Sonnenwarm und Regensanft - Band 2 - Agnes M. Holdborg - E-Book

Sonnenwarm und Regensanft - Band 2 E-Book

Agnes M. Holdborg

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Beschreibung

Es sind nun schon einige Monate vergangen, seit Viktor, der Sohn des mächtigen Elfenkönigs Vitus, Annas Herz im Sturm erobert hat. Doch nicht nur Annas und Viktors Liebe erfährt Höhen und Tiefen, auch Vitus gerät in den Sturm der Leidenschaft, als er der aufregenden Heilerin Loana begegnet. Doch erneut droht Gefahr, sowohl in der Menschenwelt als auch im westlichen Elfenreich. Band 2 der modernen Fantasygeschichte handelt von Glück, Zweifel, Liebe und Tod. Sie birgt Überraschungen, von denen manche das Schicksal herausfordern.

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Seitenzahl: 563

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Son­nen­warm und Re­gensanft

~ Lie­bezwi­schen denWel­ten ~

Son­nen­sturm

Band 2

 

Ro­man­ti­sche Fan­ta­sy von

Agnes M.Hold­borg

 

 

 

Im­pres­s­um:

Band 2 – Son­nen­sturm

Co­py­right Text © 2013 Agnes M. Hold­borg

Co­py­right Bil­der/Co­ver­ge­stal­tung: ©Me­du­sa Ma­bu­se un­ter Ver­wen­dung von ©Fo­to­lia.com-ol­ly

 

 

Al­le Rech­te blei­ben beim Au­tor. Ko­pie und Wei­ter­ga­be sind aus­drü­ck­lich un­ter­sagt.

Au­to­rin:

Ma­r­lies Bor­g­hold – Bro­ekm­an­str.9 – DE 40885 Ra­tin­gen

ma­r­lies­bor­g­[email protected]

In­halts­ver­zeich­nis

 

Ein klei­nes Wort zu­vor

Iri­scher Se­gens­spruch und Wid­mung

Pro­log

Ge­dan­ken

Kaf­fee oder Tee

Über­ra­schung

Zu­cke­r­brot und Peit­sche

Er­war­tun­gen

Kauf­rausch

Spit­ze

Trau­men­de

Was­ser, Toast und Eis

Dun­kel

Cand­le-Light-Din­ner

Schnel­ler, als die Po­li­zei er­laubt

Va­ter, Sohn und Toch­ter

Ta­ges­ge­schäf­te

Schu­le, Mit­tag und Ka­kao

Von Fre­gat­ten und Se­gel­boo­ten

Ke­ned

Schritt für Schritt

Schon wie­der Piz­za

Ver­lust

Schlüs­sel­ge­walt

Kur­z­es Ken­nen­ler­nen

To­ten­wa­che

Teu­fels­schreie

Rei­ner Wein und pu­rer Schnaps

Kirsch­blü­ten zur Weih­nachts­zeit

Son­nen­sturm

Scha­de?

Le­se­pro­be zu »Zwei Son­nen«

Le­se­pro­be zu »El­fens­tern«

Le­se­pro­be zu »El­fen­licht«

 

Ein klei­nes Wort zu­vor

Es ist er­staun­lich, wie man sich fühlt, wenn man schreibt. Da­bei fast wie ein Zu­schau­er be­ob­ach­ten kann, wie die Fi­gu­ren, ih­re Ei­gen­schaf­ten, Sehn­süch­te und Ta­len­te und ihr Aus­se­hen, wie die Hand­lun­gen mit ih­nen ent­ste­hen. Das al­les al­lein aus den Ge­dan­ken her­aus.

Oh bit­te, den­ken Sie jetzt nur nicht, die Au­to­rin wür­de all­mäh­lich ein klein we­nig selt­sam. Na­tür­lich ist nichts an der Ge­schich­te wirk­lich re­al. Den­noch schei­nen die Per­so­nen zu exis­tie­ren, je­den­falls im Kopf. Dort neh­men sie Form an, ent­wi­ckeln ih­ren Cha­rak­ter. Ein fas­zi­nie­ren­der Ge­dan­ke, denn schließ­lich be­schäf­ti­gen sie mich und viel­leicht so­gar auch Sie schon seit ei­ni­ger Zeit: An­na und Vik­tor, Vik­to­ria und Ke­tu, Vi­tus und all die an­de­ren.

Er­staun­li­cher­wei­se ver­mö­gen die­se Fi­gu­ren mich so­gar zu trös­ten, wenn ich mich hier und da ein­mal schlecht und nie­der­ge­schla­gen füh­le.

Aber das war kei­nes­falls Grund ge­nug, um mich an einen zwei­ten Teil zu »Son­nen­warm und Re­gensanft« her­an­zu­wa­gen. Der Grund hier­für war sehr viel simp­ler: Es war rei­ne Neu­gier­de, die mich trieb. Ich woll­te un­be­dingt wis­sen, wie es wei­ter­geht. Mein manch­mal et­was starr­sin­ni­ger Kopf zeigt mir die Hand­lung gern erst dann, wenn sie auf dem Pa­pier steht.

Selt­sam, fin­de ich. Ich bin doch die­je­ni­ge, die schreibt und sich die Ge­schich­te aus­denkt. Aber der Ver­lauf der Hand­lung, die Ge­füh­le der Prot­ago­nis­ten, ih­re Trä­nen, Freu­de, Trau­er, Lie­be und Lust führ­ten mich in die­ser Über­zeu­gung nicht nur ein­mal ad ab­sur­dum.

Sie schla­gen mich so in ih­ren Bann, dass ich an­ge­fan­gen ha­be, von ih­nen zu träu­men. Oder schrei­be ich über sie, weil ich von ih­nen träu­me? Ich weiß es nicht. Die Gren­zen schei­nen zu ver­wi­schen.

Ein gu­ter Grund, um zu schrei­ben. Ein gu­ter Grund, um zu schau­en, was in der an­geb­lich nicht re­al exis­tie­ren­den Mär­chen­welt so al­les pas­siert.

Ich glau­be nicht an Mär­chen – ei­gent­lich. Aber was wä­re, wenn? Ist es mög­lich, dass Fan­ta­sie und Re­a­li­tät, Traum und Wirk­lich­keit sich mi­schen kön­nen? Und wä­re das schlimm?

Mei­ner Mei­nung nach ist Fan­ta­sie das Sa­lz in der Sup­pe des Le­bens und der An­trieb für Fort­s­chritt und mo­der­nen Zeit­geist – und macht Freu­de.

Viel Spaß beim Le­sen!

Son­nen­war­mer Gruß!

Agnes M. Hold­borg

 

Iri­scher Se­gens­spruch und Wid­mung

Für je­den Sturm einen Re­gen­bo­gen,

für je­de Trä­ne ein La­chen,

für je­de Sor­ge ei­ne Aus­sicht

und ei­ne Hil­fe in je­der Schwie­rig­keit.

Für je­des Pro­blem, dass das Le­ben schickt,

einen Freund, es zu tei­len,

für je­den Seuf­zer ein schö­nes Lied.

~~~

Für Vol­ker

Auch wenn du nicht ger­ne liest.

Pro­log

Die Son­ne stand hoch, die Luft schmeck­te nach Som­mer, duf­te­te nach Jas­min und Gras und kla­rem Was­ser.

Sie schweb­ten auf den El­fen­pfer­den da­hin. An­na auf dem ra­ben­schwa­r­zen Pan. Vik­tor auf der schnee­wei­ßen Ari­el­la. Am Fluss hielt er die Pfer­de an, saß ab, um An­na in sei­ne Ar­me zu zie­hen.

Er dreh­te sich mit ihr, sah nur ihr Ge­sicht mit den hell­blau­en Au­gen, den rosèfa­r­be­nen Wan­gen, dem lieb­li­chen Mund. Bei je­der Dre­hung blitz­te die Son­ne in ih­ren Au­gen und den Bril­len­glä­sern.

Er dreh­te sich wei­ter wie im Rausch, dreh­te und dreh­te sich. …

So­lan­ge, bis sich das Bild mit ei­nem Mal dra­ma­tisch ver­än­der­te. …

Der Fluss war fort und mit ihm das El­fen­reich samt mys­ti­schem Licht und lieb­li­chen Fa­r­ben. Statt­des­sen wuch­sen blitz­ar­tig mo­der­ne, stren­ge For­men und Li­ni­en in Schwa­rz, Weiß und Rot vor ihm auf.

An­na lag auf ei­nem mit wei­ßem Sa­tin be­zo­ge­nen schwa­r­zen Bett. Sie trug ih­re Bril­le nicht, da­für aber einen Hauch aus flam­mend­ro­ter Spit­ze. Ih­re Haut schim­mer­te im Kon­trast da­zu hell, kost­bar und ver­füh­re­risch.

Die leicht ge­öff­ne­ten Lip­pen leuch­te­ten im sel­ben Rot wie die Spit­ze. Mit ih­ren dun­kel be­schat­te­ten Au­gen, den dich­ten, schwa­rz ge­tusch­ten Wim­pern und dem kräf­ti­gen Lids­trich hät­te er sie bei­na­he nicht er­kannt, wä­re da nicht das hel­le Blau ih­rer Iris zu se­hen. Nur dar­auf rich­te­te er sei­nen Blick, bis er atem­los re­gis­trier­te, dass sie sich un­ter dem Kör­per ei­nes Man­nes be­weg­te.

Plötz­lich schrie An­na gel­lend auf, sich ver­zwei­felt ge­gen den Mann zur Wehr set­zend, und schlug wild um sich. Da­bei schrie sie im­mer wei­ter, schluchz­te und schrie, wäh­rend Vik­tor wie an­ge­wur­zelt da­s­tand. …

Ge­dan­ken

Kon­zen­tra­ti­on ist die Ein­en­gung der Ge­dan­ken­gän­ge auf ei­ne be­stimm­te Sa­che. Das war an­schei­nend das Pro­blem: die Ein­en­gung und die be­stimm­te Sa­che. Es woll­te ihr nicht ge­lin­gen, die­sem sim­plen Grund­satz nach­zu­kom­men.

An­na Nell saß in ih­rem Zim­mer und ver­such­te sich an dem Bio­lo­gie­re­fe­rat, das sie am kom­men­den Mon­tag im Un­ter­richt hal­ten soll­te. Doch es fiel ihr schwer, sich dar­auf zu kon­zen­trie­ren. Im­mer wie­der schweif­ten ih­re Ge­dan­ken ab, dreh­ten sich um ih­ren Freund Vik­tor und um die Ge­scheh­nis­se der letz­ten Wo­chen.

Ge­dan­ken­ver­lo­ren schau­te sie sich in dem neu­ge­stal­te­ten Raum um, tipp­te mit dem Stift auf die Schreib­tisch­plat­te. Erst vor ein paar Wo­chen hat­te ihr Va­ter das Zim­mer ganz nach ih­ren Wün­schen re­no­viert. Auch den neu­en Schreib­tisch hat­te er selbst ge­baut. Für ihn als Schrei­ner­meis­ter war das wahr­schein­lich kei­ne gro­ße Sa­che. Aber An­na spür­te sehr wohl, wie viel Lie­be er in all die klei­nen De­tails ge­steckt hat­te. Ge­nau wie in das ge­sam­te Zim­mer, das sie sich mit ih­rer zwei Jah­re äl­te­ren Schwes­ter Le­na teil­te.

Zur­zeit konn­te An­na es samt Schreib­tisch und al­ters­schwa­chem Com­pu­ter für sich al­lein be­an­spru­chen, um in Ru­he ih­re Schul­auf­ga­ben zu er­le­di­gen, denn Le­na be­fand sich bei der Ar­beit. Sie ab­sol­vier­te ei­ne Aus­bil­dung zur Fri­seu­rin, ih­rem Wunsch­be­ruf. Nichts für mich, dach­te An­na, aber für Le­na ge­nau das Rich­ti­ge.

Der Ge­dan­ke an die gro­ße Schwes­ter ent­lock­te ihr ein klei­nes Schmun­zeln, weil die sich mit ih­ren neun­zehn Jah­ren nun end­lich von den al­ten Boy-Band-Pos­tern aus der Bra­vo ver­ab­schie­det hat­te. Die Grou­pie-Zeit hat­te bei Le­na halt ziem­lich lan­ge an­ge­dau­ert. Jetzt aber strahl­ten die Wän­de in frisch ge­stri­che­nem Weiß, das nur hier und da von ein paar son­nen­gel­ben Ak­zen­ten un­ter­bro­chen wur­de.

Über An­nas Bett hing ein gro­ßes Ge­mäl­de, wel­ches Vik­tors Zwil­lings­schwes­ter ihr zum sieb­zehn­ten Ge­burts­tag ge­schenkt hat­te. Je­der, der das Zim­mer be­trat, wur­de au­gen­blick­lich von dem selbst­ge­mal­ten Bild ma­gisch in den Bann ge­schla­gen. Von sei­nem un­wi­der­steh­li­chen Char­me, den fan­tas­ti­schen Fa­r­ben und dem mys­ti­schen Mo­tiv mit den zwei Son­nen, die wie selbst­ver­ständ­lich in ver­ein­ter Um­ar­mung hin­ab auf einen plät­schern­den Bach in ei­ner traum­haft hel­len Lich­tung schie­nen. Au­ßer An­na und ihr Bru­der wuss­te in der Fa­mi­lie nie­mand, dass die­se Lich­tung, bis auf die zwei­te Son­ne, kei­nes­wegs ei­ner Fan­ta­sie ent­sprang.

Bei der Er­in­ne­rung an ih­ren Ge­burts­tag spiel­te An­na ver­son­nen mit der Ket­te, an wel­cher das weiß­gol­de­ne Me­dail­lon mit den hell­blau­en Sa­phi­ren am Rand und den im In­nern ein­gra­vier­ten zwei Son­nen hing. Vik­tor hat­te es ihr ge­schenkt, eben zu je­nem sieb­zehn­ten Ge­burts­tag. Dem wun­der­ba­ren Tag, an dem sie mit ihm zum ers­ten Mal …

So­fort flat­ter­te es in ih­rem Bauch. Zu An­nas Leid­we­sen er­ging es ihr häu­fig so, was ihr re­gel­mä­ßig Pro­ble­me be­rei­te­te, sich auf die Haus­a­r­bei­ten zu kon­zen­trie­ren. Des­halb at­me­te sie er­neut kräf­tig durch.

Doch an­statt end­lich wei­ter an dem Skript zu ar­bei­ten, glitt ihr Blick zum Fens­ter mit den duf­tig zar­ten wei­ßen Or­gan­za­gar­di­nen und den blick­dich­ten cre­me­fa­r­be­nen Vor­hän­gen an der Sei­te. Sie hin­gen dort erst seit dem gest­ri­gen Abend und lie­ßen den Raum sehr viel grö­ßer und hel­ler er­schei­nen als vor­her. Le­na hat­te zu­erst ein biss­chen ge­mault, weil er abends nicht mehr so gut ab­zu­dun­keln wä­re wie mit den al­ten dun­kel­brau­nen Che­nil­le­vor­hän­gen, fand aber das Ge­samt­bild über­zeu­gend. Ty­pisch für ih­re lie­bens­wür­di­ge und un­kom­pli­zier­te Schwes­ter, mein­te An­na.

Schließ­lich schnitt sie wie­der ein­mal den Fa­den zu ih­ren Tag­träu­me­rei­en ab und beug­te sich vom Schreib­tisch­stuhl weit in Rich­tung ih­rer am Bett ste­hen­den Schul­ta­sche hin­un­ter, um sich das Bio-Buch zu an­geln, oh­ne da­bei auf­ste­hen zu müs­sen. Da­bei pur­zel­te sie fast von dem ur­al­ten Stuhl mit Mi­ckey-Mou­se-De­sign, so kip­pel­te der.

Höchs­te Zeit für den wei­ßen hö­hen­ver­stell­ba­ren Pols­ter-Stuhl, den sie sich an­schaf­fen woll­te, über­leg­te sie. Aber ihr Er­spar­tes reich­te noch nicht ganz da­für. So lan­ge durf­te sich Mi­ckey Mou­se noch ei­ner Gna­den­frist er­freu­en, be­vor sie im Sperr­müll ihr En­de fin­den wür­de.

An­na stör­te es nicht son­der­lich, dass ih­re El­tern mehr mit dem Geld haus­hal­ten muss­ten als an­de­re Leu­te. Des­halb mach­te es ihr auch nichts aus, selbst für den neu­en Stuhl auf­kom­men zu müs­sen.

Nur ih­re ei­ge­ne Mit­tel­mä­ßig­keit wa­rf sie manch­mal aus der Bahn. Vik­tor be­haup­te­te zwar be­harr­lich, dass ge­ra­de sie et­was ganz Be­son­de­res wä­re, und schwor so­gar Stein und Bein dar­auf. Doch nag­ten im­mer wie­der Zwei­fel an ihr und ver­un­si­cher­ten sie mit Fra­gen, wie zum Bei­spiel, wes­we­gen je­mand wie er Ge­fal­len an je­man­den wie ihr fin­den konn­te. Nach An­nas Da­für­hal­ten war er nicht nur viel at­trak­ti­ver als sie selbst, son­dern auch tat­säch­lich et­was ganz Be­son­de­res, weil er nur zur Hälf­te ein Mensch war.

Sie lä­chel­te ver­gnügt bei der Vor­stel­lung, ih­re El­tern und Le­na wür­den er­fah­ren, dass Vik­tors Va­ter, an­statt über ein rie­si­ges Fir­men­im­pe­ri­um in Ame­ri­ka zu herr­schen, in Wirk­lich­keit ein wasch­ech­ter Kö­nig war. Kö­nig des west­li­chen El­fen­rei­ches, wel­ches di­rekt ne­ben der Welt der Men­schen exis­tier­te. Au­ßer ihr kann­te in der Fa­mi­lie nur noch ihr zwan­zig­jäh­ri­ger Bru­der Jens das Ge­heim­nis.

An­na schüt­tel­te hef­tig den Kopf, weil sie im Geis­te schon wie­der zu Vik­tor ab­drif­te­te, und rief sich da­her leicht ver­är­gert zur Rä­son. Am En­de wür­de die­ses un­säg­li­che Re­fe­rat doch nicht fer­tig, be­vor Vik­tor sie fürs rest­li­che Wo­chen­en­de ab­hol­te.

Sie leg­te den Stift zur Sei­te, rück­te ih­re Bril­le zu­recht und rutsch­te ein we­nig vor, um auf dem Bild­schirm ih­ren bis­lang ver­fass­ten Text durch­zu­ge­hen. Er­neut wa­ckel­te und kip­pel­te es ver­däch­tig un­ter ih­rem Po, was al­ler­dings statt Ver­är­ge­rung nur Vor­freu­de auf den neu­en Stuhl her­vor­rief.

Sie wür­de mit Le­na re­den müs­sen, dass künf­tig auf kei­nen Fall eins ih­rer Haa­r­fär­be­mo­del­le dar­auf Platz neh­men dürf­te. Le­n­as Fa­rb­ex­pe­ri­men­te hat­ten so man­chen häss­li­chen Fleck auf Mi­ckey Mou­se hin­ter­las­sen. So et­was woll­te An­na für die Zu­kunft tun­lichst ver­mei­den. Mit dem schi­cken wei­ßen und zu­dem fle­cken­lo­sen Stuhl wür­de das Zim­mer in ih­ren Au­gen per­fekt aus­se­hen. Na­tür­lich nicht so per­fekt wie Vik­tors.

Sie seufz­te und nahm re­si­gniert die Fin­ger von der Ta­s­ta­tur, weil sie schon wie­der an ihn dach­te und ihr das Schrei­ben da­durch schwer­fiel.

Wenn sie sich nicht all­mäh­lich be­eil­te, wür­de das nichts mehr mit dem Re­fe­rat. Au­ßer­dem be­fürch­te­te sie, Vik­tor könn­te be­mer­ken, was in ih­rem Kopf vor sich ging. Ob­wohl er nur ei­ne Hal­bel­fe war, hat­te er sei­ne em­pa­thi­schen und te­le­pa­thi­schen Fä­hig­kei­ten in der letz­ten Zeit der­art ver­fei­nert, dass sie ih­re Ge­dan­ken- und Ge­fühls­welt kaum noch vor ihm ver­ber­gen konn­te.

Zwar war auch sie in­zwi­schen in der La­ge, sei­ne Ge­dan­ken zu er­spü­ren, aber so wie ihm wür­de es ihr wohl nie­mals ge­lin­gen. Es grenz­te oh­ne­hin an ein Wun­der, dass sie und so­gar Jens über solch el­fi­sche Ga­ben ver­füg­ten.

Bis­lang hat­te sie über den Grund da­für kaum nach­ge­dacht. Auch jetzt fehl­te die Zeit da­zu. Al­so straff­te sie end­gül­tig die Schul­tern, um sich dem Re­fe­rat zu wid­men und noch da­zu den Geist vor ih­rem heiß­ge­lieb­ten Freund zu ver­schlie­ßen.

Zu spät! Das war An­na be­reits klar, noch ehe sie Vik­tors Samt­stim­me im Kopf ver­nahm.

»Es heißt Phy­sio­lo­gie nicht Py­sio­lo­gie, An­na. Du ver­schreibst dich je­des Mal bei die­sem Wort«, ta­del­te er sie.

An­na ver­dreh­te lä­chelnd die Au­gen.

»Klar, dass du dich wie­der ein­mi­schen musst, du Bes­ser­wis­ser. Das Recht­schreib­pro­gramm fin­det das so­wie­so her­aus und ich kor­ri­gie­re es zum Schluss. Jetzt raus aus mei­nem Kopf, so­fort, sonst sit­ze ich mor­gen noch hier!«

»Nicht so schnell, nicht so schnell, Sü­ße. Du hast schließ­lich an­ge­fan­gen, an un­ser Ers­tes Mal zu den­ken. Du kannst doch nicht von mir er­war­ten, dass ich mich aus­ge­rech­net da zu­rück­hal­te. Au­ßer­dem ha­be ich schon wie­der was von Mit­tel­mä­ßig­keit mit­be­kom­men. Du weißt, dass mich das sau­er macht, An­na. Ich fin­de, ich soll­te ganz schnell zu dir kom­men und dich vom Ge­gen­teil über­zeu­gen. Los, An­na, lass mich dir hel­fen, dann bist du schnel­ler fer­tig, bit­te, bit­te.«

»Vik­tor Mül­ler, du sollst nicht stän­dig in mei­nem Hirn her­um­wu­seln! Das schickt sich nicht! Warst du nicht der­je­ni­ge, der sei­nem Va­ter letz­tens erst was von Takt und Zu­rück­hal­tung er­zählt hat? Al­so bit­te, ver­schwin­de aus mei­nem Kopf und komm frü­hes­tens in ei­ner Stun­de als ge­stalt­li­cher Hal­bel­fe zu mir, ver­stan­den?«

»Men­no!«

An­na lach­te. Ei­gent­lich soll­te sie sich dar­über är­gern, dass er stän­dig ih­re Pri­vat­sphä­re ver­letz­te. De­ment­ge­gen freu­te sich eher und konn­te ihm we­gen sei­ner klei­nen Ge­dan­ke­n­at­ta­cken nie bö­se sein.

***

Vik­tor saß zu Hau­se an sei­nem Lap­top und grins­te ver­gnügt in sich hin­ein. An­na konn­te ein­fach ih­ren Geist nicht ge­nü­gend ver­schlie­ßen, um sich ge­gen ihn ab­zu­schir­men, ins­be­son­de­re, wenn sie an ih­ren Haus­auf­ga­ben ar­bei­te­te. Es be­rei­te­te ihm rie­si­gen Spaß, dann im­mer mal wie­der nach­zu­schau­en, was sich in ih­rem hüb­schen Köpf­chen ab­spiel­te.

Dass An­nas Über­le­gun­gen häu­fig um ihr ge­mein­sa­mes »Ers­tes Mal« kreis­ten, freu­te ihn be­son­ders. Ihm ging es ja ge­nau­so. An­ders al­ler­dings emp­fand er die Sa­che mit ih­rem man­geln­den Selbst­wert­ge­fühl. Dar­an ar­bei­te­te er schon, seit er sie da­mals im Wald an­ge­spro­chen hat­te. Har­te Ar­beit, wie er fand.

Aber jetzt hat­te sie na­tür­lich recht. Sie muss­te ihr Re­fe­rat fer­tig schrei­ben. Al­so ließ er sie schwe­ren Her­zens in Ru­he und trös­te­te sich mit der Aus­sicht, sie in ei­ner Stun­de zu se­hen.

Da aber so ei­ne Stun­de ganz schön lang wer­den konn­te, über­leg­te er, was er in die­ser Zeit un­ter­neh­men soll­te.

Ei­gent­lich müss­te auch er sich um ernst­haf­te Din­ge küm­mern, denn er woll­te sich in der Welt der Men­schen be­haup­ten und hat­te sich da­zu durch­ge­run­gen, an der Uni Düs­sel­dorf ein Stu­di­um zu be­gin­nen.

Zwar war sein High-School-Ab­schluss­zeug­nis in Wirk­lich­keit nur so viel wert wie die Fa­r­be auf dem Pa­pier, aber es ge­nüg­te, um in der Men­schen­welt die er­for­der­li­che Schul­aus­bil­dung nach­zu­wei­sen. Das hieß na­tür­lich nicht, er und sei­ne Zwil­lings­schwes­ter Vik­to­ria hät­ten in der El­fen­welt über­haupt kei­ne Bil­dung ge­nos­sen. Ganz im Ge­gen­teil, sie wa­ren dort jah­re­lang in­ten­siv so­wohl in el­fi­schen als auch in mensch­li­chen Din­gen un­ter­rich­tet wor­den.

Estra und Isi­nis, ihr On­kel und ih­re Tan­te, hat­ten sich ge­ra­de­zu über­schla­gen, wenn es dar­um ging, ih­nen mensch­li­che Wis­sen­schaf­ten und Kennt­nis­se, auch in Kunst und Li­te­ra­tur, na­he­zu­brin­gen. Da­bei gin­gen die bei­den stets selbst in ih­rer Wiss­be­gier­de auf und lie­ßen sich im ei­ge­nen Un­ter­richt so man­ches Mal zu stau­nen­den »Oh’s« und »Ah’s« hin­rei­ßen.

Vik­tor lieb­te sei­ne Zieh­el­tern von gan­zem Her­zen, wa­ren Vik­to­ria und er doch bis zu ih­rem acht­zehn­ten Le­bens­jahr bei ih­nen auf­ge­wach­sen und eben­so lie­be­voll be­han­delt wor­den wie de­ren drei ei­ge­nen Kin­der.

Wäh­rend die­ser gan­zen Zeit be­ka­men die Zwil­lin­ge ih­ren Va­ter, Kö­nig Vi­nie­stra Tus­te­rus, ge­nannt Vi­tus, höchs­tens ein paar Mal im Jahr zu Ge­sicht und zu­dem des­sen äu­ßerst re­ser­vier­tes Ver­hal­ten re­gel­mä­ßig zu spü­ren.

Erst vor un­ge­fähr zwei­ein­halb Mo­na­ten er­fuh­ren sie end­lich den Grund da­für, den Grund für die ei­gen­ar­ti­ge Zu­rück­hal­tung des Va­ters. Bis da­hin ahn­ten sie nicht, wel­cher Be­dro­hung Vi­tus seit dem Tod sei­ner El­tern und sie selbst seit ih­rer Ge­burt aus­ge­setzt wa­ren. Ja, sie hat­ten nicht ah­nen kön­nen, wie ver­zwei­felt Vi­tus all die Zeit, seit dem Tod ih­rer Mut­ter, ver­sucht hat­te, Un­heil von ih­nen fern­zu­hal­ten. Größ­tes Un­heil, das ihn aus der Ver­gan­gen­heit ver­folg­te und sei­ne Kin­der zu ver­schlin­gen droh­te:

 

… Vi­tus lern­te als jun­ger Thron­er­be des west­li­chen El­fen­rei­ches die zau­ber­haf­te und ein Jahr jün­ge­re El­fen­prin­zes­sin ei­nes an­de­ren Lan­des ken­nen. Er ver­sprach ihr – ge­blen­det von ih­rer Schön­heit und mit dem Se­gen bei­der El­tern­paa­re – die Ehe. Da­mals war er erst vier­zehn Jah­re alt und er­kann­te nicht, dass die gan­ze Sa­che ein ein­zi­ges Rän­ke­spiel des an­de­ren Kö­nigs­hau­ses war, nur um de­ren Reich zu ver­grö­ßern. Als er vier Jah­re spä­ter ent­deck­te, welch ver­schla­ge­n­er, bös­ar­ti­ger Cha­rak­ter sich hin­ter der wun­der­schö­nen Fas­sa­de der Prin­zes­sin Ka­na ver­barg, war es zu spät. Ka­na dach­te gar nicht dar­an, ihn von der schon bald ge­plan­ten Hoch­zeit zu ent­bin­den.

Der­weil ver­lieb­te sich Vi­tus un­s­terb­lich in ei­ne Men­schen­frau mit dem Na­men Ve­ro­ni­ka Mül­ler. Er lieb­te sie so sehr, dass er nur mit ihr und sei­nem un­ge­bo­re­nen Kind, wel­ches sie un­ter dem Her­zen trug, le­ben woll­te und brach des­halb oh­ne Zö­gern sein Ehe­ver­spre­chen.

Aus pu­rer Ra­che tö­te­ten Ka­na und ih­re Fa­mi­lie dar­auf­hin Vi­tus’ El­tern mit­hil­fe ei­ner ur­al­ten, grau­sa­men Macht, der Nu­urt­ma. Es hät­ten wohl noch mehr El­fen den Tod ge­fun­den, wä­re Vi­tus nicht da­mals schon auf­grund sei­ner au­ßer­ge­wöhn­li­chen Fä­hig­kei­ten in der La­ge ge­we­sen, die­se Macht ei­gen­hän­dig ins Exil zu ver­ban­nen.

Dann muss­te Vi­tus den Thron über­neh­men. Zu al­le­dem sta­rb auch noch Ve­ro­ni­ka di­rekt nach der Ge­burt der Zwil­lin­ge. Ka­na schwor wei­te­re Ra­che, woll­te ihm sei­ne Kin­der neh­men und sie tö­ten.

Vi­tus hat­te in schnel­ler Fol­ge zu­erst sei­ne El­tern und dann sei­ne gro­ße Lie­be ver­lo­ren. Dar­über hin­aus sah er sich ge­zwun­gen, die ge­lieb­ten Kin­der in die Ob­hut des Bru­ders zu ge­ben, da­mit sie bei ihm, in­ner­halb des El­fen­rei­ches, be­hü­tet auf­wach­sen konn­ten.

All die Jah­re be­wach­te er Tag für Tag ru­he­los die Gren­zen sei­nes Rei­ches, al­lein in der Hoff­nung, auf die­se Art sei­ne Fa­mi­lie be­schüt­zen zu kön­nen.

Trotz die­ser Vor­keh­run­gen war und blieb Ka­na ei­ne ste­ti­ge Be­dro­hung und hol­te sich zu­dem die Hil­fe ei­nes düs­te­ren El­fen­zau­be­rers. …

 

Bei der Er­in­ne­rung dar­an, dass die­se rach­süch­ti­ge Frau das Le­ben sei­nes Va­ters fast ru­i­niert und sei­ner Schwes­ter und ihm, nicht zu­letzt so­gar An­na und de­ren Mut­ter, den Tod brin­gen woll­te, schwoll in Vik­tor maß­lo­se Wut an. Die­se Wut ball­te sei­ne Hän­de zu Fäus­ten, stau­te sich in sei­ner Keh­le und schrie nach Ent­la­dung.

»Hey nicht, Vik­tor.« Zwei schlan­ke Ar­me um­schlan­gen sei­ne Schul­tern. »Ka­na ist tot, nur noch ein Häuf­chen Asche, tief ver­gra­ben im Wald. Sie hat be­kom­men, was sie ver­dien­te, ge­nau wie ihr ekel­haf­ter Zau­ber­freund Kaoul.« Vik­to­ria gab ihm einen Kuss auf die Wan­ge. »Grü­b­le nicht so viel dar­über. Wir ha­ben ih­nen den Garaus ge­macht und es ist vor­bei. Lass es end­lich hin­ter dir. Schieb dei­ne dunk­len Ge­dan­ken bei­sei­te. Selbst Vi­tus ist wie­der in der La­ge, fröh­lich zu sein, manch­mal je­den­falls.«

Sie beug­te sich zu ihm und blick­te ihn aus dun­kel­blau­en Au­gen, die sei­nen so äh­nel­ten, mil­de lä­chelnd an. »Au­ßer­dem ver­passt du dein Date mit An­na, wenn du dich nicht bald in Be­we­gung setzt. Ich dach­te, du willst sie heu­te mit dem Au­to ab­ho­len. Höchs­te Zeit, dass du los­fährst.«

»Nein, An­na hat ge­sagt, sie hät­te kei­ne Lust auf Au­to­fah­ren. Hhm, ich glau­be, ich fah­re ihr zu schnell. Kann das sein?«

Bei die­ser Fra­ge lach­te Vik­to­ria hell auf. Zwei Grüb­chen zeig­ten sich auf ih­ren Wan­gen, so wie bei ihm, wenn er lach­te. »Tja, mein Bru­der­herz, das könn­te durch­aus mög­lich sein. Ich neh­me an, du hast die­se In­fo di­rekt aus An­nas Köpf­chen, denn das hät­te sie dir ge­gen­über be­stimmt nie zu­ge­ge­ben.«

»Ja, kann schon sein. Ach egal, dann ho­le ich sie halt durchs Por­tal im Wald hier­her. Wir kön­nen ja im­mer noch ein biss­chen weg­fah­ren.«

»Na al­so, dann lass uns run­ter­ge­hen. Da ha­ben wir ja noch ge­nü­gend Zeit für ei­ne Tas­se Kaf­fee.«

»Wo ist Ke­tu ei­gent­lich? Hat er Wo­chen­end­dienst?«, er­kun­dig­te sich Vik­tor, als sie die Trep­pe hin­un­ter­gin­gen.

»Nein, er hat frei.« Sie räus­per­te sich. »Aber er kommt erst spä­ter, weil er sich vor­her mit Si­stra trifft. Sie wol­len noch bei ih­ren El­tern vor­bei­schau­en.«

Vik­to­ria hielt die Li­der ge­senkt, so, als woll­te sie et­was ver­ber­gen. Doch bei ih­rem Bru­der hat­te sie mitt­ler­wei­le so gut wie kei­ne Chan­ce mehr, ein Ge­heim­nis zu wah­ren. Selbst wenn er nicht ih­re Ge­dan­ken er­forsch­te, reich­te ein Blick in ihr Ge­sicht. Die­ses schma­le Ge­sicht, das sei­nem so ähn­lich sah, stell­te er nach ei­nem prü­fen­den Blick wie­der ein­mal fest:

Sei­ne Zwil­lings­schwes­ter glich ihm sehr, mit den fei­nen Zü­gen, den gro­ßen dun­kel­blau­en Au­gen und dem brau­nen Haar. Nur Vik­tors Lo­cken wur­den zu­sätz­lich von fei­nen ma­ha­go­ni­fa­r­be­nen Sträh­nen durch­zo­gen.

Vik­to­ria strahl­te al­ler­dings ei­ne char­man­te Weib­lich­keit aus, die auch nicht durch den kur­z­en fre­chen Haar­schnitt, den sie erst seit ein paar Mo­na­ten trug, ge­min­dert wur­de. Sie war groß und schlank, ei­ne ty­pisch el­fi­sche Ei­gen­schaft, und gleich­zei­tig mit an­spre­chen­den, fe­mi­ni­nen Kur­ven ge­seg­net.

Da Vik­tor sei­ne Schwes­ter über al­le Ma­ßen lieb­te, konn­te er es nicht er­tra­gen, sie trau­rig zu se­hen. Er zog sei­ne ge­ra­den Brau­en zu­sam­men, wohl­wis­send, dass sich da­durch ei­ne klei­ne stei­le Fal­te auf sei­ner Stirn bil­de­te.

»Hat er dich im­mer noch nicht zu sei­nen El­tern ein­ge­la­den?«

Als Vik­to­ria dies stumm be­stä­tig­te, schüt­tel­te er er­bost den Kopf. »Was für ein Horn­och­se! Sei­ne El­tern wer­den doch längst wis­sen, dass er mit der Prin­zes­sin zu­sam­men ist. Manch­mal ver­ste­he ich ihn nicht. – Ach, komm schon, lass dich da­durch nicht ent­mu­ti­gen. Er liebt dich, das weißt du doch. Den Rest kriegt er auch noch hin. Und wenn sein Kö­nig ihm per­sön­lich in den Arsch tre­ten muss, um ihm zu ver­deut­li­chen, dass er als so­ge­nann­ter ein­fa­cher Wach­mann die Kö­nigs­toch­ter lie­ben darf.«

Mit ei­nem Schmun­zeln sprach er wei­ter: »Und wenn Vi­tus das nicht bald tut, dann eben ich. Jens hilft mir si­cher ger­ne da­bei.«

Nun muss­te sie la­chen. »An­nas Bru­der ist ziem­lich gut dar­in, an­de­ren in den Arsch zu tre­ten. Es dürf­te lus­tig sein, ihm da­bei zu­zu­se­hen.«

»Sag ich doch.«

Er nahm sei­ne Schwes­ter lie­be­voll in den Arm und ging dann mit ihr Hand in Hand in die Kü­che.

***

»An­na, kommst du? Vik­tor ist da!«, rief The­resa.

»Ja, Ma­ma, bin gleich da!«

Schnell wa­rf sie einen letz­ten prü­fen­den Blick in den Spie­gel.

Das gold­blon­de Haar fiel ihr glatt und glän­zend über die Schul­ter und die hell­blau­en Au­gen leuch­te­ten re­gel­recht hin­ter der schlich­ten Bril­le. Ih­re Haut schim­mer­te hell und ma­kel­los.

Na ja, wenn die Bril­le nicht wä­re, gin­ge es ja ei­gent­lich, mein­te sie, ob­wohl sie sich et­was zu dick für ih­re ge­rin­ge Grö­ße von einen Me­ter drei­und­fünf­zig fand und des­halb lei­der ver­geb­lich ver­such­te, drei von den ein­und­fünf­zig Ki­los los­zu­wer­den.

Dann wa­ren da noch ih­re Zäh­ne, die moch­te sie auch nicht. An­na muss­te un­will­kür­lich ki­chern, als ihr wie­der ein­fiel, wie Vik­tor des­we­gen letz­tens Zahn­a­rzt mit ihr ge­spielt hat­te, nur um von ihr zu er­fah­ren, wel­che Zäh­ne denn an­geb­lich schief ste­hen wür­den. Sie hat­te sie ihm ge­zeigt. Doch er hat­te nur ge­lacht, sie für ker­zen­ge­ra­de und blen­dend­weiß be­fun­den und zu­dem ih­ren Mund, nach ei­nem lan­gen, da­hin­schmel­zen­den Kuss, be­zau­bernd ge­nannt.

Die Er­in­ne­rung dar­an und an das, was dar­auf ge­folgt war, ließ ihr Herz wild klop­fen und den Atem sto­cken.

»Nur die Ru­he, An­na!«

Sie schnauf­te ein­mal kräf­tig durch, ver­ließ ihr Zim­mer und strahl­te Vik­tor an, muss­te al­ler­dings er­ken­nen, dass er be­reits mit­be­kom­men hat­te, was ihr vorm Spie­gel durch den Kopf ge­gan­gen war. Amü­siert hob er ei­ne Braue und lä­chel­te schief. An­nas Herz er­litt bei die­sem An­blick nach wie vor Aus­set­zer.

»Tief durch­at­men!«

»Hal­lo, An­na, du siehst heu­te aber wie­der zum An­bei­ßen aus.« The­resa noch ein­mal freund­lich zu­ni­ckend ging Vik­tor zu sei­ner Freun­din, um sie zu um­ar­men und ihr einen kur­z­en sü­ßen Kuss zu ge­ben. Da­bei strich er mit sei­nem Dau­men ganz zart über ih­re Wan­ge.

»Noch­mal: Tief durch­at­men!«

»Ich brin­ge euch An­na über­mor­gen wohl­be­hal­ten zu­rück, ver­spro­chen«, ver­si­cher­te er The­resa.

»Das weiß ich, Vik­tor. Wie wä­re es, wenn ihr am Sonn­tag schon zum Mit­tag­es­sen kom­men wür­det? Dann hät­ten wir die­ses Wo­chen­en­de auch ein we­nig von euch, ehe Jo­han­nes und ich nächs­ten Frei­tag auf die In­sel fah­ren.«

»Das klingt toll, nicht wahr, An­na?«

»Ja klar. Hab ich dir doch ge­sagt, Ma­ma, dass Vik­tor das gut fin­den wird.«

Sie um­arm­te ih­re Mut­ter und küss­te sie auf den Mund. »Al­so, Tschö. Gib Pa­pa was von dem Kuss ab und grüß Le­na, Jens und Sil­vi. Ich hab dich lieb.«

»Ich hab dich auch lieb. Tschö, En­gel­chen.«

Auch Vik­tor nahm The­resa zum Ab­schied in den Arm und küss­te sie auf bei­de Wan­gen. Da­nach sah er sie noch ein­mal an. »Schön, dass du wie­der ge­sund bist, The­resa. Man sieht rich­tig, wie gut es dir mitt­ler­wei­le geht. Das freut mich. Auf Wie­der­se­hen oder auch Tschö, wie ihr hier so ger­ne sagt.«

»Dan­ke, Vik­tor, das ist sehr lieb von dir. Tschö.«

Kaf­fee oder Tee

Sie ver­lie­ßen die Woh­nung der Nells, die zu ei­nem Wohn­haus in ei­ner klei­nen Stadt bei Düs­sel­dorf ge­hör­te und na­he am Wald lag. Dem Wald, wo Vik­tor sei­ne An­na da­mals im Ju­li auf der Lich­tung an­ge­spro­chen und der sich seit­dem stark ver­än­dert hat­te.

Jetzt, im Ok­to­ber, hat­te der Herbst deut­lich sei­ne Füh­ler aus­ge­streckt. Nun herrsch­ten hier leuch­ten­de Fa­r­ben vor, in rot-oran­ge­n­en, rost­brau­nen, ocker­gol­de­nen Schat­tie­run­gen und Nu­an­cen. Als hät­te der Herbst ein lo­dern­des Feu­er ent­facht. Dies Fa­rb­spek­ta­kel stand dem som­mer­li­chen Lich­ter­spiel in Grün, Gold und Sil­ber in nichts nach.

Der kräf­ti­ge Wind hat­te den Bäu­men be­reits al­ler­hand Blät­ter ge­stoh­len und am Bo­den zu ei­nem ra­scheln­den Tep­pich auf­ge­schich­tet. Auf dem ver­schlun­ge­nen Wald­weg knis­ter­te es ge­heim­nis­voll, als sie zu An­nas klei­ner Lich­tung schlen­der­ten, um dort wie je­des Mal in lei­den­schaft­li­cher Um­ar­mung in­ne­zu­hal­ten.

Da An­na zit­ter­te, zog Vik­tor ih­re Ja­cke fes­ter zu und wi­ckel­te ihr sei­nen Schal um.

All­mäh­lich wird es merk­lich küh­ler, über­leg­te er und grins­te ver­stoh­len bei ei­ner ganz be­stimm­ten Er­in­ne­rung, die ihm in den Sinn kam:

 

… Noch vor ei­nem Mo­nat war es hier herr­lich warm und er konn­te nicht wi­der­ste­hen, An­na auf dem wei­chen Moos­bett un­ter der Bir­ke nach al­len Re­geln der Kunst zu ver­füh­ren. Zu­erst sträub­te sie sich, weil sie be­fürch­te­te, je­den Mo­ment von Frem­den über­rascht zu wer­den. Dass Vi­tus die Lich­tung schon Wo­chen zu­vor mit ei­nem Schutz­bann be­legt hat­te, um Frem­de von dort fern­zu­hal­ten, hat­te Vik­tor ihr ver­schwie­gen. Be­son­ders, als er be­merk­te, dass sie, trotz al­ler Vor­be­hal­te, bei sei­nen Be­rüh­run­gen mehr und mehr weg­schmolz, bis sie sich ihm be­din­gungs­los hin­gab.

Him­mel, er war be­rauscht von ih­rer Sinn­lich­keit, im­mer wie­der aufs Neue.

Spä­ter, in sei­nem Zim­mer, beich­te­te er ihr, dass sie auf­grund der Schutz­bar­rie­ren nie­mand beim Lie­bes­s­piel hät­te be­ob­ach­ten kön­nen. Dar­auf­hin stürz­te An­na sich mit ge­wei­te­ten Au­gen auf ihn, schimpf­te ihn einen »per­ver­sen, üb­len Lust­molch«, schubs­te ihn aufs Bett und ver­speis­te ihn letzt­end­lich mit Haut und Haar. …

 

»Vik­tor?« Er sah in ih­re amü­siert fun­keln­den Au­gen. »Du hast ge­träumt. Aber glaub mir eins, Vik­tor Mül­ler, mir ist es heu­te ein­deu­tig zu kalt für dei­ne durch­trie­be­nen Spiel­chen hier auf un­se­rer Lich­tung.«

»Oh.« Er grins­te ver­le­gen. Manch­mal ver­gaß er, dass nicht nur er in der La­ge war, Ge­dan­ken zu le­sen. An­na konn­te es in­zwi­schen auch ganz gut.

»Ja­ja, auch du schaffst es nicht im­mer, dich er­folg­reich vor mir zu ver­schlie­ßen, du lüs­ter­ner Un­hold.«

»Un­hold? Was soll das denn sein?«

»Das sagt Ma­ma hin und wie­der zu Pa­pa.« An­na ki­cher­te. »Frü­her dach­te ich, es wür­de so et­was wie Witz­bold be­deu­ten. Goo­gle hat mich ei­nes Bes­se­ren be­lehrt. Na­tür­lich bist du kein Scheu­sal, ge­nau­so we­nig wie Pa­pa. Aber ich glau­be, ich weiß jetzt, was Ma­ma da­mit meint.« Sie streck­te sich und zog ihn zu­sätz­lich zu sich hin­un­ter, um ihn auf die Na­sen­spit­ze zu küs­sen. »Lass uns zu dir nach Hau­se ge­hen, ja? Mit steht näm­lich der Sinn nach Kaf­fee, Kek­sen und dei­nem war­men Bett.«

Vik­tor leg­te den Kopf schief. »In der Rei­hen­fol­ge?« Das brach­te ihm einen kräf­ti­gen Stoß in die Rip­pen ein. »Aua!«, lach­te er, nahm sie dann aber zärt­lich in den Arm. »Hhm, du riechst mal wie­der so gut, Sü­ße.«

»Ist doch nur ›Boss Oran­ge‹. Nix Be­son­de­res.«

»Nein, nein, das ist nicht nur dein Pa­r­fum. Das ist die gan­ze An­na-Mi­schung.«

»Na ja«, fuhr er fort, als sie ihn fra­gend an­sah, »das ist die An­na-Spe­zi­al-Mi­schung, be­ste­hend aus An­na und Pa­r­fum, An­na und Sham­poo, An­na und Dusch­gel und, und, und. Aber vor al­len Din­gen aus An­na. Dei­nen Duft wür­de ich un­ter al­len Düf­ten des Uni­ver­sums wie­der­er­ken­nen.«

»Wie soll das denn ge­hen?« Sie sah ihn er­staunt, aber auch be­lus­tigt an. »Da­mit könn­test du oh­ne Wei­te­res bei Wet­ten, dass … mit­ma­chen«, mein­te sie. »Aber du re­dest ja so­wie­so aus­ge­mach­ten Blöd­sinn, Vik­tor. Schließ­lich bis du kein Hund.«

»Hhm, aber ein hal­ber El­fe!«

»Siehst du? Den hal­b­en El­fen hast du mal wie­der ver­ges­sen. Doch ei­gent­lich liegt es nicht dar­an, dass ich ein hal­ber El­fe bin, Sü­ße, son­dern nur an dir und an dei­nem Wahn­sinns­duft.« Dann run­zel­te er die Stirn. »Wet­ten – was?«

An­na glucks­te. »Das ist so ei­ne Fern­seh­s­how. Wun­dert mich, dass du sie nicht ge­se­hen hast, bei dei­nem Fern­seh­kon­sum. Ob­wohl, sie wur­de ab­ge­setzt, glaub ich.«

»Ab­ge­setzt?«

»Ach, un­wich­tig. Komm jetzt. Und die Rei­hen­fol­ge we­gen Kaf­fee und Kek­sen und so liegt ja wohl klar auf der Hand.«

Sie lä­chel­te ihn mit ge­röte­ten Wan­gen an, schein­bar er­freut dar­über, dass sei­ne Ge­dan­ken sich bei ih­ren letz­ten Wor­ten deut­lich um ei­ne ein­zi­ge Sa­che dreh­ten.

»Un­er­sätt­lich! Ob das wohl auch am hal­b­en El­fen liegt?«

»Nein, Sü­ße, ganz ein­deu­tig nicht«, be­ant­wor­te­te er ih­re ge­dach­te Fra­ge. »Auch das liegt al­lein an dir und an dei­nerUn­er­sätt­lich­keit.«

Er sah ihr tief in die Au­gen. »Ge­nug jetzt, sonst ist es mir herz­lich egal, wie kalt es hier drau­ßen ist, und du wirst dir lei­der einen Schnup­fen ho­len.«

La­chend zog er sie hin­ter sich her, zog sie tie­fer in den Wald zum Ein­gang zur El­fen­welt, um kurz dar­auf an ei­nem wei­te­ren Por­tal wie­der in die Men­schen­welt ein­zu­t­au­chen. Dort, wo Vik­to­ri­as und sein Haus stand. Das Reet­dach­haus.

***

An­na wuss­te, dass dies mit­tels spe­zi­el­ler Wor­te ge­sch­ah, die Vik­tor an be­stimm­ten Stel­len aus­sprach. Trotz der vie­len Ma­le, die sie das Pro­ze­de­re be­reits mit­er­lebt hat­te, war ihr im­mer noch nicht klar, wie ge­nau das ei­gent­lich funk­tio­nier­te.

Es kam ihr stets rät­sel­haft vor, wie es sein konn­te, dass sie so mir nichts, dir nichts, von ei­nem Mo­ment zum an­de­ren nicht mehr über wei­chen Wald­grund wan­del­te, son­dern über einen mit wei­ßem Kies be­deck­ten und un­ter den Fü­ßen knir­schen­den Weg. Die­ser Weg wur­de rechts und links von ei­nem mit blü­hen­den Herbst­stau­den be­pflanz­ten Vor­gar­ten flan­kiert und wies ihr den Blick ge­ra­de­wegs auf das gro­ße zwei­ge­schos­si­ge Reet­dach­haus der Zwil­lin­ge. Ei­nem Haus mit hüb­schen ro­ten Na­tur­klin­ker­stei­nen und rie­si­gen Spros­sen­fens­tern.

Es lag fast ex­akt fünf­zig Ki­lo­me­ter weit von ih­rem Zu­hau­se ent­fernt und konn­te trotz­dem in­ner­halb we­ni­ger Geh­mi­nu­ten durch den Wald er­reicht wer­den.

Im hel­len und luf­tig mo­dern ein­ge­rich­te­ten Haus an­ge­kom­men rief Vik­tor nach sei­ner Schwes­ter und schau­te sich ver­wun­dert um, als die­se sich nicht mel­de­te. Dann fand er einen Zet­tel auf dem Kü­chen­tisch:

 

Liebs­ter Bru­der!

Ich ha­be ver­geb­lich ver­sucht, durch dei­ne fri­vo­len Ge­dan­ken zu dir durch­zu­drin­gen.

Kei­ne Chan­ce! – Auch nicht bei An­na!

Und der Ak­ku von mei­nem ›Ai­fohn‹ ist an­schei­nend auch mal wie­der leer.

Drum schrei­be ich dir die­se ba­na­le Zet­tel­bot­schaft:

Ke­tu ist vor­bei­ge­kom­men, um mich ab­zu­ho­len und sei­nen El­tern vor­zu­stel­len.

Nun müs­sen Vi­tus oder du und Jens ihm wohl doch nicht in den Arsch tre­ten – hi­hi.

Wünsch mir Glück!

Bis spä­ter.

In Lie­be

Dei­ne Schwes­ter

P.S. Gruß und Kuss an An­na!

 

An­na hat­te den Zet­tel über Vik­tors Schul­ter hin­weg mit­ge­le­sen.

»Fri­vo­le Ge­dan­ken? Gott, wie pein­lich ist das denn schon wie­der?«

»So ein Quatsch, An­na. Vik­to­ria ist zur­zeit wohl die Letz­te, die uns we­gen so was an­pran­gert. Sie be­steht doch der­zeit selbst nur aus Hor­mo­nen. Glaub mir, ich krie­ge das stän­dig mit, wenn Ke­tu und sie …«

»Stopp, Stopp!« An­na mach­te mit den Hän­den ei­ne ab­weh­ren­de Ges­te. »So ge­nau will ich das gar nicht wis­sen.«

Sie ging rü­ber zur Kaf­fee­ma­schi­ne.

»Was tust du da, An­na?«

»Na, was denn wohl? Ich ko­che Kaf­fee und dann …«

»Oh nein, ganz si­cher nicht!«

»Aber …«

Zu spät! Vik­tor hat­te sie blitz­schnell über sei­ne Schul­ter ge­wor­fen und war schon auf der Trep­pe, be­vor sie über­haupt re­gis­trie­ren konn­te, wie ihr ge­sch­ah.

»Vik­tor, was machst du denn da?«

»Wo­nach sieht es denn aus, mei­ne Sü­ße? Ich tra­ge Sor­ge da­für, dass die rich­ti­ge Rei­hen­fol­ge ein­ge­hal­ten wird.«

***

Spä­ter la­gen sie eng um­schlun­gen im Bett und Vik­tor strich, tief im Nach­klang der Er­in­ne­rung ver­sun­ken, lie­be­voll über das schim­mern­de Haar sei­ner schla­fen­den Freun­din:

Es war wie­der wun­der­schön ge­we­sen. Al­lein die Nach­be­trach­tung ließ ihn ver­hei­ßungs­voll er­schau­ern. Sie gab ihm im­mer al­les, al­les und noch mehr. Und sie war wirk­lich un­er­sätt­lich, ge­nau wie er. Er lä­chel­te bei dem Ge­dan­ken dar­an, dass sie ein­fach nicht ge­nug von­ein­an­der be­kom­men konn­ten.

Aber sein Lä­cheln ver­flog, da er wie­der ih­re Zwei­fel ge­se­hen hat­te. Sei­ne Brau­en zo­gen sich zu der ty­pi­schen Den­kers­teil­fal­te zu­sam­men. Selbst wäh­rend sie sich ge­liebt hat­ten, war An­na nicht in der La­ge ge­we­sen, sei­ne ehr­lich ge­mein­ten Kom­pli­men­te zu ih­rem fas­zi­nie­ren­den Kör­per an­zu­neh­men.

Auch wenn sie je­des Mal ver­such­te, die Un­si­cher­heit zu ver­ber­gen, so sah er den­noch glas­klar, dass sie an sei­ner Lie­be zwei­fel­te. Noch im­mer ver­stand sie nicht, wie ernst es ihm war, dass ih­re Schön­heit und ihr gan­zes lieb­li­ches We­sen ihm schlicht­weg den Atem raub­ten. An­nas stän­di­ger Arg­wohn und ge­rin­ges Selbst­wert­ge­fühl nag­ten al­ler­dings nicht nur an ihr, son­dern auch an ihm.

Be­vor sie blin­zelnd auf­wach­te, mur­mel­te An­na ein paar un­ver­ständ­li­che Wor­te und ih­re Na­se zuck­te.

Mit­zu­er­le­ben, wie An­na aus ih­ren Träu­men auf- und ganz all­mäh­lich zu­rück in die Ge­gen­wart eintauch­te, sich da­bei meist wie ein klei­nes Kind die Au­gen rieb, war ei­ne wah­re Won­ne. Und das war der Grund, war­um er so we­nig schlief, wenn sie bei ihm war. Er lieb­te es, sie in ih­rem Schlaf zu be­ob­ach­ten, den Mo­ment auf­zusau­gen, in dem sie wach wur­de und ihn, so wie jetzt, ih­re leuch­tend hel­len Sa­phi­rau­gen an­strahl­ten.

»Hab ich ge­schla­fen?«

Ganz wie er­war­tet rieb sie sich die Au­gen. Sie streck­te die Ar­me aus, gähn­te herz­haft und blick­te dar­auf­hin ge­ra­de­wegs zu Vik­tor.

»Oh, Ent­schul­di­gung.« Sie wur­de tat­säch­lich rot, als sie be­merk­te, wie er sie be­trach­te­te. »Ich dach­te, du schläfst auch. Be­stimmt se­he ich to­tal be­scheu­ert aus mit so ei­nem weit auf­ge­ris­se­nen Maul.«

Vik­tors spür­te, wie sich sei­ne Stirn­fal­te er­neut bil­de­te.

»Him­mel noch mal, An­na!«, herrsch­te er sie an. »Du siehst nie­mals be­scheu­ert aus! Du hast le­dig­lich nach ei­nem Ni­cke­r­chen ge­gähnt, das ist al­les!«

Prompt rich­te­te An­na sich auf. »Wie­so bist du denn so sau­er? Hab ich im Schlaf ge­re­det, oder was?«

»Nein, hast du nicht. Ganz im Ge­gen­teil. Du sahst sehr still und fried­lich aus, wie im­mer, und wun­der­schön.«

Da war es wie­der, das un­gläu­bi­ge Fla­ckern in ih­ren Au­gen!

»Oh ver­dammt, An­na Nell! Wann hörst du end­lich da­mit auf?«

»Auf­hö­ren? Wo­mit?« An­na wirk­te völ­lig ver­stört über Vik­tors Re­ak­ti­on. Ge­ra­de hat­ten sie sich noch lei­den­schaft­lich und be­gie­rig ge­liebt und nun war er mit ei­nem Mal rich­tig­ge­hend wü­tend. Es war ei­gent­lich gar nicht sei­ne Art.

»Was ist denn nur los mit ihm? Was ha­be ich falsch ge­macht?«

Er sah ih­re Fra­gen. Au­ßer­dem mach­te sie ein der­art un­g­lü­ck­li­ches Ge­sicht, dass Vik­tor sie reue­voll zu sich zog und zärt­lich auf Stirn und Haar küss­te.

»Ent­schul­di­ge bit­te. Es gibt kei­nen Grund da­für, dass ich mich so auf­füh­re. Nur wä­re es mir sehr lieb, wenn du nicht stän­dig an mei­nen Ge­füh­len für dich zwei­feln wür­dest. Ich lie­be dich näm­lich über al­les. Es tut mir weh, wenn ich mit­be­kom­me, dass du mir nicht glaubst.«

An­na schau­te ihn mit ih­ren un­wi­der­steh­li­chen Au­gen an. »Ich glau­be dir doch«, hauch­te sie. »Ich lie­be dich auch. Es ist nur hin und wie­der so un­wirk­lich, weil …«

»Ist es nicht!«, fiel Vik­tor ihr un­ge­dul­dig ins Wort. »Und ich brau­che dich auch nicht zu knei­fen, wie du im­mer meinst. Du brauchst nicht ge­knif­fen zu wer­den, um zu wis­sen, dass das al­les re­al ist, ver­flucht noch eins! Al­les ist wahr und echt, An­na. Das hat­ten wir doch schon so oft.«

Er über­leg­te. »Weißt du noch, wie ich dir da­mals am Bach er­zählt ha­be, was ich bin, dass man­che Mär­chen und Fa­bel­ge­schich­ten wahr sind?«

Vik­tor be­ob­ach­te­te, wie An­na in ihr trau­ri­ges Ge­sicht hin­ein­lä­chel­te und ver­son­nen ei­nem Ge­dan­ken nach­hing.

»Ei­ne mei­ner schöns­ten und ver­wir­rends­ten Er­in­ne­run­gen.«

»Da hast du von ver­schie­de­nen Ro­man­hel­den ge­spro­chen: Har­ry Pot­ter, Le­go­las, Ed­ward und Bel­la. Ich wuss­te da­mals nicht, von wem du sprichst, je­den­falls nicht bei al­len. Des­halb ha­be ich sie ge­g­oo­gelt und mir auch die Fil­me da­zu an­ge­se­hen.« Er ver­zog ver­le­gen den Mund. »Na, ja, du kennst mich ja. Aber ich ha­be auch die Bü­cher ge­le­sen, weil ich wuss­te, dass du sie ge­le­sen hast. Sie ste­hen in dei­nem Zim­mer di­rekt ne­ben Ja­ne Aus­ten, Isa­bell Al­len­de und Fried­rich Dür­ren­matt. Üb­ri­gens ei­ne wil­de Mi­schung, wenn du mich fragst.«

Er be­dach­te sie mit sei­nem war­men Lä­cheln. »Weißt du, An­na, du bist fast ge­nau­so wie Ed­wards Bel­la. Sie mein­te auch, nicht gut ge­nug für ihn zu sein. Aber sie war es, An­na. Bel­la war ab­so­lut die Rich­ti­ge und Ein­zi­ge für Ed­ward, so wie Eli­z­abeth Ben­net für Dar­cy und …«

»Du hast die Twi­light-Bü­cher ge­le­sen und Stolz und Vor­ur­teil?«, un­ter­brach ihn An­na.

»Bit­te, was? Ja, und al­le Har­ry Pot­ters und auch Tol­kiens Herr der Rin­ge, aber …«

»Du hast das al­les ge­le­sen? Wes­we­gen? Um zu ver­ste­hen, was ich dir da­mals ge­sagt ha­be und wie ich so ti­cke? Um mich zu ver­ste­hen?«

Er seufz­te tief. »Ja, hab ich. Aber dar­um geht’s doch im Au­gen­blick gar nicht, ich …«

Wei­ter kam er nicht, denn An­na hat­te sich auf ihn ge­stürzt und be­dach­te ihn mit hei­ßen Küs­sen.

»Ich ar­bei­te doch dran, Herr Mül­ler. Ich brau­che noch ein biss­chen. Aber ich ar­bei­te dran. Ver­spro­chen.«

Vik­tor at­me­te tief durch. »Okay – hhm – ar­bei­te bit­te wei­ter.«

Es war fast Abend und schon dun­kel, als sie la­chend und mit knur­ren­den Mä­gen die Trep­pe zur Kü­che hin­un­ter­lie­fen, um end­lich et­was zu es­sen. Kaf­fee woll­ten sie nun nicht mehr. Statt­des­sen setz­te An­na Tee auf und Vik­tor kram­te im Vor­rats­schrank nach Kek­sen. Er fand ei­ne Tü­te Ama­ret­ti­ni und ein Pa­ket But­ter­kek­se. Nun denn, fürs Ers­te müss­ten die rei­chen, ent­schied er. Au­ßer­dem ent­deck­te er er­freut einen Beu­tel mit Tee­lich­tern. So könn­ten sie es sich im Wohn­zim­mer mit Ker­zen­licht, Tee und den Kek­sen ge­müt­lich ma­chen und da­bei Mu­sik hö­ren.

Er pack­te al­les aufs Ta­blett, worauf An­na schon Tas­sen und Kan­ne ge­stellt hat­te, und folg­te ihr zum Wohn­zim­mer. In der Tür blieb sie wie an­ge­wur­zelt ste­hen, was Vik­tor be­droh­lich schwan­ken und die Tas­sen zu­dem klir­ren ließ, als er mit dem voll­be­la­de­nen Ta­blett in der Hand bei ihr an­s­tieß.

»Was ist denn los? – Oh.«

Mit dem Zei­ge­fin­ger auf ih­ren Lip­pen deu­te­te An­na ihm, still zu sein. Auf dem So­fa lag sein Va­ter lang aus­ge­streckt und schlief.

»Und jetzt?«, flüs­ter­te sie.

Vik­tor nick­te mit dem Kopf gen Trep­pe. »Lass uns nach oben ge­hen«, hauch­te er.

»Das braucht ihr nicht. Ich bin wach und könn­te auch einen Schluck Tee ver­tra­gen.« Vi­tus rich­te­te sich auf und be­dach­te bei­de mit ei­nem strah­len­den Lä­cheln.

***

We­nig spä­ter sa­ßen die drei ge­mein­sam am Wohn­zim­mer­tisch, tran­ken Tee und knab­ber­ten Kek­se.

»Ich ha­be üb­ri­gens mehr­mals ge­klin­gelt und euch ge­dank­lich ge­ru­fen – euch bei­de«, er­klär­te Vi­tus, wäh­rend er miss­trau­isch den Ama­ret­ti­ni in sei­ner Hand be­äug­te, ihn dann aber oh­ne viel Fe­der­le­sens und ach­sel­zu­ckend ver­speis­te. »Schließ­lich ha­be ich euch ver­spro­chen, nicht mehr ein­fach so, oh­ne Vor­war­nung, hier her­ein­zu­plat­zen. Es war halt ei­ne spon­ta­ne Idee, euch zu be­su­chen. Au­ßer­dem bin ich, ehr­lich ge­sagt, viel zu mü­de, um noch kehrtz­u­ma­chen. Tut mir sehr leid.«

Vi­tus schau­te al­ler­dings kei­nes­wegs reu­mü­tig drein, son­dern grins­te süf­fi­sant.

Mitt­ler­wei­le hat­te An­na es sich ab­ge­wöhnt, sol­che Si­tua­ti­o­nen pein­lich zu fin­den. Fast! All­mäh­lich ge­wann sie den Ein­druck, dass so et­was un­ter El­fen und auch Hal­bel­fen an­dau­ernd vor­kam. Vi­tus hat­te schon des Öf­te­ren mit­be­kom­men, wie sich sein Sohn mit ihr oben in sei­nem Zim­mer »be­schäf­tig­te«. Sie wuss­te, dass er sich über­haupt nicht dar­an stör­te und es zu­dem gar nicht pein­lich fand.

Ob­wohl ihr klar war, dass Vi­tus sei­nen Geist vor den Lie­ben­den ver­schloss, um so­mit de­ren Pri­vat­sphä­re zu wah­ren, hat­te sie den­noch Pro­ble­me da­mit. Des­halb konn­te sie die wie­der ein­mal in ihr auf­stei­gen­de Rö­te nicht ver­hin­dern. Das hielt sie al­ler­dings nicht da­von ab, Vi­tus ge­nau­es­tens zu mus­tern:

Mit sei­nen knapp acht­und­drei­ßig Jah­ren war er ein Mann im bes­ten Al­ter und sah in ih­ren Au­gen un­ver­schämt gut aus – nicht so gut wie Vik­tor na­tür­lich.

Mit sei­nen einen Me­ter und fünf­und­neun­zig, schätz­te An­na, war Vi­tus noch grö­ßer als Vik­tor. Sein lan­ges ra­ben­schwa­r­zes Haar band er meist mit ei­ner Le­der­schnur zu­rück. Was An­na al­ler­dings be­reits beim ers­ten Ken­nen­ler­nen ge­fan­gen­ge­nom­men hat­te, wa­ren Vi­tus’ Au­gen. Sie strahl­ten in ei­nem un­wirk­lich blau­en Grün, schim­mer­ten hel­ler als die Nord­see bei Son­nen­schein. Sie hat­ten die Fa­r­be von süd­li­chen Mee­ren, so wie das Mit­tel­meer auf den Bil­dern, die Le­na ihr von Mal­lor­ca ge­zeigt hat­te.

Viel­leicht äh­nel­ten sich Va­ter und Sohn nicht über­mä­ßig. Den­noch gab es so man­che Ge­mein­sam­kei­ten: der mus­ku­lö­se Kör­per­bau, die ge­ra­den Brau­en und das Lä­cheln mit den un­wi­der­steh­li­chen Grüb­chen, dem An­na bei Vik­tor nie wi­der­ste­hen konn­te, und das sie an Vi­tus bei­na­he eben­so an­zie­hend fand.

Der­zeit mach­te er je­doch einen aus­ge­spro­chen ab­ge­spann­ten Ein­druck. Dunk­le Schat­ten la­gen un­ter sei­nen Au­gen, um die her­um im­mer noch ro­te Fle­cken prang­ten, wie auch auf der rech­ten Wan­ge und auf der Stirn. Al­le her­vor­ge­ru­fen durch das glü­hen­de Gift, das Ka­na ihm vor Wo­chen di­rekt ins Ge­sicht ge­spuckt hat­te.

»Du siehst mü­de aus«, stell­te An­na fest. »Ich hat­te ge­hofft, du hät­test dich all­mäh­lich von Ka­nas An­griff er­holt.«

»Doch, doch, es geht mir gut, dan­ke. Ich bin nur ein we­nig er­schöpft, weil ich Ka­nas Brü­dern im süd­li­chen El­fen­reich einen wei­te­ren Be­such ab­stat­ten muss­te. Lei­der wa­ren die nicht ge­ra­de be­geis­tert über mein er­neu­tes Er­schei­nen.« Er seufz­te. »Ich woll­te ih­nen un­be­dingt er­klä­ren, wie und war­um ih­re Schwes­ter zu To­de ge­kom­men ist. Es brauch­te ei­ni­ge Zeit, sie da­von zu über­zeu­gen, mich an­zu­hö­ren. Atros und Mit­ris sind furcht­bar an­stren­gend. Letzt­lich hat sich mei­ne Hart­nä­ckig­keit dann aber aus­ge­zahlt und ich ha­be sie da­zu über­re­den kön­nen, Ein­blick in mei­nen Geist zu neh­men. Jetzt glau­ben sie mir. End­lich!«

Vi­tus lä­chel­te schwach. »Un­se­re iri­schen Freun­de hat­ten da­mals durch­aus recht da­mit, die bei­den als Hohl­köp­fe zu be­zeich­nen. Sie sind wirk­lich äu­ßerst ein­fach ge­strickt, wie ihr Men­schen so schön sagt, so­gar noch ein­fa­cher, als ich sie in Er­in­ne­rung hat­te.« Er mach­te ei­ne kur­ze Pau­se, um einen Schluck Tee zu trin­ken. »Doch nun ist al­les gut.«

»Ich könn­te mir vor­stel­len, dass das süd­li­che El­fen­volk heil­froh ist, nicht mehr un­ter Ka­nas und Kaouls Knu­te zu ste­hen«, mein­te Vik­tor.

»Das kannst du wohl laut sa­gen«, er­wi­der­te Vi­tus. »Vor­sichts­hal­ber ha­be ich den Brü­dern noch ein paar Rat­schlä­ge ge­ge­ben, da­mit sie wis­sen, wie sie sich künf­tig zu ver­hal­ten ha­ben, um so­wohl ih­rem Volk als auch ih­ren Ehe­frau­en kei­ne Schan­de mehr zu ma­chen. Ich den­ke, sie ha­ben ver­stan­den, dass ich sie wei­ter­hin im Au­ge be­hal­te.«

Nun grins­te er breit. »Tja, und die bei­den zu­vor so oft be­tro­ge­nen Ehe­frau­en sind oh­ne­hin auf mei­ner Sei­te. Wie sie mir er­zählt ha­ben, hat­te sich Kaoul einen üb­len Scherz mit der Männ­lich­keit der Brü­der er­laubt. Jetzt sind die Frau­en ein­fach nur heil­froh, dass die­ser Zau­ber nach Kaouls Tod von ih­ren Män­nern ab­ge­fal­len ist. – Ja, mit et­was Un­ter­stüt­zung durch ein paar von mir in­stru­ier­te Be­ra­ter, wer­den Atros und Mit­ris ihr Land ganz or­dent­lich re­gie­ren.«

Vi­tus griff sich den letz­ten But­ter­keks aus der Scha­le und be­trach­te­te ihn an­ge­wi­dert.

»Kön­nen wir nicht Piz­za be­stel­len?«

Über­ra­schung

Am Sonn­tag­abend saß An­na wie­der ein­mal am Schreib­tisch und ver­such­te sich an den rest­li­chen Haus­auf­ga­ben für den kom­men­den Schul­tag. Als sie er­neut in Träu­me­rei­en ab­drif­te­te, fing sie zu ki­chern an. Ihr Nacken krib­bel­te und ein woh­li­ger Schau­er lief ihr über den Rü­cken. Vik­tors war­mes Bett, sei­ne Lei­den­schaft und all die Din­ge, die er mit ihr tat und wie er sie mit ihr tat, weck­ten in ihr ei­ne schier un­er­mess­li­che Lust. Und sie hat­te da­bei nicht nur das Be­dürf­nis, die­se Lust zu stil­len, son­dern sie auch an ihn wei­ter­zu­ge­ben. Die­ses ge­gen­sei­ti­ge Ge­ben und Neh­men ließ An­na Gren­zen über­schrei­ten, von de­nen sie gar nicht ge­wusst hat­te, dass es sie gab.

Da sie be­fürch­te­te, Vik­tor könn­te aufs Neue in ih­rem Kopf her­um­stö­bern, ver­schanz­te sie ei­lig ih­ren Geist. Sie lieb­te ihn wirk­lich sehr, aber er brauch­te ja nicht al­les von ihr zu wis­sen. Sie schüt­tel­te den Kopf, als ver­such­te sie, da­mit Ord­nung dar­in zu schaf­fen, und es ge­lang ihr.

Der Ge­dan­ke an die Schu­le ver­setz­te An­na al­ler­dings wie üb­lich einen Stich. Ei­gent­lich ging sie gern dort­hin. Es wür­de ihr nur noch viel bes­ser ge­fal­len, wenn es dort nicht so furcht­bar vie­le Spröss­lin­ge stein­rei­cher Leu­te gä­be, die mit ih­ren sünd­haft teu­ren Kla­mot­ten hoch­nä­sig durch die Gän­ge stol­zier­ten und sie mit an­ma­ßen­den Ges­ten be­dach­ten. Als gä­be es nichts Wich­ti­ge­res im Le­ben! Das ver­lei­de­te ihr oft den Spaß.

»Gott, wie ich die­se ober­fläch­li­chen An­ge­ber­ty­pen und Tus­sen has­se!«

 

… Prompt tauch­te das Bild von Ja­ni­ne Tron­so vor ih­rem geis­ti­gen Au­ge auf – wie her­ab­las­send die An­na in der letz­ten Vol­ley­ball­stun­de be­han­delt hat­te:

»Los, gib mir den Ball rü­ber, Schätz­chen! Ich muss Auf­schlä­ge üben!«

An­na gab ihr den Ball. Und wie! So könn­te man es je­den­falls nen­nen. Sie pfef­fer­te den Ball näm­lich recht hart an den Kopf die­ser blö­den Kuh und rann­te da­nach ein­fach hin­aus. Wahr­schein­lich hat­te Ja­ni­ne nicht ein­mal mit­be­kom­men, dass An­na die­je­ni­ge ge­we­sen war, die ihr den Ball an den Kopf ge­schmet­tert hat­te. Denn, nach­dem der be­sag­te Ball einen or­dent­li­chen Tref­fer bei Ja­ni­ne ge­lan­det hat­te, war die zwar mit jau­len­dem Ge­ze­ter hin­ten­über­ge­kippt, hat­te un­ter­des­sen al­ler­dings nicht ein­mal in An­nas Rich­tung ge­schaut. Au­gen­schein­lich hat­te die­se däm­li­che Pu­te er­war­tet, dass man ihr den ver­fluch­ten Vol­ley­ball ehr­furchts­voll in die aus­ge­steck­ten, »be­gna­de­ten« Hän­de leg­te, wäh­rend sie sich auf den be­scheu­er­ten Ab­schlag kon­zen­trier­te. …

 

»Grrr! Was für ei­ne blö­de Oberkuh!«

Ver­är­gert über sich selbst, weil sie sich im­mer wie­der über die­ses un­aussteh­li­che Mäd­chen auf­reg­te, schüt­tel­te An­na aber­mals den Kopf und trös­te­te sich da­mit, dass nur noch fünf Schul­ta­ge bis zu den Herbst­fe­ri­en vor ihr la­gen.

Und da An­nas Va­ter ih­re Mut­ter da­zu hat­te über­re­den kön­nen, zu zweit ei­ne Wo­che lang Ur­laub auf der Nord­see­in­sel zu ma­chen, wür­de An­na ex­akt die­se Zeit ganz al­lein mit Vik­tor ver­brin­gen.

Das mach­te sie gleich dop­pelt glü­ck­lich, denn der Mut­ter ging es end­lich wie­der gut. Seit The­resas Kli­ni­k­auf­ent­halt war zwar schon ei­ni­ge Zeit ver­gan­gen, aber An­na wür­de nie­mals ver­ges­sen, wie sehr sie sich wäh­rend­des­sen ge­sorgt hat­te.

In Vor­freu­de auf die kom­men­de Herbst­fe­ri­en­wo­che mit Vik­tor mal­te sie sich aus, was sie al­les un­ter­neh­men könn­ten. Ih­re Über­le­gun­gen reich­ten von Sight­see­ing in der El­fen­welt über Ki­no­be­such bis hin zum Spa­zier­gang am Rhein in Düs­sel­dorf.

Es wur­de höchs­te Zeit, mal et­was an­de­res zu se­hen, über­leg­te sie. Selbst nach dem Sieg über Ka­na und Kaoul hat­te es für An­na fast nur die Schu­le, ihr Zu­hau­se oder das Reet­dach­haus ge­ge­ben. Auch war sie der viel zu schnel­len Au­to­fahr­ten mit Vik­tor über­drüs­sig ge­wor­den. Viel­leicht soll­te sie sich end­lich da­zu durch­rin­gen, den Füh­rer­schein zu ma­chen. Wenn da nur nicht im­mer ih­re Ner­vo­si­tät wä­re.

Er­schro­cken horch­te An­na in sich hin­ein.

»Puh, kein Vik­tor, dem Him­mel sei Dank! Das hät­te wie­der ei­ne Straf­pre­digt ge­ge­ben, von we­gen Selbst­be­wusst­sein und so.«

An­na seufz­te. Wenn sie sich nicht bald zu­sam­men­riss, stün­de sie mor­gen mit lee­ren Hän­den vor »Mis­ter Ich–bin–ein–ar­ro­gan­ter–Geo–Leh­rer–und–Blond­chen–Has­ser Bion­da«. An­na ver­dreh­te die Au­gen. Sie fand ih­ren Erd­kun­de­leh­rer na­mens Bion­da ein­fach nur ät­zend und war froh, dass ihr, ne­ben dem heiß­ge­lieb­ten Deutsch-Leis­tungs­kurs, we­nigs­tens der Bio­lo­gie­un­ter­richt ei­ni­ger­ma­ßen Spaß mach­te.

Der Bio­leh­rer, Herr Zitt, war zwar ziem­lich streng, aber nicht so schreck­lich alt und knö­chern wie vie­le an­de­re, ins­be­son­de­re Herr Bion­da. Al­ler­dings be­saß er ei­ne untrüg­li­che Ab­nei­gung ge­gen Un­pünkt­lich­keit al­ler Art, was ihr schon ein paar­mal »Aus­sper­rung« vom Un­ter­richt ein­ge­bracht hat­te.

Die Er­in­ne­rung, wie sie am Mon­tag­mor­gen zur ers­ten Stun­de vor der ver­schlos­se­nen Klas­sen­tür ge­stan­den hat­te, nur ein ganz paar Mi­nu­ten zu spät, ließ sie schmun­zeln.

 

… Sie hat­te um Ein­lass klop­fen und bit­ten müs­sen, be­vor ihr Herr Zitt mit be­lus­tig­ter Mie­ne die Tür auf­schloss, sie ein­ließ und dar­auf­hin gna­den­los zu den Haus­a­r­bei­ten be­frag­te. Lei­der er­wi­sch­te er sie bei sol­chen Ak­ti­o­nen häu­fig auf dem falschen Fuß. Ge­ra­de an die­sem Mon­tag war es be­son­ders schlimm ge­we­sen und ih­re ach so lie­ben Mit­schü­ler, spe­zi­ell Ja­ni­ne, hat­ten sich mal wie­der aus­gie­big auf An­nas Kos­ten amü­siert. …

 

So et­was soll­te auf kei­nen Fall noch ein­mal pas­sie­ren.

Das rest­li­che Bio-Re­fe­rat und die Aus­wer­tung der Sta­tis­tik über die Städ­te­be­völ­ke­rung im Ruhr­ge­biet ge­nos­sen nun ers­te Pri­o­ri­tät.

Au­ßer­dem stell­te An­na sich We­cker und Han­dy, um si­cher­zu­stel­len, dass sie am nächs­ten Mor­gen pünkt­lich zur ers­ten Stun­de in Bio er­schei­nen wür­de.

***

Nach dem Früh­stück such­te Vik­tor auf dem So­fa bei den Kil­lers Ent­span­nung, aber selbst sei­ne der­zei­ti­ge Lieb­lings­mu­sik konn­te ihm die schlech­te Lau­ne nicht ver­trei­ben. Stän­dig muss­te er an den ver­gan­ge­nen Abend den­ken, an wel­chem er recht vie­le Ge­dan­ken­fet­zen auf­ge­schnappt hat­te, die An­nas Schutz­maß­nah­men wohl ent­f­leucht wa­ren.

Sei­ne Lau­ne ver­düs­ter­te sich noch mehr, weil er sich frag­te, wie­so sie ihm nichts von ih­rem Är­ger mit den Leh­rern und Mit­schü­lern er­zählt hat­te. Er konn­te es nicht lei­den, wenn sie sich ihm ge­gen­über ver­schloss. Erst recht konn­te er es nicht lei­den, wenn An­na mal wie­der an sich zwei­fel­te oder sich gar min­der­wer­tig fühl­te. Das war ein Zu­stand, den es un­be­dingt zu än­dern galt, über­leg­te er, und such­te fie­ber­haft nach ei­ner Lö­sung.

Mit ei­nem Mal hell­te sich sei­ne Stim­mung wie­der auf. »Na war­te, Fräu­lein Nell«, sprach er vor sich hin. »Wenn du mir nicht sagst, was da los ist, dann schaue ich mir die gan­ze Sa­che ein­fach mal aus der Nä­he an.«

Er sprang von der Couch und stieg in die ihm so ver­hass­ten Con­ver­ses. Schu­he wa­ren ein­deu­tig ein Man­ko in der Men­schen­welt. Doch weil die nun ein­mal da­zu­ge­hör­ten, igno­rier­te er das be­en­gen­de Ge­fühl an den Fü­ßen, schnapp­te sich Au­to­sch­lüs­sel und Le­der­ja­cke, be­vor er zur Trep­pe hoch rief: »Ich fah­re noch schnell durch die Wasch­an­la­ge, Vik­to­ria! Bin gleich wie­der da!«

Er konn­te noch einen Blick auf das ver­wun­der­te Ge­sicht sei­ner Schwes­ter er­ha­schen, als die­se mit ei­nem vor Fa­r­be trie­fen­den Pin­sel in der Hand zur Trep­pe hin­un­ter­schau­te. Fah­rig strich sie sich mit dem Hand­rü­cken über die Stirn, oh­ne zu be­mer­ken, wie dort ein di­cker grü­ner Klecks zu­rück­b­lieb.

»Wasch­an­la­ge? War­um?«

Ach­sel­zu­ckend kehr­te sie in ihr Zim­mer zu­rück, wäh­rend Vik­tor die Haus­tür zu­zog.

Kei­ne hal­be Stun­de spä­ter lag er wie­der auf dem So­fa und lä­chel­te selbst­zu­frie­den in sich hin­ein, als sei­ne Schwes­ter zu ihm trat.

»Na, du hast ja gu­te Lau­ne«, be­merk­te sie neu­gie­rig. »Willst du mir viel­leicht ver­ra­ten, wie­so? Und wie­so muss­te dein blitz­blank fun­keln­der Mer­ce­des über­haupt in die Wasch­an­la­ge?« Mit vor der Brust ver­schränk­ten Ar­men zog sie ei­ne Braue in die Hö­he.

»Och, ich hat­te halt Lan­ge­wei­le, Schwes­ter­lein. Au­ßer­dem war das Au­to nicht blitz­blank, son­dern es hat­te die Wä­sche drin­gend nö­tig.«

»Pah, das ich nicht la­che. Pass auf, dass du dein vier­räd­ri­ges Schätz­chen nicht aus Ver­se­hen mit ins Bett nimmst. An­na könn­te es dir übel neh­men. – Mal im Ernst. Was hast du vor?«

Vik­tor er­zähl­te sei­ner Schwes­ter zu­erst von An­nas Pro­ble­men und grins­te dann spitz­bü­bisch, als er ihr sein Vor­ha­ben of­fe­rier­te.

***

Hät­te sie ge­konnt, sie hät­te Herrn Bion­da mit Bli­cken ge­tö­tet, so wü­tend war sie. Aber er war nun ein­mal ihr Leh­rer und be­saß so­mit den län­ge­ren Arm, durch­fuhr es An­na un­wil­lig. So saß sie frus­triert, mit zorn­ro­tem Kopf auf ih­rem Klas­sen­stuhl und ver­such­te, sich mit üb­len Mord­ge­dan­ken von der Er­in­ne­rung an die De­mü­ti­gung durch den Erd­kun­de­leh­rer ab­zu­len­ken. Doch das miss­lang ihr gründ­lich. Miss­mu­tig ließ sie al­les noch ein­mal Re­vue pas­sie­ren:

 

… Wie so häu­fig hat­te Herr Bion­da sie vor der gan­zen Klas­se dran­ge­nom­men und sich da­bei süf­fi­sant über ih­re Geo­gra­fie-Haus­a­r­bei­ten her­ge­macht.

Mit ei­nem genüss­li­chen Grin­sen im Ge­sicht stu­dier­te er An­nas Heft, um dann gan­ze Pas­sa­gen ih­rer Sta­tis­ti­k­ana­ly­se laut vor­zu­le­sen:

»Ja, hö­ren Sie nur, wie Fräu­lein Nell in ih­rer nett na­i­ven Wei­se die­ses Pro­blem an­ge­gan­gen ist. Das hät­te ich gar nicht von Ih­nen er­war­tet, Fräu­lein Nell. Tja, Sie sind der Pro­blem­stel­lung mit Ih­ren ar­ti­gen Aus­füh­run­gen doch recht na­he­ge­kom­men. Durch­aus sie­ben Punk­te wert. Das ist doch schon mal was, nicht wahr? Be­son­ders, wenn man die No­te Ih­rer letz­ten Klau­sur be­denkt.«

»Nur nicht heu­len, An­na! Das will der doch bloß!«

An­na hob den Kopf und starr­te dem Leh­rer di­rekt in die wäss­ri­gen Au­gen. Da­bei ver­such­te sie, ih­re Stim­me zu be­herr­schen, fand al­ler­dings, dass sie ein klein we­nig zu hoch klang.

»Oh, vie­len Dank, Herr Bion­da«, be­merk­te sie knapp.

»Bion­da du bist ein blö­des, ar­ro­gan­tes Schwei­ne­arsch­loch!«

Sie hör­te ih­re Mit­schü­ler lei­se ki­chern, nur Ja­ni­ne beließ es na­tür­lich nicht bei ei­nem ein­fa­chen Ki­chern, son­dern brüll­te vor La­chen. …

 

»War­um müs­sen ei­gent­lich aus­ge­rech­net die al­ler­schlimms­ten mei­ner so­ge­nann­ten Mit­schü­ler die­sel­ben Haupt­fä­cher be­le­gen wie ich? Him­mel­herr­schafts­zei­ten! Und will die­se Scheiß­stun­de denn nie zu En­de ge­hen?«

Nach ei­ner ge­fühl­ten Ewig­keit er­tön­te der er­lö­sen­de Gong.

»Puh, Fei­er­abend! Nichts wie weg!«

Au­gen­blick­lich griff An­na nach ih­rer Ta­sche und wand­te sich zum Ge­hen, oh­ne wei­ter auf Mit­kläss­ler oder Leh­rer zu ach­ten. Sie wuss­te, dass sie wie­der oder eher noch ein ge­röte­tes Ge­sicht hat­te, denn sie war ja im­mer noch fuchs­teu­fels­wild. Ge­ra­de, als sie die Tür er­reich­te, hielt sie ei­ne Hand sanft am Arm fest.

»Hey, mach dir nix draus, An­na. Die sind doch al­le to­tal da­ne­ben.«

Paul Kie­ner, ein gro­ßer, dün­ner Jun­ge mit ein paar klei­nen Pi­ckeln im freund­li­chen Ge­sicht, maus­grau­en Au­gen, kur­z­en sand­fa­r­be­nen Haa­ren und ei­nem im­mer­wäh­ren­den Lä­cheln stand ne­ben ihr. Im Ge­gen­satz zu den meis­ten an­de­ren war Paul stets nett zu ihr, aber so gar nicht ihr Typ. Be­son­ders un­an­ge­nehm fand An­na sei­ne Freund­lich­keit, seit­dem sie ih­re »spe­zi­el­le Ga­be« ent­deckt hat­te und sei­ne Ge­füh­le ihr ge­gen­über wahr­neh­men konn­te.

»Oh je, Paul, ich mag dich ja auch, aber nicht so, wie du dir das wünschst.«

»Lass mal, Paul, es geht schon«, er­wi­der­te sie has­tig und mach­te sich von ihm los, um schnell das Wei­te zu su­chen. Hin­ter ihr er­tön­te aufs Neue das spöt­ti­sche Ge­läch­ter von Ja­ni­ne und de­ren Freun­den.

Wie­der oder im­mer noch feu­er­rot ver­ließ An­na flucht­ar­tig das Schul­ge­bäu­de. Drau­ßen rich­te­te sie den wut­ge­senk­ten Kopf auf, schloss die Au­gen und sog die fri­sche, küh­len­de Luft ein, so, als könn­te sie da­mit die ver­gan­ge­ne Hor­ror­stun­de aus ih­rem Hirn ver­trei­ben.

»Na, we­nigs­tens ha­be ich drei­zehn Punk­te für das Bio-Re­fe­rat be­kom­men.«

»Herz­li­chen Glü­ck­wunsch, An­na.«

Völ­lig per­plex wand­te sie sich der Stim­me zu und blin­zel­te un­gläu­big bei dem, was sie hör­te und sah:

Da stand er! Läs­sig an die Tür sei­nes schi­cken, fun­kelnd glän­zen­den Ca­bri­os ge­lehnt, die lan­gen Bei­ne an den Fuß­knö­cheln über­kreuzt, die mus­ku­lö­sen Ar­me vor der brei­ten Brust ver­schränkt, schlicht mit schwa­r­zer Jeans und schwa­r­zem Hemd be­klei­det. Vik­tor sah ein­fach um­wer­fend aus.

Er brei­te­te die Ar­me aus und zeig­te sei­ne Grüb­chen. »Was ist, Klei­nes, krieg ich kei­nen Kuss?«

Zu­nächst zö­ger­te sie, wei­ter­hin un­gläu­big stau­nend. »Vik­tor? Ich … Was machst du denn hier? Das ist aber …« Die letz­ten Schrit­te rann­te sie, sprang ihm vor Freu­de un­ge­stüm in die Ar­me und küss­te ihn lei­den­schaft­lich.

»Das ist ja ei­ne Über­ra­schung! Ist das schön, dass du hier bist! End­lich ein ei­ni­ger­ma­ßen ge­schei­ter Mensch – wenn auch nur halb.«

Nach dem Kuss rück­te Vik­tor ein we­nig von ihr ab und run­zel­te die Stirn. »So­so, du hältst mich al­so für nur ei­ni­ger­ma­ßen ge­scheit und nur halb?«, mein­te er ernst. Doch dann lä­chel­te er wie­der, hob mit ei­nem Fin­ger ihr Kinn an, weil sie den Kopf sin­ken ließ, und er­wi­der­te ih­ren Kuss, und zwar äu­ßerst be­sitz­er­grei­fend.

Er lös­te sei­ne Lip­pen von ih­ren, be­hielt je­doch sein Ge­sicht dicht an An­nas, so­dass sein Atem sie streif­te. Leuch­tend dun­kel­blaue Au­gen droh­ten sie zu ver­schlin­gen, ehe Vik­tors Blick an ihr vor­bei – ge­ra­de­wegs zum Ein­gangs­por­tal der Schu­le wan­der­te und er breit zu grin­sen be­gann. »Scheint ja echt ei­ne tol­le Show zu sein, die wir de­nen lie­fern, An­na.«

Sie folg­te sei­nem blit­zen­den Blick und hielt den Atem an, als sie al­le dort her­um­lun­gern sah. All ih­re »hoch­ge­lieb­ten« Mit­schü­ler, so­gar ein paar Leh­rer, die stau­nend her­über­gaff­ten.

Selbst Herr Bion­da, der wohl ge­ra­de den Heim­weg an­tre­ten woll­te, blieb wie an­ge­wur­zelt ste­hen.

»Ooh!«

»Komm, Sü­ße. Ich dach­te, ich ho­le dich heu­te mal ab. Ich hab auch schon mit dei­ner Ma­ma te­le­fo­niert. Sie hat nichts da­ge­gen, dass du den Nach­mit­tag mit mir ver­bringst. Oder hast du kei­ne Lust?«

An­na tauch­te aus ih­rer Ver­wir­rung auf. »Wie?« Sie brauch­te ein Weil­chen, um sich zu sor­tie­ren. »Oh doch, sehr ger­ne. Das ist sehr auf­merk­sam von dir, hhm, rich­tig nett.«

»Ich bin halt mehr der net­te Typ«, merk­te Vik­tor tro­cken an.

Für einen wei­te­ren zwar kur­z­en, aber aus­ge­spro­chen in­ni­gen Kuss stell­te An­na sich auf die Ze­hen­spit­zen.

»Wow! Das hast du ex­tra ge­macht, nicht wahr? Ich weiß nicht, was ich da­von hal­ten soll, aber ich bin so froh, dass du ge­kom­men bist. Bring mich schnell hier weg.«

Vik­tor öff­ne­te ihr die Bei­fahrer­tür, wo­bei er einen letz­ten, äu­ßerst nach­hal­ti­gen Blick auf die vorm Schu­lein­gang ver­sam­mel­te Schar wa­rf, be­vor er selbst in den Wa­gen stieg. Er lach­te herz­haft. Ver­wun­dert re­gis­trier­te An­na, dass er sich ins­be­son­de­re über das ver­dutz­te rund­li­che Ge­sicht ei­nes ganz be­stimm­ten Mäd­chens köst­lich amü­sier­te.

»Das ist be­stimmt Ja­ni­ne. Hab ich recht?«, hör­te sie ihn in ih­rem Kopf.

»Ja­ni­ne? – Oh ja, das stimmt. Das ist Ja­ni­ne Tron­so, die ist echt … Mo­ment mal! Ich hab dir nie et­was von ihr er­zählt. – Du hast wie­der ge­spinxt, Vik­tor!«

Sie schlug ihm mit der fla­chen Hand aufs rech­te Bein, was ihm er­neut ein La­chen ent­lock­te. Dann ließ er den Mo­tor ein­mal kurz auf­heu­len und fä­del­te sich ele­gant in den Stra­ßen­ver­kehr ein.

Noch Mi­nu­ten spä­ter schien er sein Grin­sen nicht aus dem Ge­sicht wi­schen zu kön­nen, ob­wohl An­na mit ver­schränk­ten Ar­men ne­ben ihm saß, die Lip­pen zu ei­nem schma­len Strich zu­sam­men­ge­presst.

Als er ih­re Mie­ne be­merk­te, wur­de er ernst. »Ach, komm schon, nicht bö­se sein. Ich weiß ja, dass ich nicht in dei­nen Kopf hät­te schau­en sol­len. Aber glaub mir bit­te, das woll­te ich auch gar nicht. Nur sind mir dei­ne Ge­dan­ken ges­tern Abend ein­fach so zu­ge­flo­gen, wie von selbst. Echt.«

An­na dach­te über Vik­tors Er­klä­rungs­ver­such nach und dar­über, wie sie tat­säch­lich am Abend zu­vor ver­geb­lich ver­sucht hat­te, ih­ren Geist ab­zu­rie­geln. »Und da hast du dir über­legt, dich heu­te mal bei mei­ner Schu­le vor­zu­stel­len, stimmt’s? Na­tür­lich nicht zu Fuß, son­dern mit dei­nem schmu­cken Ca­brio.«

»Stimmt. Selbst­ver­ständ­lich hät­te ich auch oh­ne den Wa­gen or­dent­lich Ein­druck auf die­se Idi­o­ten ge­macht.« Er zwin­ker­te ihr zu. »Aber ich dach­te mir halt, mit Au­to kommt bes­ser. Ganz nach dem Mot­to: Wenn schon, denn schon.«

An­nas Lau­ne hell­te sich auf. Ih­re Mund­win­kel be­gan­nen zu zu­cken, ehe sie wie ein klei­nes Mäd­chen ki­cher­te. Dann brach das La­chen aus ihr her­aus. »Die blö­den Ge­sich­ter von Bion­da und Ja­ni­ne – ein­fach un­be­zahl­bar!«, prus­te­te sie. »Das war wirk­lich sen­sa­ti­o­nell. Oh mein Gott, was sind diesch…«

»Stopp, stopp, Klei­nes! Über dei­ne Aus­drucks­wei­se, so­wohl ver­bal als auch non­ver­bal, müs­sen wir uns drin­gend un­ter­hal­ten. Du willst dich doch wohl nicht auf de­ren Ni­veau be­ge­ben?« Er schmun­zel­te.

An­na glucks­te. »Nein, das will ich nun wirk­lich nicht. Aber manch­mal hilft es mir da­bei, nicht die Be­herr­schung zu ver­lie­ren. Ge­ra­de heu­te, in der letz­ten Stun­de, war es be­son­ders schlimm.«

»Ja, das ha­be ich mit­be­kom­men«, be­stä­tig­te er nach­denk­lich. »Das tut mir leid, An­na. Die­ser Bion­da scheint ein ech­ter Fies­ling zu sein.« Er sah zu ihr rü­ber. »Du hät­test es mir er­zäh­len sol­len. Du hast ver­sucht, dei­ne Sor­gen vor mir zu ver­heim­li­chen. Das war nicht rich­tig.«

»Schau auf die Stra­ße, Vik­tor.« Sie at­me­te tief durch. »Du hast ja recht, aber ich bin es so ge­wohnt. Ich bin nun mal kei­ne Pet­ze, die bei je­dem Pro­blem­chen wei­nend zu Ma­mi rennt. Ich ha­be seit je­her ver­sucht, selbst da­mit kla­r­zu­kom­men. Das ha­be ich schließ­lich schon im­mer so ge­macht. Zu Kin­der­gar­ten-, Grund­schul- und zu ›Bö­ser-Jens‹-Zei­ten. Ich bin es eben ge­wohnt, ge­är­gert und ge­hän­selt zu wer­den. Das macht mir nichts aus.«

»Das glaubst du doch wohl selbst nicht!« Vik­tor klang wü­tend. »An so was kann sich kei­ner ge­wöh­nen! So was macht näm­lich je­dem was aus! Das ist to­ta­ler Bullshit, den du da re­dest!«

»So viel zum Ni­veau«, be­merk­te An­na spitz und brach­te Vik­tor da­mit zum La­chen.

Sie freu­te sich, ihm den Wind aus den Se­geln ge­nom­men zu ha­ben, wuss­te je­doch, dass die An­ge­le­gen­heit da­mit noch lan­ge nicht vom Tisch war.

»Das war echt süß von dir. Echt süß. Dan­ke!«

Vik­tor er­griff ih­re Hand und führ­te sie zu sei­nen Lip­pen, um je­den Knö­chel ein­zeln zu küs­sen. An­na schmolz da­hin, riss sich aber wie­der zu­sam­men, da ihr be­wusst wur­de, dass sie im Au­to sa­ßen und Vik­tor grund­sätz­lich zu schnell fuhr.

»Schau­en Sie bit­te auf die Stra­ße, Herr Mül­ler. Und im­mer schön auf die Ver­kehrs­re­geln ach­ten«, maß­re­gel­te sie ihn und er schmun­zel­te wie­der.

»Wo fah­ren wir ei­gent­lich hin?«, woll­te sie wis­sen, als sie be­merk­te, wel­chen Weg er ein­schlug.

»Tja, ich dach­te, ich la­de dich zur Fei­er des Ta­ges zum Es­sen nach Düs­sel­dorf ein.«

»Zur Fei­er des Ta­ges?«

»Drei­zehn Punk­te in Bio. Hey, die al­lei­ne sind schon ei­ne klei­ne Fei­er wert, fin­dest du nicht? Viel­leicht könn­ten wir nach dem Es­sen auch noch ein we­nig am Rhein spa­zie­ren ge­hen. Es ist so schö­nes Wet­ter und du sollst mal was an­de­res se­hen als den Wald und das Reet­dach­haus. Was meinst du?«

»Ach, Vik­tor, das hast du al­so auch al­les mit­ge­kriegt. Du sollst doch nicht im­mer in mei­nem Kopf her­um­stö­bern. So war das doch gar nicht ge­meint.«

»Nein, An­na«, un­ter­brach er sie, »ich fin­de, du hast durch­aus recht. Nach der Ge­schich­te mit Ka­na und Kaoul woll­te ich dich nur noch ganz nah bei mir ha­ben. Ich glau­be, ich hab ein biss­chen Pa­ra­noia ent­wi­ckelt, weil ich ja nicht wuss­te, wie Ka­nas Brü­der auf die gan­ze Sa­che re­a­gie­ren wür­den.«

An­na sah Vik­tor ver­ständ­nis­los an.