichermaßen eine sensible Balance mit kritikfähiger Distanz. Darauf verweist ›über Solidarität‹ und bezeichnet die Ethnografisierung eines bestimmten sozio-politischen und kulturellen Phänomens. Das sind in diesem Falle die vielfältigen Formen, Begegnungen, Verständnisse und Praktiken von (internationaler) Solidarität zwischen den Mapuche und nicht-indigenen Unterstützenden. Diese Ethnografie mit mehreren Standorten, Netzwerken und Engagements beinhaltete meine aktive Teilnahme an Solidaritätsnetzwerken, die es mir ermöglichten, Akteur*innen, Orte und Prozesse der Solidarität zwischen Europa und Chile zu begleiten und miteinander ins Gespräch zu bringen. Ein weiteres Schlüsselelement dieses Ansatzes ist die Idee einer »ethnografischen Übersetzung«, die einen kritischen Austausch verschiedener Wissensbestände und -traditionen ermöglichen soll, ohne deren Unterschiede und die dazwischen existierenden Hierarchien zu leugnen (Casa-Cortés, Osterweil, and Powell 2013; Gutiérrez Rodríguez 2010a).
Auf dieser Grundlage stellt dieses Buch verschiedene, aber komplementäre Bereiche der Solidarität mit Wallmapu vor: Zunächst schlägt das zweite Kapitel eine kurze Geschichte internationaler Solidarität als Nord-Süd Verhältnis vor, das vor allem im 20. Jahrhundert eine zentrale politische Praxis internationalistischer Politik wurde. Der gegenwärtige Solidaritätsaktivismus mit Wallmapu basiert allerdings, wie Kapitel 3 argumentiert, auf einem historisch, intellektuell und politisch begründeten Autonomieverständnis der Mapuche. Kapitel 4 führt im Anschluss den Kontext der Menschenrechtsverletzungen, insbesondere der indigenen Rechte, in Wallmapu ein, auf welche die transnationalen Allianzen und Solidaritätsaktionen reagieren. Durch diese Allianzen wird der Kampf und der Widerstand der Mapuche in Wallmapu transnationalisiert (Kapitel 5) und vielfältige internationale Solidaritätsbeziehungen über Wallmapu hinaus gewebt (Kapitel 6). Anschließend werden verschiedene internationale Solidarisierungsstrategien vorgestellt: dazu gehören die Informationspolitik und der digitale Aktivismus der Mapuche (Kapitel 7), translokale Protestformen (Kapitel 8), ökonomische Formen der Solidarität (Kapitel 9) und die Bemühungen der Mapuche, über solidarische Beziehungen im Dialog mit anderen Akteur*innen zu sein (Kapitel 10). Daran anschließend richtet sich der Blick auf die sich solidarisierenden, nicht-indigenen Akteur*innen: Zunächst wird es darum gehen, wie deren Privilegien innerhalb der Solidaritätsarbeit wahrgenommen und verhandelt werden (Kapitel 11) und mit welchen politischen Überzeugungen sie ihren Aktivismus und Solidarität begründen (Kapitel 12). Schließlich werden auch die kolonialen Stereotype gegenüber indigenen Gesellschaften, welche diese Akteur*innen in die Solidaritätsarbeit hineinbringen, kritisch diskutiert (Kapitel 13). Das letzte Kapitel widmet sich schließlich den zwischenmenschlichen und persönlichen Begegnungen in Solidarität zwischen Mapuche und nicht-Mapuche, wodurch ein kritisches Verständnis von Solidarität in Dialog mit Perspektiven der Mapuche entworfen wird (Kapitel 14). In der Schlussfolgerung (Kapitel 15) wird dieses kritische Verständnis von Solidarität schließlich mit dem Konzept der ›verwebenden Solidarität‹ zusammengefasst und der Epilog (Kapitel 16) diskutiert die Bedeutung der gegenwärtigen Entwicklungen in Chile seit 2019 für die Mapuche Gesellschaft.
Anhand dieser Struktur möchte dieses Buch einerseits den vielfältigen Formen und Strategien internationaler Solidarität mit Wallmapu zwischen 2010 und 2020 vorstellen und andererseits die darin begründeten Solidaritätsbeziehungen zwischen den einzelnen Akteur*innen differenztheoretisch und differenzkritisch diskutieren. Gerade der letzte Aspekt ist für ein kritisches und aktualisiertes Verständnis von Solidarität über Grenzen hinweg fundamental. Ursprünglich war ich davon ausgegangen, dass Solidarität mit den Mapuche in Europa in erster Linie von nicht-indigenen Akteur*innen und Organisationen ausgeübt wird. Ganz im Gegenteil, fand ich mich zu Beginn meiner Forschung in einem Szenario vor, in dem (diasporische) Mapuche-Akteur*innen und Organisationen eine bedeutende Rolle spielten und das Solidaritätsnetzwerk, seine Aktionen und Ziele formte und gestaltete. Das bedeutet, dass internationale Solidarität mit den Mapuche in erster Linie eine Art von Solidarität ist, die von Mapuche-Akteur*innen selbst ausgeübt und anschließend von einer Vielzahl verschiedener nicht-Mapuche-Akteur*innen und Organisationen unterstützt wird. In diesem Buch wird Solidarität daher einerseits als Beziehung, Begegnung und zwischenmenschliche Erfahrung zwischen Mapuche und nicht-Mapuche (europäischen wie chilenischen) betrachtet; andererseits wird Solidarität hier zugleich als ein dichtes Feld transnationaler Allianzen, Menschenrechts- und Lobbyarbeit zur Unterstützung des Kampfes der Mapuche in Chile verstanden, in dem all diese Akteur*innen mit unterschiedlichen Positionen, Privilegien, Ressourcen, Motivationen und Zielen teilnehmen.
Als Ergebnis schlägt dieses Buch ein empirisch und theoretisch fundiertes sowie kritisches Verständnis von (internationaler) Solidarität vor, welche die beteiligten Akteur*innen trotz ihrer Unterschiede miteinander in Verbindung setzt und ihre Beziehungen unter Berücksichtigung ihrer historisch und strukturell heterogenen soziokulturellen und politischen Erfahrungen transformiert. Solidarität als transformative und kreative Beziehung ist somit offen und ohne Garantien, hat aber das Potenzial, Beziehungen zu schaffen, die auf Gegenseitigkeit und Horizontalität beruhen. Wenn diese Beziehungen in enger Interaktion und langfristig aufrechterhalten werden, erzeugen sie neue und heterogene soziale Beziehungen unter den beteiligten Akteuren, welche das politische Verhältnis im Aktivismus übersteigt. Als Diskussionsbeitrag zu den gegenwärtigen Debatten und Suchen nach internationaler Solidarität möchte das Buch dadurch nicht nur Licht auf die zeitgenössischen politischen und sozialen Ausdrucksformen der Solidarität zwischen Mapuche und nicht-Mapuche werfen, sondern auch auf andere Fälle von Solidarität zwischen ungleich situierten Gruppen inspirieren. Damit sollen einerseits die Erfahrungen und Kämpfe der Mapuche um internationale Solidarität für andere Kontexte nutzbar gemacht und andererseits antirassistische und dekoloniale Diskussionen über Solidarität mit einer empirisch fundierten Fallstudie bereichert werden. Auf diese Weise soll Solidarität als ein entscheidendes und dringend benötigtes Instrument für heutige Kämpfe um soziale Gerechtigkeit in Zeiten multipler Krisen und für gerechtere und dekolonisierte Formen der Vergemeinschaftung und Konvivialität (Gutiérrez Rodríguez 2015) aktualisiert werden.
Ein Anliegen dieses Buches ist es, ein Verständnis von Solidarität auf Grundlage seiner historischen Genese zu aktualisieren. Allgemeine Definitionen von Solidarität gehen von der Grundannahme aus, dass Solidarität stets ein bestimmtes Maß an Kohäsion zwischen Gruppenmitgliedern mit bestimmten normativen Zielen hat (Bayertz 1998: 11–12). So vermittelt Solidarität zwischen der Gemeinschaft und dem Einzelnen, ist dadurch eine Form der Vergemeinschaftung und bringt positive moralische Verpflichtungen mit sich (Scholz 2008: 18–19). Eine breit akzeptierte konzeptionelle Differenzierung der unterschiedlichen Dimensionen von Solidarität (Laitinen und Pessi 2015; Scholz 2008), der ich hier ebenfalls folge, wurde von Kurt Bayertz (1998) vorgeschlagen und differenziert Solidarität als a) eine moralische und universelle Idee, b) bürgerliche Verpflichtungen, staatliche Verantwortung und Fürsorge innerhalb des modernen Nationalstaates, c) einen Begriff, der soziale und gemeinschaftliche Bindungen beschreibt und schließlich d) politische Solidarität im Kampf für soziale Gerechtigkeit betrachtet. Im Verlauf des Buches werde ich mich vor allem auf die soziale und politische Dimension von Solidarität beziehen.
Die politische Dimension verweist bereits auf ein Verständnis von Solidarität, das internationale oder intranationale Allianzen innerhalb politischen und soziokulturellen Kämpfen beinhalten kann (Süß und Woyke 2021) und Verbindungen zwischen Akteur*innen schafft, die im Einsatz für ein bestimmtes Ziel und meist gegen einen politischen Antagonisten entsteht. (Bayertz 1998; Scholz 2008). Ein solches Verständnis von Solidarität beschreibt in der Regel die Erfahrungen internationaler oder innerstaatlicher Bündnisse unter und zwischen Kollektiven, die eine bestimmte politische Ideologie oder Klassenposition teilen. Dennoch haben sich nur wenige Studien darauf konzentriert, was mit solchen politischen Solidaritäten geschieht, wenn die beteiligten Akteur*innen und Gruppen nicht den gleichen Hintergrund, die gleiche Verletzlichkeit, Privilegien und den gleichen Zugang zu Ressourcen haben.[9] Dies wirft die Frage auf, wie mit Unterschieden innerhalb von solidarischen Kämpfen umgegangen werden kann. Das Fallbeispiel der Solidarität mit Wallmapu soll nicht nur einen Beitrag zu den Diskussionen über die Grenzen und Möglichkeiten von Solidarität über Unterschiede hinweg leisten, sondern auch zeigen, dass solidarische Beziehungen nicht nur politische, sondern auch soziale Verhältnisse zwischen den Akteur*innen begründen (siehe Kapitel 14).
Eine grafische Darstellung der von Kurt Bayertz (1998a) vorgeschlagen Differenzierung in a) universelle Solidarität der gesamten Menschheit (links oben), c) staatlich oder institutionell vermittelte Solidarität (rechts oben), c) vergemeinschaftende oder soziale Solidarität (links unten), und schließlich d) politische oder kämpferische Solidarität (rechts unten).
Dennoch haben einige Autor*innen verschiedene historische Ausdrucksformen von Solidarität und politischen Allianzen in den letzten Jahrhunderten zwischen Gruppen und Akteur*innen jenseits derer Unterschiede ausführlich beschrieben. Dazu gehörten rassifizierte, koloniale oder ethnische Differenzen oder auch Unterschiede aufgrund einer anderen Staatsbürgerschaft oder Klassenzugehörigkeit (Conway, Dufour und Mason 2021; Featherstone 2012; Gandhi 2006; Linebaugh und Rediker 2013;). Die Unterschiede innerhalb von Solidaritätsbeziehungen in den Blick zu nehmen, trägt dazu bei, die Handlungsfähigkeit derjenigen Gruppen zu würdigen, welche die eigentlichen politischen Protagonist*innen in einem gemeinsamen Kampf sind, aber eben oftmals zum Schweigen gebracht oder vergessen wurden – zum Beispiel diejenigen, die in den 1960er-Jahren an den Studierendenprotesten in Westdeutschland teilnahmen (Seibert 2008; Slobodian 2012). Diese Beispiele bringen nicht nur Akteur*innen, die zum Schweigen gebrachten und vergessenen wurden, in das Archiv historischer Solidaritätserfahrungen ein, sondern bereichern auch die Debatte, indem sie unterschiedliche Organisationsformen und Praktiken der Solidarität sowie politische Analysen aus einer anderen Perspektive oder andere Schwerpunkte der Kämpfe mit einbeziehen. Der Bereich der Solidarität mit Wallmapu möchte auch zeigen, wie Mapuche-Akteur*innen selbst die Protagonist*innen der Transnationalisierung ihres Kampfes sind und das internationale Solidaritätsnetzwerk durch ihre Ideen und Konzepte prägen (siehe Kapitel 3). Die eben erwähnten kritischen historischen Ansätze zeigen auch, wie zum Beispiel in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kolonisierte oder indigene Menschen parallele Kämpfe gegen Rassismus und Kolonialität innerhalb der gemeinsamen Kämpfe in Solidarität mit Menschen aus dem Globalen Norden oder weißen Aktivist*innen geführt haben. Darüber hinaus wurde der Widerstand gegen Rassismus und Kolonialität unter den gemeinsamen Zielen einer nationalen Befreiung im Globalen Süden oder des sozialistischen Internationalismus subsumiert oder sogar zum Schweigen gebracht. Nach dem Fall der Berliner Mauer wurden sie als eigenständige Kämpfe immer sichtbarer (Seibert 2008).
In den 1990er-Jahren wurde die Suche nach einer internationalen, sozialistischen Solidarität zunehmend zur Nebensache, und die Bewegungen gegen rassistische Ungleichheit und rechten Terror sowie dekoloniale und Refugee Bewegungen verlangten von möglichen Verbündeten neue Formen der Solidarität, die über die bisherigen Erfahrungen hinausgingen. Für den Globalen Norden bedeutete dies, den Fokus von revolutionären oder nationalen Befreiungsbewegungen im Globalen Süden auf den eigenen innenpolitischen Kontext zu verlagern und sich mit den eigenen rassistischen und kolonialen Kontinuitäten auseinanderzusetzen (Steyerl und Gutiérrez Rodríguez 2012). Währenddessen forderten in den 1990er-Jahren die rechtsextremen Terroranschläge in Rostock-Lichtenhagen, Hoyerswerda, Mölln und Solingen in Deutschland, der Angriff auf Rodney King und Tausende andere Afroamerikaner*innen in den USA, die rassistische Diskriminierung und Ausgrenzung in den Banlieues in Frankreich und die militarisierten Grenzregime im gesamten Globalen Norden mehr und möglicherweise andere Arten von Solidarität ein als die revolutionären Bewegungen in den fernen Gebirgsketten von Kuba, Nicaragua oder Vietnam.
Solche Forderungen nach antirassistischen Formen der Solidarität veranlassten die Akteure im Globalen Norden dazu, ihre früheren Konzepte und Vorstellungen von internationalistischer Solidarität zu überdenken und zu überarbeiten (Foitzik und Marvakis 1997). Vor allem post- und dekoloniale Kritiken von Autor*innen und Aktivist*innen aus dem Globalen Süden, die in der ersten oder zweiten Generation im Globalen Norden lebten, haben ein Umdenken und Nachdenken über die Möglichkeiten und Grenzen von Solidarität über Unterschiede hinweg bewirkt. Sie trugen unter anderem dazu bei, zu verstehen, wie die Vorstellungen von ganzen Regionen oder Gesellschaften im Globalen Süden von kolonialen Repräsentationen beeinflusst werden (Said 2003) oder wie selbst gut gemeinte Fürsprache Paternalismus reproduziert und subalterne Stimmen zum Schweigen bringt (Alcoff 1992; Spivak 1988). Solche Kritiken begannen, die Vorstellungen von Solidarität über Differenzen hinweg zu verkomplizieren, weil sie ihre Praxis innerhalb kolonialer und rassistischer Strukturen und nicht außerhalb von ihnen verstanden (Mohanty 2003). Daher kann Solidarität diese Strukturen kolonialer und rassistischer Ungleichheiten sogar reproduzieren, solange sie »nicht-performativ« ist, das heißt, wenn sie die Voraussetzungen, unter denen solidarische Beziehungen geschehen, nicht verändert und keine Umverteilung materieller Ressourcen vornimmt (Ahmed 2004). Ausgehend von dieser post- und dekolonialen Kritik an den Möglichkeiten und Grenzen von Solidarität, haben sich nur wenige empirische Studien der Herausforderung gestellt, bestimmte Ausdrucksformen von (internationaler oder intranationaler) Solidarität und transnationalen Allianzen, mit einem Fokus auf die rassifizierten und vergeschlechtlichten Unterschiede zwischen den beteiligten Gruppen und Akteur*innen, empirisch zu untersuchen (Conway, Dufour und Mason 2021; Land 2015; Mahrouse 2014). Und trotz des neuerdings wieder zunehmenden theoretischen und politischen Interesses an Solidarität[10] gibt es nur wenige gegenwärtige Forschungen, die das epistemische und kritische Potenzial von Praktiken der Solidarität und der gegenseitigen Hilfe betonen, die, wie zum Beispiel im Kontext der COVID-19-Pandemie (Sitrin und Colectivo Sembrar 2020), von subalternen oder betroffenen Akteur*innen, Gruppen und Organisationen vor Ort und als Basisarbeit betrieben wird.
Die Suche nach internationaler Solidarität mit Wallmapu greift diese theoretischen und empirischen Vorläufer auf und diskutiert unter anderem die Privilegien bestimmter Akteur*innen und das Fortbestehen kolonialer Stereotype innerhalb internationaler Solidarität in Dialog mit kritischen und dekolonialen Perspektiven. Dies soll vor allem dadurch gelingen, indem vor allem die Perspektiven der beteiligten Mapuche-Akteur*innen übersetzt und als Diskussionsbeitrag in Stellung gebracht werden. Die vorliegende Untersuchung zielt also darauf ab, die Begriffe und Möglichkeiten von Solidarität zu erweitern, indem sie sich auf die unterschiedlichen Positionen der beteiligten Akteur*innen und Gruppen konzentriert – in diesem Fall Mapuche und nicht-Mapuche (nicht-indigene Chilen*innen und Europäer*innen). In diesem Kontext sind die Unterschiede im Wesentlichen das Ergebnis der modernen und kolonialen intersubjektiven Ordnung, die rassifizierte Vorstellungen hervorbrachte und diese weiterhin als Basis unserer zwischenmenschlichen Wahrnehmung artikuliert (Quijano 2014). Insbesondere die Wahrnehmung der Mapuche als Indigene beruht im Wesentlichen auf einer kolonialen Kategorie (Bonfil Batalla 1972), die dazu beiträgt, ihre gleichberechtigte Staatsbürgerschaft im heutigen Chile zu delegitimieren (Silva Tapia 2016). Auf diese Weise wird eine weitere Differenzkategorie, welche die Unterschiede der beteiligten Akteur*innen in dem vorliegenden Fall prägt, nämlich jene der Indigenität, relevant.
Der Fall der Mapuche ist auch daher besonders aufschlussreich, weil er historische Erfahrungen internationaler Solidarität aus dem letzten Jahrhundert mit zeitgenössischen Formen des politischen Kampfes verbindet. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts schlossen sich viele lateinamerikanische Länder mit anderen Nationen des Globalen Südens zusammen und suchten nach einem dritten Weg jenseits des von den USA dominierten Kapitalismus und des von der UdSSR dominierten Staatskommunismus (Young 2001). In Ländern wie Kuba, Chile und Nicaragua führte dies zu revolutionären Prozessen und Bewegungen zugunsten lokaler Alternativen sozialistischer Entwicklung hin zu sozialer Gerechtigkeit und weg von der imperialistischen Politik der USA in der Region. Diese Entwicklungen waren nicht nur (manchmal romantisierte) Inspirationsquellen für den Kampf sozialistischer Bewegungen und Parteien im Globalen Norden, sondern führten auch zu anhaltenden Wellen der Solidarität mit ihren Genoss*innen im Globalen Süden (Balsen und Rössel 1986; Georga und Arenhövel 1992). Solche Solidaritätserfahrungen umfassten Erklärungen, Proteste und Informationskampagnen im Globalen Norden sowie Geldspenden und Finanzierungen für diese revolutionären Bewegungen. Aktivist*innen aus dem globalen Norden reisten auch in diese Länder, um Alphabetisierungskampagnen oder den bewaffneten Kampf zu unterstützen. Diese politischen Projekte und ihre internationale Solidarität wurden jedoch nach einschneidenden Ereignissen wie der Wahlniederlage der Sandinistas in Nicaragua und der Rückkehr zur formalen Demokratie in Chile im Jahr 1989 auf regionaler Ebene marginalisiert. Auf globaler Ebene haben der Fall der Berliner Mauer, der Zerfall der Sowjetunion und ihres historischen Horizonts für sozialistische Veränderungen, solche Entwicklungen in Lateinamerika und ihren Verbündeten im Globalen Norden noch weiter an den Rand gedrängt.
Doch kurz nach der falschen Annahme des Endes der Geschichte (Fukuyama 1992) tauchte mit den Zapatistas und dem Ejercito Zapatista de Liberación Nacional (EZLN)[11] in Mexiko eine revolutionäre Bewegung aus Lateinamerika auf und löste internationale Faszination sowie neue Wellen der Solidarität aus (Kerkeling 2012). Die Zapatistas aktualisierten dabei die revolutionäre antiimperialistische und antikapitalistische Sprache und Ikonografie des westlichen Sozialismus innerhalb einer neuen Form des dekolonialen Kampfes, indem sie westliche und indigene politische Ideen miteinander kombinierten. Dieser antikapitalistische, antipatriarchale und dekoloniale Kampf bot einen neuen Horizont für politischen Wandel und Emanzipation für Menschen auf der ganzen Welt (Hayden 2002). In ähnlicher Weise entschieden sich die Mapuche in Chile und Argentinien ab den 1990er-Jahren für Strategien, die ihre politische, soziokulturelle, epistemologische und territoriale Autonomie einforderten, ohne ihre Verortung innerhalb eines verwestlichten Nationalstaates zu vernachlässigen (Marimán 2012; Tricot 2013). Doch im Gegensatz zu den Zapatistas ist die internationale Solidarität mit den Mapuche seit dem späten 20. Jahrhundert von den Erfahrungen der internationalen Solidarität mit der chilenischen Gesellschaft nach dem Militärputsch von 1973 geprägt. Auf diese Weise sind die gegenwärtigen Solidaritätsbekundungen mit und durch die Mapuche historisch mit diesen älteren Erfahrungen der internationalen Solidarität verwoben.
Vor diesem Hintergrund kann davon ausgegangen werden, dass dekoloniale Bewegungen, insbesondere von Gruppen in Lateinamerika wie den Zapatistas oder den Mapuche, heute als wichtige Bezugspunkte für gegenwärtige Ausdrucksformen der internationalen Solidarität im Globalen Norden dienen.[12] Dennoch wird vor allem der Kampf der Mapuche nach wie vor auf der internationalen Bühne weitgehend übersehen und nicht anerkannt. Daher stellt dieses Buch eine detaillierte Übersicht zur Transnationalisierung des Kampfs der Mapuche seit den 1970er-Jahren vor (siehe Kapitel 5) fokussiert sich dabei auf eine Hochphase internationaler Proteste der Mapuche zwischen 2010 und 2020 und bespricht die Menschen- und Indigenenrechtsverletzungen, weswegen die Mapuche ihren Kampf über den nationalen Kontext in Chile hinaustragen (siehe Kapitel 4).
Indigene Bewegungen als Referenzpunkte für Befreiungs- und Emanzipationskämpfe zu nehmen ist jedoch nicht unproblematisch, sondern beinhaltet eine Reihe von Repräsentations- und Übersetzungsschwierigkeiten. Einerseits werden solche dekolonialen Bewegungen außerhalb eurozentrischer Kontexte oft als historische Alternativen zur linken Melancholie (Traverso 2017) im Globalen Norden konzeptualisiert – das heißt, als ein Zustand der Trauer und Selbstreflexion über die gescheiterten linken Projekte des 20. Jahrhunderts, die nichtsdestotrotz zukünftige politische Aktionen inspirieren. Als solche tragen sie die Last, eine historische Alternative für linke Politik jenseits von Spätkapitalismus und Klimakrise zu repräsentieren. Die vorliegende Untersuchung wird sich in diese Debatte einschalten und die komplizierte Beziehung zwischen den Mapuche und der nicht-indigenen Linken sowie die sich daraus ergebenden Konsequenzen, Hindernisse und politische Optionen diskutieren (siehe Kapitel 12). Andererseits gibt es im Globalen Norden eine lange Tradition der Stereotypisierung und Romantisierung von Native Americans (Berkhofer 1979). Insbesondere im deutschsprachigen Kontext beschäftigte man sich meist übermäßig enthusiastisch mit und in Bezugnahme auf indigene Bevölkerungen in den Amerikas. Kapitel 13 wird nicht nur zeigen, wie auch die Solidarität mit Wallmapu von kolonialen Stereotypen besetzt ist, sondern auch, wie diese kritisiert und strategisch benutzt werden.
Ziel dieses Kapitels ist es, die internationale Solidarität mit und von den Mapuche als eine Form transnationaler Autonomiepolitik zu verstehen. Mapuche-Vertreter*innen aus Wallmapu und aus der europäischen Diaspora haben ihren Kampf um Autonomie seit den 1970er-Jahren transnationalisiert und dabei ein Netzwerk aus Allianzen und in Solidarität mit anderen Akteur*innen geknüpft.
Die Autonomiebestrebungen der Mapuche-Gesellschaft gehen auf die ersten Kolonisierungsversuche des Wallmapu durch die spanische Krone ab Mitte des sechzehnten Jahrhunderts zurück. Die gewaltsamen Kolonisierungsversuche wurden dabei von den Mapuche mit heftigem militärischem Widerstand beantwortet, und dadurch gelang es der Mapuche-Gesellschaft, ein gewisses Maß an politischer Autonomie und Unabhängigkeit zu bewahren und die spanische Kolonialmacht daran zu hindern, weiter nach Süden in ihr Territorium vorzudringen. Dies war möglich, weil die Mapuche-Gesellschaft jener Zeit – im Gegensatz zu der der Inkas oder Azteken – keine zentralisierte Gesellschaftsstruktur hatte und jede territoriale soziale Einheit ihre Autonomie behielt, auch wenn eine andere besiegt wurde. Die spanische Krone musste also »jede einzelne der Tausenden von unabhängigen Familien« (Bengoa 2000: 39) besiegen, um das gesamte Gebiet zu erobern.
Während des militärischen Widerstands gelang es der Mapuche-Gesellschaft ihre de- oder polyzentrale soziopolitische Organisationsform, die kein zentrales und vereinendes politisches oder militärisches Organ kennt, aufrechtzuerhalten. Der Kern dieser Logik ist die soziopolitische Organisation der Mapuche-Gesellschaft als Ausdruck von Zusammenschlüssen – in aufsteigender Reihenfolge – der Familieneinheit/rewe, der Gemeinschaft/lof