Solomon - Jodi Stuber - E-Book

Solomon E-Book

Jodi Stuber

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Beschreibung

Eigentlich ist Jodi Stuber nicht auf der Suche nach einem weiteren Therapiepferd für ihre "HopeWell"-Ranch. Doch dann erfährt sie von Solomons Schicksal: Der Wallach ist als Einziger seiner Herde übrig geblieben und verkümmert zusehends. Jodi beschließt, ihn aus seiner Einsamkeit herauszuholen. Nicht zuletzt, da sie selbst nur allzu vertraut ist mit dem Gefühl von Verlust und Trauer. Während Solomon sich schwertut, in der neuen Herde Anschluss zu finden, kämpft Jodi darum, einen Weg aus ihrer eigenen Trauer zu finden. Doch letzten Endes gelingt es Solomon, Jodi eine wichtige Lektion über Echtheit, Opferbereitschaft und Vertrauen zu lehren. Und darüber, dass jeder von uns eine wichtige Rolle spielt - für seine Mitmenschen ebenso wie für Gott. Eine zutiefst bewegende wahre Geschichte mit der Botschaft: Gott sieht dich.

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Über die Autorinnen

Jodi Stuber ist Mitgründerin und Leiterin von HopeWell, einer gemeinnützigen Therapie-Ranch. Dort werden kostenlose Dienste für Einzelpersonen, Kinder und Familien angeboten. Zu den HopeWell-Programmen gehören Unbridled Potential (Ungezügeltes Potential), das Kindern mit besonderen Bedürfnissen die Möglichkeit bietet, mit Pferden zu arbeiten, und das Solomon-Projekt für Veteranen mit posttraumatischer Belastungsstörung. Jodi lebt mit ihrer Familie in Weidman, Michigan.

Jennifer Marshall Bleakley ist Autorin der Bücher Joey – wie ein blindes Pferd uns Wunder sehen ließ und Hoffnung kommt auf leisen Pfoten, die beide in deutscher Sprache bei Gerth Medien erschienen sind. Sie hat einen Masterabschluss in Psychologischer Beratung und als Trauerberaterin für Kinder und Familien gearbeitet. Jennifer lebt mit ihrer Familie und jeder Menge Tiere in Raleigh, North Carolina.

Für meine Liebsten: Ty, Jessica, Richard und Hope

Jodi Stuber

Für Darrell, Andrew und Ella

Jennifer Marshall Bleakley

Bevor du anfängst zu lesen

Alle Begebenheiten in diesem Roman sind dem wahren Leben entnommen. Um jedoch die Privatsphäre der Kinder und Veteranen der US-Armee zu schützen, die zur HopeWell-Familie gehören, wurden die Namen mancher Personen sowie einige Details über ihr Leben geändert. Manche Charaktere sind aus mehreren tatsächlich existierenden Personen zusammengesetzt. Manche Ereignisse und deren chronologische Abfolge wurden komprimiert, sodass sie eine besser zusammenhängende Geschichte bilden.

Während ich diesen Text schreibe, leben einige der im Buch erwähnten Tiere noch immer auf der HopeWell-Farm, wo sie weiterhin eine aktive Rolle in der Mission von HopeWell spielen, nämlich eine Umgebung zu schaffen, in der sowohl Kinder als auch Erwachsene – einschließlich der Veteranen, der aktiven Mitglieder des US-Militärs und deren Familien – Liebe, Hoffnung und Erlösung erfahren dürfen und die Kraft erleben, die darin liegt, selbst mitten im Leid eine Bestimmung zu finden.

Jennifer Marshall Bleakley

Prolog

Jodis Unterarme schmerzten, während sie den Erdlochbohrer in die Erde drückte. Das Erdreich machte stückchenweise Platz, als sie die Metallklingen immer wieder im harten Boden drehte. Schließlich befand sie das Loch für tief genug und wuchtete einen hölzernen Zaunpfahl hinein. Waren das jetzt sechs oder sieben? Sie wusste es schon gar nicht mehr. Mithilfe ihres Fußes schaufelte sie den Haufen Dreck wieder in das Loch zurück.

Leeren.

Füllen.

Leeren.

Füllen.

Wenn man den menschlichen Geist doch nur genauso leicht wieder auffüllen könnte wie diese Erdlöcher.

Sie trampelte das Erdreich rund um den Zaunpfahl wieder fest, bis es einen stabilen Eindruck machte. Zufrieden mit ihrem Werk maß sie weitere drei Meter ab und begann mit dem Prozedere wieder von vorn. Ihre Hände begannen zu krampfen. Aber sie würde nicht aufhören. Sie konnte nicht. Der physische Schmerz in ihren Armen bot ihr eine willkommene, wenn auch nur vorübergehende Ausflucht aus dem stechenden Schmerz, der in ihrem Herzen brannte.

Jodi stieß den schweren Bohrer erneut in den Boden. Kleine Steinchen und Grasbüschel stoben auf. Sie wischte sich ein paar ihrer blonden Haarsträhnen aus dem Gesicht und hinterließ dabei eine Dreckschliere. Also unterbrach sie kurz ihre Arbeit, zog die Handschuhe aus und zwang ihre widerspenstigen Haarsträhnen zurück in den Pferdeschwanz. Sie warf einen Blick auf die Reihe aus Zaunpfählen, die das ansonsten unberührte Grundstück unterbrachen.

War es wirklich erst drei Jahre her, dass sie dieses Land gekauft hatten?

Es fühlte sich an wie ein ganzes Leben.

Einst hatte hier eine Farm floriert, doch nun war das Land lange nicht genutzt worden und daher von allerlei Grünzeug überwuchert. In der leichten Brise wiegten sich lange Grashalme. Zurückgelassene Maschinen waren von Weinranken überwuchert. Große Holzblöcke lagen überall auf dem Ackerland verstreut und verrotteten, wobei sie einer Vielzahl an Insekten Zuflucht und Nahrung boten.

Jodi machte sich wieder an die Arbeit. Sie rammte den Erdlochbohrer in das begonnene Loch und traf einen Stein. Der Schmerz schoss ihr durch den ganzen Arm und ließ sie innehalten.

Was tue ich hier eigentlich? Es ist Wochenende und noch dazu Memorial Day! Ich sollte jetzt mit Ty und den Kindern grillen.

Mitten in der Nacht hatte die Sache mit dem Zaun nach einer hervorragenden Idee geklungen. Eigentlich sogar weniger nach einer Idee als mehr nach einem Befehl von ganz oben. Vielleicht sogar einer Bestimmung?

Die Mittagssonne kam ihr noch heißer vor als sonst und allmählich begann sie sich zu fragen, ob sie diesen Eindruck von letzter Nacht wirklich richtig im Gedächtnis hatte – und ob mit ihrer geistigen Gesundheit alles in Ordnung war.

Vielleicht verliere ich wirklich den Verstand. Man sagt ja, dass Trauer das verursachen kann.

Schließlich überwand Jodi ihre Zweifel und arbeitete weiter. Sie grub Löcher, „pflanzte“ Zaunpfähle und trampelte das Erdreich drumherum fest.

Und das, obwohl sie doch überhaupt keinen Zaun brauchten.

Sie hatten keine Pferde. Kein Vieh. Ja, nicht einmal einen Garten.

Aber irgendetwas trieb sie an. Eine Sehnsucht, wie sie sie noch nie zuvor gespürt hatte, ließ ihre Arme weiter graben, selbst als die Muskeln zu protestieren begannen. Ein Versprechen – tief in der Nacht in ihre schmerzende Seele geflüstert – hielt ihre gesamte Aufmerksamkeit auf diese eine Sache gerichtet: Bau einen Zaun!

Diese Sehnsucht – diese Bestimmung – war größer als ihre Trauer.

Größer als ein normaler Traum.

Als die Sonne begann, über den Baumwipfeln unterzugehen, lehnte Jodi sich schließlich an den Erdbohrer und sah sich an, was sie geschafft hatte.

Hölzerne Zaunpfähle standen in Reih und Glied – Wächter auf einer überwucherten Weide.

Jodi wölbte ihren Rücken. Jeder Muskel im Leib tat ihr weh, doch die waren nicht der Grund für das plötzliche Beben in ihrem Herzen.

„Ich kann es sehen“, flüsterte sie voll fassungsloser Freude. Tränen liefen ihr in feinen schlammigen Schlieren über die Wangen. „Ich kann es sehen …“

1

Vier Jahre später

Jodi streckte sich, um im hinteren Teil ihres Vans nach dem Zettel zu suchen, auf dem sie sich die Wegbeschreibung notiert hatte. „Na also, da ist er ja!“ Sie fixierte den Zettel zwischen Finger und Lenkrad und versuchte, ihr Gekritzel zu entziffern. An dem Tag, an dem Ken angerufen hatte, war sie so abgelenkt gewesen, dass sie nur rasch die grundlegendsten Informationen auf den Zettel geschmiert hatte, um sich dann wieder ihrer vierseitigen To-do-Liste anzunehmen. Nun wünschte sie sich, sie hätte sich die Zeit genommen, leserlich zu schreiben.

Die Nachmittagssonne schien ihr in die Augen und machte es schwer, die Straßenschilder zu lesen. An einem fuhr sie vorbei und bremste dann vor dem nächsten Wegweiser ab.

„Ich glaube, das ist die richtige Straße“, murmelte sie und bog vom zweispurigen Highway in einen Feldweg ein. Dann warf sie einen weiteren Blick auf die letzten Zeilen ihrer hingekritzelten Wegbeschreibung: letztes Haus. Nach offenem Feld. Sackgasse.

Das Sackgassen-Schild ein paar Meter weiter stimmte sie zuversichtlich, und so fuhr sie weiter den schmalen Weg hinunter. Gestrüpp und nah am Weg stehende Bäume machten diesen sogar noch schmaler, sodass ihr Auto gerade noch so hindurchpasste.

Sie sah sich um und erhaschte einen Blick auf ein weißes Farmhaus, das fast vollständig in einen Vorhang aus immergrünen Pflanzen eingehüllt war. Ein Windstoß wirbelte ein paar Blätter vor ihr auf und ließ sie auf und ab tanzen wie kleine Drachen ohne Leine. Die roten, orangefarbenen und gelben Blätter flatterten und stoben im Wind umher. Im Norden bauschten sich Wolken auf.

Bin ich froh, dass ich mir meinen Mantel geschnappt habe, bevor ich losgefahren bin. Da sie ihr ganzes Leben in Michigan verbracht hatte, wusste sie, dass die ungewöhnlich warmen Temperaturen, die jetzt, Mitte Oktober, noch herrschten, nicht mehr lang anhalten würden. Der Wind und die heranziehenden Wolken deuteten auf kälteres Wetter hin.

Jodi gelangte an eine Wiese, auf der sich mindestens ein Dutzend riesiger Heuballen befand. Das musste das besagte Feld sein. Sie hielt den Wagen kurz an.

„Das ist aber viel Heu“, wunderte sie sich laut, und Dankbarkeit machte sich in ihrem Herzen breit. „Das dürfte eine Weile reichen.“

Mit acht Pferden, einem Esel und vier Ziegen, die zweimal am Tag gefüttert werden wollten, brauchte sie dauernd Heu – und Geld, um es kaufen zu können. Plötzlich fiel ihr siedend heiß etwas ein: Wie sollen wir all das nur bis auf unsere Farm kriegen?

„Das soll Ty herausfinden“, kicherte sie in sich hinein, dankbar dafür, einen Ehemann zu haben, der sich gerne Herausforderungen stellte und nicht vor harter Arbeit zurückschreckte.

Jodi ging sachte von der Bremse, als sie die Einfahrt sah, die am Fuße eines kleinen Abhangs lag. Sie folgte der Zufahrt bis zu einem hellbraunen Haus im Stil einer klassischen amerikanischen Ranch, das von Hügeln und Feldern umgeben war.

Als sie ihren Wagen hinter einem großen Pick-up abstellte, atmete sie tief ein, hielt den Atem ein paar Sekunden an und atmete dann wieder langsam aus.

Es war an der Zeit herauszufinden, was wegen der Heuspende auf sie zukam. Was, wenn die Sache nicht funktioniert? Was, wenn ich ihren Bedingungen nicht zustimmen kann? Was, wenn es schlecht endet?

„Was-wenn-Fragen“ plagten Jodi schon ihr ganzes Leben. Das war eine Grundeinstellung, die zu ändern sie schon einige Mühe gekostet hatte.

„Und was, wenn alles wunderbar läuft, Jodi Stuber?“, fragte sie sich selbst laut. Sie weigerte sich, der Angst die Oberhand zu überlassen. „Hör auf, dich von deinen Bedenken leiten zu lassen.“

Ihre aufmunternden Worte wirkten – zumindest vorübergehend –, und ihre Angst wich einer hoffnungsvollen Erwartungshaltung. Es war dieselbe zuversichtliche Erwartung, die sie auch beim Cowboy-Ball vor einer Woche verspürt hatte. Dabei handelte es sich um eine jährlich im Herbst stattfindende Benefizveranstaltung zugunsten ihrer Therapiefarm, HopeWell. Sie und Ty hatten die Ranch vor drei Jahren gegründet, ein Jahr nachdem Jodi die Zäune aufgestellt hatte. Diese vier Jahre waren wie im Flug vergangen, und Jodi wusste, dass nicht nur ihre Klienten von der Therapie profitiert hatten, sondern auch sie selbst. Doch die Farm am Laufen zu halten, bedurfte erheblicher finanzieller Zuwendungen, und diese aufzutreiben war das, was Jodi am wenigsten an ihrer Arbeit mochte. Doch es musste sein; nur so konnten sie ihren kleinen Zoo – Pferde, Esel, Ziegen, Hühner, Enten, Hasen und Hunde – versorgen.

Der Cowboy-Ball machte jedes Jahr viel Spaß, doch er kostete Jodi und ihr kleines Freiwilligen-Team monatelanges Planen, wochenlange Treffen, um die Sachspenden für die Auktion zu verpacken, sowie tagelanges Dekorieren des Veranstaltungsorts. Und auch dieses Jahr war es so gelaufen. Als der Ball dann endlich stattfand, war Jodi körperlich und geistig völlig ausgelaugt. An jenem Tag war Jodi keine zwei Stunden vor Beginn des Balls von der Ranch nach Hause gerannt, um zu duschen und sich umzuziehen. Dann wollte sie sich zehn Minuten Stille für sich allein gönnen, bevor sie sich zum Bankettsaal begab. In ihrer kurzen Ruhepause klingelte nach nur zwei Minuten ihr Telefon. Sie erkannte die Nummer nicht und hatte auch nicht die Energie, den Anruf entgegenzunehmen, also ließ sie den Anrufer auf die Voicemailbox sprechen. „Noch acht Minuten“, sagte sie zu sich selbst, atmete aus und ließ sich auf den nächsten Stuhl sinken.

Von dieser Benefizveranstaltung hing so viel ab. Sie würde über ihr Budget im kommenden Jahr entscheiden. „Bitte, Herr, lass uns das Budgetziel erreichen“, betete sie. Ihr Handy vermeldete eine Nachricht auf der Mailbox. Was, wenn das der Caterer ist? Oder jemand, der einen Notfall hat? Was, wenn wir einen Wasserrohrbruch oder ein Gasleck im Haus haben? Oh Mann, wieso bin ich nur nicht rangegangen! klagte sie innerlich und spielte schließlich rasch die Nachricht ab.

„Hi, Jodi, mein Name ist Ken Bringham. Wir haben einen gemeinsamen Freund, der meiner Frau Sue und mir von der guten Arbeit berichtet hat, die Sie alle tun.“

Gut, mit dem Event ist alles in Ordnung. Jodi atmete nun langsamer und hörte sich den Rest von Kens Nachricht an.

„Wir haben gerade im Radio von der Benefizveranstaltung gehört, die Sie durchführen, und da haben Sue und ich uns entschieden, Sie anzurufen, um Ihnen eine Spende zukommen zu lassen, und zwar eine ziemlich große. Wir würden das sehr gerne näher mit Ihnen besprechen, wenn Sie mich zurückrufen könnten.“

In Jodis Kopf drehte sich alles von der emotionalen Achterbahn, in der sie gerade gefahren war. Eine große Spende!

„Wow, Gott, du wirkst aber wirklich schnell!“ Sie lachte und drückte die Rückruftaste.

Je nachdem, wie viel Ken ihnen geben wollte, könnten sie ihr finanzielles Ziel für dieses Jahr erreichen – und das noch bevor die Spendenveranstaltung begann! Vielleicht würden sie ihr Ziel sogar weit übertreffen. Bei diesem Gedanken bekam Jodi rote Wangen.

Natürlich wollten die Leute manchmal Zubehör für die Farm oder Baumaterial spenden, was man sicherlich als große Spende bezeichnen konnte – zumindest, was die Abmessungen anging. War es vielleicht das, was er meinte? Jodi bemühte sich, ihre Stimme fest und freundlich klingen zu lassen, als Ken ans Telefon ging.

„Na, das war aber ein schneller Rückruf“, sagte er lachend.

Jodi wünschte sich plötzlich, sie wäre etwas cooler an die Sache rangegangen und hätte ihn erst am nächsten Tag zurückgerufen, doch nun war es dafür ohnehin zu spät. Da konnte sie auch gleich ehrlich zu ihrem Eifer stehen.

„Sie wissen auf jeden Fall, wie Sie jemanden zu einem Rückruf animieren“, scherzte sie. „Ich bin gerade auf dem Weg zu unserem Cowboy-Ball, der Spendenveranstaltung, aber ich wollte mich bei Ihnen melden, bevor der Abend vorbei ist. Ken, ich danke Ihnen sehr, dass Sie darüber nachdenken, an HopeWell zu spenden!“

„Oh, von der Spende können Sie aber mit Sicherheit ausgehen!“, sagte Ken. „Wir haben davon gehört, wie sehr Sie und Ihre Pferde vielen aus unserer Gemeinschaft helfen, und wir haben den Eindruck …“, er zögerte kurz, bevor er weitersprach, „nun, wir haben Eindruck, dass wir etwas haben, das eigentlich Ihnen gehören sollte.“

Jodi war neugierig, aber auch etwas enttäuscht. Sie hatte das unbestimmte Gefühl, dass Ken nicht von Geld sprach. Ihr Traum, noch vor dem Beginn der Veranstaltung finanziell völlig ausgesorgt zu haben, begann sich in Wohlgefallen aufzulösen. Doch sie schüttelte das Gefühl rasch ab und erinnerte sich daran, dass jeder, der für ihre Farm spenden wollte, ihre Dankbarkeit, ihren Respekt und ihre Aufmerksamkeit verdiente.

„Nun, jetzt bin ich aber neugierig“, sagte sie und stand auf, um ihren Rücken zu dehnen.

„Wir haben eine Menge Heu, das wir Ihnen gern geben würden. Ein Dutzend großer Ballen, um genau zu sein. Und als extra Bonus – oder vielleicht sollte ich eher sagen, als Bedingung –“, stellte er richtig und kicherte kurz, „gibt es zum Heu noch ein Pferd dazu. Einen sechsjährigen Wallach namens Harley.“

Jodi ließ sich wieder auf ihren Stuhl fallen. ‚Ein Pferd?‘, formte sie lautlos mit den Lippen.

„Harley ist ein guter Junge und hat unserer Familie nichts als Freude bereitet. Und er ist ein Naturtalent im Umgang mit Kindern. Aber wir können ihm einfach nicht mehr geben, was er braucht. Wir glauben, Sie könnten es. Und, nun ja, es würde uns freuen, wenn Sie ihn kennenlernen und unsere Geschichte hören. Und wenn Sie dann zu demselben Schluss kommen wie wir, würden wir ihn gern auf HopeWell sehen.“

Jodi ging zum Spülbecken und sah durch das Fenster den Pferden beim Grasen zu. Sie hatte nicht vorgehabt, die Herde noch einmal zu vergrößern. Acht Pferde schienen ihr eigentlich genug zu sein. Was das Finanzielle anging, waren acht Pferde eher schon zu viel des Guten. Doch irgendetwas an Kens Stimme brachte sie dazu, das Angebot in Betracht zu ziehen. Und mit Sicherheit hatte der Mann es verdient, dass jemand seine Geschichte hörte. Jodi hatte den Menschen nicht viel anzubieten, aber sie konnte ihnen zuhören, wenn sie über etwas reden wollten. Außerdem konnte HopeWell das Heu definitiv gut gebrauchen.

Jodi atmete tief ein, bevor sie antwortete.

„Ken, es wäre mir eine Ehre, vorbeizukommen und Harley kennenzulernen. Und wir wären wirklich dankbar für Ihr Heu. Würde es nächste Woche gehen?“

Nachdem sie sich auf einen Tag und eine Uhrzeit geeinigt hatten, kritzelte Jodi rasch die Adresse und die Wegbeschreibung auf irgendeine Werbesendung, die gerade auf dem Tresen lag. Nachdem sie aufgelegt hatte, riss sie das Stück Papier ab und legte es in ihren Tagesplaner. Es war nun Zeit, zur Spendenveranstaltung zu gehen.

Sie machte sich keine allzu großen Sorgen. Aus Erfahrung wusste sie bereits, dass ihr Adrenalinspiegel ansteigen würde, sobald der erste Gast ankam. Und so war es auch. Das Abendessen war köstlich, ihre Ansprache kam gut an und die Auktion war ebenso unterhaltsam wie profitabel. Sie hatten zwar sicherlich nicht deutlich mehr eingenommen, als sie brauchen würden, aber es würde im kommenden Jahr für den tagtäglichen Bedarf auf HopeWell reichen.

Nun, da Jodi auf dem Parkplatz vor Kens und Sues Haus in ihrem Auto saß, schüttelte sie all die Gedanken an die letzte Woche ab und zog den Schlüssel aus dem Zündschloss. Jetzt galt es, sich auf die unmittelbar bevorstehende Begegnung zu konzentrieren. Und dennoch konnte sie nicht umhin, darüber nachzudenken, ob sie auf der Benefizveranstaltung wohl genug eingenommen hatten, um noch ein weiteres Pferd durchzubringen. Das Heu, das sie auf der Herfahrt gesehen hatte, würde zwar eine Weile reichen, um die Herde zu ernähren, doch ein weiteres Pferd bedeutete auch weitere Rechnungen vom Tierarzt und vom Hufschmied. Außerdem würden sie Zeit investieren müssen, um das neue Pferd an die Kinder und Erwachsenen zu gewöhnen, mit denen es zusammenarbeitete.

Sie packte Sonnenbrille und Schmierzettel sicher in das Seitenfach ihrer Handtasche und holte ein paar Flyer über die Arbeit auf HopeWell aus dem Handschuhfach. Als sie aus dem Wagen stieg, erregte etwas auf ihrer rechten Seite ihre Aufmerksamkeit. Ein Reh – ein kleines Weibchen – stand völlig regungslos da, den Kopf erhoben, den Blick fest auf etwas gerichtet, das in weiter Ferne lag. Jodi war überrascht, mitten am Tag ein Reh so nah bei einem Haus stehen zu sehen.

„Was tust du denn hier draußen, Kleines?“, fragte sie und machte ein paar vorsichtige Schritte auf das Tier zu. „Geht es dir gut?“

In diesem Moment brach ein Zweig unter ihrem Schuh. Sie fuhr zusammen, doch das Reh bewegte sich nicht einen Zentimeter. Jodi blinzelte gegen die Nachmittagssonne … und lachte laut los. „Du bist gar nicht echt, stimmt’s?“, sagte sie kichernd und über sich selbst den Kopf schüttelnd. „Und ich mache mir hier Gedanken um ein Plastikreh!“

Sie ging die drei Stufen zur Haustür hinauf, doch noch ehe sie anklopfen konnte, wurde die Tür schon geöffnet.

„Sie müssen Jodi sein.“

„Und Sie sind wohl Ken und Sue“, erwiderte sie und nickte der Frau zu, die direkt hinter Ken stand.

„Schuldig im Sinne der Anklage“, scherzten die beiden und luden sie ein hereinzukommen.

Ken und Sue schienen Mitte oder Ende vierzig zu sein – nicht viel älter als sie selbst und Ty. Sue führte sie ins Esszimmer, wo Tee und frisch gebackene Kekse bereitstanden. Sie begannen ein lockeres Gespräch über die erwartete Kältefront und ihr Bedauern über das Ende der milden Temperaturen. Erst als das Teekränzchen beendet war, wechselten sie das Thema und kamen auf Pferde zu sprechen.

Pferde waren eins von Jodis Lieblingsthemen, und das schon, seit sie mit fünf Jahren ihre Eltern um ein weißes Pony angebettelt hatte. Damals versprach sie hoch und heilig, das Tier in ihrem Zimmer zu halten und es mit Keksen und Hamburgern zu füttern. Fünfunddreißig Jahre später hatte sie nun ihr Pony und gleich mehrere andere Pferde obendrauf. Inzwischen hatte sie glücklicherweise gelernt, dass Pferde draußen im Freien viel besser zurechtkommen und mit Heu und Getreide auch besser gedeihen als mit Fastfood.

„Dann erzählen Sie mir mal ein wenig über Harley“, sagte sie, da sie spürte, dass die beiden es kaum erwarten konnten, mit ihrer Geschichte loszulegen.

Kens und Sues Gesichter hellten sich auf. Es war offensichtlich, dass sie Harley sehr liebten. Dann fiel Jodi wieder ein, was Ken am Telefon gesagt hatte. „Sie können Harley etwas geben, was wir ihm nicht geben können.“ Was könnte er damit gemeint haben?

„Unser Junge ist einsam“, begann Sue und beantwortete damit Jodis ungestellte Frage. „Wir hatten jahrelang drei Pferde, unsere drei Musketiere. Sie waren die allerbesten Freunde. Obwohl Ken und ich aus gesundheitlichen Gründen nicht viel reiten konnten, haben uns die Pferde viel Freude bereitet. Es hat uns einfach gefallen, sie auf der Weide zu beobachten und für sie zu sorgen. Doch vor zwei Jahren ist unser ältester Wallach gestorben; und letztes Jahr haben wir auch unsere Stute verloren. Harley ist ganz allein zurückgeblieben und der arme Kerl ist furchtbar einsam.“

Einsam. Jodi spürte einen Kloß im Hals, als Sue das Wort aussprach. Eine ihr wohlbekannte Leere legte sich um sie wie ein alter Schal.

„Es tut mir leid um Ihren Verlust.“

Sue nickte. „Danke. Es war eine schwere Zeit für uns und Harley.“

„Vor ein paar Monaten kam ich einmal von der Arbeit nach Hause, und da sah ich Harley glücklich und zufrieden neben diesem Plastikreh stehen,“ erzählte Ken. „Er war aus seiner Koppel ausgebrochen. Ich nehme an, er dachte sich, ein Plastikfreund sei immer noch besser als gar keiner.“

Jodi wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Das Bild eines großen Pferdes neben einem kleinen Plastikreh war ebenso lustig wie herzzerreißend.

„Nachdem Harley dann zum vierten Mal ausgebrochen war, wussten wir einfach, dass er etwas Besseres verdient hat.“ Ken nahm die Hand seiner Frau. „Aber wir können es uns einfach nicht leisten, uns mehr Pferde anzuschaffen.“

„Ich habe dann mit einer Freundin über unsere Situation gesprochen, und die erwähnte ihre Farm“, erklärte Sue. „Sie sagte mir, Sie würden Familien dabei helfen, mit schwerwiegenden Problemen zurechtzukommen, indem Sie sie mit Ihren Pferden arbeiten lassen. Wir denken, dass Harley gut auf Ihre Ranch passen würde. Und ich liebe diesen Namen einfach – HopeWell, Quelle der Hoffnung. Es fühlt sich einfach richtig an, wissen Sie?“

„Ich weiß genau, was Sie meinen“, sagte Jodi. Die Ranch war tatsächlich eine Quelle der Hoffnung für sie und so viele andere geworden. „Dürfte ich Harley denn kennenlernen?“

Ken lächelte, als er aufstand.

Die drei gingen hinters Haus, wo ein wunderschönes kastanienbraunes Quarterhorse mitten auf der Koppel stand.

„Komm her, Harley“, rief Ken.

Harleys Kopf schoss nach oben, seine Ohren richteten sich aufmerksam auf. Er lief direkt an den Zaun zu Ken und begrüßte ihn. Ken lehnte sein Gesicht an die Schnauze des Pferdes. Diese Szene wirkte so intim, dass Jodi einen Moment wegsah. Dann begann Harley, bei Sue nach Leckerbissen zu suchen. Seine struppigen Lippen wühlten sich erst um ihre Schultern, dann reckte er den Kopf weiter über den Zaun und begann, ihre Taschen abzusuchen.

„Okay, okay“, lachte Sue. „Ich ergebe mich.“ Sie holte ein Leckerli aus ihrer hinteren Tasche und bot es Harley an, der es begeistert annahm.

Jodi stand ein paar Meter vom Zaun entfernt, da sie beobachten wollte, wie Harley mit seinen Besitzern interagierte. Ty würde bald ankommen und Ryan, ihren Hufschmied und Pferdetrainer, und Aimee, eine Freiwillige, die Tiermedizin studierte, mitbringen. Jodi hatte die drei gebeten, ihr bei der Bewertung des Pferdes zu helfen. Etwas in ihr sagte ihr, dass Harley zur HopeWell-Herde dazustoßen würde, doch sie musste sich zunächst mit dem Team beratschlagen.

Ken räusperte sich.

„Ich hatte immer den Eindruck, dass Harley etwas Besonderes ist“, sagte er, während er geistesabwesend das Pferd streichelte. „Doch erst vor ein paar Monaten habe ich entdeckt, wie besonders er ist.“

„Was ist denn vorgefallen?“

„Unsere Tochter brachte ihre Kinder auf einen Besuch vorbei. Nach dem Mittagessen gingen die Kinder nach draußen, um Verstecken zu spielen. Colin, unser fünfjähriger Enkel, beschloss, dass er ein besonders gutes Versteck finden musste. Damit war er definitiv erfolgreich. Nach einer Weile bat uns sein Bruder, ihm bei der Suche nach Colin zu helfen. Sue schlug vor, ich sollte in der Scheune und in Harleys Unterstand suchen, aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass er so weit gelaufen war. Er ist noch so ein kleiner Kerl, verstehen Sie?“

Jodi konnte sehen, dass Ken den Moment noch einmal durchlebte.

„Während der Rest der Familie überall im Garten suchte, ging ich zur Scheune. Die Tür war fest verschlossen, und es war ziemlich dunkel dort drin. Ich rief nach Colin, doch er antwortete nicht. Also ging ich zu Harleys Unterstand. Harley stand darin und ruhte sich aus. Als ich näher kam, bemerkte ich etwas – und ich blieb wie angewurzelt stehen. Colin saß völlig unbesorgt unter Harley!“

Jodi konnte sich nicht vorstellen, ein kleines Kind unter einem Fünfhundert-Kilo-Tier sitzend aufzufinden. Selbst ihre eigenen Kinder – obwohl schon im Teenageralter – hatten immer noch einen ziemlichen Respekt vor Pferden.

„Was haben Sie dann getan?“, fragte sie, und ihre Worte waren kaum lauter als ein Flüstern.

Ken kicherte. „Ich kämpfte erst einmal jeden Impuls nieder, das Kind anzuschreien. Dann ging ich entspannt auf Harley zu und fragte Colin, was er denn da tue.

‚Ich verstecke mich hier, Opa‘, sagte er. Ich erklärte ihm, dass Harley kein Versteck ist; dass er ein großes Pferd mit schweren Füßen ist und versehentlich auf ihn treten könnte.“

„Und was hat Colin dann getan?“, fragte Jodi.

„Er sah Harley an, dann mich, und dann sagte er: ‚Nein, das würde er nicht tun. Harley ist vorsichtig.‘“

Jodi musste lachen.

„Nun, der gute alte Harley bewegte sich kein einziges Mal. Keinen Zentimeter. Nicht mal ein Muskelzucken. Er stand so still da, wie man es sich nur vorstellen kann. Es störte ihn nicht das kleinste bisschen, dass da ein kleiner Besucher unter seinem Bauch hockte.“ Ken kraulte Harley das Kinn.

„Und wie haben Sie Colin dann da unten herausbekommen?“

„Ich habe das einzig Vernünftige getan: meinen Enkelsohn mit Eiscreme bestochen. Hat auch wunderbar funktioniert.“

„Bei mir hätte das auch wunderbar funktioniert.“

Jodi sah sich an, wie gerade Harley stand und welchen Eindruck er insgesamt machte. Ein Hinterhuf war leicht eingeknickt, die Lippen entspannt, die Ohren zur Seite gedreht. Er war das Ebenbild eines zufriedenen, friedlichen Pferdes. Ein sanfter Riese.

Ken und Sue beschrieben noch andere Begebenheiten, die ihre Enkel mit Harley erlebt hatten. „Er hat jedes einzelne Mal geduldig und behutsam reagiert“, sagte Ken.

„Sind Sie sich sicher, dass Sie Harley nicht für Ihre Enkel behalten möchten?“, fragte Jodi.

„Nein, er sehnt sich einfach so sehr nach einer Herde“, erklärte Sue. „Und unsere Enkel kommen ohnehin nicht so oft dazu, uns zu besuchen. Wir würden Harley liebend gern behalten, aber wir wollen auch, dass er ein gutes Leben hat.“

Ken nickte zustimmend.

In der Ferne hörte Jodi Autotüren zuschlagen. Ihr Team war wohl gerade angekommen. Ken hob die Hand.

„Sue und ich können das Team holen und es herbringen. Warum lernen Sie Harley in der Zwischenzeit nicht etwas besser kennen?“

„Ich glaube, das ist eine ganz hervorragende Idee.“

Sue und Ken entfernten sich, und Jodi ging näher an Harley heran. Kurz vor dem Zaun blieb sie stehen. Harley drehte ein Ohr in ihre Richtung und rupfte unterdessen an einem Büschel Gras. Jodi ließ ihre Hände locker an der Seite und behielt eine entspannte Körperhaltung bei. Sie wollte Harley klarmachen, dass sie keine Gefahr darstellte.

„Hallo, Harley“, sagte sie leise. „Ich bin Jodi.“

Harley hob den Kopf und richtete seine dunklen Augen auf Jodi.

„Ich freue mich wirklich sehr, dich kennenzulernen“, flüsterte sie.

Harley ging drei Schritte auf sie zu und bewegte seine Lippen, als würde er einen unsichtbaren Riesenkaugummi kauen. Er und Jodi beobachteten sich über den Zaun hinweg. Jodi hätte so gerne die Hand ausgestreckt und ihn an der feinen weißen Linie an seiner Schnauze gestreichelt. Doch sie wollte nichts überstürzen, das Pferd nicht überfordern. Harley sollte den ersten Schritt tun.

„Ich habe gehört, du bist hier draußen etwas einsam. Dein kleiner Rehfreund ist wohl keine so tolle Gesellschaft, was?“ Jodi sprach mit freundlicher und leiser Stimme. Harleys Ohren schnellten in ihre Richtung. „Es ist nicht einfach, einsam zu sein, oder, Harley? Es tut weh, jemanden zu vermissen, der eigentlich hier sein sollte.“

Jodis Stimme wurde immer leiser. Sie schloss die Augen und atmete tief ein. Konzentrier dich, Jodi, befahl sie sich selbst. Bleib im Hier und Jetzt.

Harley riss sie mit einem lauten Schnauben aus ihren Gedanken.

Sein Gesicht war nur noch wenige Zentimeter von ihrem entfernt. Das grobe Haar an seinem Kinn kitzelte sie an der Wange. Sie drehte den Kopf und atmete ebenfalls aus – so begrüßten sich Pferde untereinander. Jodi hob die Hand und legte sie auf dem Nacken des Pferdes ab. Sie konnte ihr Spiegelbild in seinen Augen sehen. „Du wirst nicht mehr einsam sein, mein Süßer.“

So standen die beiden beieinander, atmeten ein und aus.

„Na, es sieht wohl so aus, als wäre unsere Anwesenheit hier nicht relevant“, hörte sie Ty sagen. „Ich kann dich aber auch keine Sekunde allein lassen, ohne dass dich irgendein heißer Hengst aufgabelt.“

„Das ist ein Wallach“, stellte Jodi richtig und versuchte dabei, Harley nicht zu stören.

„Du kannst es ruhig zugeben: Du hast einfach eine Schwäche für große, dunkle, attraktive Typen – sofern sie denn vier Beine und einen Schweif haben“, sagte Ty lachend.

„Na dann, ihr Lieben“, sagte sie, nun an ihre menschliche Herde gewandt, „ist es wohl Zeit, euch den neuesten Zuwachs für HopeWell vorzustellen. Ich meine natürlich, nur unter der Voraussetzung, dass ihr damit auch einverstanden seid“, fügte sie verlegen hinzu.

„Lasst uns den Jungen mal ansehen“, sagte Ryan und kletterte durch die Bretter des Zauns.

Jodi und Aimee verdrehten amüsiert die Augen, während sie den Weg durch das Tor auf die Koppel wählten. Ken brachte Harveys Zaumzeug und den Sattel aus der Scheune herbei. Das Pferd stand völlig ruhig da, während Ryan es sattelte und aufstieg. Harley hatte offensichtlich keinerlei Probleme damit, geritten zu werden. Ryan wies Harley an, rückwärts und vorwärts und dann im Schritt zu gehen. Der Wallach befolgte jede der Anweisungen. Während Ryan Harley eine Gangart nach der anderen gehen ließ, beobachtete Aimee, wie sich das Tier bewegte und welches Temperament es an den Tag legte. Dann stieg Ryan ab und entfernte den Sattel, damit Aimee Haut, Hufe und Zähne überprüfen konnte. Als sie fertig war, gab sie Jodi das Daumen-hoch-Zeichen.

„Scheint ein gesunder, gehorsamer Wallach zu sein“, erklärte Aimee.

Ken und Sue strahlten wie stolze Eltern. Doch hinter ihrem Lächeln konnte Jodi auch Schmerz erkennen. Wahrscheinlich, so dachte sie, fühlte sich das so ähnlich an, wie wenn man erfuhr, dass das eigene Kind auf einem weit entfernten College angenommen wurde. Ein aufregendes neues Kapitel begann, doch es markierte auch das Ende eines anderen, sehr geliebten Kapitels. Jodi spürte eine Welle der Dankbarkeit und der Wertschätzung und nahm sich fest vor, die beiden über Harleys Leben auf HopeWell auf dem Laufenden zu halten.

Harley.

Das war ein wirklich guter Name, doch Jodi gab gern jedem einzelnen Pferd einen neuen Namen, wenn es sein neues Leben auf HopeWell beginnen sollte.

Während Aimee und Ryan das Sattelzeug wegbrachten und Ty mit Ken und Sue die Organisation des Pferdetransports besprach, standen Jodi und Harley einfach still da. Er senkte den Kopf, um ein paar Grashälmchen abzureißen, wobei ein kleiner Halm an seiner Unterlippe hängen blieb. Seine Augen wanderten zu ihren.

„Du hast sehr weise Augen“, flüsterte sie.

Er ging zwei Schritte auf sie zu.

„Und die Tatsache, dass du einfach instinktiv wusstest, was zu tun war, als der kleine Colin sich unter deinem Bauch versteckte, sagt mir, dass du auch einen sehr weisen Verstand hast.“

Nun stand das Pferd ganz nah bei ihr.

„Was hältst du von dem Namen Solomon? Er war der weiseste Mensch, der je gelebt hat. Und er war ein König. Majestätisch – so wie du.“

Harley drückte seine Schnauze an Jodis Gesicht und atmete aus.

„Das nehme ich mal als ein Ja.“

Jodi sah auf. Alle starrten sie und Harley hoffnungsvoll an. Plötzlich fühlte es sich an, als stünde unglaublich viel auf dem Spiel. Die Was-wenn-Fragen, die sie die letzten zwei Stunden so gut in Schach gehalten hatte, prasselten nun mit Wucht auf sie ein.

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„Denkst du, es geht ihm gut da hinten?“, fragte Jodi, an Ty gewandt. Sie drehte sich auf ihrem Sitz so weit, wie der Sicherheitsgurt es zuließ. „Ich kann ihn durch dieses winzige Fenster vorn am Hänger gar nicht sehen.“

Sie hatten drei Wochen warten müssen, bis die Ergebnisse von Solomons Coggins-Bluttest endlich da waren – ein Test, der in Michigan Pflicht war, um sicherzustellen, dass das Tier nicht an infektiöser Anämie litt, einer hochansteckenden und potenziell tödlichen Erkrankung. Da das Testergebnis negativ war, musste Solomon nicht in Quarantäne, und Jodi konnte es kaum erwarten, ihn in sein neues Zuhause zu bringen.

Jodi rief Tania an – die freiwillige Koordinatorin und Mitarbeiterin für die Kinderprogramme auf HopeWell –, um sie wissen zu lassen, dass sie in fünfzehn Minuten da sein würden.

„Wir sind alle bereit“, sagte Tania. „Solomon erwartet ein richtiges Empfangskomitee.“

Jodi hatte immer Freude daran, ein neues Pferd auf die Ranch zu bringen. Seit sie und Ty HopeWell 2004 eröffnet hatten, hatten sie ein gutes Dutzend Neuankömmlinge feierlich willkommen geheißen, und sie war immer wieder genauso begeistert wie beim ersten Mal.

„Weißt du noch, als wir Promise auf die Farm geholt haben?“, fragte sie Ty, nachdem sie das Telefonat mit Tania beendet hatte.

„Wie könnte ich denn jemals unser erstes Pferd vergessen – wo es doch genau die Rasse war, die du als Kind immer wolltest?“, sagte er. „Eigentlich ist mir da zum ersten Mal aufgegangen, dass HopeWell mehr als nur eine Ranch sein würde. Und als wäre das nicht genug, erfuhren wir gleich am nächsten Tag von zwei weiteren Pferden, die dringend ein Zuhause brauchten – und das waren wieder zwei Rassen, die du dir als Kind immer gewünscht hattest.“

Es stimmte. Mit fünf hatte Jodi ihre Eltern immer bekniet, ihr ein weißes Pony zu kaufen, und mit zwölf wollte sie unbedingt einen Vollblüter, weil das die erste Rasse war, die sie je geritten hatte; als sie dann sechzehn war, war sie ganz verrückt nach fuchsfarbenen Quarterhorses mit weißen Fesseln – mit so einem hatte sie nämlich als Teenagerin in der Landjugend gearbeitet. Jedes dieser Pferde, die in ihrer Vergangenheit wichtig für Jodi gewesen waren, war wie ein Hinweis auf einen Gott gewesen, den sie damals noch gar nicht kennengelernt hatte. Jedes dieser Pferde hatte Wunden geheilt, die sie selbst gar nicht hätte benennen können, und jedes hatte Hoffnung in ihr Herz gesät. Als Kind hätte sie sich niemals träumen lassen, dass diese ganz besonderen Pferde ihr eines Tages helfen würden, eine Therapieranch zu eröffnen.

„Ich kann’s immer noch nicht glauben, dass Gott uns zu genau diesen Pferden geführt hat.“

Als Ty mit dem Pick-up auf einen der Kieswege einbog, die nach HopeWell hinaufführten, warf Jodi einen Blick über die Schulter, um sicherzugehen, dass der Anhänger noch da war.

„Bisher hab’ ich noch keinen verloren“, scherzte ihr Mann.

Wenige Minuten später konnten sie schon die unbefestigte Einfahrt der Ranch sehen. Sobald Jodi den aus alten Hufeisen gebastelten Schriftzug „Willkommen in HopeWell“ sah, entspannte sie sich.

Daheim

Während sie am Sandplatz und an den Roundpens vorbeifuhren, konnte Jodi nicht anders, als ein Dankgebet dafür zu flüstern, dass sie schon so weit gekommen waren. Ja, es lag noch ein langer Weg vor ihnen. Sie mussten unbedingt endlich den überdachten Sandplatz fertigstellen, den sie enorm reduziert von einem Mann aus der Gegend hatten kaufen können. Der herzensgute Veteran hieß Kurtis und unterstützte das Anliegen von HopeWell. Ein solcher Platz würde es ihnen ermöglichen, auch bei rauerem Wetter Therapiestunden abzuhalten, doch bis dahin hatten sie noch eine Menge Arbeit vor sich. Es wäre sicherlich auch nett, wenn Jodi sich irgendwann einmal selbst ein kleines Gehalt zahlen und vielleicht sogar ein paar Mitarbeiter anstellen könnte. Doch sie kamen zurecht. Und, was für Jodi ohnehin wichtiger war, Menschen erfuhren auf der Ranch Frieden und Heilung von tiefen Verletzungen.

Ja, mehr zu haben wäre sicher schön, doch sie war überaus dankbar für alles, was sie bereits hatten. Als Ty dann auf den Parkplatz vor dem Büro der Ranch einbog, sah sie sie: Über zwanzig Kinder standen vor der großen Weide und hielten Schilder hoch, mit denen sie Solomon in seinem neuen Zuhause willkommen hießen. Hinter ihnen standen einige Erwachsene, die genauso begeistert bei der Sache schienen. Und richtig abgerundet wurde der Empfang von der gesamten HopeWell-Pferdeherde, die sich hinter den Menschen aufgereiht hatten, als hätte man sie für ein Fotoshooting aufgestellt. Jodi musste sich zusammenreißen, um nicht zu weinen.

„Das tun sie jedes Mal, oder?“, fragte Ty mit Blick auf die Pferde.

„Ja, das tun sie!“, antwortete Jodi voller Begeisterung. „Ich glaube, sie sind genauso neugierig und aufgeregt wie wir – vielleicht sogar noch mehr – und wollen auch unbedingt wissen, wer in diesem Hänger ist.“

Aus dem Nichts spürte Jodi plötzlich, wie sich eine Woge von Druck und Anspannung in ihr auftürmte. Sie musste daran denken, was die nächsten Tage mit sich bringen würden. Ein neues Pferd in eine bestehende Herde zu integrieren, war nicht ohne. Sosehr sie es auch liebte, ein neues Pferd auf die Farm zu bringen, den Prozess der Integration in die Herde mochte sie überhaupt nicht. In einer Pferdeherde dreht sich alles um Hierarchie; die Tiere machen einander immer wieder den Rang streitig und etablieren dann eine neue Rangfolge, und dauernd gibt es Gerangel um Positionen. Das bedeutet für das neue Pferd meistens, dass es erst mal ganz unten auf der Hierarchieleiter steht. Und die bestehende Herde setzt alles daran, es das auch wissen zu lassen: Es wird getreten und gemieden, gejagt und gekniffen, damit es nur ja merkt, was Sache ist. Natürlich beruhigt sich das alles meistens, sobald die Pferde sich ein wenig aneinander gewöhnt haben, doch diese ersten Tage können für alle Beteiligten sehr stressig werden – Pferde wie Menschen.

Als Ty das Gespann parkte und den Motor ausschaltete, entdeckte Jodi ihre sechzehnjährige Tochter Jessica und ihren fünfzehnjährigen Sohn Richard. Beide lehnten am Verandageländer des Modulhäuschens, das HopeWell als Büro diente. Sie sind hier! Jodis ganzes Gesicht hellte sich auf. Begeistert winkte sie den beiden. Jessica erwiderte die Geste mit einem kurzen Heben der Hand, während Richard nur mit einem knappen Nicken reagierte. Doch Jodi machte ihr mangelnder Enthusiasmus nichts aus. Sie freute sich einfach, dass die beiden Teenager sich überhaupt entschieden hatten, an diesem Empfang teilzunehmen.

Stubers stiegen aus dem Pick-up aus und fand sich sofort von einer Horde Kinder umgeben.

„Wie sieht er aus, Ms. Jodi?“

„Wie groß ist er?“

„Kann ich auf ihm reiten?“

Jodi lächelte die Kinder an und versuchte dabei, zu jedem einzeln Blickkontakt aufzunehmen, bevor sie sie als Gruppe ansprach.

„Danke an euch alle, dass ihr gekommen seid! Solomon ist ein hübscher Junge mit rötlich braunem Fell und einer feinen weißen Blesse. Er ist groß, aber nicht zu groß. Und ich bin mir sicher, dass er sich freuen wird, euch alle kennenzulernen, sobald er sich in seinem neuen Zuhause eingewöhnt hat. Aber zuerst müssen wir ihn ausladen und ihn erst mal ankommen lassen.“

Die Kinder hüpften auf und ab. Alle bis auf ein kleines Mädchen, dass sich an den Saum von Jodis Mantel klammerte. Sie hieß Shontell.

„Was ist denn los, meine Liebe?“, fragte Jodi und bückte sich, um dem Mädchen in die Augen sehen zu können.

„War Solomon traurig, weil er von seiner Familie wegmusste?“

Jodi legte der Kleinen eine Hand auf die Schulter. Sie wusste, dass Shontell schon mehr als die Hälfte ihres jungen Lebens als Pflegekind verbracht hatte, daher überraschte Jodi diese Sorge um Solomon überhaupt nicht.

„Danke, dass du das fragst, Shontell. Es freut mich sehr, dass Solomon hier so eine verständnisvolle und liebe Freundin haben wird. Weißt du was? Ich bin mir sicher, dass Solomon seine Menschenfamilie vermissen wird. Sie haben ihn sehr liebgehabt. Aber er war auch sehr einsam dort. Alle seine Pferdefreunde waren gestorben, und er war fast immer allein. Ich denke, er wird eine Weile traurig sein, aber letztendlich wird er sich über die vielen neuen Freunde und die große neue Familie freuen, die sich um ihn kümmert und ihn liebhat. Was denkst du?“

Shontell schielte in den Hänger hinein und versuchte, einen Blick auf das Pferd darin zu erhaschen. „Ich glaube auch, dass er hier glücklich sein wird.“

Herr, ich danke dir für dieses süße Mädchen. Bitte beschütze ihr wundervolles Herz, betete Jodi leise.

„Na, wollen wir den ganzen Tag um den Anhänger herumstehen oder wollen wir ein Pferd ausladen?“, fragte Ty in die Menge.

„Das Pferd ausladen!“

Tania führte die Kinder zum Pavillon, von dem aus sie eine gute Sicht haben würden, aber nicht in Gefahr geraten konnten. Ein paar Erwachsene, die freiwillig auf der Ranch mithalfen, öffneten das Gatter zu der kleinen Koppel, auf der Solomon seine ersten Tage verbringen würde. Sie grenzte an die große Pferdeweide, auf der ein Großteil der Herde lebte. So konnten sich die Pferde zwar schon einmal begrüßen und sich aneinander gewöhnen, hatten dabei jedoch zunächst eine klare Grenze zwischen sich.

Jodi stieg durch die Seitentür an der Stirnseite des Anhängers ein. „Hey, Großer“, sagte sie mit leiser Stimme. „Wie geht’s dir?“

Solomon war gespannt wie eine Feder und beobachtete aufmerksam jede von Jodis Bewegungen.

„Na, bereit, deine neue Familie kennenzulernen?“, fragte sie, während sie den Führstrick vom Haken losknotete.