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Es sind nun schon einige Monate vergangen, seit Viktor, der Sohn des mächtigen Elfenkönigs Vitus, Annas Herz im Sturm erobert hat. Doch nicht nur Annas und Viktors Liebe erfährt Höhen und Tiefen, auch Vitus gerät in den Sturm der Leidenschaft, als er der aufregenden Heilerin Loana begegnet. Doch erneut droht Gefahr, sowohl in der Menschenwelt als auch im westlichen Elfenreich. Band 2 der modernen Fantasygeschichte handelt von Glück, Zweifel, Liebe und Tod. Sie birgt Überraschungen, von denen manche das Schicksal herausfordern.
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Seitenzahl: 563
Sonnenwarm und Regensanft
~ Liebezwischen denWelten ~
Sonnensturm
Band 2
Romantische Fantasy von
Agnes M.Holdborg
Impressum:
Band 2 – Sonnensturm
Copyright Text © 2013 Agnes M. Holdborg
Copyright Bilder/Covergestaltung: ©Medusa Mabuse unter Verwendung von ©Fotolia.com-olly
Alle Rechte bleiben beim Autor. Kopie und Weitergabe sind ausdrücklich untersagt.
Autorin:
Marlies Borghold – Broekmanstr.9 – DE 40885 Ratingen
marliesborg[email protected]
Inhaltsverzeichnis
Ein kleines Wort zuvor
Irischer Segensspruch und Widmung
Prolog
Gedanken
Kaffee oder Tee
Überraschung
Zuckerbrot und Peitsche
Erwartungen
Kaufrausch
Spitze
Traumende
Wasser, Toast und Eis
Dunkel
Candle-Light-Dinner
Schneller, als die Polizei erlaubt
Vater, Sohn und Tochter
Tagesgeschäfte
Schule, Mittag und Kakao
Von Fregatten und Segelbooten
Kened
Schritt für Schritt
Schon wieder Pizza
Verlust
Schlüsselgewalt
Kurzes Kennenlernen
Totenwache
Teufelsschreie
Reiner Wein und purer Schnaps
Kirschblüten zur Weihnachtszeit
Sonnensturm
Schade?
Leseprobe zu »Zwei Sonnen«
Leseprobe zu »Elfenstern«
Leseprobe zu »Elfenlicht«
Ein kleines Wort zuvor
Es ist erstaunlich, wie man sich fühlt, wenn man schreibt. Dabei fast wie ein Zuschauer beobachten kann, wie die Figuren, ihre Eigenschaften, Sehnsüchte und Talente und ihr Aussehen, wie die Handlungen mit ihnen entstehen. Das alles allein aus den Gedanken heraus.
Oh bitte, denken Sie jetzt nur nicht, die Autorin würde allmählich ein klein wenig seltsam. Natürlich ist nichts an der Geschichte wirklich real. Dennoch scheinen die Personen zu existieren, jedenfalls im Kopf. Dort nehmen sie Form an, entwickeln ihren Charakter. Ein faszinierender Gedanke, denn schließlich beschäftigen sie mich und vielleicht sogar auch Sie schon seit einiger Zeit: Anna und Viktor, Viktoria und Ketu, Vitus und all die anderen.
Erstaunlicherweise vermögen diese Figuren mich sogar zu trösten, wenn ich mich hier und da einmal schlecht und niedergeschlagen fühle.
Aber das war keinesfalls Grund genug, um mich an einen zweiten Teil zu »Sonnenwarm und Regensanft« heranzuwagen. Der Grund hierfür war sehr viel simpler: Es war reine Neugierde, die mich trieb. Ich wollte unbedingt wissen, wie es weitergeht. Mein manchmal etwas starrsinniger Kopf zeigt mir die Handlung gern erst dann, wenn sie auf dem Papier steht.
Seltsam, finde ich. Ich bin doch diejenige, die schreibt und sich die Geschichte ausdenkt. Aber der Verlauf der Handlung, die Gefühle der Protagonisten, ihre Tränen, Freude, Trauer, Liebe und Lust führten mich in dieser Überzeugung nicht nur einmal ad absurdum.
Sie schlagen mich so in ihren Bann, dass ich angefangen habe, von ihnen zu träumen. Oder schreibe ich über sie, weil ich von ihnen träume? Ich weiß es nicht. Die Grenzen scheinen zu verwischen.
Ein guter Grund, um zu schreiben. Ein guter Grund, um zu schauen, was in der angeblich nicht real existierenden Märchenwelt so alles passiert.
Ich glaube nicht an Märchen – eigentlich. Aber was wäre, wenn? Ist es möglich, dass Fantasie und Realität, Traum und Wirklichkeit sich mischen können? Und wäre das schlimm?
Meiner Meinung nach ist Fantasie das Salz in der Suppe des Lebens und der Antrieb für Fortschritt und modernen Zeitgeist – und macht Freude.
Viel Spaß beim Lesen!
Sonnenwarmer Gruß!
Agnes M. Holdborg
Irischer Segensspruch und Widmung
Für jeden Sturm einen Regenbogen,
für jede Träne ein Lachen,
für jede Sorge eine Aussicht
und eine Hilfe in jeder Schwierigkeit.
Für jedes Problem, dass das Leben schickt,
einen Freund, es zu teilen,
für jeden Seufzer ein schönes Lied.
~~~
Für Volker
Auch wenn du nicht gerne liest.
Die Sonne stand hoch, die Luft schmeckte nach Sommer, duftete nach Jasmin und Gras und klarem Wasser.
Sie schwebten auf den Elfenpferden dahin. Anna auf dem rabenschwarzen Pan. Viktor auf der schneeweißen Ariella. Am Fluss hielt er die Pferde an, saß ab, um Anna in seine Arme zu ziehen.
Er drehte sich mit ihr, sah nur ihr Gesicht mit den hellblauen Augen, den rosèfarbenen Wangen, dem lieblichen Mund. Bei jeder Drehung blitzte die Sonne in ihren Augen und den Brillengläsern.
Er drehte sich weiter wie im Rausch, drehte und drehte sich. …
Solange, bis sich das Bild mit einem Mal dramatisch veränderte. …
Der Fluss war fort und mit ihm das Elfenreich samt mystischem Licht und lieblichen Farben. Stattdessen wuchsen blitzartig moderne, strenge Formen und Linien in Schwarz, Weiß und Rot vor ihm auf.
Anna lag auf einem mit weißem Satin bezogenen schwarzen Bett. Sie trug ihre Brille nicht, dafür aber einen Hauch aus flammendroter Spitze. Ihre Haut schimmerte im Kontrast dazu hell, kostbar und verführerisch.
Die leicht geöffneten Lippen leuchteten im selben Rot wie die Spitze. Mit ihren dunkel beschatteten Augen, den dichten, schwarz getuschten Wimpern und dem kräftigen Lidstrich hätte er sie beinahe nicht erkannt, wäre da nicht das helle Blau ihrer Iris zu sehen. Nur darauf richtete er seinen Blick, bis er atemlos registrierte, dass sie sich unter dem Körper eines Mannes bewegte.
Plötzlich schrie Anna gellend auf, sich verzweifelt gegen den Mann zur Wehr setzend, und schlug wild um sich. Dabei schrie sie immer weiter, schluchzte und schrie, während Viktor wie angewurzelt dastand. …
Konzentration ist die Einengung der Gedankengänge auf eine bestimmte Sache. Das war anscheinend das Problem: die Einengung und die bestimmte Sache. Es wollte ihr nicht gelingen, diesem simplen Grundsatz nachzukommen.
Anna Nell saß in ihrem Zimmer und versuchte sich an dem Biologiereferat, das sie am kommenden Montag im Unterricht halten sollte. Doch es fiel ihr schwer, sich darauf zu konzentrieren. Immer wieder schweiften ihre Gedanken ab, drehten sich um ihren Freund Viktor und um die Geschehnisse der letzten Wochen.
Gedankenverloren schaute sie sich in dem neugestalteten Raum um, tippte mit dem Stift auf die Schreibtischplatte. Erst vor ein paar Wochen hatte ihr Vater das Zimmer ganz nach ihren Wünschen renoviert. Auch den neuen Schreibtisch hatte er selbst gebaut. Für ihn als Schreinermeister war das wahrscheinlich keine große Sache. Aber Anna spürte sehr wohl, wie viel Liebe er in all die kleinen Details gesteckt hatte. Genau wie in das gesamte Zimmer, das sie sich mit ihrer zwei Jahre älteren Schwester Lena teilte.
Zurzeit konnte Anna es samt Schreibtisch und altersschwachem Computer für sich allein beanspruchen, um in Ruhe ihre Schulaufgaben zu erledigen, denn Lena befand sich bei der Arbeit. Sie absolvierte eine Ausbildung zur Friseurin, ihrem Wunschberuf. Nichts für mich, dachte Anna, aber für Lena genau das Richtige.
Der Gedanke an die große Schwester entlockte ihr ein kleines Schmunzeln, weil die sich mit ihren neunzehn Jahren nun endlich von den alten Boy-Band-Postern aus der Bravo verabschiedet hatte. Die Groupie-Zeit hatte bei Lena halt ziemlich lange angedauert. Jetzt aber strahlten die Wände in frisch gestrichenem Weiß, das nur hier und da von ein paar sonnengelben Akzenten unterbrochen wurde.
Über Annas Bett hing ein großes Gemälde, welches Viktors Zwillingsschwester ihr zum siebzehnten Geburtstag geschenkt hatte. Jeder, der das Zimmer betrat, wurde augenblicklich von dem selbstgemalten Bild magisch in den Bann geschlagen. Von seinem unwiderstehlichen Charme, den fantastischen Farben und dem mystischen Motiv mit den zwei Sonnen, die wie selbstverständlich in vereinter Umarmung hinab auf einen plätschernden Bach in einer traumhaft hellen Lichtung schienen. Außer Anna und ihr Bruder wusste in der Familie niemand, dass diese Lichtung, bis auf die zweite Sonne, keineswegs einer Fantasie entsprang.
Bei der Erinnerung an ihren Geburtstag spielte Anna versonnen mit der Kette, an welcher das weißgoldene Medaillon mit den hellblauen Saphiren am Rand und den im Innern eingravierten zwei Sonnen hing. Viktor hatte es ihr geschenkt, eben zu jenem siebzehnten Geburtstag. Dem wunderbaren Tag, an dem sie mit ihm zum ersten Mal …
Sofort flatterte es in ihrem Bauch. Zu Annas Leidwesen erging es ihr häufig so, was ihr regelmäßig Probleme bereitete, sich auf die Hausarbeiten zu konzentrieren. Deshalb atmete sie erneut kräftig durch.
Doch anstatt endlich weiter an dem Skript zu arbeiten, glitt ihr Blick zum Fenster mit den duftig zarten weißen Organzagardinen und den blickdichten cremefarbenen Vorhängen an der Seite. Sie hingen dort erst seit dem gestrigen Abend und ließen den Raum sehr viel größer und heller erscheinen als vorher. Lena hatte zuerst ein bisschen gemault, weil er abends nicht mehr so gut abzudunkeln wäre wie mit den alten dunkelbraunen Chenillevorhängen, fand aber das Gesamtbild überzeugend. Typisch für ihre liebenswürdige und unkomplizierte Schwester, meinte Anna.
Schließlich schnitt sie wieder einmal den Faden zu ihren Tagträumereien ab und beugte sich vom Schreibtischstuhl weit in Richtung ihrer am Bett stehenden Schultasche hinunter, um sich das Bio-Buch zu angeln, ohne dabei aufstehen zu müssen. Dabei purzelte sie fast von dem uralten Stuhl mit Mickey-Mouse-Design, so kippelte der.
Höchste Zeit für den weißen höhenverstellbaren Polster-Stuhl, den sie sich anschaffen wollte, überlegte sie. Aber ihr Erspartes reichte noch nicht ganz dafür. So lange durfte sich Mickey Mouse noch einer Gnadenfrist erfreuen, bevor sie im Sperrmüll ihr Ende finden würde.
Anna störte es nicht sonderlich, dass ihre Eltern mehr mit dem Geld haushalten mussten als andere Leute. Deshalb machte es ihr auch nichts aus, selbst für den neuen Stuhl aufkommen zu müssen.
Nur ihre eigene Mittelmäßigkeit warf sie manchmal aus der Bahn. Viktor behauptete zwar beharrlich, dass gerade sie etwas ganz Besonderes wäre, und schwor sogar Stein und Bein darauf. Doch nagten immer wieder Zweifel an ihr und verunsicherten sie mit Fragen, wie zum Beispiel, weswegen jemand wie er Gefallen an jemanden wie ihr finden konnte. Nach Annas Dafürhalten war er nicht nur viel attraktiver als sie selbst, sondern auch tatsächlich etwas ganz Besonderes, weil er nur zur Hälfte ein Mensch war.
Sie lächelte vergnügt bei der Vorstellung, ihre Eltern und Lena würden erfahren, dass Viktors Vater, anstatt über ein riesiges Firmenimperium in Amerika zu herrschen, in Wirklichkeit ein waschechter König war. König des westlichen Elfenreiches, welches direkt neben der Welt der Menschen existierte. Außer ihr kannte in der Familie nur noch ihr zwanzigjähriger Bruder Jens das Geheimnis.
Anna schüttelte heftig den Kopf, weil sie im Geiste schon wieder zu Viktor abdriftete, und rief sich daher leicht verärgert zur Räson. Am Ende würde dieses unsägliche Referat doch nicht fertig, bevor Viktor sie fürs restliche Wochenende abholte.
Sie legte den Stift zur Seite, rückte ihre Brille zurecht und rutschte ein wenig vor, um auf dem Bildschirm ihren bislang verfassten Text durchzugehen. Erneut wackelte und kippelte es verdächtig unter ihrem Po, was allerdings statt Verärgerung nur Vorfreude auf den neuen Stuhl hervorrief.
Sie würde mit Lena reden müssen, dass künftig auf keinen Fall eins ihrer Haarfärbemodelle darauf Platz nehmen dürfte. Lenas Farbexperimente hatten so manchen hässlichen Fleck auf Mickey Mouse hinterlassen. So etwas wollte Anna für die Zukunft tunlichst vermeiden. Mit dem schicken weißen und zudem fleckenlosen Stuhl würde das Zimmer in ihren Augen perfekt aussehen. Natürlich nicht so perfekt wie Viktors.
Sie seufzte und nahm resigniert die Finger von der Tastatur, weil sie schon wieder an ihn dachte und ihr das Schreiben dadurch schwerfiel.
Wenn sie sich nicht allmählich beeilte, würde das nichts mehr mit dem Referat. Außerdem befürchtete sie, Viktor könnte bemerken, was in ihrem Kopf vor sich ging. Obwohl er nur eine Halbelfe war, hatte er seine empathischen und telepathischen Fähigkeiten in der letzten Zeit derart verfeinert, dass sie ihre Gedanken- und Gefühlswelt kaum noch vor ihm verbergen konnte.
Zwar war auch sie inzwischen in der Lage, seine Gedanken zu erspüren, aber so wie ihm würde es ihr wohl niemals gelingen. Es grenzte ohnehin an ein Wunder, dass sie und sogar Jens über solch elfische Gaben verfügten.
Bislang hatte sie über den Grund dafür kaum nachgedacht. Auch jetzt fehlte die Zeit dazu. Also straffte sie endgültig die Schultern, um sich dem Referat zu widmen und noch dazu den Geist vor ihrem heißgeliebten Freund zu verschließen.
Zu spät! Das war Anna bereits klar, noch ehe sie Viktors Samtstimme im Kopf vernahm.
»Es heißt Physiologie nicht Pysiologie, Anna. Du verschreibst dich jedes Mal bei diesem Wort«, tadelte er sie.
Anna verdrehte lächelnd die Augen.
»Klar, dass du dich wieder einmischen musst, du Besserwisser. Das Rechtschreibprogramm findet das sowieso heraus und ich korrigiere es zum Schluss. Jetzt raus aus meinem Kopf, sofort, sonst sitze ich morgen noch hier!«
»Nicht so schnell, nicht so schnell, Süße. Du hast schließlich angefangen, an unser Erstes Mal zu denken. Du kannst doch nicht von mir erwarten, dass ich mich ausgerechnet da zurückhalte. Außerdem habe ich schon wieder was von Mittelmäßigkeit mitbekommen. Du weißt, dass mich das sauer macht, Anna. Ich finde, ich sollte ganz schnell zu dir kommen und dich vom Gegenteil überzeugen. Los, Anna, lass mich dir helfen, dann bist du schneller fertig, bitte, bitte.«
»Viktor Müller, du sollst nicht ständig in meinem Hirn herumwuseln! Das schickt sich nicht! Warst du nicht derjenige, der seinem Vater letztens erst was von Takt und Zurückhaltung erzählt hat? Also bitte, verschwinde aus meinem Kopf und komm frühestens in einer Stunde als gestaltlicher Halbelfe zu mir, verstanden?«
»Menno!«
Anna lachte. Eigentlich sollte sie sich darüber ärgern, dass er ständig ihre Privatsphäre verletzte. Dementgegen freute sich eher und konnte ihm wegen seiner kleinen Gedankenattacken nie böse sein.
***
Viktor saß zu Hause an seinem Laptop und grinste vergnügt in sich hinein. Anna konnte einfach ihren Geist nicht genügend verschließen, um sich gegen ihn abzuschirmen, insbesondere, wenn sie an ihren Hausaufgaben arbeitete. Es bereitete ihm riesigen Spaß, dann immer mal wieder nachzuschauen, was sich in ihrem hübschen Köpfchen abspielte.
Dass Annas Überlegungen häufig um ihr gemeinsames »Erstes Mal« kreisten, freute ihn besonders. Ihm ging es ja genauso. Anders allerdings empfand er die Sache mit ihrem mangelnden Selbstwertgefühl. Daran arbeitete er schon, seit er sie damals im Wald angesprochen hatte. Harte Arbeit, wie er fand.
Aber jetzt hatte sie natürlich recht. Sie musste ihr Referat fertig schreiben. Also ließ er sie schweren Herzens in Ruhe und tröstete sich mit der Aussicht, sie in einer Stunde zu sehen.
Da aber so eine Stunde ganz schön lang werden konnte, überlegte er, was er in dieser Zeit unternehmen sollte.
Eigentlich müsste auch er sich um ernsthafte Dinge kümmern, denn er wollte sich in der Welt der Menschen behaupten und hatte sich dazu durchgerungen, an der Uni Düsseldorf ein Studium zu beginnen.
Zwar war sein High-School-Abschlusszeugnis in Wirklichkeit nur so viel wert wie die Farbe auf dem Papier, aber es genügte, um in der Menschenwelt die erforderliche Schulausbildung nachzuweisen. Das hieß natürlich nicht, er und seine Zwillingsschwester Viktoria hätten in der Elfenwelt überhaupt keine Bildung genossen. Ganz im Gegenteil, sie waren dort jahrelang intensiv sowohl in elfischen als auch in menschlichen Dingen unterrichtet worden.
Estra und Isinis, ihr Onkel und ihre Tante, hatten sich geradezu überschlagen, wenn es darum ging, ihnen menschliche Wissenschaften und Kenntnisse, auch in Kunst und Literatur, nahezubringen. Dabei gingen die beiden stets selbst in ihrer Wissbegierde auf und ließen sich im eigenen Unterricht so manches Mal zu staunenden »Oh’s« und »Ah’s« hinreißen.
Viktor liebte seine Zieheltern von ganzem Herzen, waren Viktoria und er doch bis zu ihrem achtzehnten Lebensjahr bei ihnen aufgewachsen und ebenso liebevoll behandelt worden wie deren drei eigenen Kinder.
Während dieser ganzen Zeit bekamen die Zwillinge ihren Vater, König Viniestra Tusterus, genannt Vitus, höchstens ein paar Mal im Jahr zu Gesicht und zudem dessen äußerst reserviertes Verhalten regelmäßig zu spüren.
Erst vor ungefähr zweieinhalb Monaten erfuhren sie endlich den Grund dafür, den Grund für die eigenartige Zurückhaltung des Vaters. Bis dahin ahnten sie nicht, welcher Bedrohung Vitus seit dem Tod seiner Eltern und sie selbst seit ihrer Geburt ausgesetzt waren. Ja, sie hatten nicht ahnen können, wie verzweifelt Vitus all die Zeit, seit dem Tod ihrer Mutter, versucht hatte, Unheil von ihnen fernzuhalten. Größtes Unheil, das ihn aus der Vergangenheit verfolgte und seine Kinder zu verschlingen drohte:
… Vitus lernte als junger Thronerbe des westlichen Elfenreiches die zauberhafte und ein Jahr jüngere Elfenprinzessin eines anderen Landes kennen. Er versprach ihr – geblendet von ihrer Schönheit und mit dem Segen beider Elternpaare – die Ehe. Damals war er erst vierzehn Jahre alt und erkannte nicht, dass die ganze Sache ein einziges Ränkespiel des anderen Königshauses war, nur um deren Reich zu vergrößern. Als er vier Jahre später entdeckte, welch verschlagener, bösartiger Charakter sich hinter der wunderschönen Fassade der Prinzessin Kana verbarg, war es zu spät. Kana dachte gar nicht daran, ihn von der schon bald geplanten Hochzeit zu entbinden.
Derweil verliebte sich Vitus unsterblich in eine Menschenfrau mit dem Namen Veronika Müller. Er liebte sie so sehr, dass er nur mit ihr und seinem ungeborenen Kind, welches sie unter dem Herzen trug, leben wollte und brach deshalb ohne Zögern sein Eheversprechen.
Aus purer Rache töteten Kana und ihre Familie daraufhin Vitus’ Eltern mithilfe einer uralten, grausamen Macht, der Nuurtma. Es hätten wohl noch mehr Elfen den Tod gefunden, wäre Vitus nicht damals schon aufgrund seiner außergewöhnlichen Fähigkeiten in der Lage gewesen, diese Macht eigenhändig ins Exil zu verbannen.
Dann musste Vitus den Thron übernehmen. Zu alledem starb auch noch Veronika direkt nach der Geburt der Zwillinge. Kana schwor weitere Rache, wollte ihm seine Kinder nehmen und sie töten.
Vitus hatte in schneller Folge zuerst seine Eltern und dann seine große Liebe verloren. Darüber hinaus sah er sich gezwungen, die geliebten Kinder in die Obhut des Bruders zu geben, damit sie bei ihm, innerhalb des Elfenreiches, behütet aufwachsen konnten.
All die Jahre bewachte er Tag für Tag ruhelos die Grenzen seines Reiches, allein in der Hoffnung, auf diese Art seine Familie beschützen zu können.
Trotz dieser Vorkehrungen war und blieb Kana eine stetige Bedrohung und holte sich zudem die Hilfe eines düsteren Elfenzauberers. …
Bei der Erinnerung daran, dass diese rachsüchtige Frau das Leben seines Vaters fast ruiniert und seiner Schwester und ihm, nicht zuletzt sogar Anna und deren Mutter, den Tod bringen wollte, schwoll in Viktor maßlose Wut an. Diese Wut ballte seine Hände zu Fäusten, staute sich in seiner Kehle und schrie nach Entladung.
»Hey nicht, Viktor.« Zwei schlanke Arme umschlangen seine Schultern. »Kana ist tot, nur noch ein Häufchen Asche, tief vergraben im Wald. Sie hat bekommen, was sie verdiente, genau wie ihr ekelhafter Zauberfreund Kaoul.« Viktoria gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Grüble nicht so viel darüber. Wir haben ihnen den Garaus gemacht und es ist vorbei. Lass es endlich hinter dir. Schieb deine dunklen Gedanken beiseite. Selbst Vitus ist wieder in der Lage, fröhlich zu sein, manchmal jedenfalls.«
Sie beugte sich zu ihm und blickte ihn aus dunkelblauen Augen, die seinen so ähnelten, milde lächelnd an. »Außerdem verpasst du dein Date mit Anna, wenn du dich nicht bald in Bewegung setzt. Ich dachte, du willst sie heute mit dem Auto abholen. Höchste Zeit, dass du losfährst.«
»Nein, Anna hat gesagt, sie hätte keine Lust auf Autofahren. Hhm, ich glaube, ich fahre ihr zu schnell. Kann das sein?«
Bei dieser Frage lachte Viktoria hell auf. Zwei Grübchen zeigten sich auf ihren Wangen, so wie bei ihm, wenn er lachte. »Tja, mein Bruderherz, das könnte durchaus möglich sein. Ich nehme an, du hast diese Info direkt aus Annas Köpfchen, denn das hätte sie dir gegenüber bestimmt nie zugegeben.«
»Ja, kann schon sein. Ach egal, dann hole ich sie halt durchs Portal im Wald hierher. Wir können ja immer noch ein bisschen wegfahren.«
»Na also, dann lass uns runtergehen. Da haben wir ja noch genügend Zeit für eine Tasse Kaffee.«
»Wo ist Ketu eigentlich? Hat er Wochenenddienst?«, erkundigte sich Viktor, als sie die Treppe hinuntergingen.
»Nein, er hat frei.« Sie räusperte sich. »Aber er kommt erst später, weil er sich vorher mit Sistra trifft. Sie wollen noch bei ihren Eltern vorbeischauen.«
Viktoria hielt die Lider gesenkt, so, als wollte sie etwas verbergen. Doch bei ihrem Bruder hatte sie mittlerweile so gut wie keine Chance mehr, ein Geheimnis zu wahren. Selbst wenn er nicht ihre Gedanken erforschte, reichte ein Blick in ihr Gesicht. Dieses schmale Gesicht, das seinem so ähnlich sah, stellte er nach einem prüfenden Blick wieder einmal fest:
Seine Zwillingsschwester glich ihm sehr, mit den feinen Zügen, den großen dunkelblauen Augen und dem braunen Haar. Nur Viktors Locken wurden zusätzlich von feinen mahagonifarbenen Strähnen durchzogen.
Viktoria strahlte allerdings eine charmante Weiblichkeit aus, die auch nicht durch den kurzen frechen Haarschnitt, den sie erst seit ein paar Monaten trug, gemindert wurde. Sie war groß und schlank, eine typisch elfische Eigenschaft, und gleichzeitig mit ansprechenden, femininen Kurven gesegnet.
Da Viktor seine Schwester über alle Maßen liebte, konnte er es nicht ertragen, sie traurig zu sehen. Er zog seine geraden Brauen zusammen, wohlwissend, dass sich dadurch eine kleine steile Falte auf seiner Stirn bildete.
»Hat er dich immer noch nicht zu seinen Eltern eingeladen?«
Als Viktoria dies stumm bestätigte, schüttelte er erbost den Kopf. »Was für ein Hornochse! Seine Eltern werden doch längst wissen, dass er mit der Prinzessin zusammen ist. Manchmal verstehe ich ihn nicht. – Ach, komm schon, lass dich dadurch nicht entmutigen. Er liebt dich, das weißt du doch. Den Rest kriegt er auch noch hin. Und wenn sein König ihm persönlich in den Arsch treten muss, um ihm zu verdeutlichen, dass er als sogenannter einfacher Wachmann die Königstochter lieben darf.«
Mit einem Schmunzeln sprach er weiter: »Und wenn Vitus das nicht bald tut, dann eben ich. Jens hilft mir sicher gerne dabei.«
Nun musste sie lachen. »Annas Bruder ist ziemlich gut darin, anderen in den Arsch zu treten. Es dürfte lustig sein, ihm dabei zuzusehen.«
»Sag ich doch.«
Er nahm seine Schwester liebevoll in den Arm und ging dann mit ihr Hand in Hand in die Küche.
***
»Anna, kommst du? Viktor ist da!«, rief Theresa.
»Ja, Mama, bin gleich da!«
Schnell warf sie einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel.
Das goldblonde Haar fiel ihr glatt und glänzend über die Schulter und die hellblauen Augen leuchteten regelrecht hinter der schlichten Brille. Ihre Haut schimmerte hell und makellos.
Na ja, wenn die Brille nicht wäre, ginge es ja eigentlich, meinte sie, obwohl sie sich etwas zu dick für ihre geringe Größe von einen Meter dreiundfünfzig fand und deshalb leider vergeblich versuchte, drei von den einundfünfzig Kilos loszuwerden.
Dann waren da noch ihre Zähne, die mochte sie auch nicht. Anna musste unwillkürlich kichern, als ihr wieder einfiel, wie Viktor deswegen letztens Zahnarzt mit ihr gespielt hatte, nur um von ihr zu erfahren, welche Zähne denn angeblich schief stehen würden. Sie hatte sie ihm gezeigt. Doch er hatte nur gelacht, sie für kerzengerade und blendendweiß befunden und zudem ihren Mund, nach einem langen, dahinschmelzenden Kuss, bezaubernd genannt.
Die Erinnerung daran und an das, was darauf gefolgt war, ließ ihr Herz wild klopfen und den Atem stocken.
»Nur die Ruhe, Anna!«
Sie schnaufte einmal kräftig durch, verließ ihr Zimmer und strahlte Viktor an, musste allerdings erkennen, dass er bereits mitbekommen hatte, was ihr vorm Spiegel durch den Kopf gegangen war. Amüsiert hob er eine Braue und lächelte schief. Annas Herz erlitt bei diesem Anblick nach wie vor Aussetzer.
»Tief durchatmen!«
»Hallo, Anna, du siehst heute aber wieder zum Anbeißen aus.« Theresa noch einmal freundlich zunickend ging Viktor zu seiner Freundin, um sie zu umarmen und ihr einen kurzen süßen Kuss zu geben. Dabei strich er mit seinem Daumen ganz zart über ihre Wange.
»Nochmal: Tief durchatmen!«
»Ich bringe euch Anna übermorgen wohlbehalten zurück, versprochen«, versicherte er Theresa.
»Das weiß ich, Viktor. Wie wäre es, wenn ihr am Sonntag schon zum Mittagessen kommen würdet? Dann hätten wir dieses Wochenende auch ein wenig von euch, ehe Johannes und ich nächsten Freitag auf die Insel fahren.«
»Das klingt toll, nicht wahr, Anna?«
»Ja klar. Hab ich dir doch gesagt, Mama, dass Viktor das gut finden wird.«
Sie umarmte ihre Mutter und küsste sie auf den Mund. »Also, Tschö. Gib Papa was von dem Kuss ab und grüß Lena, Jens und Silvi. Ich hab dich lieb.«
»Ich hab dich auch lieb. Tschö, Engelchen.«
Auch Viktor nahm Theresa zum Abschied in den Arm und küsste sie auf beide Wangen. Danach sah er sie noch einmal an. »Schön, dass du wieder gesund bist, Theresa. Man sieht richtig, wie gut es dir mittlerweile geht. Das freut mich. Auf Wiedersehen oder auch Tschö, wie ihr hier so gerne sagt.«
»Danke, Viktor, das ist sehr lieb von dir. Tschö.«
Sie verließen die Wohnung der Nells, die zu einem Wohnhaus in einer kleinen Stadt bei Düsseldorf gehörte und nahe am Wald lag. Dem Wald, wo Viktor seine Anna damals im Juli auf der Lichtung angesprochen und der sich seitdem stark verändert hatte.
Jetzt, im Oktober, hatte der Herbst deutlich seine Fühler ausgestreckt. Nun herrschten hier leuchtende Farben vor, in rot-orangenen, rostbraunen, ockergoldenen Schattierungen und Nuancen. Als hätte der Herbst ein loderndes Feuer entfacht. Dies Farbspektakel stand dem sommerlichen Lichterspiel in Grün, Gold und Silber in nichts nach.
Der kräftige Wind hatte den Bäumen bereits allerhand Blätter gestohlen und am Boden zu einem raschelnden Teppich aufgeschichtet. Auf dem verschlungenen Waldweg knisterte es geheimnisvoll, als sie zu Annas kleiner Lichtung schlenderten, um dort wie jedes Mal in leidenschaftlicher Umarmung innezuhalten.
Da Anna zitterte, zog Viktor ihre Jacke fester zu und wickelte ihr seinen Schal um.
Allmählich wird es merklich kühler, überlegte er und grinste verstohlen bei einer ganz bestimmten Erinnerung, die ihm in den Sinn kam:
… Noch vor einem Monat war es hier herrlich warm und er konnte nicht widerstehen, Anna auf dem weichen Moosbett unter der Birke nach allen Regeln der Kunst zu verführen. Zuerst sträubte sie sich, weil sie befürchtete, jeden Moment von Fremden überrascht zu werden. Dass Vitus die Lichtung schon Wochen zuvor mit einem Schutzbann belegt hatte, um Fremde von dort fernzuhalten, hatte Viktor ihr verschwiegen. Besonders, als er bemerkte, dass sie, trotz aller Vorbehalte, bei seinen Berührungen mehr und mehr wegschmolz, bis sie sich ihm bedingungslos hingab.
Himmel, er war berauscht von ihrer Sinnlichkeit, immer wieder aufs Neue.
Später, in seinem Zimmer, beichtete er ihr, dass sie aufgrund der Schutzbarrieren niemand beim Liebesspiel hätte beobachten können. Daraufhin stürzte Anna sich mit geweiteten Augen auf ihn, schimpfte ihn einen »perversen, üblen Lustmolch«, schubste ihn aufs Bett und verspeiste ihn letztendlich mit Haut und Haar. …
»Viktor?« Er sah in ihre amüsiert funkelnden Augen. »Du hast geträumt. Aber glaub mir eins, Viktor Müller, mir ist es heute eindeutig zu kalt für deine durchtriebenen Spielchen hier auf unserer Lichtung.«
»Oh.« Er grinste verlegen. Manchmal vergaß er, dass nicht nur er in der Lage war, Gedanken zu lesen. Anna konnte es inzwischen auch ganz gut.
»Jaja, auch du schaffst es nicht immer, dich erfolgreich vor mir zu verschließen, du lüsterner Unhold.«
»Unhold? Was soll das denn sein?«
»Das sagt Mama hin und wieder zu Papa.« Anna kicherte. »Früher dachte ich, es würde so etwas wie Witzbold bedeuten. Google hat mich eines Besseren belehrt. Natürlich bist du kein Scheusal, genauso wenig wie Papa. Aber ich glaube, ich weiß jetzt, was Mama damit meint.« Sie streckte sich und zog ihn zusätzlich zu sich hinunter, um ihn auf die Nasenspitze zu küssen. »Lass uns zu dir nach Hause gehen, ja? Mit steht nämlich der Sinn nach Kaffee, Keksen und deinem warmen Bett.«
Viktor legte den Kopf schief. »In der Reihenfolge?« Das brachte ihm einen kräftigen Stoß in die Rippen ein. »Aua!«, lachte er, nahm sie dann aber zärtlich in den Arm. »Hhm, du riechst mal wieder so gut, Süße.«
»Ist doch nur ›Boss Orange‹. Nix Besonderes.«
»Nein, nein, das ist nicht nur dein Parfum. Das ist die ganze Anna-Mischung.«
»Na ja«, fuhr er fort, als sie ihn fragend ansah, »das ist die Anna-Spezial-Mischung, bestehend aus Anna und Parfum, Anna und Shampoo, Anna und Duschgel und, und, und. Aber vor allen Dingen aus Anna. Deinen Duft würde ich unter allen Düften des Universums wiedererkennen.«
»Wie soll das denn gehen?« Sie sah ihn erstaunt, aber auch belustigt an. »Damit könntest du ohne Weiteres bei Wetten, dass … mitmachen«, meinte sie. »Aber du redest ja sowieso ausgemachten Blödsinn, Viktor. Schließlich bis du kein Hund.«
»Hhm, aber ein halber Elfe!«
»Siehst du? Den halben Elfen hast du mal wieder vergessen. Doch eigentlich liegt es nicht daran, dass ich ein halber Elfe bin, Süße, sondern nur an dir und an deinem Wahnsinnsduft.« Dann runzelte er die Stirn. »Wetten – was?«
Anna gluckste. »Das ist so eine Fernsehshow. Wundert mich, dass du sie nicht gesehen hast, bei deinem Fernsehkonsum. Obwohl, sie wurde abgesetzt, glaub ich.«
»Abgesetzt?«
»Ach, unwichtig. Komm jetzt. Und die Reihenfolge wegen Kaffee und Keksen und so liegt ja wohl klar auf der Hand.«
Sie lächelte ihn mit geröteten Wangen an, scheinbar erfreut darüber, dass seine Gedanken sich bei ihren letzten Worten deutlich um eine einzige Sache drehten.
»Unersättlich! Ob das wohl auch am halben Elfen liegt?«
»Nein, Süße, ganz eindeutig nicht«, beantwortete er ihre gedachte Frage. »Auch das liegt allein an dir und an deinerUnersättlichkeit.«
Er sah ihr tief in die Augen. »Genug jetzt, sonst ist es mir herzlich egal, wie kalt es hier draußen ist, und du wirst dir leider einen Schnupfen holen.«
Lachend zog er sie hinter sich her, zog sie tiefer in den Wald zum Eingang zur Elfenwelt, um kurz darauf an einem weiteren Portal wieder in die Menschenwelt einzutauchen. Dort, wo Viktorias und sein Haus stand. Das Reetdachhaus.
***
Anna wusste, dass dies mittels spezieller Worte geschah, die Viktor an bestimmten Stellen aussprach. Trotz der vielen Male, die sie das Prozedere bereits miterlebt hatte, war ihr immer noch nicht klar, wie genau das eigentlich funktionierte.
Es kam ihr stets rätselhaft vor, wie es sein konnte, dass sie so mir nichts, dir nichts, von einem Moment zum anderen nicht mehr über weichen Waldgrund wandelte, sondern über einen mit weißem Kies bedeckten und unter den Füßen knirschenden Weg. Dieser Weg wurde rechts und links von einem mit blühenden Herbststauden bepflanzten Vorgarten flankiert und wies ihr den Blick geradewegs auf das große zweigeschossige Reetdachhaus der Zwillinge. Einem Haus mit hübschen roten Naturklinkersteinen und riesigen Sprossenfenstern.
Es lag fast exakt fünfzig Kilometer weit von ihrem Zuhause entfernt und konnte trotzdem innerhalb weniger Gehminuten durch den Wald erreicht werden.
Im hellen und luftig modern eingerichteten Haus angekommen rief Viktor nach seiner Schwester und schaute sich verwundert um, als diese sich nicht meldete. Dann fand er einen Zettel auf dem Küchentisch:
Liebster Bruder!
Ich habe vergeblich versucht, durch deine frivolen Gedanken zu dir durchzudringen.
Keine Chance! – Auch nicht bei Anna!
Und der Akku von meinem ›Aifohn‹ ist anscheinend auch mal wieder leer.
Drum schreibe ich dir diese banale Zettelbotschaft:
Ketu ist vorbeigekommen, um mich abzuholen und seinen Eltern vorzustellen.
Nun müssen Vitus oder du und Jens ihm wohl doch nicht in den Arsch treten – hihi.
Wünsch mir Glück!
Bis später.
In Liebe
Deine Schwester
P.S. Gruß und Kuss an Anna!
Anna hatte den Zettel über Viktors Schulter hinweg mitgelesen.
»Frivole Gedanken? Gott, wie peinlich ist das denn schon wieder?«
»So ein Quatsch, Anna. Viktoria ist zurzeit wohl die Letzte, die uns wegen so was anprangert. Sie besteht doch derzeit selbst nur aus Hormonen. Glaub mir, ich kriege das ständig mit, wenn Ketu und sie …«
»Stopp, Stopp!« Anna machte mit den Händen eine abwehrende Geste. »So genau will ich das gar nicht wissen.«
Sie ging rüber zur Kaffeemaschine.
»Was tust du da, Anna?«
»Na, was denn wohl? Ich koche Kaffee und dann …«
»Oh nein, ganz sicher nicht!«
»Aber …«
Zu spät! Viktor hatte sie blitzschnell über seine Schulter geworfen und war schon auf der Treppe, bevor sie überhaupt registrieren konnte, wie ihr geschah.
»Viktor, was machst du denn da?«
»Wonach sieht es denn aus, meine Süße? Ich trage Sorge dafür, dass die richtige Reihenfolge eingehalten wird.«
***
Später lagen sie eng umschlungen im Bett und Viktor strich, tief im Nachklang der Erinnerung versunken, liebevoll über das schimmernde Haar seiner schlafenden Freundin:
Es war wieder wunderschön gewesen. Allein die Nachbetrachtung ließ ihn verheißungsvoll erschauern. Sie gab ihm immer alles, alles und noch mehr. Und sie war wirklich unersättlich, genau wie er. Er lächelte bei dem Gedanken daran, dass sie einfach nicht genug voneinander bekommen konnten.
Aber sein Lächeln verflog, da er wieder ihre Zweifel gesehen hatte. Seine Brauen zogen sich zu der typischen Denkersteilfalte zusammen. Selbst während sie sich geliebt hatten, war Anna nicht in der Lage gewesen, seine ehrlich gemeinten Komplimente zu ihrem faszinierenden Körper anzunehmen.
Auch wenn sie jedes Mal versuchte, die Unsicherheit zu verbergen, so sah er dennoch glasklar, dass sie an seiner Liebe zweifelte. Noch immer verstand sie nicht, wie ernst es ihm war, dass ihre Schönheit und ihr ganzes liebliches Wesen ihm schlichtweg den Atem raubten. Annas ständiger Argwohn und geringes Selbstwertgefühl nagten allerdings nicht nur an ihr, sondern auch an ihm.
Bevor sie blinzelnd aufwachte, murmelte Anna ein paar unverständliche Worte und ihre Nase zuckte.
Mitzuerleben, wie Anna aus ihren Träumen auf- und ganz allmählich zurück in die Gegenwart eintauchte, sich dabei meist wie ein kleines Kind die Augen rieb, war eine wahre Wonne. Und das war der Grund, warum er so wenig schlief, wenn sie bei ihm war. Er liebte es, sie in ihrem Schlaf zu beobachten, den Moment aufzusaugen, in dem sie wach wurde und ihn, so wie jetzt, ihre leuchtend hellen Saphiraugen anstrahlten.
»Hab ich geschlafen?«
Ganz wie erwartet rieb sie sich die Augen. Sie streckte die Arme aus, gähnte herzhaft und blickte daraufhin geradewegs zu Viktor.
»Oh, Entschuldigung.« Sie wurde tatsächlich rot, als sie bemerkte, wie er sie betrachtete. »Ich dachte, du schläfst auch. Bestimmt sehe ich total bescheuert aus mit so einem weit aufgerissenen Maul.«
Viktors spürte, wie sich seine Stirnfalte erneut bildete.
»Himmel noch mal, Anna!«, herrschte er sie an. »Du siehst niemals bescheuert aus! Du hast lediglich nach einem Nickerchen gegähnt, das ist alles!«
Prompt richtete Anna sich auf. »Wieso bist du denn so sauer? Hab ich im Schlaf geredet, oder was?«
»Nein, hast du nicht. Ganz im Gegenteil. Du sahst sehr still und friedlich aus, wie immer, und wunderschön.«
Da war es wieder, das ungläubige Flackern in ihren Augen!
»Oh verdammt, Anna Nell! Wann hörst du endlich damit auf?«
»Aufhören? Womit?« Anna wirkte völlig verstört über Viktors Reaktion. Gerade hatten sie sich noch leidenschaftlich und begierig geliebt und nun war er mit einem Mal richtiggehend wütend. Es war eigentlich gar nicht seine Art.
»Was ist denn nur los mit ihm? Was habe ich falsch gemacht?«
Er sah ihre Fragen. Außerdem machte sie ein derart unglückliches Gesicht, dass Viktor sie reuevoll zu sich zog und zärtlich auf Stirn und Haar küsste.
»Entschuldige bitte. Es gibt keinen Grund dafür, dass ich mich so aufführe. Nur wäre es mir sehr lieb, wenn du nicht ständig an meinen Gefühlen für dich zweifeln würdest. Ich liebe dich nämlich über alles. Es tut mir weh, wenn ich mitbekomme, dass du mir nicht glaubst.«
Anna schaute ihn mit ihren unwiderstehlichen Augen an. »Ich glaube dir doch«, hauchte sie. »Ich liebe dich auch. Es ist nur hin und wieder so unwirklich, weil …«
»Ist es nicht!«, fiel Viktor ihr ungeduldig ins Wort. »Und ich brauche dich auch nicht zu kneifen, wie du immer meinst. Du brauchst nicht gekniffen zu werden, um zu wissen, dass das alles real ist, verflucht noch eins! Alles ist wahr und echt, Anna. Das hatten wir doch schon so oft.«
Er überlegte. »Weißt du noch, wie ich dir damals am Bach erzählt habe, was ich bin, dass manche Märchen und Fabelgeschichten wahr sind?«
Viktor beobachtete, wie Anna in ihr trauriges Gesicht hineinlächelte und versonnen einem Gedanken nachhing.
»Eine meiner schönsten und verwirrendsten Erinnerungen.«
»Da hast du von verschiedenen Romanhelden gesprochen: Harry Potter, Legolas, Edward und Bella. Ich wusste damals nicht, von wem du sprichst, jedenfalls nicht bei allen. Deshalb habe ich sie gegoogelt und mir auch die Filme dazu angesehen.« Er verzog verlegen den Mund. »Na, ja, du kennst mich ja. Aber ich habe auch die Bücher gelesen, weil ich wusste, dass du sie gelesen hast. Sie stehen in deinem Zimmer direkt neben Jane Austen, Isabell Allende und Friedrich Dürrenmatt. Übrigens eine wilde Mischung, wenn du mich fragst.«
Er bedachte sie mit seinem warmen Lächeln. »Weißt du, Anna, du bist fast genauso wie Edwards Bella. Sie meinte auch, nicht gut genug für ihn zu sein. Aber sie war es, Anna. Bella war absolut die Richtige und Einzige für Edward, so wie Elizabeth Bennet für Darcy und …«
»Du hast die Twilight-Bücher gelesen und Stolz und Vorurteil?«, unterbrach ihn Anna.
»Bitte, was? Ja, und alle Harry Potters und auch Tolkiens Herr der Ringe, aber …«
»Du hast das alles gelesen? Weswegen? Um zu verstehen, was ich dir damals gesagt habe und wie ich so ticke? Um mich zu verstehen?«
Er seufzte tief. »Ja, hab ich. Aber darum geht’s doch im Augenblick gar nicht, ich …«
Weiter kam er nicht, denn Anna hatte sich auf ihn gestürzt und bedachte ihn mit heißen Küssen.
»Ich arbeite doch dran, Herr Müller. Ich brauche noch ein bisschen. Aber ich arbeite dran. Versprochen.«
Viktor atmete tief durch. »Okay – hhm – arbeite bitte weiter.«
Es war fast Abend und schon dunkel, als sie lachend und mit knurrenden Mägen die Treppe zur Küche hinunterliefen, um endlich etwas zu essen. Kaffee wollten sie nun nicht mehr. Stattdessen setzte Anna Tee auf und Viktor kramte im Vorratsschrank nach Keksen. Er fand eine Tüte Amarettini und ein Paket Butterkekse. Nun denn, fürs Erste müssten die reichen, entschied er. Außerdem entdeckte er erfreut einen Beutel mit Teelichtern. So könnten sie es sich im Wohnzimmer mit Kerzenlicht, Tee und den Keksen gemütlich machen und dabei Musik hören.
Er packte alles aufs Tablett, worauf Anna schon Tassen und Kanne gestellt hatte, und folgte ihr zum Wohnzimmer. In der Tür blieb sie wie angewurzelt stehen, was Viktor bedrohlich schwanken und die Tassen zudem klirren ließ, als er mit dem vollbeladenen Tablett in der Hand bei ihr anstieß.
»Was ist denn los? – Oh.«
Mit dem Zeigefinger auf ihren Lippen deutete Anna ihm, still zu sein. Auf dem Sofa lag sein Vater lang ausgestreckt und schlief.
»Und jetzt?«, flüsterte sie.
Viktor nickte mit dem Kopf gen Treppe. »Lass uns nach oben gehen«, hauchte er.
»Das braucht ihr nicht. Ich bin wach und könnte auch einen Schluck Tee vertragen.« Vitus richtete sich auf und bedachte beide mit einem strahlenden Lächeln.
***
Wenig später saßen die drei gemeinsam am Wohnzimmertisch, tranken Tee und knabberten Kekse.
»Ich habe übrigens mehrmals geklingelt und euch gedanklich gerufen – euch beide«, erklärte Vitus, während er misstrauisch den Amarettini in seiner Hand beäugte, ihn dann aber ohne viel Federlesens und achselzuckend verspeiste. »Schließlich habe ich euch versprochen, nicht mehr einfach so, ohne Vorwarnung, hier hereinzuplatzen. Es war halt eine spontane Idee, euch zu besuchen. Außerdem bin ich, ehrlich gesagt, viel zu müde, um noch kehrtzumachen. Tut mir sehr leid.«
Vitus schaute allerdings keineswegs reumütig drein, sondern grinste süffisant.
Mittlerweile hatte Anna es sich abgewöhnt, solche Situationen peinlich zu finden. Fast! Allmählich gewann sie den Eindruck, dass so etwas unter Elfen und auch Halbelfen andauernd vorkam. Vitus hatte schon des Öfteren mitbekommen, wie sich sein Sohn mit ihr oben in seinem Zimmer »beschäftigte«. Sie wusste, dass er sich überhaupt nicht daran störte und es zudem gar nicht peinlich fand.
Obwohl ihr klar war, dass Vitus seinen Geist vor den Liebenden verschloss, um somit deren Privatsphäre zu wahren, hatte sie dennoch Probleme damit. Deshalb konnte sie die wieder einmal in ihr aufsteigende Röte nicht verhindern. Das hielt sie allerdings nicht davon ab, Vitus genauestens zu mustern:
Mit seinen knapp achtunddreißig Jahren war er ein Mann im besten Alter und sah in ihren Augen unverschämt gut aus – nicht so gut wie Viktor natürlich.
Mit seinen einen Meter und fünfundneunzig, schätzte Anna, war Vitus noch größer als Viktor. Sein langes rabenschwarzes Haar band er meist mit einer Lederschnur zurück. Was Anna allerdings bereits beim ersten Kennenlernen gefangengenommen hatte, waren Vitus’ Augen. Sie strahlten in einem unwirklich blauen Grün, schimmerten heller als die Nordsee bei Sonnenschein. Sie hatten die Farbe von südlichen Meeren, so wie das Mittelmeer auf den Bildern, die Lena ihr von Mallorca gezeigt hatte.
Vielleicht ähnelten sich Vater und Sohn nicht übermäßig. Dennoch gab es so manche Gemeinsamkeiten: der muskulöse Körperbau, die geraden Brauen und das Lächeln mit den unwiderstehlichen Grübchen, dem Anna bei Viktor nie widerstehen konnte, und das sie an Vitus beinahe ebenso anziehend fand.
Derzeit machte er jedoch einen ausgesprochen abgespannten Eindruck. Dunkle Schatten lagen unter seinen Augen, um die herum immer noch rote Flecken prangten, wie auch auf der rechten Wange und auf der Stirn. Alle hervorgerufen durch das glühende Gift, das Kana ihm vor Wochen direkt ins Gesicht gespuckt hatte.
»Du siehst müde aus«, stellte Anna fest. »Ich hatte gehofft, du hättest dich allmählich von Kanas Angriff erholt.«
»Doch, doch, es geht mir gut, danke. Ich bin nur ein wenig erschöpft, weil ich Kanas Brüdern im südlichen Elfenreich einen weiteren Besuch abstatten musste. Leider waren die nicht gerade begeistert über mein erneutes Erscheinen.« Er seufzte. »Ich wollte ihnen unbedingt erklären, wie und warum ihre Schwester zu Tode gekommen ist. Es brauchte einige Zeit, sie davon zu überzeugen, mich anzuhören. Atros und Mitris sind furchtbar anstrengend. Letztlich hat sich meine Hartnäckigkeit dann aber ausgezahlt und ich habe sie dazu überreden können, Einblick in meinen Geist zu nehmen. Jetzt glauben sie mir. Endlich!«
Vitus lächelte schwach. »Unsere irischen Freunde hatten damals durchaus recht damit, die beiden als Hohlköpfe zu bezeichnen. Sie sind wirklich äußerst einfach gestrickt, wie ihr Menschen so schön sagt, sogar noch einfacher, als ich sie in Erinnerung hatte.« Er machte eine kurze Pause, um einen Schluck Tee zu trinken. »Doch nun ist alles gut.«
»Ich könnte mir vorstellen, dass das südliche Elfenvolk heilfroh ist, nicht mehr unter Kanas und Kaouls Knute zu stehen«, meinte Viktor.
»Das kannst du wohl laut sagen«, erwiderte Vitus. »Vorsichtshalber habe ich den Brüdern noch ein paar Ratschläge gegeben, damit sie wissen, wie sie sich künftig zu verhalten haben, um sowohl ihrem Volk als auch ihren Ehefrauen keine Schande mehr zu machen. Ich denke, sie haben verstanden, dass ich sie weiterhin im Auge behalte.«
Nun grinste er breit. »Tja, und die beiden zuvor so oft betrogenen Ehefrauen sind ohnehin auf meiner Seite. Wie sie mir erzählt haben, hatte sich Kaoul einen üblen Scherz mit der Männlichkeit der Brüder erlaubt. Jetzt sind die Frauen einfach nur heilfroh, dass dieser Zauber nach Kaouls Tod von ihren Männern abgefallen ist. – Ja, mit etwas Unterstützung durch ein paar von mir instruierte Berater, werden Atros und Mitris ihr Land ganz ordentlich regieren.«
Vitus griff sich den letzten Butterkeks aus der Schale und betrachtete ihn angewidert.
»Können wir nicht Pizza bestellen?«
Am Sonntagabend saß Anna wieder einmal am Schreibtisch und versuchte sich an den restlichen Hausaufgaben für den kommenden Schultag. Als sie erneut in Träumereien abdriftete, fing sie zu kichern an. Ihr Nacken kribbelte und ein wohliger Schauer lief ihr über den Rücken. Viktors warmes Bett, seine Leidenschaft und all die Dinge, die er mit ihr tat und wie er sie mit ihr tat, weckten in ihr eine schier unermessliche Lust. Und sie hatte dabei nicht nur das Bedürfnis, diese Lust zu stillen, sondern sie auch an ihn weiterzugeben. Dieses gegenseitige Geben und Nehmen ließ Anna Grenzen überschreiten, von denen sie gar nicht gewusst hatte, dass es sie gab.
Da sie befürchtete, Viktor könnte aufs Neue in ihrem Kopf herumstöbern, verschanzte sie eilig ihren Geist. Sie liebte ihn wirklich sehr, aber er brauchte ja nicht alles von ihr zu wissen. Sie schüttelte den Kopf, als versuchte sie, damit Ordnung darin zu schaffen, und es gelang ihr.
Der Gedanke an die Schule versetzte Anna allerdings wie üblich einen Stich. Eigentlich ging sie gern dorthin. Es würde ihr nur noch viel besser gefallen, wenn es dort nicht so furchtbar viele Sprösslinge steinreicher Leute gäbe, die mit ihren sündhaft teuren Klamotten hochnäsig durch die Gänge stolzierten und sie mit anmaßenden Gesten bedachten. Als gäbe es nichts Wichtigeres im Leben! Das verleidete ihr oft den Spaß.
»Gott, wie ich diese oberflächlichen Angebertypen und Tussen hasse!«
… Prompt tauchte das Bild von Janine Tronso vor ihrem geistigen Auge auf – wie herablassend die Anna in der letzten Volleyballstunde behandelt hatte:
»Los, gib mir den Ball rüber, Schätzchen! Ich muss Aufschläge üben!«
Anna gab ihr den Ball. Und wie! So könnte man es jedenfalls nennen. Sie pfefferte den Ball nämlich recht hart an den Kopf dieser blöden Kuh und rannte danach einfach hinaus. Wahrscheinlich hatte Janine nicht einmal mitbekommen, dass Anna diejenige gewesen war, die ihr den Ball an den Kopf geschmettert hatte. Denn, nachdem der besagte Ball einen ordentlichen Treffer bei Janine gelandet hatte, war die zwar mit jaulendem Gezeter hintenübergekippt, hatte unterdessen allerdings nicht einmal in Annas Richtung geschaut. Augenscheinlich hatte diese dämliche Pute erwartet, dass man ihr den verfluchten Volleyball ehrfurchtsvoll in die ausgesteckten, »begnadeten« Hände legte, während sie sich auf den bescheuerten Abschlag konzentrierte. …
»Grrr! Was für eine blöde Oberkuh!«
Verärgert über sich selbst, weil sie sich immer wieder über dieses unausstehliche Mädchen aufregte, schüttelte Anna abermals den Kopf und tröstete sich damit, dass nur noch fünf Schultage bis zu den Herbstferien vor ihr lagen.
Und da Annas Vater ihre Mutter dazu hatte überreden können, zu zweit eine Woche lang Urlaub auf der Nordseeinsel zu machen, würde Anna exakt diese Zeit ganz allein mit Viktor verbringen.
Das machte sie gleich doppelt glücklich, denn der Mutter ging es endlich wieder gut. Seit Theresas Klinikaufenthalt war zwar schon einige Zeit vergangen, aber Anna würde niemals vergessen, wie sehr sie sich währenddessen gesorgt hatte.
In Vorfreude auf die kommende Herbstferienwoche mit Viktor malte sie sich aus, was sie alles unternehmen könnten. Ihre Überlegungen reichten von Sightseeing in der Elfenwelt über Kinobesuch bis hin zum Spaziergang am Rhein in Düsseldorf.
Es wurde höchste Zeit, mal etwas anderes zu sehen, überlegte sie. Selbst nach dem Sieg über Kana und Kaoul hatte es für Anna fast nur die Schule, ihr Zuhause oder das Reetdachhaus gegeben. Auch war sie der viel zu schnellen Autofahrten mit Viktor überdrüssig geworden. Vielleicht sollte sie sich endlich dazu durchringen, den Führerschein zu machen. Wenn da nur nicht immer ihre Nervosität wäre.
Erschrocken horchte Anna in sich hinein.
»Puh, kein Viktor, dem Himmel sei Dank! Das hätte wieder eine Strafpredigt gegeben, von wegen Selbstbewusstsein und so.«
Anna seufzte. Wenn sie sich nicht bald zusammenriss, stünde sie morgen mit leeren Händen vor »Mister Ich–bin–ein–arroganter–Geo–Lehrer–und–Blondchen–Hasser Bionda«. Anna verdrehte die Augen. Sie fand ihren Erdkundelehrer namens Bionda einfach nur ätzend und war froh, dass ihr, neben dem heißgeliebten Deutsch-Leistungskurs, wenigstens der Biologieunterricht einigermaßen Spaß machte.
Der Biolehrer, Herr Zitt, war zwar ziemlich streng, aber nicht so schrecklich alt und knöchern wie viele andere, insbesondere Herr Bionda. Allerdings besaß er eine untrügliche Abneigung gegen Unpünktlichkeit aller Art, was ihr schon ein paarmal »Aussperrung« vom Unterricht eingebracht hatte.
Die Erinnerung, wie sie am Montagmorgen zur ersten Stunde vor der verschlossenen Klassentür gestanden hatte, nur ein ganz paar Minuten zu spät, ließ sie schmunzeln.
… Sie hatte um Einlass klopfen und bitten müssen, bevor ihr Herr Zitt mit belustigter Miene die Tür aufschloss, sie einließ und daraufhin gnadenlos zu den Hausarbeiten befragte. Leider erwischte er sie bei solchen Aktionen häufig auf dem falschen Fuß. Gerade an diesem Montag war es besonders schlimm gewesen und ihre ach so lieben Mitschüler, speziell Janine, hatten sich mal wieder ausgiebig auf Annas Kosten amüsiert. …
So etwas sollte auf keinen Fall noch einmal passieren.
Das restliche Bio-Referat und die Auswertung der Statistik über die Städtebevölkerung im Ruhrgebiet genossen nun erste Priorität.
Außerdem stellte Anna sich Wecker und Handy, um sicherzustellen, dass sie am nächsten Morgen pünktlich zur ersten Stunde in Bio erscheinen würde.
***
Nach dem Frühstück suchte Viktor auf dem Sofa bei den Killers Entspannung, aber selbst seine derzeitige Lieblingsmusik konnte ihm die schlechte Laune nicht vertreiben. Ständig musste er an den vergangenen Abend denken, an welchem er recht viele Gedankenfetzen aufgeschnappt hatte, die Annas Schutzmaßnahmen wohl entfleucht waren.
Seine Laune verdüsterte sich noch mehr, weil er sich fragte, wieso sie ihm nichts von ihrem Ärger mit den Lehrern und Mitschülern erzählt hatte. Er konnte es nicht leiden, wenn sie sich ihm gegenüber verschloss. Erst recht konnte er es nicht leiden, wenn Anna mal wieder an sich zweifelte oder sich gar minderwertig fühlte. Das war ein Zustand, den es unbedingt zu ändern galt, überlegte er, und suchte fieberhaft nach einer Lösung.
Mit einem Mal hellte sich seine Stimmung wieder auf. »Na warte, Fräulein Nell«, sprach er vor sich hin. »Wenn du mir nicht sagst, was da los ist, dann schaue ich mir die ganze Sache einfach mal aus der Nähe an.«
Er sprang von der Couch und stieg in die ihm so verhassten Converses. Schuhe waren eindeutig ein Manko in der Menschenwelt. Doch weil die nun einmal dazugehörten, ignorierte er das beengende Gefühl an den Füßen, schnappte sich Autoschlüssel und Lederjacke, bevor er zur Treppe hoch rief: »Ich fahre noch schnell durch die Waschanlage, Viktoria! Bin gleich wieder da!«
Er konnte noch einen Blick auf das verwunderte Gesicht seiner Schwester erhaschen, als diese mit einem vor Farbe triefenden Pinsel in der Hand zur Treppe hinunterschaute. Fahrig strich sie sich mit dem Handrücken über die Stirn, ohne zu bemerken, wie dort ein dicker grüner Klecks zurückblieb.
»Waschanlage? Warum?«
Achselzuckend kehrte sie in ihr Zimmer zurück, während Viktor die Haustür zuzog.
Keine halbe Stunde später lag er wieder auf dem Sofa und lächelte selbstzufrieden in sich hinein, als seine Schwester zu ihm trat.
»Na, du hast ja gute Laune«, bemerkte sie neugierig. »Willst du mir vielleicht verraten, wieso? Und wieso musste dein blitzblank funkelnder Mercedes überhaupt in die Waschanlage?« Mit vor der Brust verschränkten Armen zog sie eine Braue in die Höhe.
»Och, ich hatte halt Langeweile, Schwesterlein. Außerdem war das Auto nicht blitzblank, sondern es hatte die Wäsche dringend nötig.«
»Pah, das ich nicht lache. Pass auf, dass du dein vierrädriges Schätzchen nicht aus Versehen mit ins Bett nimmst. Anna könnte es dir übel nehmen. – Mal im Ernst. Was hast du vor?«
Viktor erzählte seiner Schwester zuerst von Annas Problemen und grinste dann spitzbübisch, als er ihr sein Vorhaben offerierte.
***
Hätte sie gekonnt, sie hätte Herrn Bionda mit Blicken getötet, so wütend war sie. Aber er war nun einmal ihr Lehrer und besaß somit den längeren Arm, durchfuhr es Anna unwillig. So saß sie frustriert, mit zornrotem Kopf auf ihrem Klassenstuhl und versuchte, sich mit üblen Mordgedanken von der Erinnerung an die Demütigung durch den Erdkundelehrer abzulenken. Doch das misslang ihr gründlich. Missmutig ließ sie alles noch einmal Revue passieren:
… Wie so häufig hatte Herr Bionda sie vor der ganzen Klasse drangenommen und sich dabei süffisant über ihre Geografie-Hausarbeiten hergemacht.
Mit einem genüsslichen Grinsen im Gesicht studierte er Annas Heft, um dann ganze Passagen ihrer Statistikanalyse laut vorzulesen:
»Ja, hören Sie nur, wie Fräulein Nell in ihrer nett naiven Weise dieses Problem angegangen ist. Das hätte ich gar nicht von Ihnen erwartet, Fräulein Nell. Tja, Sie sind der Problemstellung mit Ihren artigen Ausführungen doch recht nahegekommen. Durchaus sieben Punkte wert. Das ist doch schon mal was, nicht wahr? Besonders, wenn man die Note Ihrer letzten Klausur bedenkt.«
»Nur nicht heulen, Anna! Das will der doch bloß!«
Anna hob den Kopf und starrte dem Lehrer direkt in die wässrigen Augen. Dabei versuchte sie, ihre Stimme zu beherrschen, fand allerdings, dass sie ein klein wenig zu hoch klang.
»Oh, vielen Dank, Herr Bionda«, bemerkte sie knapp.
»Bionda du bist ein blödes, arrogantes Schweinearschloch!«
Sie hörte ihre Mitschüler leise kichern, nur Janine beließ es natürlich nicht bei einem einfachen Kichern, sondern brüllte vor Lachen. …
»Warum müssen eigentlich ausgerechnet die allerschlimmsten meiner sogenannten Mitschüler dieselben Hauptfächer belegen wie ich? Himmelherrschaftszeiten! Und will diese Scheißstunde denn nie zu Ende gehen?«
Nach einer gefühlten Ewigkeit ertönte der erlösende Gong.
»Puh, Feierabend! Nichts wie weg!«
Augenblicklich griff Anna nach ihrer Tasche und wandte sich zum Gehen, ohne weiter auf Mitklässler oder Lehrer zu achten. Sie wusste, dass sie wieder oder eher noch ein gerötetes Gesicht hatte, denn sie war ja immer noch fuchsteufelswild. Gerade, als sie die Tür erreichte, hielt sie eine Hand sanft am Arm fest.
»Hey, mach dir nix draus, Anna. Die sind doch alle total daneben.«
Paul Kiener, ein großer, dünner Junge mit ein paar kleinen Pickeln im freundlichen Gesicht, mausgrauen Augen, kurzen sandfarbenen Haaren und einem immerwährenden Lächeln stand neben ihr. Im Gegensatz zu den meisten anderen war Paul stets nett zu ihr, aber so gar nicht ihr Typ. Besonders unangenehm fand Anna seine Freundlichkeit, seitdem sie ihre »spezielle Gabe« entdeckt hatte und seine Gefühle ihr gegenüber wahrnehmen konnte.
»Oh je, Paul, ich mag dich ja auch, aber nicht so, wie du dir das wünschst.«
»Lass mal, Paul, es geht schon«, erwiderte sie hastig und machte sich von ihm los, um schnell das Weite zu suchen. Hinter ihr ertönte aufs Neue das spöttische Gelächter von Janine und deren Freunden.
Wieder oder immer noch feuerrot verließ Anna fluchtartig das Schulgebäude. Draußen richtete sie den wutgesenkten Kopf auf, schloss die Augen und sog die frische, kühlende Luft ein, so, als könnte sie damit die vergangene Horrorstunde aus ihrem Hirn vertreiben.
»Na, wenigstens habe ich dreizehn Punkte für das Bio-Referat bekommen.«
»Herzlichen Glückwunsch, Anna.«
Völlig perplex wandte sie sich der Stimme zu und blinzelte ungläubig bei dem, was sie hörte und sah:
Da stand er! Lässig an die Tür seines schicken, funkelnd glänzenden Cabrios gelehnt, die langen Beine an den Fußknöcheln überkreuzt, die muskulösen Arme vor der breiten Brust verschränkt, schlicht mit schwarzer Jeans und schwarzem Hemd bekleidet. Viktor sah einfach umwerfend aus.
Er breitete die Arme aus und zeigte seine Grübchen. »Was ist, Kleines, krieg ich keinen Kuss?«
Zunächst zögerte sie, weiterhin ungläubig staunend. »Viktor? Ich … Was machst du denn hier? Das ist aber …« Die letzten Schritte rannte sie, sprang ihm vor Freude ungestüm in die Arme und küsste ihn leidenschaftlich.
»Das ist ja eine Überraschung! Ist das schön, dass du hier bist! Endlich ein einigermaßen gescheiter Mensch – wenn auch nur halb.«
Nach dem Kuss rückte Viktor ein wenig von ihr ab und runzelte die Stirn. »Soso, du hältst mich also für nur einigermaßen gescheit und nur halb?«, meinte er ernst. Doch dann lächelte er wieder, hob mit einem Finger ihr Kinn an, weil sie den Kopf sinken ließ, und erwiderte ihren Kuss, und zwar äußerst besitzergreifend.
Er löste seine Lippen von ihren, behielt jedoch sein Gesicht dicht an Annas, sodass sein Atem sie streifte. Leuchtend dunkelblaue Augen drohten sie zu verschlingen, ehe Viktors Blick an ihr vorbei – geradewegs zum Eingangsportal der Schule wanderte und er breit zu grinsen begann. »Scheint ja echt eine tolle Show zu sein, die wir denen liefern, Anna.«
Sie folgte seinem blitzenden Blick und hielt den Atem an, als sie alle dort herumlungern sah. All ihre »hochgeliebten« Mitschüler, sogar ein paar Lehrer, die staunend herübergafften.
Selbst Herr Bionda, der wohl gerade den Heimweg antreten wollte, blieb wie angewurzelt stehen.
»Ooh!«
»Komm, Süße. Ich dachte, ich hole dich heute mal ab. Ich hab auch schon mit deiner Mama telefoniert. Sie hat nichts dagegen, dass du den Nachmittag mit mir verbringst. Oder hast du keine Lust?«
Anna tauchte aus ihrer Verwirrung auf. »Wie?« Sie brauchte ein Weilchen, um sich zu sortieren. »Oh doch, sehr gerne. Das ist sehr aufmerksam von dir, hhm, richtig nett.«
»Ich bin halt mehr der nette Typ«, merkte Viktor trocken an.
Für einen weiteren zwar kurzen, aber ausgesprochen innigen Kuss stellte Anna sich auf die Zehenspitzen.
»Wow! Das hast du extra gemacht, nicht wahr? Ich weiß nicht, was ich davon halten soll, aber ich bin so froh, dass du gekommen bist. Bring mich schnell hier weg.«
Viktor öffnete ihr die Beifahrertür, wobei er einen letzten, äußerst nachhaltigen Blick auf die vorm Schuleingang versammelte Schar warf, bevor er selbst in den Wagen stieg. Er lachte herzhaft. Verwundert registrierte Anna, dass er sich insbesondere über das verdutzte rundliche Gesicht eines ganz bestimmten Mädchens köstlich amüsierte.
»Das ist bestimmt Janine. Hab ich recht?«, hörte sie ihn in ihrem Kopf.
»Janine? – Oh ja, das stimmt. Das ist Janine Tronso, die ist echt … Moment mal! Ich hab dir nie etwas von ihr erzählt. – Du hast wieder gespinxt, Viktor!«
Sie schlug ihm mit der flachen Hand aufs rechte Bein, was ihm erneut ein Lachen entlockte. Dann ließ er den Motor einmal kurz aufheulen und fädelte sich elegant in den Straßenverkehr ein.
Noch Minuten später schien er sein Grinsen nicht aus dem Gesicht wischen zu können, obwohl Anna mit verschränkten Armen neben ihm saß, die Lippen zu einem schmalen Strich zusammengepresst.
Als er ihre Miene bemerkte, wurde er ernst. »Ach, komm schon, nicht böse sein. Ich weiß ja, dass ich nicht in deinen Kopf hätte schauen sollen. Aber glaub mir bitte, das wollte ich auch gar nicht. Nur sind mir deine Gedanken gestern Abend einfach so zugeflogen, wie von selbst. Echt.«
Anna dachte über Viktors Erklärungsversuch nach und darüber, wie sie tatsächlich am Abend zuvor vergeblich versucht hatte, ihren Geist abzuriegeln. »Und da hast du dir überlegt, dich heute mal bei meiner Schule vorzustellen, stimmt’s? Natürlich nicht zu Fuß, sondern mit deinem schmucken Cabrio.«
»Stimmt. Selbstverständlich hätte ich auch ohne den Wagen ordentlich Eindruck auf diese Idioten gemacht.« Er zwinkerte ihr zu. »Aber ich dachte mir halt, mit Auto kommt besser. Ganz nach dem Motto: Wenn schon, denn schon.«
Annas Laune hellte sich auf. Ihre Mundwinkel begannen zu zucken, ehe sie wie ein kleines Mädchen kicherte. Dann brach das Lachen aus ihr heraus. »Die blöden Gesichter von Bionda und Janine – einfach unbezahlbar!«, prustete sie. »Das war wirklich sensationell. Oh mein Gott, was sind diesch…«
»Stopp, stopp, Kleines! Über deine Ausdrucksweise, sowohl verbal als auch nonverbal, müssen wir uns dringend unterhalten. Du willst dich doch wohl nicht auf deren Niveau begeben?« Er schmunzelte.
Anna gluckste. »Nein, das will ich nun wirklich nicht. Aber manchmal hilft es mir dabei, nicht die Beherrschung zu verlieren. Gerade heute, in der letzten Stunde, war es besonders schlimm.«
»Ja, das habe ich mitbekommen«, bestätigte er nachdenklich. »Das tut mir leid, Anna. Dieser Bionda scheint ein echter Fiesling zu sein.« Er sah zu ihr rüber. »Du hättest es mir erzählen sollen. Du hast versucht, deine Sorgen vor mir zu verheimlichen. Das war nicht richtig.«
»Schau auf die Straße, Viktor.« Sie atmete tief durch. »Du hast ja recht, aber ich bin es so gewohnt. Ich bin nun mal keine Petze, die bei jedem Problemchen weinend zu Mami rennt. Ich habe seit jeher versucht, selbst damit klarzukommen. Das habe ich schließlich schon immer so gemacht. Zu Kindergarten-, Grundschul- und zu ›Böser-Jens‹-Zeiten. Ich bin es eben gewohnt, geärgert und gehänselt zu werden. Das macht mir nichts aus.«
»Das glaubst du doch wohl selbst nicht!« Viktor klang wütend. »An so was kann sich keiner gewöhnen! So was macht nämlich jedem was aus! Das ist totaler Bullshit, den du da redest!«
»So viel zum Niveau«, bemerkte Anna spitz und brachte Viktor damit zum Lachen.
Sie freute sich, ihm den Wind aus den Segeln genommen zu haben, wusste jedoch, dass die Angelegenheit damit noch lange nicht vom Tisch war.
»Das war echt süß von dir. Echt süß. Danke!«
Viktor ergriff ihre Hand und führte sie zu seinen Lippen, um jeden Knöchel einzeln zu küssen. Anna schmolz dahin, riss sich aber wieder zusammen, da ihr bewusst wurde, dass sie im Auto saßen und Viktor grundsätzlich zu schnell fuhr.
»Schauen Sie bitte auf die Straße, Herr Müller. Und immer schön auf die Verkehrsregeln achten«, maßregelte sie ihn und er schmunzelte wieder.
»Wo fahren wir eigentlich hin?«, wollte sie wissen, als sie bemerkte, welchen Weg er einschlug.
»Tja, ich dachte, ich lade dich zur Feier des Tages zum Essen nach Düsseldorf ein.«
»Zur Feier des Tages?«
»Dreizehn Punkte in Bio. Hey, die alleine sind schon eine kleine Feier wert, findest du nicht? Vielleicht könnten wir nach dem Essen auch noch ein wenig am Rhein spazieren gehen. Es ist so schönes Wetter und du sollst mal was anderes sehen als den Wald und das Reetdachhaus. Was meinst du?«
»Ach, Viktor, das hast du also auch alles mitgekriegt. Du sollst doch nicht immer in meinem Kopf herumstöbern. So war das doch gar nicht gemeint.«
»Nein, Anna«, unterbrach er sie, »ich finde, du hast durchaus recht. Nach der Geschichte mit Kana und Kaoul wollte ich dich nur noch ganz nah bei mir haben. Ich glaube, ich hab ein bisschen Paranoia entwickelt, weil ich ja nicht wusste, wie Kanas Brüder auf die ganze Sache reagieren würden.«
Anna sah Viktor verständnislos an.