Sonia meldet sich - Lavinia Braniște - E-Book

Sonia meldet sich E-Book

Lavinia Braniște

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Beschreibung

Ein emotionaler und vielfach ausgezeichneter Roman über die Spurensuche zum rumänischen Systemwandel 1989 und die Kunst des Überlebens damals und heute aus weiblicher Sicht. „Sonia meldet sich ist einer der besten Romane über Kommunismus, obwohl der Kommunismus selbst nur allgemein gehalten und beiläufig erwähnt wird.“ Mihai Iovănel, scena9.ro Ausgezeichnet mit dem Sofia Nădejde-Preis Lavinia Braniște wurde 1983 in Brăila, Rumänien, geboren. Sie veröffentlichte bisher Kurzgeschichten, zwei Romane und Kinderbücher. Ihr zweiter Roman „Sonia ridică mâna“ (Sonia meldet sich) wurde für fünf nationale Literaturpreise nominiert und mit zwei Preisen ausgezeichnet. Manuela Klenke wurde 1984 in Cluj-Napoca geboren und arbeitet als Literaturübersetzerin. Sie übersetzte zuletzt den ersten Roman von Lavinia Braniște „Null Komma Irgendwas“ und „Die grünen Brüste“ von Florin Iaru.

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Seitenzahl: 371

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Inhalt

Sonia navigiert einen heißen Sommer lang durch Bukarest. Sie hat den Auftrag bekommen, ein Drehbuch über die gefürchtete Diktatorengattin Elena Ceaușescu und ihre Tochter Zoia zu schreiben und stellt schnell fest, dass sie so gut wie nichts über die rumänische Vergangenheit weiß. Deshalb schaut sie historische Dokus, wälzt Autobiographien und befragt ehemalige Securisten, die natürlich nie zugeben würden, dass sie Securisten waren. Anstelle von Fakten findet sie aber nur verstreute, widersprüchliche Fragmente – „als ob die Vergangenheit auf allen Wänden explodiert wäre“.

In Sonia meldet sich schildert Lavinia Branişte eine Spurensuche zu Rumäniens kommunistischer Vergangenheit, weil sie selbst darüber nichts in der Schule gelernt hat. „Die jüngste Geschichte Rumäniens müsste ein Unterrichtsfach sein“, fordert die 1983 im südostrumänischen Brăila geborene Autorin in einem Interview mit der Deutschen Welle. Sie möchte ihren Leser*innen vermitteln, dass der Sturz des Ceaușescu-Regimes im Dezember 1989 keine Stunde Null markiert: „Die politischen Verantwortlichen sind fast dieselben oder es sind deren Nachfolger. Sie führen ihr Erbe weiter… Das sollten, meiner Meinung nach, die Jugendlichen heute verstehen, wie auch wir alle: woher wir kommen und warum es in Rumänien so ist, wie es ist.“

Nach Jahren in Bukarest lebt Lavinia Branişte als Literaturübersetzerin und Autorin wieder in ihrer Heimatstadt Brăila in der Walachei und schreibt seit 2019 Gastkolummnen für die Deutsche Welle. Ihr erster Roman, Null Komma Irgendwas, wurde in Rumänien 2016 als Buch des Jahres ausgezeichnet. Die deutsche Übersetzung erschien 2018 bei mikrotext und wurde von der Presse (u.a. Zeit Online, FAZ, taz) für die ironischen und gleichzeitig berührenden Alltagsschilderungen gelobt. Sonia meldet sich wurde unter anderem mit dem renommierten Sofia-Nădejde-Preis ausgezeichnet und in Rumänien für fünf Literaturpreise nominiert. 

Lavinia Braniște

Sonia meldet sich

Roman

Aus dem Rumänischen von Manuela Klenke

ein mikrotext

Erstellt mit Booktype

Original erschienen als Sonia ridică mânăbei Polirom, Iaşi, 2019

Lektorat: Tine Mothes

Coverfoto: Paulo Resende, unsplash

Cover: Inga Israel

Covertypo: PTL Attention, Viktor Nübel

www.mikrotext.de – [email protected]

978-3-948631-09-3

© mikrotext 2021, Berlin

Sonia meldet sich

Inhalt

Impressum

Titelseite

Sonia meldet sich

Teil I

Teil II

Glossar

Förderung

Über die Autorin

Über die Übersetzerin

Über mikrotext

Weitere Titel der Autorin

Lavinia Braniște

Sonia meldet sich

Roman

Aus dem Rumänischen von Manuela Klenke

Sonia meldet sich

I

Paul kommt eine Viertelstunde zu spät zu dem Treffen. Noch bevor er nah genug ist, um sie zu küssen, bittet er um Entschuldigung. Er weiß, dass es sie fürchterlich aufregt, zu warten, also zeigt er ihr seine Hände, die voller Kratzer und Blutspuren sind.

Sie stehen auf dem engen Bürgersteig vor dem Art Café, dem Bistro neben der Kirche Biserica Sfântul Gheorghe Nou. Die Straßenbahn fährt sehr nah an ihnen vorbei. Sie ist massiv und laut, der Asphalt bebt unter ihren Füßen. Seine lebhafte Erklärung, wie er es geschafft hat, sich aus dem Aufzug zu retten, bekommt sie nur zur Hälfte mit. Er ist zwischen den Etagen steckengeblieben, sodass er sich gezwungen sah, das Schweizer Taschenmesser, das er immer bei sich trägt, zu benutzen, um die Fahrstuhltür von außen zu öffnen und in den vierten Stock zu springen. Es ist sehr warm, sowohl draußen als auch überall drinnen. Er hat mit aller Kraft versucht, mit der Messerklinge den eisernen Türgriff des Aufzugs zu erreichen, ihn vorsichtig nach oben zu ziehen. Der Gedanke, dass er sich womöglich gar nicht würde befreien können, ist ihm dabei auch durch den Kopf gegeistert, worauf er für einige Sekunden lang panisch wurde. Und dann hat er sich umgeschaut, um zu sehen, wo er hinfallen würde, falls er keine Luft mehr bekäme. Ob er sich an etwas stoßen würde.

Als er davon erzählt, sammeln sich Schweißtropfen in seinen Augenbrauen, er wischt sie mit dem Handrücken weg und zieht dabei eine zierliche Blutspur über die Stirn. Dieser Mann. Der in einer Extremsituation, mitten in Bukarest, ums Überleben kämpft. Am liebsten würde sie ihn an ihre Brust drücken und ihm den Kopf küssen, sie beherrscht sich aber.

Schau mal einer an, endlich war ihm sein Taschenmesser mal hilfreich.

In der Kantine hängt zwischen den Heiligenbildern ein lärmender Flatscreen-Fernseher. Die beiden nehmen sich rote Plastiktabletts und stellen sich an. Sie bestellt Sarmale, er eine Fischsuppe.

„Nehmen Sie ein Brötchen dazu?“, fragt die Bedienung.

„Geben Sie mir eins“, antwortet Paul.

Während sie auf die Ecke zulaufen, in der ein Plastikbaum steht, können sie die Tabletts kaum balancieren.

Sie findet ein Stück Folie in ihren Kohlrouladen. Er hingegen findet nichts in seinem Essen und fühlt sich unwohl. Ihm ist bewusst, dass sie die unhygienischen Lokalitäten, die er in Bukarest aufsucht, nicht leiden kann. Aber er hat sich eine Religion daraus gemacht, keinen Fuß in Lokale für Spießer zu setzen, und das macht ihn selbst zum Spießer.

„Lass uns zusammenziehen“, sagt er unvermittelt, obwohl es nicht der beste Zeitpunkt dafür ist, nach der Geschichte mit dem Fahrstuhl. Er hat zuvor lange darüber nachgedacht und muss es jetzt unbedingt über die Lippen bringen.

Sie schaut auf das halb gegessene Brötchen mit dem darauf eingeprägten Kreuz. Das Brötchen selbst ist eigentlich ein altes Prescura aus der gegenüberliegenden Kirche. Eben hat sie sich vorgestellt, wie die Verkäuferin eine riesige Stofftasche voll von diesen kleinen Broten quer über die Straßenbahnschienen schleift.

Sonia ist verwundert und überwältigt, aber wenn sie ihre Antwort noch weiter hinauszögert, wird er dieses Zögern als tragisch empfinden und dabei alle Grenzen der Interpretation sprengen. Das ist es, was er tut. Davon lebt er. Er gibt an der Universität Kurse über das Interpretieren.

„Wo würden wir einziehen?“

„Bei mir“, sagt er.

„Bei mir“ ist eine Wohnung in der letzten Etage eines erdbebengefährdeten Hochhauses auf der Căderea Bastiliei. Von einem der Schlafzimmerfenster aus sieht man den gesamten Bulevardul Magheru und vom kleinen Küchenbalkon überblickt man den gesamten Lascăr Catargiu. Die Wohnung gehört nicht ihm, sondern den Eltern seiner Ex-Freundin, mit der er vor sechs Jahren nach London gezogen war. Von dort war er alleine zurückgekehrt. Die Eltern der jungen Frau hatten versucht, zu verkaufen, aber da sich kein Käufer gefunden hatte, gaben sie schließlich auf und erlaubten ihm, dort zu wohnen und sich um die Nebenkosten zu kümmern. Ein vertrauenswürdiger Bekannter, ein ruhiger junger Mann. Sie nehmen keine Miete von ihm. An den Wänden breiten sich Feuchtigkeitsflecken aus, deren Formen an eine Landkarte erinnern. Im kleinen Schlafzimmer tropft es von der Decke. Sobald es regnet, muss man dort einen Eimer aufstellen. Die Nachbarn verweigern eine Beteiligung an den Kosten.

Jedes Mal, wenn sie ihn besucht, läuft Sonia die sieben Etagen zu Fuß hoch. Über das Erdbeben-Thema sprechen sie oft und er sagt ihr alles Mögliche dazu: Es ist nur dann ein echtes Problem, wenn es passiert; wenn es dich auf der Straße erwischt, bringt es auch nichts, in einem sicheren Gebäude zu wohnen; dieses Hochhaus ist nicht gefährdeter als jedes andere Gebäude in Bukarest. Mit den unterschiedlichen Erdbebenwellen kennen sie sich aus und führen abstrakte Gespräche über Angst.

Wenn sie ihre Antwort noch länger hinauszögert, wird er dieses Zögern als sehr tragisch empfinden.

„Du kennst meine Meinung zu dem roten Punkt auf erdbebengefährdeten Gebäuden.“

Er ist enttäuscht. Er ist sehr leicht zu enttäuschen.

Dann denkt sie an den „Canyon“ der Calea Victoriei, der Straße, in der sich das Haus mit ihrer Einzimmerwohnung befindet. Der zugehörige Hof ist von riesigen Blöcken umringt, sodass sie nur zwischen elf und dreizehn Uhr Licht hat, wenn die Sonne wie in einen Brunnenschacht hineinstrahlt. Einmal die Woche fällt der Strom aus. Der Nachbar, Nea Gelu, kontrolliert die Sammelrechnung fürs Wasser und will jeden Monat mehr Geld für zwei Kubikmeter, da es auf der Strecke Lecks gebe, er im Garten gieße oder viel Wasser für den Großputz, den er nie macht, verbrauche. Als nächstes muss sie an die Nacktschnecken denken, die immer, wenn es regnet, durch den Duschabfluss hochkriechen, die sie mit Salz überschüttet, so wie sie es auf YouTube gesehen hat, an die Wand im Flur, die ebenfalls eine Schimmellandkarte geworden ist, und an die Miete, die einfach viel zu hoch ist für dieses 16-Quadratmeter-Loch, das mit höchster Wahrscheinlichkeit ursprünglich ein Schuppen war. Sie braucht tatsächlich eine Veränderung.

„In Ordnung“, sagt sie.

Es wird unkompliziert sein, ihre Sachen in einer Tasche von der Amzei bis zur Romană zu schleppen, nur werden sie den Weg mehrmals gehen müssen.

*

Vlad Petre ist ein fünfundvierzigjähriger Regisseur, der sich seit zwanzig Jahren wünscht, mit einem Spielfilm zu debütieren. Er hat einige Artikel von Sonia sowie eine in einem Sammelband veröffentlichte Kurzgeschichte gelesen und er folgt ihrem Blog auf der Website des Radios, bei dem sie als freie Mitarbeiterin tätig ist. Dort gestaltet Sonia eine Radiosendung, in der sie Gespräche mit jungen inspirierenden Menschen führt. Auf dem Blog befasst sie sich mit Fragen rund um das Thema Zukunft.

Zusätzlich sind da noch die Tätigkeiten, die sie geheim hält, über die sie mit niemandem spricht, diverse Online-Jobs, bei denen sie Texte für verschiedene Betriebe verfasst. Zum Beispiel arbeitet sie zurzeit an Etiketten für tiefgefrorene Erbsen und Maisgemüse in Dosen sowie an Rezepten und Verzehrempfehlungen. Später dann wird sie auf verschiedenen Websites unter hunderten fiktiver Identitäten lobende Rezensionen zu diesen Produkten veröffentlichen. Und dann wiederum wird sie unter hunderten fiktiver Identitäten negative Kommentare über die Konkurrenz schreiben.

Vlad hat sie mit Leichtigkeit auf Facebook gefunden und sie plump angeschrieben; ob sie Lust hätte, sich mit ihm zu unterhalten und sich seinen Vorschlag anzuhören.

Es ist ein brütend heißer Sommer in Bukarest City. Die Käfer sind durch die Sanitärinstallation bis in die siebte Etage hochgeklettert. Die Hitzewelle, die Europa umschlungen hat, wurde „Luzifer“ getauft. Ob es wohl die stickige Hitze ist, die einem das Gefühl von krabbelnden Insekten auf der Haut gibt, fragt sich Sonia jeden Abend vor dem Schlafengehen. Das Gleiche fragt sie sich auch jetzt, als sie den Verona Garden betritt, in dem sie mit Vlad Petre verabredet ist. Er sitzt an einem kleinen Tisch direkt neben dem Eingang, mit dem Gesicht zum Tor, sieht sie gleich, hebt seine Hand weit nach oben und gibt ihr ein Zeichen, als ob sich zwischen ihnen ein Meer aus Köpfen befinde.

„Ich habe eben versucht, dich anzurufen“, sagt er.

Sie schaut auf die Uhr. Punkt fünf.

„Falls du zufällig hier sein solltest und mich nicht siehst.“

„Ich habe dein Profil durchforstet“, sagt sie. „Ich hätte dich schon gefunden.“

Er hat grüne, helle Augen, die sie anstarren, und stellt Fragen wie einer, der sich vor jedem Feldzug seines Erfolges sicher ist. Ein Jäger.

Die Kurzfassung: Er hat eine Idee und möchte daraus einen Film machen. Er möchte, dass sie das Drehbuch dafür schreibt, weil sie Humor besitzt, ihm sorgfältig vorkommt, und außerdem habe er den Glanz in ihren Augen gesehen, er habe sie also durchschaut.

Wie wird er wohl auf mich gekommen sein, fragt sich Sonia. Warum ich?

Wieso schreibt er das Drehbuch nicht selbst?

Leider bietet Vlad Petre von Beginn an ein sehr niedriges Honorar, er kann sich also wohl sonst niemanden leisten.

Die Geschichte, die er haben möchte, spielt im Jahr 1974 und handelt von Zoia Ceaușescu und ihrer Mutter, Elena. Er hat ein vielversprechendes Gerücht gehört.

„Zoia arbeitete am Institut für Mathematik“, fängt Vlad an, „da, wo neben ihr weitere hundert Wissenschaftler angestellt waren. Sie wurde ununterbrochen von der Securitate überwacht, denn sie ging mit vielen Männern aus, und ihre Mutter konnte das nicht leiden. Eines Tages verschwand sie und sie konnten sie über das ganze Wochenende hinweg nicht finden. Als sie dann am Montag zurückkehrte, erzählte sie ihnen, dass sie mit einem Typen in den Bergen gewesen war. Ihre Mutter war verärgert und befahl, um sie zu bestrafen, die Schließung des Instituts.“

„Was passierte dann mit den hundert Wissenschaftlern?“, fragt Sonia, die, als sich die Revolution ereignete, gerade erst aus dem Leib ihrer Mutter geschlüpft war.

„Rausgeschmissen!“, sagt er voller Zufriedenheit, denn diese Intrige hat großes Potenzial.

Wenn Vlad Petre Geschichten erzählt, glänzen seine Augen; nicht, weil er gerne Geschichten erzählt, sondern weil er sich gerne die Geschichten, die er bei anderen entdeckt hat, aneignet. Manche sind sogar wahr. Er ist nicht imstande, etwas zu erfinden, aber das macht ihm nichts aus, solange er aufdringlich genug ist, den Menschen ihre Geschichten mit der Zange herauszuziehen.

„Wie kann eine Mutter nur so mit der eigenen Tochter umgehen?“, fragt sich Sonia laut.

„Kannst du diese Geschichte schreiben?“, fragt Vlad Petre und lehnt sich im Stuhl zurück.

Er schaut sie gelassen an, er begutachtet sie.

„Ich muss recherchieren“, sagt sie.

„Natürlich.“

„Das wird viel Zeit in Anspruch nehmen.“

„Du bekommst eine Anzahlung.“

Letztendlich nimmt sie den Auftrag an, denn er beharrt darauf und sie braucht das Geld. Außerdem ist sie gespannt darauf, mehr über die zwei Frauen zu lesen, über die sie bisher noch nie nachgedacht hat. Das Schicksal der hundert Wissenschaftler mag absurd sein, aber sie ist eher an der Mutter-Tochter-Beziehung interessiert.

„Selbstverständlich kannst du dich auch für eine weibliche /feministische Herangehensweise entscheiden“, sagt Vlad Petre. Sonia wird später erfahren, dass er manchmal einen Schrägstrich zwischen die Wörter setzt.

„Eine weibliche oder eine feministische?“, fragt sie.

„Nenn es, wie du willst.“

*

Wo soll sie anfangen?

Vlad Petre hat ihr nämlich gesagt, dass er in seinem Film Zoia und Elena haben möchte, die Elena; also muss das Thema recherchiert werden. Der Film muss einen gewissen Anteil an Wahrheit enthalten, damit Vlad behaupten kann, dass es um die Elena geht.

Sonia stellt fest, dass sie über das, was vor ihrer Geburt geschah, gar nichts weiß, obwohl sie bisher den Eindruck hatte, genug zu wissen. Die Bilder, die jeden Dezember, gleich nach ihrem Geburtstag, ununterbrochen im Fernseher laufen, kennt sie in und auswendig: die Rede, die Flucht, die Hinrichtung und die Übernahme des staatlichen Fernsehsenders durch die Revolutionäre; Bilder, die die Erinnerungen der Menschen gefestigt haben. Manchmal hat sie den Eindruck, es seien ihre eigenen Erinnerungen, sie könnte schwören, sie hätte die Live-Übertragungen gesehen, als sie klein war; sie weiß sogar, auf welchem Sessel sie in den Armen der Mutter saß. Wenn sie die anderen über „früher“ sprechen hört, fallen ihr diese Bilder ein und das war’s. Das bedeutet „früher“. Was wird es aber vor „früher“ gegeben haben?

Der Engel, der sie durchs Leben begleitet, ist der Engel, der einem von hinten einen Schubs verpasst. In entscheidenden Momenten hört sie ihn aus der Höhle rufen, in der er liest und wie jeder andere Gläubige betet.

Er sagt ihr, ohne die Augen vom Buch zu nehmen, dass sie es schaffen wird. Das tut er, während er umblättert oder einen Satz, den er überlesen hat, nochmal liest.

Diesen Engel hat sie mit achtzehn erfunden, als sie von zu Hause ausgezogen ist.

Sie versucht, ihn nicht allzu oft zu stören. Es hilft ihr aber, zu wissen, dass er da ist.

Komm schon, das schaffst du, sagt der Engel.

Sonia ist keine investigative Journalistin. Vielleicht müsste das hier mit einer Einführung in den investigativen Journalismus oder so etwas Ähnlichem anfangen, mit Lesestoff oder einem Tutorial darüber. Stattdessen schickt ihr Vlad Links zu drei Filmen, die man gesehen haben muss, und ein Vimeo-Password.

„Hast du Save the Cat gelesen?“, schreibt er ihr eines Tages nach Mitternacht in einer SMS.

Am zweiten Tag ruft sie ihre Mutter an, berichtet, dass alles in Ordnung sei, sagt, sie habe keine Neuigkeiten, und fragt dann wie aus heiterem Himmel:

„Kannst du dich an das Jahr 1974 erinnern?“

„Woran soll ich mich erinnern?“

„An irgendetwas. Egal was … Wie war es damals?“

„Wieso fragst du?“

„Einfach so. Ich bin neugierig.“

„Genau 1974?“

„Oder von mir aus 1975. Wie war’s? Außer grau.“

„Hmm“, sagt die Mutter. „Ich kann mich erinnern, dass ich Appetit auf Oliven hatte, man konnte aber keine finden, und ich wartete darauf, dass Onkel Tudor auf Dienstreise nach Bukarest ging, um Oliven zu besorgen.“

„Die Lebensmittelknappheit war doch in den 1980ern, oder?“

„War sie nicht schon 1975?“, fragt die Mutter verwirrt.

„Ich wusste von den 1980ern.“

„Ja, vielleicht bekam ich auch später Appetit auf Oliven …“

„Du bist zu jung“, sagt Sonia.

Ihre Mutter war 1974 neun Jahre alt. Was für Kindheitserinnerungen könnte sie haben, die ihr weiterhelfen würden?

Das Einzige, an das sich Sonia aus diesem Alter erinnern kann, ist, dass sie mit neun von ihrer Grundschullehrerin vor der gesamten Klasse zehn Stockhiebe auf die Hände bekommen hat: fünf auf die eine Hand und fünf auf die andere, und zwar, weil ihr bei einer Subtraktionsaufgabe mit Zehnerübergang ein Fehler unterlaufen war. Sie erinnert sich, wie sie sich schämte und was für eine Angst sie davor hatte, dass ihre Mutter irgendwann davon erfahren könnte.

Und nein, das ereignete sich nicht vor 1989, sondern viel später.

Ihre gesamte Kindheit und Jugend war sie davon überzeugt, die Stockhiebe verdient zu haben. Sie hatte sich damit abgefunden; der Kokon, in dem sie all die Zeit an einem Ast hing, war ein Boxsack. Nicht unbedingt in physischer Hinsicht, aber behütet und sorglos ist sie eben nicht aufgewachsen. Die Kindheit ist kein Ort, an den sie zurückkehren will, weil sie damals von niemandem in Schutz genommen wurde.

Sie war nie Klassenbeste und daraus hat Sonia entnommen, dass sie niemals gut genug sein wird.

*

Zwei Wochen nach dem ersten Treffen bekommt Sonia eine SMS von Vlad: „Wie läuft’s?“

Abgabetermine haben sie nicht vereinbart, auch nichts über Auszüge oder Varianten, die sie ihm zwischendurch vorlegen müsste.

Sie trödelt eine halbe Stunde im Haus vor sich hin, dann duscht sie, was erforderlich ist, denn der Geruch von Shampoo hilft ihr, Entscheidungen zu treffen; das Haarewaschen verschafft ihr den Eindruck, sie räume in ihrem Kopf auf und sei dann bei klarem Verstand.

Sie beschließt, ihm zu antworten: „Ich habe angefangen“, obwohl sie weit entfernt davon ist, etwas aufs Papier zu bringen; die Tatsache, dass sie nachts nicht schlafen kann, weil sie daran denkt, wie sie vorgehen soll, ist aber ein Teil der für diese Geschichte notwendigen Arbeit, sodass man sagen kann, sie hätte angefangen.

Die einzige, total verrückte, Idee, die ihr einfällt, ist, dass sie Geschichten mit Securisten bräuchte. Diese exotischen Charaktere, die phänomenale Sachen taten, könnten ihr viele Ausgangspunkte für das Drehbuch liefern. Manche sind noch am Leben. Sie müsste Memoiren und Personen suchen.

*

Im Athenäum gibt es eine Ausstellung, betitelt mit Der Kommunismus in Rumänien.

„Wollen wir hingehen?“, fragt Sonia Paul.

Er nähert sich ihr von hinten und schaut sich die Anzeige auf dem Bildschirm des Laptops an.

„Der Kommunismus in Rumänien, und auf dem Plakat sieht man den Flur eines Gefängnisses! Große Klasse!“

„Das war es doch, oder nicht?“, fragt sie ihn.

Er macht eine abwehrende Geste.

„Ich habe kein Interesse an dieser Veranstaltung.“

Vor zwei Jahren, als sie sich ineinander verliebten, spürte sie, dass sie sehr viele Sachen von ihm lernen würde; vielleicht hat er sie gerade damit erobert: Er kam ihr intelligent (jetzt würde sie eher „belesen“ sagen) und entschlossen (jetzt würde sie eher „steif“ sagen) vor.

Beim CNSAS, dem Nationalen Rat für das Studium der Archive der Securitate, stehen die Akten theoretisch jedem zur Verfügung, es dürfen aber nur Beamte und Wissenschaftler hinein.

Sie ruft ihre Mutter noch einmal an.

„Glaubst du, dass Großvater an die Securitate verraten wurde? Ich würde gerne etwas über ihn lesen.“

Der Großvater mütterlicherseits ist eine Legende der Familie, seitdem er vor zehn Jahren gestorben ist. Das Bild von ihm hat spektakuläre Veränderungen erlitten, seitdem er abgetreten ist. Sonia ist überzeugt, dass er ein toller Mensch gewesen wäre, wenn er ein wenig Erziehung genossen hätte. Vielleicht hätte die Erziehung auf seinen Kopf so eingewirkt, dass er die Großmutter nicht mehr geschlagen hätte. Er war intelligent und schlau und besaß einige Hefte mit Berechnungen, von denen keiner wusste, was für Berechnungen das waren. Mit Sicherheit hätte jemand über ihn in einer geheimen Akte Sachen schreiben können.

„Möchtest du einen Antrag stellen?“, fragt Sonia.

„Nicht wirklich“, sagt ihre Mutter, „Wozu sollte ich das tun?“

„Damit du mir erzählst, wie es drinnen beim CNSAS aussieht.“

„Hast du das nicht im Internet gefunden?“

„Ich möchte, dass du mir sagst, wie es dort drinnen riecht.“

„Wahrscheinlich juckt mir dort die Nase und meine Augen tränen und mein Gesicht schwillt an. Du weißt doch, ich kann nicht mal mehr in die Bibliothek gehen, bei den ganzen verstaubten Sachen dort.“

Sonia muss daran denken, wie das Gesicht ihrer Mutter einst vom Katzenhaar aufgedunsen war, und ihre Mutter muss an ihren Vater denken. Zum ersten Mal keimt in ihr der Gedanke auf, dass sie die Erben zusammenrufen und das elterliche Haus, dessen Hof sich in einen Dschungel verwandelt hat, seitdem dort niemand mehr wohnt, verkaufen sollte. Vielleicht ist es letztendlich doch nicht ihre Pflicht, es zu behalten, worauf sie bislang hartnäckig bestanden hat, und zwar, weil ihr Vater ein Märtyrer gewesen ist und es mit seinen eigenen Händen gebaut hat. Was für eine Beleidigung es für ihn gewesen wäre, zu seinen Lebzeiten zu wissen, dass das Haus verkauft wird. Obwohl er geschworen hat, dass das Haus mindestens hundert Jahre halten wird, ist es nach nur fünfzig Jahren und zwei Generationen marode.

„Es muss ja schon faszinierend sein, Beobachtungen über die eigene Person zu lesen. Irgendwie … so, als ob man sich von außen sehen würde“, sagt Sonia zu Paul und lacht, weil sie es in diesem Augenblick witzig findet, alte Akten, die ihr fast wie eine Art Poesiealben erscheinen, zu durchforsten.

Paul findet eine solche Herangehensweise entsetzlich. Sie lacht allein. Er sitzt, versunken in einen Sessel, auf dem Balkon mit seinen breiten Fenstern und Eisenträgern und raucht, und der Rauch weht nirgendwohin, er verschwindet bloß, vielleicht wegen der Hitze. Unter ihnen erscheinen wie in einem Film Autos, die ununterbrochen im Kreisverkehr am Romană fahren. Eine durchsichtige Decke hält den Lärm unten.

„Lass es lieber, wenn du nichts verstehst“, sagt er.

Es tut ihr leid, dass sie gelacht hat.

„Und wer hat diesem Typen genehmigt, einen Film über den Kommunismus zu drehen?“, fragt Paul irritiert.

„Das ist eine Geschichte, kein Film über Kommunismus. Die ganze Wahrheit interessiert uns nicht mal.“

Sie geht zu ihm und setzt sich auf seinen Schoß. Er protestiert nicht. Dann legt sie ihre Arme um seinen Hals. Nun ist er von allen Seiten eingeklammert. Er hat nicht genug Kraft, um sie zur Seite zu schieben, sodass er ihr Gewicht auf seinem akzeptiert, ihr Gewicht auf seinen Knochen spürt. Daraufhin lässt sie sich auf die rechte Hüfte sinken und sticht so in seinen Bauch. Dabei weiß sie, dass sie Druck auf ihn ausübt. Es ist die Art Stellung, in der sie ihm gerne sagt, dass sie ihn liebt.

Jetzt aber sagt sie:

„Kannst du mit deinem Prof sprechen, damit er mir eine Wissenschaftlerinnen-Bescheinigung ausstellt? Damit ich beim CNSAS reinkomme?“

Paul muss die Promotionsarbeit, an der er sehr lange gearbeitet hat, verteidigen. Das findet er am schwierigsten; er schreibt und schreibt um, aber der Professor winkt sie nicht durch, erklärt ihm jedoch auch nicht, womit er unzufrieden ist. Das zweite Jahr ist auch schon fast vorbei, im Herbst kommt er an die Front, in den Kampf um seinen Titel, und das beunruhigt ihn immer mehr. Wohin es nach dem Abschluss seines Promotionsstudiums, wofür er ein Stipendium bekommen hat, geht, weiß er nicht. Die Tatsache, dass er die mündliche Prüfung ablegen wird, beruhigt ihn nicht, die Aussicht macht ihm nur Angst, weil sie ihn zwingt, daran zu denken, was danach auf ihn zukommt. Es hätte ihm gefallen, weiter an der Uni zu unterrichten. Selbstverständlich träumen alle Kollegen davon. Aber er fühlt, dass ihm dafür das gewisse Etwas fehlt; ihm fehlt die Ausstrahlung, wenn man das so sagen kann. Darunter versteht man, dass ihm für Lobtiraden und Knechtschaft das Durchhaltevermögen fehlt.

Am Ende des ersten Jahres sagte ihm die Fachbereichsleiterin, dass ein Posten für einen wissenschaftlichen Mitarbeiter ausgeschrieben wird, ob er Interesse hätte, sich darauf zu bewerben. Das war eine sehr gute Nachricht für einen jungen Mann, der nach mehreren Jahren im Ausland nach Rumänien zurückgekehrt war. Die Geschichte seiner Migration und De-Migration wird im Laufe der Zeit für ihn und für die anderen viele Formen annehmen. Er wird sich nicht zurückhalten, zu sagen (und sich Mühe geben, auch selbst an diese Variante zu glauben), dass er zurückgekehrt ist, weil sein Platz hier ist und er ein Teil der Veränderung sein möchte, dass er liefern kann und liefern möchte. Eigentlich ist er vor einem Umfeld weggelaufen, das ihn ablehnte und vor einer Person, deren Verrat er so stark verabscheute, dass er das Bedürfnis hatte, Tausende Kilometer weit entfernt zu sein.

Die Rückkehr nach Rumänien war ein Abenteuer, keine Flucht; diese Geschichte erzählt Paul immer wieder, denn für ihn – das wird Sonia später merken – scheint die Vergangenheit eine Wolke aus aufgelockerter Schurwolle zu sein, aus der man sich so viele Fäden herausziehen und verweben kann, wie man möchte.

Die Möglichkeit eines Uni-Postens verschönerte ihm das Leben nur zwei Tage lang, bis nämlich der Prof von Pauls Interesse, sich zu bewerben, Wind bekam. Obwohl er nicht offiziell der Chef war, hatte sein Prof den größten Einfluss im Fachbereich und für den Posten bereits jemand anderen im Sinn. Daraufhin gab es einen heftigen Streit zwischen den beiden. Der Prof warf Paul vor, sich eingemischt zu haben; und bei der Gelegenheit erfuhr Paul, dass der Prof die Fachbereichsleiterin auf den Tod nicht ausstehen konnte. Nun befindet er sich in einem ständigen Konflikt mit seinem eigenen Betreuer, der ihn seither schikaniert, so oft sich die Möglichkeit bietet.

Auf keinen Fall wird er ihn um ein Gefallen für Sonia bitten.

„Hilfst du mir, einen Künstler zu finden, der eine Akte hatte?“, fragt sie. „Damit ich behaupten kann, ich würde etwas über ihn lesen wollen? Vielleicht will ich das tatsächlich …“

Paul studiert Kunstgeschichte.

Als er ihre Fantasien zum CNSAS hört, macht er die Augen zu und weiß gar nicht, wo er anfangen soll, ihr zu erklären, wie es um das Verhältnis zu seinem Prof steht, wie gedemütigt er sich in dieser ganzen Geschichte fühlte, wie ihm damals vorgeworfen wurde, sich eingemischt zu haben, und vor allem, wie gekränkt er im Rückblick von seiner eigenen Naivität war, blauäugig anzunehmen, dass sich alles leicht, sauber, schön und schnell arrangieren lassen könnte, wie in einem dieser Märchen, in denen man gefragt wird „Wie hast du das geschafft?“, und man ganz einfach sagt: „Ich habe fest daran geglaubt.“

Aber anstatt es ihr zu erklären – was genau, weiß er selbst nicht – würde er sie am liebsten wegschubsen.

„In Ordnung, okay, du hasst mich“, sagt sie. „Ich lasse dich in Ruhe.“

Sie küsst ihn auf den Mund, doch er presst die Lippen zusammen. Als sie von seinem Schoß steigt, stützt sie sich absichtlich auf seinem Bauch ab.

*

Alle Menschen haben eine Vergangenheit. Und ab und zu wird ein Schlussstrich gezogen: Jemand stirbt oder du ziehst weit weg oder das Weitweg bricht über dich herein und macht dich verrückt, und es vergehen Jahre, du schaust zurück und hast den Eindruck, dass die Vergangenheit toll war. Das Gedächtnis sortiert aus, damit es dich am Leben hält.

Manchmal, wenn Sonia zum Beispiel ihre Mutter nach dem Grund fragt, aus dem sie sich von ihrem Vater abgesondert hat, warum sie ihn vor ihnen schlechtgeredet und alles versucht hat, ihn von ihnen fernzuhalten (als ob das etwas Schlimmes gewesen ist, sagt die Mutter zu sich selbst), wirft ihr diese vor, dass sie sich offenbar nur an die jämmerlichen Sachen erinnert. „Warum kannst du dich nicht an die guten Dinge erinnern?“ Dann erwähnt sie mal wieder, dass es andere viel schwerer hatten, und sie kommen alsbald auf andere Themen, etwa darauf, wie es ist, sich die Haare mit Essig zu waschen und wie man weiße Läuse von einem Dattelbaum entfernen könnte, falls man jemals einen Dattelbaum in einem Kübel halten würde.

Von dieser Wut abgesehen, die sich in ihr aufgestaut hat, weil sie die Welt und die Männer nicht versteht, weil sie keinen Vater an ihrer Seite hatte, der seine Hand unter ihr Kinn legt, ihren Kopf leicht nach oben richtet, ihr in die Augen schaut und zu ihr „Papas schönes Mädchen“ sagt, scheint ihr die Vergangenheit, je weiter sie zurückschaut, umso besser gewesen zu sein. Ein Trick des Gedächtnisses.

Also fängt sie an, ältere Menschen zu suchen, die sich aus eigener Erfahrung daran erinnern, wie es „früher“ war. Um zu sehen, welche Wut bei ihnen aussortiert wurde. Ihr ist bewusst, dass sie nie zu mehr als zu einer lausigen Recherche fähig sein wird. Was ihr Sorgen macht, ist die Tatsache, dass die Vergangenheit, die sie interessiert, die nicht einmal so lange her ist, so tief begraben ist, dass sie überhaupt nicht als ein kohärentes, ganzes Etwas ausgegraben werden kann. Man kann nur Bruchstücke, sehr, sehr unterschiedliche Scherben, ausgraben.

Falls es ihn geben wird, wird ihr Film ein Mosaik aus Scherben sein.

Sie läuft zusammen mit Paul zu einer Terrasse im Viertel, um Dani, einen gemeinsamen Freund, zu treffen. Anfangs war er nur ihr Freund gewesen, denn sie waren Kollegen an der Uni. Er ist noch entschlossener als Paul, keinen Fuß in Lokale für Spießer zu setzen. Ansonsten ist er schlau und witzig, und Sonia hat ihn von dem Augenblick an, als sie erfuhr, dass er schwul ist, bewundert. Erst seitdem erlaubt sie sich, ihn für einen tollen Typen zu halten und ihrer Bewunderung freien, so frei es nur geht, Lauf zu lassen, weil sie nun mit Sicherheit ausschließen kann, dass das zu irgendwelchem Leid führen würde. Es besteht keine Gefahr, dass sie sich voneinander angezogen fühlen.

Auch Dani promoviert gerade, im ersten Studienjahr, und arbeitet an einer These über die Stilistik der Aktennotizen in den 1980ern. Am meisten faszinieren ihn dabei Grammatikfehler.

Sonia möchte ihm von dem neuen Projekt, das sie angenommen hat, erzählen, und ihn bitten, für sie den Kontakt zu einigen Menschen herzustellen, die ihr Informationen, Geschichten, Gedanken oder was auch immer liefern könnten.

Der Rauch, der von den Mici aufsteigt, scheint für immer und ewig unter den großen roten Terrassenschirmen eingeschlossen zu sein. Der Schweiß, der in den Augenbrauen hängt und die Wirbelsäule hinabläuft, stinkt nach den kleinen Hackfleischröllchen. Die Musik ist laut, an ihnen vorbei laufen Menschen, die vom nahegelegenen Markt zurückkehren, sie schleppen rote Tüten, Plastikkanister, kleine Wannen und hunderte andere riesige Sachen, die sie kaum von der Stelle kriegen, während sie wie Enten von einem Bein aufs andere schwanken.

Dani fragt sie, worum es geht, und sie beginnt von vorne, bei Zoia Ceaușescu und ihrer Mutter Elena, und sie wiederholt Vlad Petres Geschichte über das, was am Institut vorgefallen ist. Während sie erzählt, hält Dani ein breites Grinsen zurück und Paul fühlt sich peinlich berührt.

„Mitte der 1960er Jahre gab es Reformen im Bildungssystem. Vielleicht hat es damit zu tun“, sagt Dani. „Vielleicht wurde das Institut gar nicht geschlossen, sondern nur umstrukturiert.“

Später, viel später wird Sonia nach der Lektüre anstößiger Werke erfahren, dass die Bildungsreform erst im Sommer des Jahres 1976 eingefädelt wurde, nach dem ersten Kongress für das Sozialistische Kultur und Bildungswesen. Dessen Ziel war eine beschleunigte Entwicklung des „neuen Menschen“. Im Jahr 1974 wurden Änderungen an der Verfassung vorgenommen, die den Generalsekretär Ceaușescu zum absoluten Herrscher des Landes krönten. Seine Ehefrau wurde in die Akademie aufgenommen, welche 1976, nach dem Kongress, zu einem zusätzlichen Zweig der Abteilung für Agitation und Propaganda wurde.

Damals wusste Sonia noch nicht, dass es sich um eine so komplizierte Geschichte handelt.

Vlad Petres Einstellung, kombiniert mit ihrer eigenen Ignoranz bezüglich allem, was vor ihrer Geburt war, verschaffen ihr allmählich den Eindruck, dass die Vergangenheit ein Fass ohne Boden ist, gefüllt mit Fiktionen, die zu nichts mehr einen Bezug haben, aus dem man sich bedienen kann, ohne allzu viele Fragen zu stellen.

Nichtsdestotrotz.

Sie hat das Bedürfnis, an einem Punkt loszulegen, den sie halbwegs versteht.

Dafür müsste sie zumindest ein Element verstehen, egal welches.

„Kennst du einen alten Securisten“, fragt sie, „der mir von seiner glorreichen Jugend erzählen würde?“

Dani kann ihr nicht folgen.

„Ich würde gerne eine Geschichte schreiben, die davon handelt, wie ihre Mutter einen Securisten auf sie ansetzt hat, wie der sie ausspioniert hat …“

Dani lehnt sich auf dem Stuhl zurück und verliert den Schutz des Sonnenschirms; die Sonne scheint ihm auf die Stirn, sodass er sich gleich wieder aufrichtet und sich mit den Ellenbogen auf dem Tisch abstützt.

„Wer ist dieser Typ, der den Film drehen möchte? Was hat er sonst noch gedreht?“

„Ein paar Kurzfilme. Keine Ahnung, wer er ist … Das hier ist nur eine Geschichte. Eine Fiktion.“

„Wieso nehmt ihr dann keine fiktiven Charaktere?“, fragt Paul.

„Die Charaktere hat er mitgebracht. Machst du dir Sorgen über das Ansehen der Ceaușescus?“, fragt sie, aber er antwortet nicht, bewegt nur den Mund mit zusammengepressten Lippen, so, als ob er das Bier kauen würde.

Auf dem Rückweg tut es ihr leid, dass sie ihn verärgert hat. Früher war Paul nicht so ein Mimöschen, das sich über jede Kleinigkeit ärgert. Und sie lachte zusammen mit ihm, früher war sie viel freimütiger. Deshalb versteht sie nicht, warum ihre Gefühle so schnell abgeflaut sind, ob sie daran schuld ist, weil sie zu ungebildet ist und ein umfangreiches Thema derart leichtfertig behandelt. Die Wahrheit ist, dass es sie nicht sonderlich kümmert, wie es früher war, und dass sie sich jetzt nicht mehr sicher ist, ob sie das Recht dazu hat, derart unbekümmert zu sein. Wenn sie wenigstens eine Geschichte erfinden könnte, in der eine Mutter, eine Tochter und ein Securist vorkämen. Wenn sie bloß die Unverschämtheit dafür besäße, die ganze Geschichte zu erfinden. Und Paul einfach nicht mehr alles zu erzählen.

An der Kreuzung der Wirtschaftsakademie ASE riecht es nach Brezeln und Abgas, die Schuhsohlen versinken in dem unebenen, gewellten Asphalt, als würde man auf Lava gehen. Die Stadt hilft beim Abnehmen. Man läuft kreuz und quer hindurch und kommt leichter zu Hause an, als man losgegangen ist, wie frisch geschleudert, der Rückenschweiß tropft den Hintern runter, die Haare kleben am Kopf, man stinkt wie ein gerupftes Huhn. București.

Er sperrt die Eingangstür zum Treppenhaus auf, sie gehen zusammen hinein, in den Flur, wo es kühler ist und nach Schimmel müffelt. Er drückt auf den Fahrstuhlknopf, sie läuft an ihm vorbei, zu den spiralförmigen Treppen und dann bis nach oben, ganz hoch, bis in die siebte Etage.

*

Vlad Petre möchte einen offiziellen Termin vereinbaren und schickt ihr eine E-Mail. Es ist ein Monat vergangen. Sonia hat in dieser Zeit nichts anderes getan, als chaotisch im Internet herumzusuchen. Dort hat sie unzählige Gerüchte über Elena Ceaușescu gefunden und viele Verschwörungstheorien, die im Zusammenhang mit ihrer bösartigen Genialität stehen. In sogenannten Zeitschriften für Geschichte sind Artikel über ihre Liebhaber erschienen, darüber, wie sie sie eifersüchtig gemacht hat, über die Orgien, die sie sich angeschaut hat, und noch so manches mehr. Sie soll von dem Vater des berühmten Panflötenspielers Gheorghe Zamfir, der selbst davon berichtet hat, entjungfert worden sein. Erst durch dieses Detail, so absurd, skandalös oder wie auch immer, sie weiß auch noch nicht wie, werden in Sonia komplexe Gefühle gegenüber Elena geweckt, die bislang nur als Hexe galt.

Warum geht man in eine Sendung und erzählt dort vor laufender Kamera, dass man einen hübschen Vater hat, der Elena die Unschuld geraubt hat? Was für eine Art von Stolz oder Genugtuung wird der berühmte Panflötenspieler verspürt haben, als er das behauptete?

Erfinde doch etwas, sagt ihr der Engel in der Höhle, während er umblättert. Aber sie macht die Nachttischlampe aus, dreht sich mit dem Gesicht zum Bettrand und beschließt, dass sie morgen Vlads E-Mail beantworten wird.

Manchmal sagt dir dein Körper, du sollst schlafen.

Du fragst dich, warum du müde bist, denn du musstest keine Steine klopfen, dein Gehirn hat auch nichts ausgebrütet, und trotzdem willst du schlafen. Du bist völlig erledigt, spürst jede einzelne Faser deines Körpers, als hätte dich jemand windelweich geschlagen.

Sie wacht in derselben Stellung auf, in der sie eingeschlafen ist. Jetzt ist aber helllichter Tag und sie sieht im Schrankspiegel ihr Gesicht, zur Hälfte im Kissen. Dann macht sie die Augen zu und es fühlt sich so an, als ob Sand darin wäre, aber nur unter den Augenlidern. Ihr Augapfel ist im Sand versenkt, ihr Schädel steckt bis zum Scheitel im Sand. Also schläft sie wieder ein. Um elf Uhr ruft Vlad an. Das Telefon liegt direkt neben ihr und es klingelt viel zu laut. Sie lässt es klingeln.

*

Der Künstlerverband UAP hat Paul für zwei Wochen einen Ausstellungsraum in einer spärlichen Galerie in der Amzei zur Verfügung gestellt. Schon lange beschäftigt er sich in seinem Projekt mit der Dynamik im Haushalt und untersucht, wie diese die Kreativität fördert oder so ähnlich. In der Beschreibung hat er den Ausdruck „häusliche Politik“ benutzt. Hinterher war er sich ziemlich sicher, dass er keine Zusage für den Raum bekommen würde, aber das magische Wort „Politik“ hat ihm (mit einem Ruck) die Tür geöffnet und den dicken, staubigen Vorhang am Eingang des mickrigen Raums zur Seite gezogen. Er hatte bereits einige Bilder für dieses Projekt geschossen, aber jetzt hält er Sonia einige Tage im Haus fest, damit er sie, während sie Berge von Gemüse schnippelt und nach Farben sortiert, filmen und fotografieren kann.

Paul hat Schuldgefühle, weil er ein weißer, europäischer Mann und zusätzlich auch noch hetero ist. Wenn er für irgendetwas diskriminiert würde, ginge es ihm besser. Also entschuldigt er sich bei internationalen Begegnungen für seine Stellung, hat diesen Reflex aber auch in Rumänien. In Rumänien beißen sich die Menschen jedoch auf die Lippen, um nicht lauthals loszulachen, und Sonia traut sich nicht, das Thema anzusprechen, ihn darauf hinzuweisen, dass es keine Schande ist, nicht diskriminiert zu werden, solange er sich in Rumänien aufhält.

Den anderen in seiner eigenen Welt zu lassen, ist ein Teil des Kompromisses, Teil dieser Vereinbarung „wir treffen uns irgendwo in der Mitte“, der man zustimmt, sobald man mit jemandem zusammenzieht. So stellt sich das Sonia vor. Letzten Endes ist jeder Flug genauso gut wie jeder andere, solange man sich an einen Plan hält und nicht abstürzt. Lass ihn, hört Sonia manchmal, ohne dass ihr klar ist, ob das von dem Engel oder von ihr selbst kommt.

Bei ihnen gibt es keine Haushaltsdynamik, weil der Haushalt nicht dynamisch ist. Sie essen wer weiß was aus dem Supermarkt und machen sich selten mal ein Omelette oder Pasta. Wenn bei ihnen in der Küche etwas los ist, dann ist eher Paul derjenige, der sich darum kümmert. Auch jetzt ist er derjenige, der die Einkäufe nach Hause schleppt, das Gemüse schält, es in winzige Würfel schneidet und es nach Farben in Häufchen sortiert, denn gemäß seinem Projekt generiert die Arbeit im Haushalt radikale Formen der Kreativität. Die Hälfte der Häufchen baut er auf, danach übernimmt sie.

Aus den Bildern könnte man aber herauslesen, dass dies der Marterpfahl der Frau ist. Dieser bestimmten Frau.

Sonia fühlt sich geehrt, seine Muse zu sein, obwohl in seiner Vision dem Mädchen auf den Fotos und bei der Video-Performance die Haare ins Gesicht hängen, sodass man es gar nicht sehen kann. Sie schnippelt Petersilie, Karotten, vier Sorten Paprika, Kartoffeln – manche weisen Schadstellen auf, als hätten sie Geschwüre, die sie mit der Messerspitze ausschaben muss, und das ist eine besondere, ja ästhetische Erfahrung – Zucchini, Gurken und Zwiebeln, bei denen ihr die Augen tränen, was allerdings kitschig ist und somit bei der Montage ausgeschnitten wird. Er wollte sowieso nichts, wo man die Augen sehen kann.

Die Gemüse-Performance findet in dem Zimmer statt, das er als Studio eingerichtet hat, in dem es durch das Dach regnet. Die Feuchtigkeit hat an der Decke Flecken entstehen lassen, die aussehen wie beigefarbene Spitze, während an den Ecken schwarze Spuren von Schimmel sichtbar geworden sind. Von unten gefilmt, mit der Decke im Hintergrund, hat Sonia etwas Religiöses an sich. Sie wirkt wie eine Märtyrerin, wie eine Verrückte.

Die Galerie wurde schon lange nicht mehr benutzt. Es ist unklar, was das letzte Mal ausgestellt wurde, aber man muss dort erst einmal sauber machen und streichen. Die beiden nehmen Dani mit und zusammen kratzen sie die alte Farbe von den Wänden, verputzen, malern und schlagen Nägel ein. In der Galerie gibt es keinen Stuhl, um sich kurz auszuruhen, also verlassen sie abwechselnd den Raum, setzen sich unten an die Türschwelle und strecken die Beine auf den Bürgersteig. Die junge Frau aus dem überfüllten Café von nebenan kommt und fragt, wie teuer die Miete sei. Und ob sie eine Toilette hätten. Sie kommen ins Gespräch über die Fluktuation der Kleinunternehmer in der Gegend und gelangen zu dem Schluss, dass der Typ, der Merdenele verkauft, bestimmt der Inhaber der Immobilie ist, denn sein Geschäft ist das einzige, das sich hält. Sie laden die junge Frau am nächsten Abend zur Vernissage ein.

Die Wand gegenüber vom Eingang ist komplett mit dem Portrait von Sonia bedeckt. Der verrückten Märtyrerin hängen die Haare ins Gesicht, in der Hand hält sie ein riesiges Messer, oben sieht man eine schäbige Decke. Es sieht phantastisch aus, als ob diejenige nicht sie wäre.

Paul hat das wirklich toll hinbekommen.

An den Seiten hängen kleinere Bilder von ihr am Arbeitstisch und ein Monitor zeigt stumm ihre Video-Performance.

Es ist Paul gelungen, einen sehr langen Text zu verfassen, in dem er das Kunstvolle theoretisiert, das er in jenem Moment eingefangen hat.

Zu der Vernissage sind nicht viele gekommen. Da es aber im Raum so eng und warm ist, stehen die Menschen draußen auf dem Bürgersteig mit jeweils einem Glas Wein aus dem Tetrapak in der Hand. Das sieht so aus, als ob die Vernissage gut besucht wäre und trotzdem ihren intimen Charakter beibehalten würde. Die junge Frau aus dem Café ist auch erschienen; sie haben sich alle in so einem kleinen Kreis versammelt, genau hier in ihrem Viertel, und Sonia empfindet (vielleicht zum ersten Mal in Bukarest) das seltsame und gleichzeitig wundervolle Gefühl von Gemeinschaft. Es kommt ihr vor, als ob Paul seit eh und je zu ihr gehört hätte.

Die Galerie wird in den nächsten zwei Wochen die Öffnungszeiten nicht einhalten können, ganz im Gegenteil, sie wird vermutlich geschlossen sein, weil keiner Zeit hat, dort zu bleiben. Der Vorhang bleibt allerdings zur Seite gezogen; wenn man sich von außen die Nase an der Scheibe platt drückt und die Hände zu Hilfe nimmt, sieht man zumindest das große Porträt von Sonia an der vorderen Wand.

Müde und angeheitert vom Tetrapak-Wein (von dem sie morgen früh sicher Kopfschmerzen haben wird) gehen sie nach Hause und legen sich, so klebrig wie sie sind, ins Bett. Paul bedankt sich außerordentlich höflich und gut erzogen dafür, dass sie ihm mit der Ausstellung geholfen hat. Schließlich bietet er an, ihr auch ein Gefallen zu tun.

„Was soll ich für dich tun?“, fragt er zärtlich und ihr ist bewusst, dass sie unbedingt etwas verlangen muss, um ihm den Gedanken zu ersparen, er habe sie ausgenutzt.

Sie denkt lange nach.

Und zögert.

„Leih für mich ein Buch aus der Nationalbibliothek aus und mach eine Kopie davon.“

Nachdem er erfährt, um was für ein Buch es sich handelt, sagt er ihr, dass sie bei diesem Projekt eine falsche Herangehensweise habe, dass sie gerade die irrelevantesten Werke lese und dass er ihr aber am nächsten Tag das fotokopierte, mit einer blauen Spirale gebundene Buch bringen werde.

*