Sonnenwarm und Regensanft - Band 3 - Agnes M. Holdborg - E-Book

Sonnenwarm und Regensanft - Band 3 E-Book

Agnes M. Holdborg

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Beschreibung

Als Lena die unglaubliche Wahrheit über ihre Schwester Anna und deren Freund Viktor erfährt, gerät für sie die Welt aus den Fugen. Kann Sentran, ein Elitewachmann des Elfenkönigs Vitus, ihr dabei helfen, Annas Fähigkeiten und die der Elfen zu akzeptieren? Wer ist der Fremde, der das Geheimnis um die Welt in einer anderen Dimension lüften will? Und was hat die schöne Kirsa aus dem Norden damit zu tun?

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Seitenzahl: 611

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Son­nen­warm und Re­gensanft

~ Lie­be zwi­schen den Wel­ten ~

El­fens­tern

Band 3

 

Ro­man­ti­sche Fan­ta­sy von

Agnes M.Hold­borg

 

Zi­ta­te und Wid­mung

 

Du bist wie ein Stern in der Nacht.

Auch wenn du manch­mal nicht zu se­hen bist,

weiß ich trotz­dem, dass du da bist!

(Ver­fas­ser un­be­kannt)

~~~

Die Lie­be treibt um Son­ne und Ster­ne.

(Dan­te Alig­hieri)

~~~

 

Für mei­ne Schwes­ter Eli­sa­beth. – Du weißt war­um!

 

Und auch für Jür­gen, Me­du­sa, Ja­ne und San­dra - und Kers­tin, Ra­mo­na, Bi­an­ca und Aman­da.

Für eu­re au­ßer­or­dent­lich gro­ße Hil­fe!

 

 

 

 

Im­pres­s­um:

Band 3 – El­fens­tern – Ver­si­on 1

Co­py­right Text © 2014 Agnes M. Hold­borg

Co­py­right Bil­der/Co­ver­ge­stal­tung: ©Me­du­sa Ma­bu­se un­ter Ver­wen­dung von ©Tho­mas Fran­cois-Fo­to­lia.com & ©ol­ly-Fo­to­lia.com

 

 

Al­le Rech­te blei­ben beim Au­tor. Ko­pie und Wei­ter­ga­be sind aus­drü­ck­lich un­ter­sagt.

Au­to­rin:

Ma­r­lies Bor­g­hold – Bro­ekm­an­str.9 – DE 40885 Ra­tin­gen

ma­r­lies­bor­g­[email protected]

 

In­halts­ver­zeich­nis

 

Brü­der

Bon­bon­ro­sa

Ge­schen­ke

Ers­tens kommt es an­ders und zwei­tens als man denkt

El­fen­tem­po

Ver­gan­gen­heit und Ge­gen­wart

Zu­kunft­s­ängs­te und Grund­satz­de­bat­ten

Eis­prin­zes­sin

Klatsch und Tratsch

Von Lie­be und Ver­trau­en

Und bist du nicht wil­lig …

Die Macht des El­fens­terns

Vi­tus ist eben Vi­tus

Lich­ter­tanz

Glet­scher­schmel­ze

Ge­walt und Lie­be - Lie­be und Ge­walt

Ver­wandt­schaf­ten

See­len, Sor­gen, Sie­ben Sie­gel

Träu­me und Vi­si­o­nen

Bes­ti­en

Fa­mi­lie

Un­ter dem Bo­gen

Der zwei­te Stern

Nach­wort

Le­se­pro­be zu »Zwei Son­nen«

Le­se­pro­be zu »Son­nen­sturm«

Le­se­pro­be zu »El­fen­licht«

Le­se­pro­be zu »Kuss der To­des­frucht«

Le­se­pro­be zu »Der Ho­ri­zont ist nah!«

Vi­ta

 

Märchenstunde

Sie sehn­te sich nach ih­rem himm­lisch wei­chen ei­ge­nen Bett. Oh­ne Ma­ri­us! Die­ses Bett stand zwar in ei­nem Zim­mer, das sie sich mit ih­rer zwei Jah­re jün­ge­ren Schwes­ter An­na teil­te, aber die war zur­zeit bei ih­rem Freund Vik­tor zu Hau­se. Weit weg! Sehr weit weg!

Le­na Nell press­te die Lip­pen zu ei­nem schma­len Strich zu­sam­men, als sie dar­an den­ken muss­te, wie weit weg An­na sich in der Tat auf­hielt. Sie schüt­tel­te den Kopf, um die be­un­ru­hi­gen­den Ge­dan­ken dar­aus zu ver­trei­ben. Das wie­der­um gab ih­ren ra­sen­den Kopf­schmer­zen Auf­trieb. Eben­so wie die dus­se­li­ge Loun­ge-Mu­sik in die­ser grel­len Bar, in die Ma­ri­us sie di­rekt nach Fei­er­abend ge­schleppt hat­te. Auch ta­ten ihr die Fin­ger von den gan­zen Haa­r­wäs­chen, Kopf­mas­sa­gen, Strähn­chen zie­hen und, und, und höl­lisch weh, ge­nau wie der Rü­cken. Ei­gent­lich hat­te sie mit so et­was über­haupt kei­ne Pro­ble­me. Der heu­ti­ge Tag bil­de­te da wohl ei­ne Aus­nah­me.

Mist! Heu­te kommt aber auch al­les zu­sam­men, dach­te sie und schlürf­te miss­mu­tig an dem viel zu sü­ßen ro­sa­fa­r­be­nen Cock­tail, den Ma­ri­us ihr be­stellt hat­te. An­ge­wi­dert ver­zog sie das Ge­sicht. Sie teil­te zwar nicht sei­ne Vor­lie­be für Alt­bier, aber an solch kleb­ri­gen Ge­trän­ken wie die­sem fand sie auch kei­nen Ge­fal­len. Wä­re ich doch bloß so­fort nach Hau­se ge­fah­ren, schimpf­te sie sich selbst.

»Hey, Ma­ri­us an Le­na! Je­mand zu Hau­se? Haal­loo!« Gro­ße dun­kel­brau­ne Au­gen, um­rahmt von dich­ten Wim­pern, schau­ten Le­na un­ter brei­ten hoch­ge­zo­ge­nen Brau­en über ein Alt­bier­glas hin­weg an.

Ty­pisch Ma­ri­us, dach­te Le­na zer­knirscht und stell­te zum wie­der­hol­ten Ma­le fest, dass es wohl nur einen Mann hier in ganz Düs­sel­dorf gab, der gleich­zei­tig re­den und trin­ken konn­te. Dass der sich da­bei nicht ver­schluckt, über­leg­te sie.

Wie aufs Stich­wort muss­te sie nun sel­ber hef­tig hus­ten, weil ihr ein Körn­chen vom di­cken Kris­tall­zu­cker­rand des Cock­tail­gla­ses in die falsche Röh­re ge­ra­ten war. Froh, dass ihr die sü­ße Plör­re nicht gleich wie­der zur Na­se her­aus­kam, hol­te sie tief Luft. Sie zog ein Pa­pier­ta­schen­tuch aus ih­rer Hand­ta­sche, um sich die auf­stei­gen­den Hus­ten­trä­nen ab­zu­wi­schen und ein dro­hen­des Mas­ca­ra-Fi­as­ko ab­zu­wen­den.

»Na, du bist heu­te aber schräg drauf«, kom­men­tier­te Ma­ri­us.

»Oh, vie­len Dank auch für dein Fein­ge­fühl. Das ist ge­nau das, was ich jetzt brau­che«, gab sie spitz zu­rück.

»Weißt du, Le­na, ich hät­te er­war­tet, dass du heu­te ein biss­chen net­ter zu mir bist, wo du mich ges­tern schon ver­setzt hast.«

»Ich ha­be dich nicht ver­setzt, Ma­ri­us. Wie oft muss ich dir das ei­gent­lich noch er­klä­ren?« Sie ver­dreh­te ent­nervt die Au­gen. »Das ges­tern war halt ein­fach ein ge­müt­li­cher Fa­mi­li­en-Spie­le-Abend nur un­ter uns Nells, ver­stehst du?«

Le­na gab sich ganz sou­ve­rän, ob­wohl ihr die Er­in­ne­rung an die­sen Fa­mi­lie­n­abend mit ih­ren El­tern und bei­den Ge­schwis­tern im­mer noch einen Schau­er über den Rü­cken jag­te. Sie woll­te aber nicht dar­über nach­den­ken. Nicht jetzt und auch nicht spä­ter!

»Nein, ver­steh ich eben nicht«, gab Ma­ri­us pat­zig zur Ant­wort und strich sich da­bei ei­ne pech­schwa­r­ze Haar­sträh­ne aus dem Ge­sicht.

… Sein Haar war im­mer ein we­nig stör­risch und woll­te nie so wie er. Ge­ra­de sein Haar fand Le­na be­son­ders an­zie­hend. Schließ­lich war sie Fri­seu­rin, zwar noch in der Aus­bil­dung, aber da kann­te sie sich aus. Und sein fast schon blau­schwa­r­zes Haar hat­te es ihr von An­fang an an­ge­tan.

Da­mals, als sie mit Stef­fi im Sun­ny-Club war und er sie dort an­sprach, hat­te er es sich auch stän­dig aus der Stirn strei­chen müs­sen. Sie fand das ein­fach süß. Au­ßer­dem sah er wirk­lich fan­tas­tisch aus. Ein at­trak­ti­ves Ge­sicht, tol­le Fi­gur, rund­her­um ei­ne Sah­ne­schnit­te. Das hat­te je­den­falls Stef­fi sei­ner­zeit ge­meint. Heu­te war ih­re bes­te Freun­din al­ler­dings nicht mehr ganz so gut auf Ma­ri­us zu spre­chen. Denn seit Le­na mit ihm zu­sam­men war, be­ka­men sich Stef­fi und sie kaum noch zu Ge­sicht.

Er wä­re halt mehr ein Fa­mi­li­en­mensch, hat­te er sich letz­tens erst ver­tei­digt. Tat­säch­lich hiel­ten sie sich recht häu­fig bei ihr zu Hau­se oder in sei­ner Woh­nung in Düs­sel­dorf auf. Sei­ne Fa­mi­lie hin­ge­gen hat­te sie bis­lang noch nicht ken­nen­ge­lernt, weil die in ei­nem klei­nen Ört­chen bei Han­no­ver wohn­te.

Oh­ne wei­te­re Um­schwei­fe ge­lang­ten ih­re Ge­dan­ken nun wie­der zu ih­rer ei­ge­nen Fa­mi­lie. Wie konn­te das al­les nur mög­lich sein? …

»Le­na, ver­dammt, ich re­de mit dir!«, schnauz­te Ma­ri­us sie nun an. »Kannst du mir nicht mal zu­hö­ren, we­nigs­tens ab und zu? Mann, da wär ich schon zu­frie­den«, mur­mel­te er noch hin­ter­her.

Sie schnitt den letz­ten Ge­dan­ken­fa­den ab und seufz­te schwer. »Na, dann lass es halt.«

»Was? Was soll das hei­ßen: Na, dann lass es halt?«

»Hhm?« So ganz war sie wohl doch nicht bei der Sa­che.

»Lee­naa, was soll ich las­sen?«

»Was du willst, Ma­ri­us. – Mich ver­ste­hen, mit mir re­den.«

Ma­ri­us’ gol­de­ner Teint färb­te sich leicht röt­lich. »Ich hab mich den gan­zen Tag auf dich ge­freut. Nun sei doch nicht so zi­ckig!«

»Zi­ckig? Sag mal, geht’s noch?« Le­na konn­te es nicht fas­sen. Merk­te er denn nicht, wie schlecht sie drauf war? Zu al­lem Über­fluss wür­de er sie be­stimmt gleich fra­gen, ob sie ih­re Ta­ge hät­te. Das hat­te er schließ­lich schon ein­mal ge­bracht. Am bes­ten kä­me sie ihm zu­vor: »Ma­ri­us, ich bin ein­fach hun­de­mü­de und ka­putt. Das war heu­te ein an­stren­gen­der Tag. Au­ßer­dem ha­be ich Kopf­weh.«

»Ach nee! – Und heut Abend hab ich Kopf­weh. – Na pri­ma, das ist doch wohl nicht dein Ernst?«, maul­te er. »Wir wa­ren ges­tern schon nicht zu­sam­men.«

Le­na spür­te die Hit­ze in sich hoch­schlei­chen und wie sie pu­ter­rot vor Är­ger wur­de. Wenn Ma­ri­us glaub­te, dass sie mit ih­ren neun­zehn Jah­ren die­sen Song von Ireen Sheer nicht ken­nen wür­de, dann irr­te der sich aber ge­wal­tig. Schließ­lich hat­te sie ei­ne Mut­ter, die das Lied nur zu ger­ne beim Kar­tof­fel­schä­len in der Kü­che mit­s­ang, wenn es im Ra­dio lief, und sich da­bei im­mer köst­lich amü­sier­te.

»Al­so gut, Ma­ri­us, hör mir zu. Du fragst mich nicht, wie mein Tag war. Ich dich schon. Du fragst mich nicht, wie es mir geht. Ich dich schon. Du fragst ja nicht mal, was ich nach Fei­er­abend ma­chen möch­te oder was ich trin­ken will, son­dern du be­stimmst es mal wie­der. Und wenn du jetzt auch nur an­satz­wei­se glaubst, dass ich heu­te zu dir in die Kis­te hüp­fe, dann hast du dich aber ge­schnit­ten, mein Freund!«

»Sag ich doch: Kopf­weh.«

»Ja, das ha­be ich. Und du hast nicht ge­ra­de da­zu bei­ge­tra­gen, dass es mir bes­ser geht, ganz im Ge­gen­teil. Ach, was re­de ich über­haupt?«

Sie kram­te einen Zeh­neu­ro­schein aus der Hand­ta­sche, knall­te ihn auf den quiet­schro­ten Re­so­pal­tisch und schnapp­te sich ih­re Ja­cke.

Noch wäh­rend Ma­ri­us mit Stau­nen be­schäf­tigt war, mein­te sie: »Für den köst­li­chen Drink. Mach’s gut, Ma­ri­us. Tschö!«

»Le­na, ver­dammt!«, brüll­te er ihr hin­ter­her.

Doch sie dreh­te sich nicht mehr um, son­dern ging ein­fach wei­ter und mach­te ih­rem Un­mut mit ei­ner rü­den Ges­te des Mit­tel­fin­gers ih­rer er­ho­be­nen lin­ken Hand Luft.

Sie hielt nicht mehr an, bis sie an der Bus­hal­te­stel­le an­ge­kom­men war, igno­rier­te das stän­dig nör­geln­de Han­dy und stell­te es dann kur­zer­hand aus. Glü­ck­li­cher­wei­se kam ihr Bus schon bald, brach­te sie zum fünf­zehn Ki­lo­me­ter ent­fern­ten Hei­matört­chen und da­mit auch nach Hau­se. End­lich!

***

Ei­ne Stun­de spä­ter hat­te Le­na ein Aspi­rin ge­schluckt, sich die Zäh­ne ge­putzt, ge­wa­schen, sorg­fäl­tig ab­ge­schminkt und ein­ge­cremt und ihr pe­ni­bel ge­bürs­te­tes Haar zu ei­nem lo­cke­ren Zopf ge­floch­ten. Ih­re El­tern schlie­fen be­reits. Der zwan­zig­jäh­ri­ge Bru­der Jens war be­stimmt noch bei sei­ner Freun­din Sil­vi. Al­so leg­te sie sich in der Hoff­nung, mög­lichst bald ein­zu­schla­fen und zu ver­ges­sen, im ku­sche­li­gen Fla­nell­py­ja­ma ins Bett.

Das Han­dy hat­te sie nicht wie­der ein­ge­schal­tet. Mit dem Ty­pen war sie end­gül­tig fer­tig. Der war ihr be­reits seit ge­rau­mer Zeit ziem­lich auf die Ner­ven ge­gan­gen mit sei­ner be­vor­mun­den­den Art. Sechs­und­zwan­zig hin oder her, sie war mit ih­ren neun­zehn Jah­ren ja auch kein Kind mehr und hat­te es nicht nö­tig, sich so her­ab­las­send von ihm be­han­deln zu las­sen. Gott sei Dank war sie ihn nun los. Punkt um!

Trotz­dem war sie sau­er, stink­sau­er! Al­ler­dings nicht auf Ma­ri­us. Der war Pea­nuts ge­gen ih­re an­de­ren Pro­ble­me. Nein, sie war sau­er auf ih­re Fa­mi­lie und das kam sel­ten bei ihr vor. Ei­gent­lich ließ sie sich nicht so schnell aus der Ru­he brin­gen.

Nur die Er­leb­nis­se des gest­ri­gen Abends hat­ten sie kom­plett aus der Bahn ge­wor­fen. Sie hat­te heu­te den gan­zen Tag ver­sucht, nicht dar­an zu den­ken. Die Ar­beit im Fri­seur­sa­lon, so­gar Ma­ri­us hat­ten sie ei­ni­ger­ma­ßen ab­ge­lenkt.

Aber jetzt gab es kei­ne sol­che Ab­len­kung mehr und schon ging es wie­der los: Die Ge­dan­ken­schlei­fen zo­gen er­neut ih­re Krei­se. Das war ein­fach zu viel, fand sie. Wie­so An­na? Wie­so Jens? Wie­so nicht sie?

In dem Be­wusst­sein, so­wie­so nicht schla­fen zu kön­nen, mach­te sie das Licht, das sie ge­ra­de erst ge­löscht hat­te, wie­der an und hock­te sich aufs Bett.

Ge­dan­ken­ver­sun­ken starr­te sie in den run­den Spie­gel an der Wand, blick­te ge­ra­de­wegs in ih­re aus­drucks­vol­len grau-grü­nen Au­gen. Schnell wand­te sie sich dem gro­ßen Ge­mäl­de zu, das über An­nas Bett hing. Sie moch­te die­ses Bild. Vik­to­ria, die Zwil­lings­schwes­ter von An­nas Freund, hat­te es ge­malt und An­na vor fünf Mo­na­ten zum sieb­zehn­ten Ge­burts­tag ge­schenkt.

Le­na ge­fiel das mys­tisch, ge­heim­nis­voll an­mu­ten­de Mo­tiv, die war­me, luf­tig son­ni­ge Fa­rb­wahl. Es stell­te ei­ne Lich­tung in­mit­ten ei­nes hel­len Wal­des mit ei­nem klei­nen Bach dar. Den Bach konn­te man re­gel­recht plät­schern hö­ren, fand Le­na. Über die­ser son­der­ba­ren Lich­tung strahl­ten zwei Son­nen gleich­zei­tig. Das hat­te auf Le­na stets fas­zi­nie­rend ge­wirkt.

Doch auch die­ses Bild er­schien ihr nun an­ders als zu­vor. Sie wuss­te nicht, ob es ihr über­haupt noch ge­fiel.

Trotz der im­mer noch boh­ren­den Schmer­zen schüt­tel­te sie ve­he­ment den Kopf. Be­reits zum x-ten Mal dach­te sie über die­sen ver­flix­ten Abend nach. Den Abend, der ih­re wohl­ge­ord­ne­te Welt ins Wan­ken ge­bracht hat­te. Den Abend, an dem sie so­wohl von ih­ren El­tern als auch von An­na und Jens hat­te er­fah­ren müs­sen, dass bei­de Ge­schwis­ter an­ders wa­ren als sie, dass ein­fach Al­les an­ders war.

… Zu­nächst ge­stal­te­te sich das Fa­mi­li­en­zu­sam­men­sein wirk­lich nett: Sie hat­ten es sich im Wohn­zim­mer mit Tee und Kek­sen auf So­fa und Ses­seln so rich­tig ge­müt­lich ge­macht. Nur sie fünf. Das hat­te es seit ei­ner ge­fühl­ten Ewig­keit nicht mehr ge­ge­ben.

Im Grun­de ge­nom­men fand sie ih­re bei­den Ge­schwis­ter und sich schon et­was zu alt für so einen Fa­mi­li­en-Spie­le-Abend. Das galt selbst für An­na, die die schrä­ge Tee­nie­zeit voll­kom­men aus­ge­las­sen zu ha­ben schien und sich mitt­ler­wei­le von nie­man­dem, auch nicht mehr von ih­rem Bru­der Jens, et­was sa­gen ließ. Den­noch wa­ren sie für solch tra­di­ti­o­nel­le Fa­mi­li­en­zu­sam­men­künf­te hin und wie­der zu be­geis­tern.

Zu Be­ginn spiel­ten sie ein paar Run­den Knif­fel. Le­na war im Be­griff, die Fa­mi­lie ver­nich­tend zu schla­gen, was ihr na­tür­lich gro­ßen Spaß be­rei­te­te. Al­ler­dings reich­te die­ser Spaß nicht aus, um ih­ren un­ter­schwel­li­gen Är­ger völ­lig zu un­ter­drü­cken. Sie hat­te sich wie­der mal mit Ma­ri­us ge­strit­ten. Die­ses Mal, weil er bei dem Spie­le­abend un­be­dingt hat­te da­bei sein wol­len, sie aber ein­mal et­was oh­ne ihn ma­chen woll­te. Auch wenn es nur ein Abend mit der Fa­mi­lie war.

Zu An­fang be­merk­te sie nicht, wie ih­re El­tern stän­dig Bli­cke mit Jens und An­na aus­tausch­ten und das wäh­rend des Spie­les da­hin­plät­schern­de Ge­spräch peu à peu auf Vik­tor lenk­ten. Er wür­de spä­ter mit sei­nem Va­ter vor­bei­kom­men, hat­te An­na er­wähnt, so ganz ne­ben­bei.

Le­na er­in­ner­te sich, wie ihr An­nas Wor­te einen Stich ver­setzt hat­ten. Ei­gent­lich soll­te es ein rei­ner Fa­mi­lie­n­abend sein, nur zu fünft. Al­so frag­te sie sich, was An­nas Freund und noch da­zu des­sen Va­ter da­bei zu su­chen hät­ten. Da hät­te sie Ma­ri­us ja doch mit da­zu ein­la­den und sich den gan­zen Stress mit ihm spa­ren kön­nen. …

Bei dem er­neu­ten Ge­dan­ken an Ma­ri­us ver­dreh­te Le­na die Au­gen, kon­zen­trier­te sich aber wie­der auf den Abend:

… Selbst Jens’ Freun­din Sil­vi, die so­zu­sa­gen zur Fa­mi­lie da­zu­ge­hör­te, war nicht da­bei.

Doch sie wä­re ja nicht Le­na, wenn sie den auf­kei­men­den Un­mut nicht ein­fach hin­un­ter­schluck­te. Und das hat­te sie auch ge­tan.

Al­ler­dings be­gann ihr Va­ter mit ei­nem Ma­le da­mit, ei­gen­ar­ti­ge Din­ge zu sa­gen. Er sprach von über­na­tür­li­chen Kräf­ten, an­de­ren Wel­ten und frag­te sie tat­säch­lich, ob sie an sol­che Din­ge glau­ben wür­de. Das brach­te das Fass zum Über­lau­fen. Le­na trau­te ih­ren Oh­ren nicht. So was Be­scheu­er­tes aber auch! Sind wir hier auf der En­ter­pri­se und su­chen in un­end­li­chen Wei­ten nach neu­en Wel­ten?, dach­te sie ent­rüs­tet. Hät­te sie ge­wusst, dass die Science-Fic­tion-Lie­be ih­res Va­ters die­se Aus­ma­ße an­neh­men wür­de, hät­te sie ihm die DVD’s mit den al­ten Star-Trek-Schin­ken nie­mals zu Weih­nach­ten ge­schenkt. War­um nur frag­te er sie so schwach­sin­ni­ges Zeug?

Le­na spür­te, wie ihr der Ge­dulds­fa­den riss. Erst die ner­vi­ge Zan­ke­rei mit Ma­ri­us und nun die­ses ei­gen­ar­ti­ge Ge­re­de. Wü­tend pfef­fer­te sie sämt­li­che Wür­fel in die Ecke und woll­te wis­sen, was das gan­ze Ge­fa­sel soll­te. …

Sie sah das Sze­na­rio wie­der vor sich, hat­te noch die Stim­me ih­rer Mut­ter und der an­de­ren Fa­mi­li­en­mit­glie­der im Ohr:

… »Le­na, Schatz, bit­te reg dich doch nicht so auf«, ver­such­te The­resa, sie zu be­schwich­ti­gen. »Pa­pa will dir doch nur was er­klä­ren.« Sie mach­te ei­ne klei­ne Pau­se und sah Jo­han­nes da­bei an. Dann sprach sie wei­ter: »Pass auf, hhm, es ist et­was schwie­rig und viel­leicht glaubst du mir und den an­de­ren auch gar nicht. Aber wir fin­den nun mal, du soll­test es er­fah­ren. Du sollst wis­sen, was los ist.«

»Mensch, Ma­ma!«, rief Le­na un­ge­dul­dig aus. »Was? Was soll ich denn wis­sen? Ihr re­det die gan­ze Zeit um den hei­ßen Brei her­um. Das macht mich ganz kir­re. Al­so, was ist los, Herr­gott noch­mal?«

The­resa er­griff Le­n­as Hän­de und er­öff­ne­te ihr lei­se die ver­meint­li­che Wahr­heit: »Weißt du, Le­na, es geht vor al­lem um Vik­tor, sei­ne Schwes­ter Vik­to­ria und de­ren Va­ter. Nun …«, The­resa zö­ger­te ein we­nig, fuhr aber has­tig fort, weil Le­na ihr un­ge­hal­ten die Hän­de ent­zie­hen woll­te, »… die sind nicht so wie wir. Die ver­stor­be­ne Mut­ter der Zwil­lin­ge war zwar ei­ne ganz nor­ma­le Frau, ja, aber Vi­tus, der ist kein Mensch, Le­na. Vi­tus kommt aus ei­ner an­de­ren, uns frem­den Welt.«

Sie räus­per­te sich. »Er stammt aus ei­ner El­fen­welt. Er ist ein El­fe, so­gar ein El­fen­kö­nig. Vik­tor und Vik­to­ria sind so­mit zu­min­dest hal­be El­fen.«

Le­na sprang vom Ses­sel auf und zeig­te ih­rer Mut­ter einen Vo­gel.

»El­fen? Bei dir piept’s ja wohl, Ma­ma! Ent­schul­di­ge bit­te, aber was soll denn der Scheiß? Habt ihr heu­te Abend vor, mich zu ver­ar­schen, oder seid ihr ein­fach nur sau­er, weil ich so oft beim Knif­fel ge­won­nen ha­be?«

»Le­na!« Auch Jo­han­nes war auf­ge­stan­den. Er sah sei­ne Toch­ter bö­se an. »Das hört sich be­stimmt un­glaub­lich für dich an und ich kann ver­ste­hen, dass du auf­ge­bracht bist. Trotz­dem re­dest du nicht in die­sem Ton mit dei­ner Mut­ter, ver­stan­den! Du setzt dich so­fort wie­der hin und hörst zu, was wir dir zu sa­gen ha­ben! Und glau­be mir, Le­na, wir er­zäh­len dir hier nichts, was nicht stimmt. Nie­mand will dich auf den Arm neh­men.«

Le­na schnaub­te, schüt­tel­te das zur­zeit pla­tin­blon­de über­schul­ter­lan­ge Haar nach hin­ten, strich es sich dann noch ein­mal aus dem Ge­sicht. Ei­gent­lich hat­te sie die glei­che hel­le, ma­kel­lo­se Haut wie An­na, doch wuss­te sie, dass ihr Ge­sicht im Au­gen­blick si­cher­lich rot­fle­ckig vor Zorn und Un­si­cher­heit war. Trot­zig ver­schränk­te sie die Ar­me vor der Brust, setz­te sich wi­der­wil­lig hin und fun­kel­te die an­de­ren an­griffs­lus­tig an.

»Dann mal wei­ter mit der Mär­chen­stun­de«, mein­te sie zy­nisch, schmoll­te und for­der­te da­nach ih­re Schwes­ter auf: »Na los, An­na, schließ­lich geht’s doch um dei­nen schö­nen Vik­tor. Er­klär du mir, was Ma­ma und Pa­pa mei­nen.«

Stirn­run­zelnd ver­folg­te sie, wie ih­re Schwes­ter ver­le­gen die Bril­le zu­recht­rück­te und das Ge­sicht ver­zog, als woll­te sie gleich los­heu­len. Das pass­te gar nicht zu ihr. Je­den­falls seit ei­ni­ger Zeit nicht mehr. Frü­her ja. Aber jetzt?

An­na hat­te sich näm­lich stark ver­än­dert, seit sie ih­ren Vik­tor ken­nen­ge­lernt hat­te. Einen tol­len, wirk­lich fan­tas­tisch aus­se­hen­den Ty­pen, wie Le­na fand. Manch­mal war sie so­gar ein klei­nes biss­chen nei­disch.

Vik­tor wirk­te mit sei­nen fast neun­zehn Jah­ren eben­so er­wach­sen wie An­na. Er war stets auf­merk­sam und lie­be­voll zu ihr. – An­ders als die­ser Idi­ot Ma­ri­us! Zwar konn­te Vik­tor ab und an auch ziem­lich be­stim­mend sein, doch das nutz­te ihm reich­lich we­nig. An­na ließ sich in­zwi­schen nicht mehr ein­fach so be­vor­mun­den.

Ja, An­na hat­te sich in den letz­ten Mo­na­ten wirk­lich er­staun­lich ent­wi­ckelt. Dar­über hat­te Le­na sich ge­freut. Doch jetzt be­ob­ach­te­te sie über­rascht, wie ih­re Schwes­ter be­tre­ten rum­drucks­te und dann flink auf dem Bo­den her­um­krab­bel­te, um nach den blö­den Knif­felwür­feln zu su­chen, an­statt ihr zu ant­wor­ten. Das durf­te doch al­les nicht wahr sein!

Des­we­gen är­ger­te es sie auch, als Jens ein­fach an An­nas Stel­le das Wort er­griff: »Es ist ge­nau, wie Ma­ma ge­sagt hat, Le­na. Vi­tus ist der Kö­nig des west­li­chen El­fen­rei­ches, wirk­lich. Ich war selbst schon ein­mal dort. Glaub mir, das gibt es echt. Wenn du willst, kannst auch du es ken­nen­ler­nen. Aber erst woll­ten wir dir ger­ne er­zäh­len, was an den El­fen so an­ders und so be­son­ders ist, ja, und dass An­na und ich auch nicht ganz so nor­mal sind.«

Jetzt war es end­gül­tig ge­nug, fand Le­na, und mach­te An­stal­ten auf­zu­ste­hen, wur­de je­doch von Jens dar­an ge­hin­dert, in­dem er sie am Arm fest­hielt. »Halt, halt, Schwes­ter­lein, du bleibst schön hier und hörst wei­ter zu, wie Pa­pa es dir ge­sagt hat. Und weil du so bo­ckig bist, ist es wohl am bes­ten, wenn Vi­tus dir ab jetzt al­les Wei­te­re er­klärt.« Er grins­te wis­send. »Der steht näm­lich schon mit Vik­tor un­ten vorm Haus.«

Wie auf Kom­man­do stand An­na auf, wa­rf sich das lan­ge gold­blon­de Haar über die Schul­ter und leg­te wort­los die Wür­fel auf den Tisch. End­lich sah sie Le­na mit ih­ren hell­blau­en Au­gen ins Ge­sicht. Ganz trau­rig, fiel es Le­na auf. Als es an der Haus­tür läu­te­te, stürm­te An­na hin­aus. Le­na wur­de das Ge­fühl nicht los, dass ih­re Schwes­ter re­gel­recht flüch­te­te. …

Tat­säch­lich wa­ren es Vik­tor und Vi­tus ge­we­sen, die ge­klin­gelt hat­ten. Bei der Er­in­ne­rung dar­an, wie die bei­den ins Wohn­zim­mer ge­kom­men wa­ren, kniff Le­na ge­quält die Au­gen zu.

Ins­be­son­de­re Vi­tus hat­te sich nicht lan­ge mit Höf­lich­keits­flos­keln auf­ge­hal­ten, son­dern nach ei­ner knap­pen Be­grü­ßung di­rekt mit ihr ge­spro­chen. Ganz freund­lich. – In ih­rem Kopf! Oh­ne sei­ne Lip­pen zu be­we­gen!

Noch da­zu hat­te Vik­tor sie bei der Hand ge­nom­men. Ihr war so­fort woh­lig warm ge­wor­den, ge­ra­de so, als wür­de die Son­ne in ih­rem Her­zen schei­nen. Mit­ten in ihr drin! Die­se in­ne­re Son­nen­wär­me hat­te sie selt­sa­mer­wei­se be­ru­higt. Im glei­chen Mo­ment war ihr über­deut­lich klar­ge­wor­den, dass al­les, wirk­lich al­les stimm­te, was da an fan­tas­ti­schen Din­gen er­zählt wor­den war. Es schien ver­rückt, aber sie glaub­te all das Un­glaub­li­che. – Fast!

Okay, es gab al­so El­fen. We­sen mit au­ßer­ge­wöhn­li­chen geis­ti­gen Fä­hig­kei­ten. We­sen aus ei­ner an­de­ren Welt, die di­rekt ne­ben der ih­ren exis­tier­te. We­sen oh­ne spit­ze Oh­ren oder Flü­gel, aber mit dem Ta­lent, die Ge­dan­ken an­de­rer se­hen und die­se be­ein­flus­sen zu kön­nen. Und die an­schei­nend noch ganz an­de­re pa­ra­nor­ma­le Kräf­te be­sa­ßen. Gut, gut, man könn­te ja mal so tun, als wä­re das ak­zep­ta­bel.

Aber An­na und Jens? Wie­so konn­ten die bei­den auch in den Geist von an­de­ren ein­tau­chen und sich so­gar auf die­se Wei­se mit­ein­an­der ver­stän­di­gen?

The­resa hat­te ge­meint, dass es even­tu­ell an ih­rem ver­stor­be­nem Va­ter, al­so Le­n­as Opa, lie­gen könn­te. Vi­tus wä­re wohl noch da­bei, Er­kun­di­gun­gen dar­über ein­zu­ho­len. Doch das war Le­na erst ein­mal völ­lig egal. Für sie er­gab sich vor­ran­gig nur die ei­ne Fra­ge: War­um be­saß sie denn kei­ne solch be­son­de­ren und auf­re­gen­den Ga­ben?

An sich wi­der­sprach es voll­kom­men ih­rem Na­tu­rell, sich so auf­zu­füh­ren. Noch nie im Le­ben war Le­na der­art miss­güns­tig ge­we­sen. Jetzt je­doch fühl­te sie sich aus­ge­grenzt und min­der­wer­tig, ob­wohl ihr der ge­sun­de Men­schen­ver­stand sag­te, dass das Blöd­sinn war.

… Nach­dem Vi­tus’ sei­ne »Ge­dan­ke­n­at­ta­cken« auf ih­ren oder bes­ser in ih­rem Kopf be­en­det hat­te, und auch Vik­tor sei­ne »son­ni­ge Spe­zi­al­be­hand­lung«, hör­te sich Le­na noch für ein Weil­chen die wei­te­ren Er­klä­run­gen ih­rer Fa­mi­lie an. Kurz dar­auf stand sie al­ler­dings wort­los auf und ver­schwand in ih­rem Zim­mer. Sie woll­te ein­fach nur noch weg. Weg von die­sen un­fass­ba­ren Din­gen. An­na kam ihr zwar hin­ter­her, um noch­mals mit ihr zu re­den. Doch sie dreh­te der Schwes­ter den Rü­cken zu mit der Bit­te, sie in Ru­he zu las­sen, weil sie et­was Zeit bräuch­te.

Das tat ih­re Schwes­ter. Die Weih­nachts­fe­ri­en ga­ben ihr die Ge­le­gen­heit, die nächs­ten Ta­ge bei Vik­tor zu Hau­se oder bei Vi­tus auf dem Schloss zu ver­brin­gen. Wo nun ge­nau, das in­ter­es­sier­te Le­na der­zeit einen feuch­ten Dreck.

An­na war je­den­falls nicht mehr da. Und sie, was mach­te sie? Die Le­na, die sich sonst für so tough hielt? Sie hat­te ein­zig und al­lein im Sinn, so zu tun, als wä­re nichts ge­sche­hen und al­les ganz nor­mal. Sie mied El­tern wie Bru­der am Mor­gen da­nach, ging zur Ar­beit, be­dien­te die Kun­den im Fri­seur­sa­lon wie im­mer freund­lich und zu­vor­kom­mend und wur­de nach Fei­er­abend von Ma­ri­us ab­ge­holt. …

Ja, und hier schloss sich der Kreis.

Le­na seufz­te, um Kum­mer und Zorn zu un­ter­drü­cken, was nicht ge­lang. Sie war wirk­lich stink­sau­er, doch ei­gent­lich mehr auf sich selbst. Das er­kann­te sie nun, nach­dem sie das Gan­ze noch ein­mal hat­te Re­vue pas­sie­ren las­sen.

An­na und Jens konn­ten schließ­lich ge­nau­so we­nig da­für wie sie. Was war sie nur für ein Scheu­sal, so krass zu re­a­gie­ren?

Jetzt hat­te sie mit ih­rer üb­len Lau­ne auch noch Ma­ri­us ver­grault. Ob­wohl, der hat­te mit sei­nem ei­ge­nen schlech­ten Be­neh­men wohl eher sie ver­grault und konn­te sie des­we­gen mal kreuz­wei­se. Trotz­dem, sie hat­te aus Frust ge­han­delt. Nun war sie so­lo – wie­der mal. Schlag­ar­tig wur­de sie trau­rig, denn plötz­lich fühl­te sich schreck­lich al­lein. Das hat­te al­ler­dings we­ni­ger mit Ma­ri­us zu tun. Nein, es war die Er­kennt­nis, nicht mehr rich­tig zur ge­lieb­ten Fa­mi­lie da­zu­zu­ge­hö­ren, die sie von ei­nem Mo­ment zu nächs­ten so schwer traf. Völ­lig auf­ge­löst wa­rf sie sich zu­rück aufs Bett und fing bit­ter­lich zu wei­nen an.

Tief in ih­rem Ge­fühls­s­umpf ver­sun­ken be­merk­te sie zu­nächst nicht, dass es an der Tür klopf­te. Des­we­gen war es für einen Pro­test zu spät, als ihr Bru­der die Tür auf­mach­te und ein­fach her­ein­kam. Noch da­zu setz­te er sich zu ihr aufs Bett und strei­chel­te ihr sanft den Rü­cken.

»Der Typ ist ’n ech­tes Arsch­loch, Le­na«, mein­te Jens. »Gut, dass du dem den Lauf­pass ge­ge­ben hast.«

Ab­rupt rich­te­te sie sich auf. »Wie­so weißt du da­von? Hast du das et­wa mit dei­nem ko­mi­schen El­fen­ra­dar ge­se­hen?«

Er lach­te kurz auf. »El­fen­ra­dar? Gut ge­sagt, Le­na. Aber nein, mein El­fen­ra­dar funk­tio­niert nicht so wie An­nas. Wenn über­haupt, dann am bes­ten bei ihr. Sonst klappt es nur sel­ten. Na, ist ja auch egal.« Er deu­te­te auf Le­n­as Han­dy, das stumm auf der Kom­mo­de ne­ben dem Bett lag. »Nee, Ma­ri­us hat mich an­ge­ru­fen und ziem­lich fies an­ge­macht. Er sagt, du hät­test dich to­tal schei­ße be­nom­men. Es wä­re pein­lich ge­we­sen, wie du aus dem Club ge­stürmt und ein­fach ab­ge­hau­en wärst. Dann konn­te er dich nicht er­rei­chen. Tja, da muss­te ich wohl dran glau­ben.«

Jens be­dach­te sie mit ei­nem be­wun­dern­den Blick aus sei­nen ru­hi­gen grau­en Au­gen. »Coo­le Sa­che, Le­na. So, wie der mich am Te­le­fon an­ge­schnauzt hat, ist es wohl bes­ser, dass du Schluss mit dem ge­macht hast. Der hat sie ja wohl nicht al­le! Das hab ich dem Blöd­mann auch sehr deut­lich zu ver­ste­hen ge­ge­ben.«

Le­na schnief­te. »Das war’s dann wohl mit Ma­ri­us.« Sie wisch­te sich die Trä­nen mit ih­rem Ta­schen­tuch fort und putz­te sich ge­räusch­voll die Na­se. »Ach was, das wär oh­ne­hin nicht mehr lan­ge gut­ge­gan­gen.«

In­dem sie nichts wei­ter da­zu sag­te, gab sie ih­rem Bru­der zu ver­ste­hen, dass das The­ma »Ma­ri­us« nun nicht mehr zur Dis­kus­si­on stand. An­statt da­zu noch einen Kom­men­tar ab­zu­ge­ben, nahm Jens sie in den Arm und drück­te sie. Da­nach schob er sich wie­der ein Stü­ck­chen von ihr fort, um sie ge­nau­er zu mus­tern.

»Wie geht es dir denn sonst so? Hast du den ers­ten El­fen­schock über­wun­den?«

Le­na war es schreck­lich pein­lich, wie sie am gest­ri­gen Ta­ge so ei­fer­süch­tig und nei­disch hat­te über­re­a­gie­ren kön­nen. Sie spür­te lei­se Rö­te in sich auf­stei­gen.

»Es geht so. Tut mir leid, dass ich der­art sau­er war. Aber zu­erst er­fah­re ich die­se gan­ze un­glaub­li­che Ge­schich­te und dann muss ich auch noch fest­stel­len, dass du und An­na so was könnt und …«

»… und du nicht«, voll­en­de­te Jens ih­ren Satz. »Le­na, du bist die tolls­te Schwes­ter, die man sich nur wün­schen kann. So lieb und hübsch und klug. Wir lie­ben dich über al­le Ma­ßen, das weißt du doch. Und dass du die gan­ze El­fen­ge­schich­te erst ein­mal nicht glau­ben woll­test, ist ja wohl das Nor­mals­te über­haupt.« Er leg­te die Hän­de auf ih­re Schul­tern, wäh­rend er sie ein wei­te­res Mal ein­dring­lich an­sah. »Hey, ist es denn so schlimm, dass An­na und ich ein klein we­nig an­ders sind? Bis vor Kur­z­em ha­ben wir es doch selbst nicht ge­wusst.«

»Nein, ei­gent­lich nicht. Nur hät­te ich es halt toll ge­fun­den, auch so was zu kön­nen, auch was da­von ab­ge­kriegt zu ha­ben. Ist echt nicht schön, wenn man merkt, dass man nicht rich­tig da­zu­ge­hört«, mein­te sie klein­laut.

»Nicht da­zu­ge­hört?« Er schüt­tel­te den Kopf. »Das ist doch Schwach­sinn. Na­tür­lich ge­hörst du da­zu. Was glaubst du denn, war­um wir es dir er­zählt ha­ben, he? Weil du ab­so­lut da­zu­ge­hörst.« Be­vor er auf­stand, tät­schel­te er ihr lie­be­voll den Arm. »Denk mal dar­über nach.«

Er woll­te hin­aus­ge­hen, dreh­te sich aber noch ein­mal um. »Vi­tus hat­te kei­ne Ge­le­gen­heit, es dir sel­ber zu sa­gen. Du bist ja ges­tern ein­fach aus dem Wohn­zim­mer ge­rauscht. Ich den­ke, er ist be­stimmt nicht bö­se, wenn ich dir jetzt aus­rich­te, dass du zu sei­ner und Lo­a­nas Hoch­zeit ein­ge­la­den bist.« Jens mach­te ei­ne kur­ze Pau­se. Of­fen­kun­dig freu­te er sich über Le­n­as gro­ße Au­gen, so wie er jetzt schmun­zel­te. »Das ist aber lan­ge noch nicht al­les, mein liebs­tes Schwes­ter­herz«, fuhr er fröh­lich fort. »Du wirst näm­lich zu­sam­men mit An­na, Vik­to­ria und Sil­vi Braut­jung­fer spie­len müs­sen.«

»Was?« Vor Über­ra­schung fiel Le­na die Kinn­la­de run­ter. Das schien ih­ren Bru­der köst­lich zu amü­sie­ren, wes­halb sie den Mund has­tig wie­der zu­mach­te.

»Cool, nicht wahr? Du wirst ei­ne wich­ti­ge Rol­le auf ei­ner kö­nig­li­chen El­fen­hoch­zeit spie­len. Al­so, an­statt dich mit so ei­nem düs­te­ren Zeugs, wie Ei­fer­sucht und Neid, ver­rückt zu ma­chen, soll­test du dich schleu­nigst mit den an­de­ren drei Braut­jung­fern zu­sam­men­tun und über Gar­de­ro­be, Fri­sur und so’n Mä­dels­kram nach­den­ken.« Er öff­ne­te die Tür. »Nacht, mei­ne Sü­ße.«

Jens spa­zier­te hin­aus und ließ ei­ne sehr nach­denk­li­che, al­ler­dings längst nicht mehr so trau­ri­ge Le­na zu­rück.

***

Wäh­rend­des­sen er­hol­te sich An­na Nell von dem stür­mi­schen Lie­bes­s­piel mit Vik­tor. Die letz­ten knis­tern­den Fun­ken und ro­ten Wir­bel in sei­nem Zim­mer zeug­ten da­von – und An­na, die lei­se keu­chend nach Luft rang.

»Ir­gend­wann brin­gen wir uns um! Ir­gend­wann über­le­ben wir das nicht!«

Vik­tor sah sie heiß­blü­tig an, be­deck­te dar­auf­hin ihr Ge­sicht mit fe­der­leich­ten Küs­sen.

»Doch, doch, An­na. Es gibt ei­ne ge­rin­ge Über­le­bens­chan­ce, wenn wir jetzt viel­leicht ein biss­chen schla­fen.« Er lä­chel­te, was im­mer ei­ne fas­zi­nie­ren­de Wir­kung auf An­na hat­te.

… Sie lieb­te ih­ren hal­bel­fi­schen Freund sehr. Al­les an ihm. Sein fei­nes Ge­sicht. So schön, mit dem herr­lich ge­schwun­ge­nen köst­li­chen Mund. Sei­ne in­ten­siv leuch­ten­den dun­kel­blau­en Au­gen. Sei­ne wir­ren brau­nen Lo­cken mit dem ma­ha­go­ni­fa­r­be­nen Licht­spiel dar­in. Sei­nen lan­gen, ge­ra­de­zu per­fek­ten Kör­per. Sei­ne Lei­den­schaft. Sei­ne Son­ne. Sei­ne Lie­bens­wür­dig­keit und, und, und – selbst sei­ne vom stän­di­gen Ba­r­fuß­lau­fen im­mer et­was schwie­li­gen Fü­ße.

Doch wenn er lä­chel­te und sich da­bei die bei­den Grüb­chen auf sei­nen Wan­gen zeig­ten, schmolz sie re­gel­recht da­hin. …

»Vik­tor Mül­ler! Du re­dest von Schlaf und denkst statt­des­sen schon wie­der an Sex! Das ist doch wohl nicht dein Ernst?«

Al­len An­schein nach ließ Vik­tor sich von An­nas Ge­dan­ken be­ein­dru­cken. »Okay, okay, du hast mich mal wie­der durch­schaut. Ich be­ken­ne mich schul­dig.« Er roll­te sich vor­sich­tig von ihr her­un­ter. »Dar­an zu den­ken wird ja wohl noch er­laubt sein, Klei­nes.«

Er dreh­te sich zur Sei­te, strich mit dem Fin­ger ver­füh­re­risch den Kon­tu­ren ih­res Lei­bes nach und stell­te mit ei­nem wei­te­ren, nun zu­frie­de­nen Lä­cheln fest, wie sich bei ihr ei­ne Gän­se­haut bil­de­te und die Brust­wa­r­zen auf­stell­ten.

»Mei­ne Gü­te, An­na, wie soll ich an was an­de­res den­ken, wenn ich dich so se­he.«

Er senk­te sei­nen Mund auf einen der sich ihm ent­ge­gen­re­cken­den Nip­pel und knab­ber­te kurz dar­an.

»Ich bin ein­fach kom­plett ver­rückt nach dir.«

»Du lie­ber Him­mel, Vik­tor! Ich sag ja, wir über­le­ben das nicht.«

»Du hast recht, An­na. Wir sind ver­lo­ren.«

Am frü­hen nächs­ten Mor­gen ver­such­te An­na wie so häu­fig, sich ihm zu ent­win­den. Meis­tens wach­te sie spä­ter auf als er. Wenn es doch ein­mal um­ge­kehrt war, dann er­gab sich stets das­sel­be Pro­blem:

Vik­tor hat­te Ar­me und Bei­ne eng um sie ge­schlun­gen. So­bald er be­merk­te, dass sie sich von ihm lö­sen woll­te, hielt er sie um­so fes­ter. So auch an die­sem Mor­gen.

»Hey, wo willst du hin, klei­ne An­na«, knurr­te er schlaf­trun­ken, oh­ne ein Au­ge auf­zu­tun. »Es ist doch noch gar kei­ne Auf­steh­zeit.«

»Es ist im­mer das Glei­che mit dir, Vik­tor Mül­ler!«, schimpf­te sie. »Ich muss mal Pi­pi und ha­be kei­ne Lust, dich je­des Mal an­zu­bet­teln. Al­so, gib mich frei, mein Prinz!«

»Schon gut, schon gut. Aber nur, wenn du ver­sprichst, so­fort zu­rück­zu­kom­men. Ich könn­te in der Zeit viel­leicht er­frie­ren oder vor Ein­sam­keit ver­ge­hen. Das kannst du nicht ris­kie­ren.«

»Ja­ja, mein Prinz auf der Erb­se.«

Jetzt öff­ne­te Vik­tor ein Au­ge. »Was?«

»Prinz auf der Erb­se«, wie­der­hol­te An­na ge­dul­dig und stand rasch auf, als er sie end­lich ließ. »Das ist ein Mär­chen. Ei­gent­lich heißt es: Die Prin­zes­sin auf der Erb­se. Soll hei­ßen, dass du ein Sen­si­bel­chen bist.«

»Sen­si­bel­chen?«, pro­tes­tier­te Vik­tor. »Na war­te, ich werd dir gleich …«

Sein Ver­such, sie noch zu fas­sen zu krie­gen, schei­ter­te. An­na war be­reits ki­chernd in Rich­tung Bad un­ter­wegs.

Als sie zu­rück­kam, schlief Vik­tor wie­der.

»Ty­pisch, erst gro­ße Tö­ne spu­cken und dann pen­nen!«

»Denkst auch nur du!« Blitz­schnell griff er nach ihr und zog sie ins Bett.

Als sie spä­ter gut ge­launt mit Vik­to­ria und de­ren Freund Ke­tu am Früh­stücks­tisch sa­ßen, spür­te An­na die Ge­dan­ken ih­res Bru­ders. Jens hat­te wohl schon am Abend zu­vor ver­sucht, sie zu er­rei­chen, doch da war sie halt an­der­wei­tig be­schäf­tigt ge­we­sen.

… Jens be­rich­te­te ihr von Le­na und de­ren Jetzt-Ex-Freund. An­na hat­te die­sen Ma­ri­us von An­fang an nicht so rich­tig lei­den kön­nen, wuss­te aber nicht, wie­so. Es war viel­mehr ein Bauch­ge­fühl. Nun är­ger­te sie sich, ih­rer Schwes­ter nicht so­fort da­von er­zählt zu ha­ben. Nur war Le­na da­mals so über­g­lü­ck­lich ge­we­sen, als sie ihn ken­nen­ge­lern­te, dass An­na es ein­fach nicht übers Herz ge­bracht hat­te. Zu­dem war sie in der Zeit nach den schreck­li­chen Er­eig­nis­sen um Lo­a­na, Si­stra, Aeda­ma und Du­rell reich­lich ab­ge­lenkt ge­we­sen. Dann kam Weih­nach­ten und, und, und …

Sie schob ih­re Selbst­an­kla­ge bei­sei­te. Jetzt war es eh zu spät.

»Jens hat mir ge­ra­de ein paar Neu­ig­kei­ten über­mit­telt«, er­zähl­te sie den an­de­ren am Tisch. »Le­na hat Schluss mit Ma­ri­us. Aber das scheint sie recht gut ver­daut zu ha­ben, eben­so wie die Mär­chen­stun­de.«

»Mär­chen­stun­de?«, frag­te Vik­to­ria.

»Mei­ne Schwes­ter halt«, er­läu­ter­te An­na. »Sie hat das so ge­nannt, als wir sie über die El­fen auf­ge­klärt ha­ben. Na, je­den­falls geht es ihr so­weit ganz gut, trotz Ma­ri­us und Mär­chen­stun­de. Und, was noch bes­ser ist, sie freut sich to­tal über die Ein­la­dung zur Hoch­zeit und eben­falls über die Braut­jung­fern­ge­schich­te. Ach ja, Sil­vi üb­ri­gens auch.« Sie ki­cher­te. »Okay, bei Sil­vi war es wohl er­heb­lich schwie­ri­ger. Be­haup­tet Jens zu­min­dest. Als er ihr von der gan­zen El­fen­sa­che er­zählt hat, ist sie vor Schreck um­ge­fal­len und Jens konn­te sei­ne Herz­al­ler­liebs­te nur noch mit sei­ner spe­zi­el­len Mund-zu-Mund-Be­at­mung be­ru­hi­gen.«

An­na run­zel­te die Stirn. »Wo­zu er­zähl ich euch das über­haupt? Ihr habt das doch be­stimmt mit­ge­kriegt.«

»Ein biss­chen viel­leicht«, be­stä­tig­te Vik­to­ria. »Aber das meis­te hast du ziem­lich gut ver­bor­gen ge­hal­ten. Du machst dich, An­na. Nun aber zum Hoch­zeits­the­ma. Das wird näm­lich ein­fach toll. Ich bin so froh, dass Le­na und Sil­vi end­lich Be­scheid wis­sen und mit da­bei sein kön­nen. Das gibt si­cher ein su­per­schö­nes Bild: Zwei Dun­kel­haa­ri­ge und zwei Blon­de.« Sie strahl­te vor Freu­de. »Wir müs­sen Le­na na­tür­lich da­zu über­re­den, blond zu blei­ben. Was hat sie ei­gent­lich für ei­ne Na­tur­haa­r­fa­r­be?«

»Die se­hen in na­tu­ra fast ge­nau­so aus wie mei­ne. – Ich weiß auch nicht, war­um sie an­dau­ernd mit ih­ren Haa­ren her­u­m­ex­pe­ri­men­tiert«, füg­te sie hin­zu, als Vik­to­ria fra­gend ei­ne Braue hob. »Muss am Be­ruf lie­gen. Aber das Ar­gu­ment mit zwei zu zwei könn­te zie­hen. Auf so was steht sie. Die ist be­stimmt so rich­tig aus dem Häus­chen.«

»Ge­nau wie Vi­tus.« Ke­tus erns­tes Ge­sicht nahm einen leicht be­lus­tig­ten Zug an. »Ich ha­be ges­tern mit­be­kom­men, wie er sich mit Bi­tris, dem Schloss­gärt­ner, un­ter­hal­ten oder eher ge­strit­ten hat. Der war wohl ein biss­chen kri­tisch we­gen Lo­a­nas Wunsch, zur Kirsch­blü­te zu hei­ra­ten. Schließ­lich ste­hen im Schloss­park ja ex­tra ver­schie­de­ne Kirsch­sor­ten, um ei­ne mög­lichst lan­ge Blü­te­zeit vor­zu­ge­ben. Vi­tus will aber, dass zur Hoch­zeit al­le Kir­schen gleich­zei­tig blü­hen, al­so die Schnee- und Win­ter­kir­schen zu­sam­men mit den Früh­lings­kir­schen, die auf der klei­nen Al­lee ste­hen.«

Ke­tu schüt­tel­te den Kopf. »Der ar­me Gärt­ner hat­te oh­ne­hin kei­ne Chan­ce. Nach ei­ner knap­pen De­bat­te über Blü­ten­wachs­tum, Jah­res­zei­ten und mehr hat Vi­tus ihn ein­fach ste­hen las­sen und kur­zer­hand da­mit be­gon­nen, die Bäu­me wet­ter­tech­nisch zu be­ein­flus­sen. Er will un­be­dingt, dass die Hoch­zeit am zwan­zigs­ten März statt­fin­det. Al­so wird er da­für sor­gen, dass Lo­a­na ih­re Blü­ten an die­sem Tag be­kommt.«

»Ach.« An­na griff sich ans Herz. »Ich fin­de das soo ro­man­tisch.« Dann dach­te sie nach. »Wie­so ei­gent­lich der zwan­zigs­te März?«

»Früh­lings­er­wa­chen«, ant­wor­te­te Vik­to­ria. »Das ist im El­fen­reich ein wich­ti­ger Fei­er­tag, un­ge­fähr so wie Sil­ves­ter und Neu­jahr bei den Men­schen. Der Win­ter ver­geht und der neue Le­bens­zy­klus be­ginnt.« Auch Vik­to­ria seufz­te. »Er ist echt ro­man­tisch, un­ser Va­ter.«

Brü­der

»Du bist wirk­lich der fes­ten Über­zeu­gung, die­ser Sen­tran könn­te der Rich­ti­ge sein?«

»Oh ja, Vi­tus, das bin ich«, be­stä­tig­te Estra. »Er ist ge­nau der Mann, den du suchst.«

»Hhm-hhm.« Vi­tus zog genüss­lich an sei­ner di­cken Zi­gar­re, ge­neh­mig­te sich zu­dem ein Schlü­ck­chen vom Ver­dau­ungs­obst­ler.

Lo­a­na und er wa­ren bei Estra in den Ber­gen des west­li­chen El­fen­rei­ches zu Be­such und hat­ten ge­ra­de erst, ge­mein­sam mit Estras Frau Isi­nis und den Kin­dern Pa­nu, Mai­nio und Il­tra­na, fürst­lich zu Mit­tag ge­speist.

Die bei­den Frau­en ver­tra­ten sich nun die Bei­ne im herr­li­chen Park, di­rekt vor dem rie­si­gen hoch­herr­schaft­li­chen Haus, wäh­rend es sich die bei­den Brü­der im Win­ter­gar­ten ge­müt­lich mach­ten. Sie sa­ßen in be­que­men Le­der­ses­seln, die ba­ren Fü­ße auf ei­nem Hocker ab­ge­legt.

Ha­mo, Estras jun­ger Be­diens­te­ter, der noch nicht lan­ge für ihn tä­tig war, trat ein und frag­te, ob er noch et­was brin­gen soll­te. Sie ver­nein­ten fast zur glei­chen Zeit und lä­chel­ten, weil sie bei­de das­sel­be ge­sagt hat­ten: »Nein, der Obst­ler reicht.«

Be­vor er wie­der hin­aus­ging, hat­te Ha­mo sie mit ei­nem Aus­druck im Ge­sicht an­ge­st­arrt, der Vi­tus nur all­zu be­kannt war. Es lag an sei­ner gro­ßen Ähn­lich­keit mit Estra, die selbst Freun­de und Be­kann­te ab und an ver­wirr­te. Aber auch Frem­de sa­hen so­fort, dass sie Brü­der wa­ren:

Sie wa­ren bei­de sehr groß, Estra so­gar noch et­was grö­ßer, und von schlan­ker, mus­ku­lö­ser Sta­tur, hat­ten glat­tes ra­ben­schwa­r­zes Haar, das ih­nen bis auf die Schul­tern fiel, und ein at­trak­ti­ves Ge­sicht mit scha­rf ge­schnit­te­nen Zü­gen. Viel­leicht war Estras Na­se nicht ganz so groß und aus­ge­prägt und sein Mund da­für einen Tick brei­ter. Auch zier­te Estras Kinn kein Grüb­chen und sei­ne Au­gen wa­ren nicht meer­grün, son­dern braun wie Milch­scho­ko­la­de. Den­noch, ih­re Ähn­lich­keit war enorm. Be­son­ders, wenn sie lach­ten und Grüb­chen auf ih­ren Wan­gen er­schie­nen.

Ei­ne wei­te­re Ge­mein­sam­keit stell­te ih­re Ab­nei­gung ge­gen Schu­he dar. Bei­de hass­ten Schu­he, selbst So­cken. Das kam bei El­fen al­ler­dings häu­fig vor, spe­zi­ell bei den männ­li­chen. Vie­le von ih­nen zo­gen es vor, wei­test­ge­hend ba­r­fuß durchs Le­ben zu schrei­ten, weil sie selbst den un­an­ge­neh­men Schmerz spit­zer Din­ge un­ter ih­ren Fü­ßen dem da­für frei­en und küh­len Ge­fühl lie­bend gern den Vor­zug ga­ben.

»Was für ein gran­dio­ser Aus­blick«, dach­te Vi­tus, wäh­rend er die gi­gan­ti­schen schnee­be­deck­ten Ber­ge be­wun­der­te, die sich un­weit des Hau­ses auf­türm­ten. Sie bil­de­ten einen bi­zar­ren, scha­rf­kan­ti­gen Zick­zack­kurs, über dem sich der Him­mel in ei­nem der­art kla­ren Blau er­streck­te, dass Vi­tus die Trä­nen in die Au­gen tra­ten und er kurz blin­zeln muss­te. »Ich kom­me viel zu sel­ten her.«

»Da hast du wohl recht«, hol­te Estra ihn aus sei­nen Ge­dan­ken. »Schau nicht so ver­wun­dert drein, Vi­tus.« Das über­rasch­te Stau­nen sei­nes Bru­ders ver­lei­te­te Estra zu ei­nem Lä­cheln. »Seit du mit dei­ner bre­to­ni­schen Ke­ned – Schön­heit Lo­a­na ei­ne Hoch­zeit planst, bist du des Öf­te­ren zer­streut. Ich hab noch nie so viel von dei­nem Ge­dan­ken­gut er­ha­schen kön­nen wie in der letz­ten Zeit.« Estras Lä­cheln blieb un­ver­än­dert. »Sie tut dir gut. Das se­he ich. Ich kann dir gar nicht sa­gen, wie sehr Isi­nis und auch mich das freut.«

Nun wur­de Estra ernst und schlug einen ge­schäfts­mä­ßi­gen Ton an: »Schau dir den Bur­schen doch nach­her mal an. Ich ha­be Sen­tran ex­tra her­ge­holt, da­mit ihr euch auf neu­tra­lem Ge­biet ein we­nig be­schnup­pern könnt.«

»Gut, mach ich«, er­wi­der­te Vi­tus knapp. Mit ei­nem Mal wur­de er still. Nach­denk­lich senk­te er den Kopf, um sei­ne Über­le­gun­gen samt der er­neut auf­stei­gen­den Trau­er vor Estra zu ver­ber­gen.

»Si­stra war ein gu­ter Mann, Vi­tus.« In Estras Stim­me lag stil­les Be­dau­ern. »Er war nicht nur ei­ner dei­ner sechs Eli­te­wach­män­ner. Er war dein Freund, ge­nau wie mei­ner. Und auch Du­rell und Aeda­ma wa­ren un­se­re Freun­de. Nie­mand wird sie je er­set­zen kön­nen. Sie be­hal­ten auf ewig ih­ren Platz in un­se­ren Her­zen.« Er stieß einen ab­grund­tie­fen Seuf­zer aus.

»Das war ein schwa­r­zer Tag, als Lo­a­nas …«, er schnaub­te, »… so­ge­nann­te Fa­mi­lie die drei er­mor­det hat. Wir bei­de ha­ben schon so man­che dunk­le Stun­de mit­ein­an­der ge­teilt, mein Bru­der. Doch du hast wie schon so oft die Last trotz al­lem al­lein ge­tra­gen.«

Estra mach­te ei­ne kur­ze Pau­se und nipp­te an sei­nem Glas. »Das hat dir zu­ge­setzt, je­des Mal. Trotz­dem, Vi­tus, dein Le­ben geht nun ein­mal wei­ter. Und in An­be­tracht dei­ner wun­der­schö­nen Ver­lob­ten, wird es von nun an ein sehr, sehr gu­tes Le­ben sein.« Er be­rühr­te sei­nen Bru­der lie­be­voll am Arm. »Wir wer­den un­se­re El­tern und Freun­de und auch Vik­tors und Vik­to­ri­as Mut­ter nie ver­ges­sen, nie­mals. Aber …«

Vi­tus hob den Kopf und Estra sah in sei­ne ge­quäl­te See­le. »Aber ich brau­che nun mal einen neu­en sechs­ten Wach­mann«, voll­en­de­te er den Satz.

»Ja, den brauchst du.«

»Lass uns an­sto­ßen, Estra. Lass uns das Glas er­he­ben auf Aeda­ma und Du­rell, die Iren. Und auf Si­stra, den Wach­mann. Auf un­se­re Freun­de. Und auf all un­se­re Lie­ben, die wir ver­lo­ren ha­ben.«

Estra füll­te die Glä­ser auf. »Ja, wir trin­ken auf die Iren, auf Si­stra und auf al­le an­de­ren und auf die Ge­sund­heit. Sláin­te!«

»Ge­nau, auf un­se­re Freun­de und auch auf die Ge­sund­heit!«

In die­sem Mo­ment be­tra­ten Lo­a­na und Isi­nis den Win­ter­gar­ten.

»Halt, war­tet, da sind wir na­tür­lich auch da­bei.« Isi­nis goss Lo­a­na und sich je­weils ein Glas ein, um mit an­zu­sto­ßen. »Auf die Ge­sund­heit!«

»Yec´het mat!« Lo­a­na stieß mit den an­de­ren an, trank den scha­r­fen Schnaps in ei­nem Zug aus und ver­zog so­dann für einen win­zi­gen Au­gen­blick ihr schö­nes Ge­sicht zu ei­ner an­ge­wi­der­ten Gri­mas­se. »Puh! Mat-tre! Ähm, sehr gut.« Wäh­rend sie ihr ho­nig­blon­des Haar schüt­tel­te, leck­te sie sich die Lip­pen und hol­te tief Luft. »Seid ihr euch si­cher, dass die­ses Zeug ge­sund ist?«

Vi­tus lach­te schal­lend. Lo­a­na schaff­te es im­mer wie­der, sei­ne trü­be Stim­mung zu ver­trei­ben. Er stand auf, leg­te einen Fin­ger un­ter ihr Kinn, um es an­zu­he­ben, und mus­ter­te sie.

»Hier in den Ber­gen ge­hört es sich, einen gu­ten Obst­ler zu ge­ni­e­ßen.« Er gab ihr einen sanf­ten Kuss. »Was ist, Ke­ned, hat er dir et­wa nicht ge­mun­det?«

»Hhm? Doch, doch. Mat-tre«, ant­wor­te­te sie. »Das sag­te ich ja be­reits. Aber ein Lam­big oder Ca­l­va­dos schmeckt mir halt doch ein klei­nes biss­chen bes­ser. Noch lie­ber ist mir Cou­chenn oder ein­fa­cher Cid­re.«

»Mat-tre? So­so.« Vi­tus ver­sank in ih­ren edel­stein­grü­nen Au­gen und lä­chel­te amü­siert. »Wenn er dir trotz dei­ner Vor­lie­be für Ap­fel- und Ho­nig­wein sehr gut schmeckt, dann könn­ten wir uns ja noch ein Gläs­chen da­von ge­neh­mi­gen. Was meinst du, mei­ne Schö­ne?«

Lo­a­na trat et­was von ihm zu­rück, reck­te aber forsch das Kinn. Zu­nächst den Kopf in den Nacken ge­legt, um ihn ih­rer ge­rin­gen Grö­ße we­gen bes­ser an­se­hen zu kön­nen, neig­te sie den Kopf nun zur Sei­te und stemm­te die Hän­de in die Hüf­ten. Wie sie so vor ihm stand, muss­te Vi­tus schmun­zeln, gab je­doch nicht preis, was er dach­te: Die­ser An­blick raub­te ihm je­des Mal aufs Neue die Sin­ne. Ge­nau­so fes­selnd hat­te sie an dem Abend aus­ge­se­hen, als sie ihm zum ers­ten Mal im Emp­fangs­saal sei­nes Schlos­ses ent­ge­gen­ge­tre­ten war. Mit die­sem ova­len Ge­sicht, den eben­mä­ßi­gen, lieb­li­chen Zü­gen, der leicht ge­bräun­ten Haut, der klei­nen Na­se und dem vol­len sinn­li­chen Mund. Doch was ihm re­gel­mä­ßig den Atem ver­schlug, wa­ren ih­re leicht schräg ste­hen­den, blit­zend grü­nen Au­gen un­ter sanft ge­schwun­ge­nen Brau­en.

»Ja­wohl«, ent­geg­ne­te sie mit fes­ter Stim­me. »Wie sagt man doch so schön?: Ein Bein steht nicht gern al­lein.«

Isi­nis run­zel­te zu­nächst die Stirn und glucks­te dann be­lus­tigt, ver­kniff sich aber of­fen­bar ein rich­ti­ges La­chen. »Ja, so ist es, Lo­a­na. Auf ei­nem Bein kann man nicht ste­hen.« Sie goss al­le Glä­ser wie­der voll. »Yec´het mat!«

Es wur­den mehr als zwei Bei­ne. Die Fla­sche mit dem Obst­ler war fast bis zum letz­ten Trop­fen ge­leert. So blieb es nicht aus, dass die Frau­en ir­gend­wann bei ih­ren Män­nern auf dem Schoß sa­ßen und la­chend de­ren Ge­schich­ten aus ih­rer wil­den Ju­gend­zeit lausch­ten.

Wäh­rend­des­sen spiel­te Lo­a­na ver­son­nen mit dem gol­de­nen Amu­lett, das Vi­tus stets an ei­ner schma­len Ket­te um den Hals trug. Es war mit fei­nen Or­na­men­ten ver­ziert, der Schrift der Vor­vä­ter. Seit Vi­tus mit knapp neun­zehn Jah­ren, nach der Er­mor­dung sei­ner El­tern, als der äl­te­re der bei­den Brü­der den el­fi­schen Thron hat­te über­neh­men müs­sen, wies ihn die­ses Amu­lett als den Kö­nig des west­li­chen El­fen­rei­ches aus.

Dann ließ sie die Ket­te wie­der los und über­rasch­te mit ei­nem Lied. Lo­a­na be­gann so un­ver­mit­telt zu sin­gen, dass die an­de­ren wie ge­bannt in­ne­hiel­ten. Mit kla­rer, wun­der­schö­ner Stim­me sang sie auf Bre­to­nisch ei­ne Bal­la­de aus ih­rer Hei­mat. Über Lie­be und Trau­er.

Vi­tus konn­te dem Text nicht rich­tig fol­gen, so fas­zi­nier­te ihn Lo­a­nas Ge­sang.

Um­so mehr ver­blüff­te es ihn, als sie eben­so ab­rupt zu sin­gen auf­hör­te, wie sie be­gon­nen hat­te, und un­deut­lich mur­mel­te: »Das hab ich lan­ge nicht mehr …«

Sie schmieg­te sich eng an Vi­tus’ Brust und schwieg.

»Lo­a­na?« Er stups­te sanft ih­re Schul­ter, doch sie re­a­gier­te nicht. »Ich glau­be, wir ha­ben sie be­trun­ken ge­macht«, mein­te er und lä­chel­te. »Die Ärms­te. Das ist das ers­te Mal, dass ich sie über­haupt ha­be star­ken Al­ko­hol trin­ken se­hen. Und ge­gen ein Gläs­chen Cid­re oder Cou­chenn hier und da sind vier bis fünf Obst­ler am frü­hen Nach­mit­tag wohl ein­deu­tig zu viel für mei­ne Ke­ned ge­we­sen.«

Vi­tus er­hob sich mit ihr in den Ar­men. »Tja, es tut mir leid, mei­ne Lie­ben. Es ist be­stimmt bes­ser, wenn ich sie ins Bett brin­ge und bei ihr blei­be, falls ihr schlecht wird.«

Er woll­te ge­ra­de ge­hen, als er kurz in­ne­hielt. »Ach, Estra, mor­gen früh wür­de ich ger­ne mit die­sem Sen­tran spre­chen. Du hast recht. Er könn­te der Rich­ti­ge sein.«

Mit der schla­fen­den Lo­a­na im Arm ver­ließ er den Win­ter­gar­ten.

***

Estra hielt Isi­nis wei­ter­hin auf sei­nem Schoß und gab ihr einen lei­den­schaft­li­chen Kuss.

»Da sind wir al­so un­ver­hofft al­lein, mei­ne Liebs­te. Die Kin­der sind bei ih­ren Freun­den.«

Er be­sah sei­ne schö­ne Frau mit ei­nem un­ver­hoh­len hung­ri­gen Blick, strich mit den Hän­den über ihr lan­ges hell­blon­des Haar. In all den Jah­ren ih­rer Ehe hat­te sein Be­geh­ren nichts an Stär­ke ein­ge­büßt.

»Was denkst du, Isi­nis, sol­len wir viel­leicht auch ein we­nig un­se­ren Rausch aus­schla­fen?«

»Ein biss­chen Ru­he könn­te nicht scha­den«, er­wi­der­te Isi­nis und be­ant­wor­te­te da­bei aus gro­ßen hell­grü­nen Au­gen in glei­cher Wei­se sei­nen Blick. »Ich möch­te aber auch ge­tra­gen wer­den, so wie Lo­a­na.«

Er­freut hob Estra die Brau­en. Mit den Wor­ten »Dein Wunsch sei mir Be­fehl« trug er sie lä­chelnd da­von.

***

»Chaous, Chaous, Chaous!«, wim­mer­te Lo­a­na in bre­to­ni­scher Spra­che.

Vi­tus hielt ihr das Haar aus dem Ge­sicht, als sie den Kopf aus dem Bett über einen Ei­mer reck­te und sich zum wie­der­hol­ten Ma­le er­brach. Mit ei­nem feuch­ten Tuch be­tupf­te er ihr Stirn und Mund.

»Mist, Mist, Mist!«, rief sie er­neut aus, weil sie wie­der wür­gen und spu­cken muss­te. Dann schnauf­te sie kräf­tig durch, nahm Vi­tus das Tuch ab, um sich noch ein­mal gründ­lich das Ge­sicht ab­zu­wi­schen und die Na­se zu put­zen.

»Du soll­test mich nicht so se­hen, Vi­tus«, stöhn­te sie. »Das ist ja grau­en­voll.«

»Ja, da stim­me ich dir voll­kom­men zu, Ke­ned«, gab Vi­tus tro­cken zu­rück. »Du hät­test mit so et­was we­nigs­tens war­ten kön­nen, bis wir ver­hei­ra­tet sind.«

Ihr be­stürz­ter Ge­sichts­aus­druck ver­lei­te­te Vi­tus da­zu, noch einen drauf­zu­set­zen: »Na ja, Lo­a­na, jetzt muss ich mir über­le­gen, ob ich ei­ne Frau ehe­li­chen will, die zu viel trinkt und das nicht ein­mal ver­trägt, son­dern sich nach ge­ra­de mal ein paar Gläs­chen be­reits die See­le aus dem Leib kotzt.« Er neig­te den Kopf. »Es ist wirk­lich frag­lich, ob du die rich­ti­ge Frau für mich bist.«

Lo­a­na stieß ihm un­sanft in die Rip­pen. »Mach dich bloß nicht lus­tig über mich, du Schuft.«

Nein, er woll­te sich kei­nes­wegs über sie lus­tig ma­chen, da­zu war er viel zu be­sorgt. Doch sei­ne Sor­ge wür­de ihr auch nicht hel­fen. Da war es ihm schon lie­ber, sie und viel­leicht auch sich selbst mit sei­nen Sprü­chen ein we­nig ab­zu­len­ken. Vi­tus zog die Brau­en zu­sam­men, als er be­merk­te, wie sie schon wie­der tief durch­at­men muss­te, weil sie ei­ne neue Wel­le der Übel­keit über­kam. Doch konn­te sie die­ser an­schei­nend stand­hal­ten.

»So schlecht ist es mir noch nie er­gan­gen. Das ken­ne ich gar nicht. So einen Obst­ler rüh­re ich un­ter kei­nen Um­stän­den mehr an, nie­mals.«

»Wie du meinst.« Er sah sie reu­mü­tig an. »Es tut mir üb­ri­gens leid, dass wir dich mit dem Schnaps ab­ge­füllt ha­ben.«

»Na, das Zeug habt ihr mir ja nicht ge­ra­de ein­trich­tern müs­sen. Das war ich schon selbst, die die­sen, bäh, Obst­ler ge­schluckt hat. Ooh, Chaous! – Mist! Nicht schon wie­der.«

Ge­dul­dig und ge­ra­de­zu zärt­lich ha­lf Vi­tus ihr, auch noch den letz­ten Rest los­zu­wer­den. Den­noch at­me­te er er­leich­tert auf, weil sie ihm mit­teil­te, dass es end­lich vor­bei wä­re.

Als er dann be­gann, ihr die Klei­der aus­zu­zie­hen, schreck­te Lo­a­na zu­sam­men. »Was tust du denn da? Du willst doch nicht et­wa jetzt? Ich mei­ne, ich bin ganz …«

»Mei­ne schö­ne Lo­a­na«, ent­geg­ne­te ihr Vi­tus, »ich bin dein Ver­lob­ter, kein Mons­ter. Ich will dich nur ins Bad brin­gen, da­mit du du­schen oder ba­den kannst, ganz wie du möch­test. Ich dach­te, das wür­de dir gut­tun. Wenn du nicht willst …«

»Tut mir leid, Vi­tus«, kam es ver­le­gen zu­rück. »Ich kom­me mir furcht­bar, ähm, schmut­zig vor und ich rie­che be­stimmt nicht gut. Es ist mir halt pein­lich, wenn du mir jetzt so na­he­kommst.«

Vi­tus aber hat­te Lo­a­na im Nu ent­klei­det und brach­te sie ins Bad. »Drum ma­chen wir dich jetzt ein biss­chen sau­ber.«

Er sah ih­ren ent­setz­ten Blick. »Lo­a­na, nun komm schon, das ist doch nichts Schlim­mes. Du hast den star­ken Al­ko­hol nicht ver­tra­gen. Nun ist er raus. Kein Grund, sich zu schä­men. Haupt­sa­che, es geht dir bes­ser.«

Mit die­sen Wor­ten stell­te er sie frech grin­send un­ter die Du­sche und – dreh­te das kal­te Was­ser an.

»Aaah, Vi­tus!« Ei­ne reich­hal­ti­ge Aus­wahl bre­to­ni­scher Flü­che ver­ließ ih­ren Mund und Geist, wäh­rend sie ihn am Kra­gen sei­nes Hem­des zu fas­sen be­kam und mit sich un­ter den eis­kal­ten Was­ser­strahl zog. Da­bei spür­te er ih­re Ge­dan­ken:

Sie muss­te sich ent­schei­den, was sie nun zu­erst tun soll­te, das Was­ser warm stel­len oder ihm die Klei­der vom Lei­be rei­ßen. Sie be­fand, dass sie bei­des auf ein­mal schaf­fen könn­te.

***

»Geht es dir gut, Lo­a­na?«, er­kun­dig­te sich Isi­nis am Früh­stücks­tisch. »Du wirkst ein biss­chen blass um die Na­se.«

»Es ging mir schon mal deut­lich bes­ser«, stöhn­te die. »Ich ha­be schreck­li­che Kopf­schmer­zen und mein Ma­gen fühlt sich im­mer noch flau an. Na ja, ich bin ja selbst schuld. Aber es geht mir schon viel bes­ser als ges­tern. Dan­ke.«

»Trink das, Ke­ned.« Vi­tus hielt ihr ein klei­nes Glas mit ei­ner merk­wür­dig aus­se­hen­den Flüs­sig­keit hin.

»Nann! Nein! Was ist denn das schon wie­der für ein Teu­fels­zeug? Das rüh­re ich auf kei­nen Fall an!«

Als Lo­a­na auf­sprang, um wie­sel­flink an Vi­tus vor­bei­zu­hu­schen, fing er sie blitz­schnell mit dem Arm um ih­re Tail­le ein und hielt sie er­bar­mungs­los fest.

»Trink das, du bre­to­ni­scher Stur­schä­del«, flüs­ter­te er ihr ins Ohr. »Das ist ein al­tes Haus­re­zept. Es wird dei­nen Ka­ter ver­trei­ben.« Er rück­te noch nä­her an Lo­a­nas Ohr, weil sie ih­re Lip­pen fest zu­sam­men­press­te. »Es wird dir gut­tun. Nun mach schon, oder muss ich es dir et­wa ein­flö­ßen?«

Lo­a­nas Au­gen ver­eng­ten sich ge­fähr­lich. »Du wagst es nicht, Vi­tus. Da …«

Au­gen­blick­lich er­griff er die sich ihm bie­ten­de Ge­le­gen­heit: Er kipp­te das Ge­bräu kur­zer­hand in ih­ren ge­öff­ne­ten Mund und hielt ihn so­lan­ge zu, bis sie schluck­te.

»So ist es brav«, mein­te er zu­frie­den, ließ sie los und setz­te sich.

Er hat­te Lo­a­na kei­ne Zeit ge­las­sen, um zu re­a­gie­ren. Nun, da sie den Trank un­frei­wil­lig hin­un­ter­ge­würgt hat­te, schüt­tel­te sie sich hef­tig.

»Brrrr!«, stieß sie an­ge­wi­dert aus. »Ich wuss­te es, das Zeug ist noch schlim­mer als Obst­ler. Da­für wirst du bei­ßen, Vi­tus, ganz be­stimmt.«

Vi­tus zog Lo­a­na un­be­ein­druckt auf den Stuhl ne­ben sich. »Ich bei­ße dich ab und an zu ger­ne, Ke­ned. Doch ich schät­ze mal, du woll­test mich ei­gent­lich bü­ßen las­sen.« Sei­ne Mund­win­kel zuck­ten.

Lo­a­na kau­te auf der Un­ter­lip­pe, um ein an­fäng­li­ches Lä­cheln zu un­ter­drü­cken, doch es war zu spät. Sie steck­te ihn und die an­de­ren mit ih­rem La­chen an.

»Un­ser Haus­mit­tel scheint be­reits zu wir­ken, Lo­a­na«, mein­te Estra, im­mer noch mit Lachträ­nen in den Au­gen. »Du hast wie­der Fa­r­be. Of­fen­bar sind auch dei­ne Kopf­schmer­zen weg.«

»Ja­ja, schon gut«, ent­geg­ne­te sie. »Mir geht es bes­ser und ihr hat­tet recht. Aber des­we­gen braucht Vi­tus ja nicht gleich das Ham­mer­holz zu schwin­gen.«

Vi­tus ver­such­te, ein wei­te­res La­chen zu un­ter­drü­cken, was ihm kläg­lich miss­lang. »Du mein­test si­cher­lich Holz­ham­mer.« Schnell wur­de er wie­der ernst, als ihm die grü­nen Blit­ze aus ih­ren Au­gen ent­ge­gen­zuck­ten. »Nein, kei­ne Sor­ge, jetzt ist Schluss da­mit. Kei­ne kal­ten Du­schen und Ham­mer­höl­zer mehr, ver­spro­chen.«

Isi­nis wirk­te ver­wun­dert. »Kal­te Du­schen?«

»Tja, ihr könnt euch gar nicht vor­stel­len, was für ein Scheu­sal Vi­tus sein kann, wenn ich mit ihm al­lei­ne bin«, be­klag­te sich Lo­a­na mit be­tont erns­ter Mie­ne. Doch Vi­tus ent­ging das be­lus­tig­te Zu­cken in ih­rem Mund­win­kel nicht. »In eu­rer Ge­gen­wart, ja, da trägt er mich auf Hän­den. Aber we­he, wenn wir al­lei­ne sind!«

»Ich bin und blei­be ein Ty­rann.« Vi­tus biss ge­ra­de genüss­lich in sei­ne Wurst­sem­mel, als Tim­mun und Es­sem mit ei­nem Frem­den das Zim­mer be­tra­ten.

Zu­nächst be­grüß­ten die zwei Wach­män­ner Vi­tus mit dem üb­li­chen Kopf­ni­cken und »Mein Kö­nig!«. Da­nach wand­ten sie sich den an­de­ren zum Gruß zu.

»Ah, da seid ihr ja.« Estra war auf­ge­stan­den, um den Män­nern einen Sitz­platz an­zu­bie­ten. »Ich möch­te, dass ihr mit uns ge­mein­sam früh­stückt, wenn’s recht ist.«

Tim­mun und Es­sem blick­ten fins­ter drein. Vi­tus wuss­te, dass sei­ne Wach­leu­te stets Pro­ble­me da­mit hat­ten, am sel­ben Tisch wie ihr Kö­nig, sei­ne Fa­mi­lie oder Freun­de zu sit­zen und zu es­sen. Sie tru­gen zwar fast das glei­che gol­de­ne Amu­lett um den Hals wie er, in ei­ner et­was klei­ne­ren Aus­ga­be, doch das be­deu­te­te in ih­ren Au­gen nur, dass sie dem Kö­nig zu Diens­ten wa­ren, nicht aber, dass sie mit ihm in ver­trau­ter Run­de ge­mein­sam spei­sen soll­ten.

Wie üb­lich küm­mer­te das Vi­tus über­haupt nicht, eben­so wie sei­nen Bru­der. Und weil die Wa­chen das wie­der­um wuss­ten, setz­ten sich die Män­ner ge­zwun­ge­ner­ma­ßen da­zu und nah­men schwei­gend ei­ne Tas­se Kaf­fee an.

Estra rich­te­te sich an Vi­tus. »Darf ich dir Sen­tran vor­stel­len?«

Der leg­te sein Bröt­chen bei­sei­te, schau­te dem Frem­den in des­sen reich­lich mür­ri­sches Ge­sicht und stell­te da­bei er­freut fest, dass der Mann sehr gut in der La­ge war, Ge­dan­ken und Geist sorg­fäl­tig ein­zu­schlie­ßen.

Da­her mus­ter­te er zu­nächst ein­mal nur das äu­ße­re Er­schei­nungs­bild: Leicht ge­well­tes, schul­ter­lan­ges blon­des Haar. Wach­sa­me sil­ber­graue Au­gen. Ein brei­ter, erns­ter Mund. Ho­he Wan­gen­kno­chen. Ei­ne et­was krum­me Na­se und ein aus­ge­präg­tes har­tes Kinn. Ins­ge­samt hat­te die­ser Sen­tran ein aus­druck­star­kes, mar­kan­tes Ge­sicht, be­fand Vi­tus. Da ihm al­ler­dings das miss­mu­ti­ge Mie­nen­spiel des Man­nes nicht ge­fiel, be­schloss er, ihn mit ba­na­len Fra­gen ein we­nig aus der Re­ser­ve zu lo­cken. »Darf ich wis­sen, wie alt und wie groß du bist?«

Sen­trans Ge­sichts­aus­druck blieb mür­risch. »Du weißt, dass ich sie­ben­und­zwan­zig bin und ge­nau zwei Me­ter mes­se, mein Kö­nig«, ant­wor­te­te er mit dunk­ler Stim­me und leicht spöt­ti­schem Un­ter­ton.

»Ja, da hast du na­tür­lich recht. Dem­nach kann ich da­von aus­ge­hen, dass du dich in sämt­li­chen Kamp­fes­küns­ten, aber auch Kun­du­um, men­ta­len Ge­schi­cken, Di­plo­ma­tie und au­ßer­dem im All­tags­le­ben der Men­schen bes­tens aus­kennst?«

»Ja.«

Vi­tus ver­zog kei­ne Mie­ne ob Sen­trans knap­per Ant­wort, die ei­ne Men­ge Ver­är­ge­rung aus­drück­te.

»Hm, ich ge­he al­so wei­ter da­von aus, dass du In­ter­es­se an der Auf­ga­be als mein sechs­ter Eli­te­wach­mann hast, sonst wärst du wohl kaum hier. Al­ler­dings ver­ste­he ich dei­ne mi­se­ra­ble Stim­mung nicht, Sen­tran. Ich se­he dei­nen Blick, hö­re dei­ne Stim­me und spü­re dei­nen ver­schlos­se­nen Geist. Al­les ver­rät mir, dass du äu­ßerst schlecht ge­launt bist. Al­so, wür­dest du mir bit­te ver­ra­ten, was dich so mie­se­pet­rig er­schei­nen lässt?«

»Das ist ei­ne per­sön­li­che An­ge­le­gen­heit, mein Kö­nig. Dar­über möch­te ich nicht spre­chen – mit Ver­laub.«

Er­staunt zog Vi­tus ei­ne Braue hoch. Der Mann hat­te Mumm, war noch da­zu äu­ßerst ei­gen­sin­nig, dach­te er und wun­der­te sich, wie sehr ihm das ge­fiel.

Un­ter­des­sen hat­te Lo­a­na ei­ne auf­ge­schnit­te­ne Sem­mel mit But­ter und Ho­nig be­stri­chen und reich­te sie dem Mann, der zu­erst sie und dar­auf­hin die Sem­mel ver­blüfft an­sah. »Iss das, Sen­tran. Sü­ßes hilft bei Lie­bes­kum­mer. Das ist bei al­len gleich, ob bei Män­nern oder Frau­en.« Lo­a­na er­griff sei­ne freie Hand. »Die Lie­be ist oft merk­wür­dig und schwer zu fin­den. Aber auch du wirst ei­nes Ta­ges der rich­ti­gen Frau be­geg­nen.«

Fas­zi­niert be­ob­ach­te­te Vi­tus, wie Sen­tran ihr vor­sich­tig die Hand ent­zie­hen woll­te, Lo­a­na sie je­doch wei­ter­hin fest­hielt und ihm da­bei in die Au­gen schau­te. Auf Sen­trans Wan­gen er­schien ei­ne leich­te Rö­te. Ver­le­gen senk­te er die Li­der.

»Dan­ke«, ent­geg­ne­te er knapp, aber freund­lich und lös­te sich nun doch aus ih­rem Griff.

Vi­tus hat­te das Gan­ze mit gro­ßem In­ter­es­se ver­folgt. Ihm war klar, dass der Mann Lo­a­nas hei­len­de Wär­me wahr­ge­nom­men hat­te. Ei­ne Wär­me, die je­man­dem Kno­ten in der Brust lo­ckern konn­te, von de­nen er bis da­to gar nicht wuss­te, dass sie exis­tier­ten. Er kann­te Lo­a­nas un­glaub­li­che Kräf­te. Trotz­dem war er ein­mal mehr er­staunt über das Aus­maß ih­res em­pa­thi­schen und hei­len­den Kön­nens.

»Tja, das er­klärt so man­ches«, kom­men­tier­te er tro­cken. »Wir soll­ten nun ein­fach un­ser Früh­stück fort­s­et­zen und uns ein we­nig un­ter­hal­ten. Da­bei kannst du mir auch ger­ne dei­ne Vor­stel­lun­gen zum künf­ti­gen Auf­ga­ben­be­reich un­ter­brei­ten, Sen­tran.« Er lä­chel­te mil­de. »Ich neh­me an, du hast dich be­reits bei Es­sem und Tim­mun ein we­nig über mich er­kun­digt.«

***

Ei­ne gan­ze Wei­le spä­ter sa­ßen Estra und Vi­tus wie­der ein­mal im Win­ter­gar­ten. Lo­a­na hat­te sich hin­ge­legt. Ihr war doch im­mer noch et­was übel. Isi­nis wer­kel­te zu­sam­men mit dem Per­so­nal in der Kü­che und hat­te die Män­ner raus­ge­wor­fen. Al­so gönn­ten sie sich ei­ne Zi­gar­re. Da­zu tran­ken sie star­ken sü­ßen Tee.

»Es freut mich, dass du ihn mit­neh­men willst. Er wird dich nicht ent­täu­schen.«

»Wir wer­den se­hen. Ich neh­me ihn erst mal sorg­fäl­tig un­ter die Lu­pe. Sen­trans Starr­sinn könn­te Schwie­rig­kei­ten ma­chen«, mein­te Vi­tus.

»Ach, hör doch auf. Ich hab ge­nau ge­merkt, dass du ihn magst.« Estra lä­chel­te. »Ich wuss­te, dass du ihn mö­gen wür­dest. Ja, ich wuss­te es.« Sei­ne Au­gen blitz­ten fröh­lich auf.

»Ja­ja, du wuss­test es. Nun ist es aber mal gut mit der Selbst­lob­hu­de­lei.« Vi­tus lä­chel­te zu­rück. »Du hat­test üb­ri­gens ver­ges­sen zu er­wäh­nen, dass er per­sön­li­che Pro­ble­me hat. Und be­strei­te bit­te nicht, dass dir das be­kannt war.«

»Gut, gut, Schluss mit dem Selbst­lob. Und ja, ich wuss­te es. Aber ich woll­te se­hen, wie gut er sich vor dei­nen Sin­nes­an­grif­fen ver­schlie­ßen kann. Ich muss sa­gen, er ist so­gar noch bes­ser, als ich dach­te.«

Estra zog kräf­tig an sei­ner Zi­gar­re und stieß ei­ne di­cke Rauch­wol­ke aus, be­vor er wei­ter­sprach: »Sen­trans lang­jäh­ri­ge Ver­lob­te hat am Tag der Hoch­zeit kal­te Fü­ße be­kom­men und ihn ver­las­sen. Das ist ge­ra­de erst ein paar Wo­chen her. Er­staun­lich, dass Lo­a­na es so­fort er­kannt hat.« Den letz­ten Satz schien Estra mehr zu sich selbst ge­spro­chen zu ha­ben.

Dann at­me­te er ein­mal kurz durch und lenk­te das Ge­spräch auf ein an­de­res The­ma: »Die Zwil­lin­ge ha­ben in ei­ner Wo­che Ge­burts­tag. Was wirst du ih­nen schen­ken?«

Vi­tus blies Rauch­krin­gel in die Luft und dach­te nach.

»Es soll­te et­was Be­son­de­res sein«, er­wi­der­te er be­trof­fen. »Letz­tes Jahr sind sie voll­jäh­rig ge­wor­den und ich war nicht da. Ich ha­be ih­nen nicht ein­mal gra­tu­liert, Estra.«

»Hör auf, dir Vor­wür­fe zu ma­chen. Du hast die bei­den nach dem Tod ih­rer Mut­ter mehr als acht­zehn Jah­re lang Tag und Nacht vor ei­ner ge­mei­nen, rach­süch­ti­gen Frau be­schützt.«

Estra lehn­te sich zu Vi­tus hin­über und blick­te ihn durch­drin­gend an. »Vik­tor und Vik­to­ria sind bei Isi­nis und mir glü­ck­lich auf­ge­wach­sen, Vi­tus. Wir lie­ben die bei­den wie un­se­re ei­ge­nen Kin­der. Es hat ih­nen nie an et­was ge­fehlt. Das weißt du doch hof­fent­lich?«

Vi­tus nick­te. »Na­tür­lich weiß ich das. Und ich wer­de mein gan­zes Le­ben da­für in eu­rer Schuld ste­hen.«

Er mach­te ei­ne ab­weh­ren­de Ges­te, als Estra pro­tes­tie­ren woll­te, und seufz­te. »Ich dach­te da­mals, ich wür­de das Rich­tig tun. Ich dach­te, die Kin­der zu schüt­zen und nie­man­dem von der Ge­fahr durch Ka­na zu er­zäh­len, sei die ein­zig mög­li­che Lö­sung. Jetzt bin ich mir nicht mehr si­cher, ob es gut war. Ich weiß es ein­fach nicht, Estra. Ich ha­be sie so lan­ge al­lein­ge­las­sen.«

»Was ge­sche­hen ist, ist ge­sche­hen. Wie du schon sag­test: Wir wis­sen nicht, ob es un­be­dingt das Rich­ti­ge war. Aber letzt­lich hast du uns um Hil­fe ge­be­ten und wir ha­ben uns ge­mein­sam ge­gen Ka­na samt ih­rem Zau­ber­freund Kaoul ge­wehrt. Das wis­sen wir. Au­ßer­dem sind die bei­den tot. Sie kön­nen die Zwil­lin­ge und auch dich nie mehr be­dro­hen. Das ist, so den­ke ich, das Wich­tigs­te.«

»Das mag wohl sein. Doch nun ha­ben Vik­tor und Vik­to­ria mich ge­ra­de erst für sich und da tritt auf ein­mal Lo­a­na auf den Plan. Es wun­dert mich, wie rück­halt­los die Kin­der sie in ihr Herz ge­schlos­sen ha­ben.«

Estra schüt­tel­te un­gläu­big den Kopf. »Ich bit­te dich, wer könn­te das nicht? Lo­a­na ist wirk­lich ei­ne be­mer­kens­wer­te Frau und das nicht nur, weil sie ne­ben ih­ren hei­len­den auch enor­me em­pa­thi­sche Kräf­te be­sitzt und da­mit ein­fach un­glaub­lich gut zu dir passt.«

Er beug­te sich zu Vi­tus hin­über. »Es hat­te zwar einen schreck­li­chen Grund, wes­halb ihr zwei euch vor ein paar Mo­na­ten ken­nen­ge­lernt habt, aber ich bin sehr froh dar­über, dass du nach Vik­tors und Vik­to­ri­as Mut­ter end­lich wie­der je­man­den ge­fun­den hast. Dei­ne Kin­der den­ken haar­ge­nau das­sel­be.«

… Vi­tus schwieg. Die Er­in­ne­rung dar­an, wie Lo­a­na aus rei­ner Ver­zweif­lung und mut­ter­see­le­n­al­lein zu Fuß aus der Bre­ta­gne in sein Schloss ge­kom­men war und dort so­lan­ge aus­ge­harrt hat­te, bis sie mit ih­rem Kö­nig spre­chen durf­te, um Hil­fe zu er­bit­ten, war ihm nur all­zu ge­gen­wär­tig.

Lo­a­nas Mann war vor meh­re­ren Jah­ren einen mys­te­ri­ösen Tod ge­stor­ben. Seit­dem wur­de sie von ei­nem ih­rer zwei Schwä­ger so­wie ih­rer Schwie­ger­mut­ter und de­ren Bru­der sys­te­ma­tisch al­ler Be­sitz­tü­mer und ih­res Lan­des be­raubt und da­nach fort­ge­jagt. Der Mör­der ih­res Man­nes und sei­ne Kum­pa­ne wa­ren nun zwar nicht mehr am Le­ben, doch Lo­a­na zu hel­fen, hat­te da­für auch Si­stra, Aeda­ma und Du­rell das Le­ben ge­kos­tet. Lo­a­nas Wi­der­sa­cher hat­ten al­le drei fei­ge nie­der­ge­sto­chen. …

Er at­me­te ein­mal kräf­tig durch, um die Dä­mo­nen der Ver­gan­gen­heit zu ver­trei­ben. Dann leg­te er die Zi­gar­re in den Aschen­be­cher und sah sei­nen Bru­der an.

»Stimmt, man muss Lo­a­na ein­fach mö­gen. Und sie hat mei­nem Le­ben ei­ne deut­li­che Wen­de ge­ge­ben.« Er lä­chel­te. »Ich glau­be, mir ist ge­ra­de ein­ge­fal­len, was ich den Kin­dern schen­ken könn­te, hör zu …«

Bon­bon­ro­sa

An­na saß zu Hau­se an ih­rem Schreib­tisch. Zu­frie­den leg­te sie ihr Heft bei­sei­te. Die Haus­auf­ga­ben wa­ren er­le­digt, die auf­ge­ge­be­nen Text­pas­sa­gen ge­le­sen.

Den­noch blieb sie noch ei­ne Wei­le auf dem wei­ßen neu­en Schreib­tisch­stuhl sit­zen. Tief in Ge­dan­ken ver­sun­ken schau­te sie aus dem Fens­ter.

End­lich schien ihr Le­ben wie­der ei­ni­ger­ma­ßen sor­gen­frei zu ver­lau­fen. Es war so viel pas­siert, seit Vik­tor sie An­fang der letz­ten Som­mer­fe­ri­en auf ih­rer klei­nen Lich­tung im Wald an­ge­spro­chen und ihr spä­ter ge­stan­den hat­te, dass er ein Hal­bel­fe wä­re.