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Graeme Lawson nimmt uns mit auf eine fesselnde Reise durch die Geschichte der Musik, die tief in die Vergangenheit der Menschheit eintaucht: Er erkundet die magische Welt der Jagdgemeinschaften vor vierzigtausend Jahren, beleuchtet die Bedeutung der antiken Musik für unsere Vorfahren und zieht Vergleiche zu modernen Popfestivals und Streaming-Musik. Auf seinem Weg entdeckt er musikalische Schätze vom alten China bis zu den peruanischen Anden. Lawson präsentiert eine alternative Menschheitsgeschichte, in der Musik eine zentrale Rolle spielt, und füllt die stille Vergangenheit mit neuen Klängen.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
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© Piper Verlag GmbH, München XXXX
Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, München nach einem Entwurf von The Bodley Head
Covermotiv: Flöte, ca. 100 v. Chr., Ägypten, aus dem Griechisch-Römischen Museum, Alexandria (Foto: AKG-images); Trompete, 17. Jahrhundert, Siena, aus dem Palazzo Pubblico, Museo Civico, Siena (Foto: Bridgeman Images); Bogenharfe, ca. 2030-1640 v. Chr., Ägypten, mit freundlicher Genehmigung des Metropolitan Museum of Art, New York.
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Cover & Impressum
Vorbemerkung
Prolog: Gegenwart und erinnerte Vergangenheit
Klangaufzeichnung
Die Macht der Verstärkung
Grüne Musik
Ursprünge und Erfindungen
Funde verstehen
Gräber, Schätze – und Zufall
Teil 1
Die Archäologie der vertrauten Dinge
Vom 19. zum 17. Jahrhundert
1 Musik unterwegs: verlorene Instrumente aus einem Schiffswrack und einer berühmten Belagerung
2 Es ist nicht alles Gold, was glänzt: ein metallenes Horn aus Suffolk
3 Musik im Kleinformat: eine Tonflöte aus Trondheim
4 Verbesserte Natur: Metallglöckchen aus dem Grand Village der Natchez
5 Gedenkstücke für eine verlorene Musik: Harfenstimmwirbel aus Montgomery Castle
Teil 2
Von Schiffen und der See
Das 17. und das 16. Jahrhundert
6 Klänge aus der Tiefe: eine Barockvioline aus dem schwedischen Kriegsschiff Kronan
7 Feindliche Gestade: eine Cister aus der spanischen Armada
8 Was verbirgt sich hinter einem Namen? Eine signierte Trompete aus der Themse
9 »Musik, die Meerjungfrauen lieben«: vier silberne Pfeifen aus dem Wrack der Mary Rose
Teil 3
Überreste mittelalterlicher Leben
Das 15. und das 14. Jahrhundert
10 Handwerk und Verbrechen: eine Instrumenten-Reparaturwerkstatt im Oxford des 15. Jahrhundert
11 Echos aus den Ruinen: eine Drahtspule aus einem schottischen Schloss
12 Die Schrift an der Wand: musikalische Graffiti im Spätmittelalter
13 Fanfaren und Nebelhörner: eine Messingtrompete aus der Themse
14 Feuergruben: mittelalterliche Glockengießerei in Transsylvanien
Teil 4
Geteilte Welt
Vom 14. zum 12. Jahrhundert
15 Die Blumenflöte: Musik und Menschenopfer im Tal von Mexiko
16 Fiedeln und Maultrommeln: ein Fund aus dem mittelalterlichen Trondheim
17 Südlich der Sahara: musikalische Funde in Groß-Simbabwe
18 Im Torf konserviert: eine mittelalterliche Harfe aus einem irischen Moor
19 Die Wände haben Ohren: Resonanzgefäße in der St.-Walburga-Kirche von Meschede
Teil 5
Mittelalterliche Gedankenwelten
Vom 12. zum 8. Jahrhundert
20 Musik und Illusion: verborgene Interpreten in zwei mittelalterlichen Kathedralen
21 Versuch und Irrtum: das Stimmen von Knochenflöten im mittelalterlichen Schleswig
22 Dichtung und Darbietung: Melodien festhalten im Mittelalter
23 Röhrende »Flöten«: zwei Hirschknochen-Doppelpfeifen aus dem frühmittelalterlichen Europa
24 Wassermusik: eine Terrakottaflasche mit trällerndem Vogel aus Südamerika
Teil 6
Licht in finsteren Zeiten
Vom 8. zum 5. Jahrhundert
25 Klang im Bild: Stimmendarstellung in einem frühmittelalterlichen Gemälde
26 Die dunkle Materie der Dichtkunst: der Prinz von Prittlewell
27 Hörner aus dem Märchenland: eine hölzerne Trompete aus dem Flussbett des Erne
28 Verborgene Botschaften: die Leier eines Reisenden aus dem finsteren Mittelalter
29 Die Frau im safrangelben Gewand: das Stimmen der Laute im byzantinischen Osten
Teil 7
Reiche im Osten und im Westen
Vom 5. zum 1. Jahrhundert
30 Versiegelt mit Musik: Panflöten aus den letzten Tagen eines Nazca-Tempels
31 Seidenfäden: eine Leier aus den Steppen Zentralasiens
32 Tastendrücke: eine römische Orgel aus Ungarn
33 Lutatias Tanz: eine antike römische Laute von der Krim
34 Um die Ecke gucken: Türme und Trompeter an den nördlichen Grenzen des Römischen Reichs
Teil 8
Zeitalter des Eisens
Vom 1. Jahrhundert n. Chr. zum 5. Jahrhundert v. Chr.
35 Frau Pursers Pflanzenständer: Eine alte Marmorinschrift wird entziffert
36 Zapfenstreich: ein Hortfund keltischer Trompeten in Zentralfrankreich
37 Musik und Text: die Leidener Leier
38 Heavy Metal: das musikalische Grab des Markgrafen Yi von Zeng in Leigudun
39 Gefroren in der Zeit: Harfenfragmente aus Sibirien
Teil 9
Zeitalter der Bronze
6. bis 14. Jahrhundert v. Chr.
40 Feuer und Flamme: der Leiersteg von Skye
41 Vom Bild zur Ikone: Leiern und Gedenksteine aus dem bronzezeitlichen Spanien
42 Unverhoffte Geschichten: die sechs bronzenen Hörner von Brudevælte Mose
43 Manipulierte Vergangenheit: Das Märchen von Tutanchamuns Trompeten
Teil 10
Die Anfänge der Zivilisation
1400 bis 5000 v. Chr.
44 Die ältesten Songs: Musiknoten aus dem bronzezeitlichen Ugarit
45 Raffinierte Röhren: frühbronzezeitliche Holzpfeifen aus Charlesland
46 Klänge von Silber und Gold: die prächtigen Leiern von Ur
Teil 11
Das Ende der Reise
Vor 7000 bis 38 000 Jahren
47 Der mit dem Kranich tanzt: Vogelknochenflöten aus den steinzeitlichen Gräbern von Jiǎhú
48 Echos der Schöpfung: Eiszeitjäger, Künstler und Musiker
49 Licht in der Finsternis: die ältesten Flöten der Welt
Teil 12
Hinter dem Horizont
Vor 40 000 bis 4 000 000 Jahren
50 Auf der Suche nach verlorener Musik
51 Gehirne, Gene und Synchronisation
Epilog: Die Zukunft der musikalischen Gegenwart
Danksagungen
Abbildungsverzeichnis
Lawson Bildteil
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Ein durchschnittlicher Erwachsener braucht etwa vier Minuten, um einen Text von 1000 Wörtern zu lesen und zu erfassen. Wenn Sie also versuchen, dieses Buch ohne Unterbrechung von Anfang bis Ende durchzulesen, werden Sie damit knapp sieben Stunden beschäftigt sein – fast einen ganzen Arbeitstag. In dieser Zeit werden Sie mehr als drei Millionen Jahre in die Vergangenheit reisen und die bekannte Welt durchstreifen; außerdem werden Sie kurz in die Zukunft blicken und sogar in entlegene Regionen des Weltalls vordringen. Doch wie jeder Reisende weiß, will selbst eine einfache Reise sorgfältig vorbereitet sein, und wenn es nicht nur ein Ausflug werden soll, muss man sich Zeit nehmen, um neue Erfahrungen und Umgebungen in sich aufzunehmen und zu verarbeiten. Wenn wir uns also auf eine Zeitreise zu den Ursprüngen der Musik begeben, freut es Sie vielleicht zu hören, dass die Muße eines der zentralen Prinzipien von Soundtracks ist.
Ein anderes ist die Orientierung. Der Weg, den wir vom 21. Jahrhundert bis zu den Anfängen der Menschheit zurückverfolgen werden, ist in weiten Teilen unbekanntes Terrain. Wie bei jeder Expedition ins Unbekannte brauchen wir deshalb eine Karte und eine Art Reiseroute, die uns dabei helfen, das Terrain zu durchqueren, versteckte Gefahren zu meiden und unsere Aufmerksamkeit auf wichtige Dinge zu lenken, die wir sonst womöglich übersehen würden. Auf unserer Reise übernimmt die Archäologie diese Funktion, indem sie den materiellen Rahmen liefert und uns das Verständnis für die Dinge und Menschen vermittelt, denen wir begegnen werden. Wenn wir uns mit der faszinierenden Vielfalt unseres materiellen musikalischen Erbes befassen, sprechen einzelne Entdeckungen für sich selbst, wie zum Beispiel das eindrucksvolle Glockenspiel aus dem Grab des chinesischen Markgrafen Yi. Trotz der Tatsache, dass es 2500 Jahre alt ist, versetzen uns seine Pracht und sein nahezu perfekter Erhaltungszustand in Staunen. Wir bewundern die technische Raffinesse und die wuchtige Dramatik der Musik, die einst darauf gespielt wurde. Ein verrostetes Stück durchlöcherter Stahl aus dem texanischen Alamo hingegen erscheint uns auf den ersten Blick so klein und unbedeutend, dass wir leicht darauftreten oder es mit einem Fußtritt aus dem Weg räumen könnten. Und doch zeugt es von einem alltäglichen Aspekt des Lebens an der Front: dem Musizieren, mit dem sich erschöpfte Soldaten die freie Zeit vertrieben. Irgendwo zwischen diesen beiden Extremen finden sich die gespenstischen Überreste einer einst wertvollen Leier, die in einem angelsächsischen Königsgrab in Essex gefunden wurden. Ein dunkler Schatten ist nahezu alles, was von dem herrlichen Instrument übrig geblieben ist, das in den letzten 1500 Jahren langsam zu Staub zerfallen ist.
Die Archäologie ist eine seltsame Disziplin – und eine Disziplin für Neugierige. Sie ist wissbegierig, sie ist nie zufrieden, und sie ist chaotisch. Sie forscht im Schlamm, in Gräbern, auf dem Meeresboden und an den Schauplätzen von Naturkatastrophen und menschengemachten Katastrophen. Sie muss sich zwangsläufig mit einer gewissen Zufälligkeit abfinden: Ihre Studienobjekte kommen durch Zufall ans Tageslicht und sind sämtlichen Einflüssen der Zeit ausgesetzt. Die Archäologie untersucht sie mit kühlem und nüchternem Blick, berücksichtigt aber auch ihren Kontext, der bei sorgfältiger Betrachtung ebenso viel über ihren Ursprung und ihre Verwendung verraten kann wie die Gegenstände selbst. Viele der herrlichen musikalischen Fundstücke, die wir in den Museen sehen, sind aus ihrem ursprünglichen Kontext herausgelöst worden. Um ein besseres Bild von den Menschen zu bekommen, die sie liebten und gebrauchten, und um herauszufinden, wie sie gespielt wurden, müssen wir sie wieder in ihr gesellschaftliches Gefüge einordnen.
Mit den Ursprüngen der Musik als Thema und der Archäologie als Orientierungshilfe schlägt dieses Buch eine ungewöhnliche Richtung ein: Wir bewegen uns in der Zeit zurück anstatt vorwärts. Eine herkömmliche Darstellung der Musikgeschichte hätte vielleicht am Anfang begonnen und sich bis zur Gegenwart vorgearbeitet. In der Archäologie ist das jedoch anders: Wenn wir eine vielschichtige Fundstätte ausgraben, beginnen wir natürlich oben, mit der Schicht, die der Oberfläche am nächsten ist; von dort aus arbeiten wir uns nach unten vor, was eine Umkehrung der zeitlichen Reihenfolge bedeutet. Am Anfang zu beginnen, setzt außerdem voraus, dass es einen Anfang gibt, von dem man ausgehen kann, eine schlüssige Richtung und sogar ein Ziel. Man könnte also meinen, dass unsere heutige Welt das Ziel der Reise wäre.
Was jedoch die Entwicklung der Musik – und vielleicht auch unsere eigene – anbelangt, so ist das nicht der Fall: Wir sind einfach da, wo wir jetzt sind. Deshalb habe ich für meine Spurensuche den Weg rückwärts in der Zeit gewählt, indem ich zunächst die heutige Musik und die umfangreichen archäologischen Funde der mittelalterlichen und nachmittelalterlichen Welt erforschte, bevor ich das erworbene Wissen auf die weiter entfernte und in vielerlei Hinsicht weniger gut belegte klassische Archäologie anwandte, die sich mit dem antiken Griechenland, Rom und Ägypten befasst. Erst dann wagte ich mich an die Vorgeschichte heran. Doch bevor wir beginnen, zunächst die helleren und dann die dunkleren Bereiche der musikalischen Traumzeit zu erforschen, müssen wir ein Gefühl dafür bekommen, wie Musik aussieht, wenn sie zu Archäologie geworden ist. Oder anders ausgedrückt: Wenn die Archäologie unsere Linse sein soll, dann müssen wir zuerst ihre Optik verstehen.
Es ist ein schöner, ruhiger Sommerabend während einer Wärmeperiode in der letzten Eiszeit. Jemand sitzt am Eingang einer Kalksteinhöhle in Süddeutschland und spielt kunstvolle Melodien auf einer langen, schlanken Pfeife aus Schwanenknochen. Die durchdringenden Klänge schallen über das Tal und verlieren sich zwischen den Bäumen, dem Gesang der Vögel und dem endlosen Rauschen des Flusses ganz unten. Spulen wir rund 37 000 Jahre vor: In Zentralchina umringt eine festlich gekleidete Menschenmenge ein riesiges offenes Grab und sieht zu, wie der Leichnam ihres toten Markgrafen feierlich in sein Grab gesenkt wird. Wir schreiben das Jahr 433 v. Chr., und zwischen den prächtigen Grabbeigaben sehen wir Trommeln, Saiteninstrumente und Flöten verschiedenster Art; ein gewaltiges Gerüst aus lackiertem Holz trägt ein Bianzhong mit 65 prächtigen, schweren Bronzeglocken. Wir überspringen weitere 2000 Jahre und sehen eine wunderschöne Geige auf den Grund der Ostsee sinken, wo sie sich zu den anderen Wrackteilen einer Schiffsschlacht gesellt, die am späten Morgen des 1. Juni 1676 entbrannte. Und noch heute ruhen in der tiefen, kalten Finsternis unter dem Eis des Weddellmeeres in der Westantarktis die Instrumente und Grammophonplatten, die Sir Ernest Shackletons »Imperial Trans-Antarctic Expedition« zurückließ, als ihr Schiff Endurance an einem Novemberabend des Jahres 1915 vom Packeis zerdrückt wurde und sank.
Shackletons musikalische Memorabilien müssen noch geborgen werden, aber alle anderen Instrumente wurden bereits ausgegraben und bilden Teile eines außergewöhnlichen musikalischen Puzzles, das von Archäologen in aller Welt zusammengesetzt wird.
Archäologische Belege für Musik sind ausschließlich menschlichen Ursprungs. Es stimmt, dass auch Tiere Musik machen oder zumindest Klangmuster erzeugen, die wir als Musik wahrnehmen, und dass ihre Klangerzeugung manchmal physische Spuren hinterlässt. Ein hohler Ast oder ein Telefonmast weist vielleicht Schrammen auf, wo ein Specht getrommelt hat. Der Boden im Regenwald mag kurzzeitig den Auftrittsort oder »Hof« eines Nacktkopf-Paradiesvogels bewahren. Doch die meisten tierischen Lautäußerungen sind vergänglich. Sofern die Gesänge und Töne von Vögeln eine eigene physische Substanz besitzen, findet man diese in ihrer Anatomie: in der Syrinx, dem Stimmkopf in der Luftröhre eines Singvogels, die ihm das Singen ermöglicht, im Zischen der Flügelfedern eines fliegenden Schwans, im Schwirren der Schwanzfedern einer Schnepfe im Sturzflug. Störche klappern mit dem Schnabel. Kraniche tanzen. Anatomische und kognitive Anpassungen haben die kunstvollen Rufe und Gesten von Lemuren, Brüllaffen, Wölfen, Walen, Fröschen und Zikaden ermöglicht. All diese Formen der Kommunikation sind zwar ausgesprochen eindrucksvoll und zeugen in unseren Augen von der Schönheit und Dramatik der Natur, aber sie existieren nur für den Augenblick. Wenn das Lied oder der Tanz vorbei ist, ist es vorbei.
Wir Menschen sind anders. Wir haben Methoden entwickelt, um unseren Stimmen, unseren Worten und unserer Musik eine dauerhafte physische Existenz zu verleihen: durch die raffinierten Systeme, die wir für ihre Aufzeichnung und Wiedergabe ersonnen haben, und durch die ausgeklügelten Geräte, die wir entwickelt haben, um unsere musikalischen Fähigkeiten und Vorlieben auszudrücken. Diese Dinglichkeit hat über die Zeit hinweg eine deutliche archäologische Spur hinterlassen. Um diese deuten zu können, sollten wir am besten mit einigen lehrreichen Beispielen aus unserer jüngsten Vergangenheit beginnen.
An erster Stelle steht die bescheidene Notenrolle. Es war kein Zufall, dass unsere Vorfahren Methoden entwickelten, um Klänge zu erfassen und zu speichern: Sie taten dies ganz bewusst. Vor vielen Jahrhunderten begannen sie, Musik in Worte zu fassen, indem sie den Längen und Höhen von Tönen Namen gaben und diese als Symbole auf Pergament, Papyrus und Bambus niederschrieben oder in Stein gravierten. Manchmal wurden Punkte und wellenförmige Linien eingezeichnet, um das Ansteigen und Abfallen von Melodien darzustellen. Erst in jüngerer Zeit wurden mechanische Verfahren entwickelt, um den physischen Klang direkt auf Wachszylindern festzuhalten oder Tastenanschläge mittels Lochkarten aufzuzeichnen und verfügbar zu machen. Wenn man diese alten, vorsintflutlich anmutenden Aufnahmen heute auf einem aufziehbaren Phonographen oder einem mechanischen Klavier abspielt, kann man auf besonders magische und intime Weise in die Geschichte hineinhorchen.
Ein Wachszylinder, wie er von Thomas Edison entwickelt und hergestellt wurde, ist ein ausgesprochen haptisches Objekt. Die ursprünglichen Schallwellen, von einem kegelförmigen Mikrofon aufgefangen und gebündelt, wurden direkt auf einen scharfen Stichel übertragen. Dieser ritzte die rotierende Wachsoberfläche und hinterließ eine wellenförmige, analoge Rille, die beim Abspielen den (mehr oder weniger) ursprünglichen Klang wiedergab. Man kann einen solchen Zylinder sogar mit dem Fingernagel abspielen.
Im Gegensatz dazu verwendet der Konkurrent des Phonographen, das Pianola, ein »digitales« System, das Anfang des 18. Jahrhunderts entwickelt wurde, um die industrielle Textilproduktion zu beschleunigen. Wenn die Notenrolle in den Mechanismus eingelegt und in Bewegung gesetzt wird, sorgen die Perforationen im Zusammenspiel mit einem Luftunterdrucksystem dafür, dass einzelne Hämmer die Saiten in der Reihenfolge anschlagen, in der sie auf der Aufzeichnung festgehalten wurden, wobei jeder Ton genau die richtige Zeitspanne lang gehalten wird. Der besondere Reiz dieses Wiedergabesystems liegt nicht nur darin, dass es die ursprüngliche Darbietung reproduziert, sondern auch, dass es dabei einen authentischen Klavierklang erzeugt. Trotz seines komplexen Wiedergabemechanismus ist ein Pianola immer noch ein richtiges Klavier mit Hämmern und Saiten. Die Wiedergabe erfolgt daher ohne Oberflächengeräusche, Rumpeln oder Zischen, wie sie bei Wachszylindern auftreten. Im Großen und Ganzen klingt es genau wie eine Live-Darbietung.
Heute sind die bemerkenswerten technischen Möglichkeiten der Klavierrolle weitgehend in Vergessenheit geraten, doch am 17. September 1988 rückte die Technologie für einen kurzen Zeitraum von nur 35 Minuten noch einmal ins Rampenlicht. An jenem Abend wurde in der »Last Night of the Proms«-Sendung der BBC das Klavierkonzert in a-Moll von Edvard Grieg von dem australischstämmigen Pianisten Percy Grainger zwar »live«, aber ausgesprochen geisterhaft vorgetragen. Zu diesem Zeitpunkt war Grainger bereits 27 Jahre tot, doch seine Fingerbewegungen lebten auf der Notenrolle weiter. Begleitet vom BBC Symphony Orchestra und unter der Leitung von Rex Lawson, einem Kenner der Notenrolle, verblüffte und begeisterte die Aufführung die Konzertbesucher und Zuschauer in aller Welt.
Heutzutage halten wir diese Art von Festkörperspeicher für selbstverständlich, aber vor etwas mehr als einem Jahrhundert muss es geradezu magisch erschienen sein, dass Stimmen und Musik auf diese Weise festgehalten und manipuliert werden konnten. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit konnte man einer musikalischen Darbietung oder einer Rede lauschen, die nicht in der Gegenwart gehalten wurde. Sie konnte Stunden, Wochen, Monate oder sogar Jahre zurückliegen.
In dem Versuch, Musik zu definieren, heißt es oft, dass sie wie die anderen darstellenden Künste im Wesentlichen vergänglich und flüchtig sei. Es ist sicherlich wahr, dass sie für den Gelegenheitshörer vorübergeht und nur eine Erinnerung hinterlässt. Man kann sie nicht im Blick behalten wie ein Gemälde oder eine Skulptur. Doch das bedeutet nicht, dass sie grundsätzlich immer körperlos ist. Wenn der Schneidestichel des Phonographen seine spiralförmige Bahn um die Oberfläche eines frischen Wachszylinders zieht, hinterlässt er eine Tonaufnahme, aber gleichzeitig auch eine physische Spur. Wie die Reifenspuren eines Jeeps, der durch den Wüstensand fährt, oder eines Schneemobils im Winter hat der Klang den unsichtbaren Charakter seines Verlaufs, die Form seiner vergangenen Reise, in die sichtbare Matrix aus Wachs übertragen. Wenn man eine typische Notenrolle abwickelt, erstreckt sich ein ähnlicher Zeitverlauf vor einem. Der erste Satz des Grieg-Konzerts dürfte etwa 30 Meter lang sein. Die rechteckigen Perforationen wandern dabei über die gesamte Breite des abgerollten Papiers wie unzählige kleine Fußabdrücke.
Ein weiteres Beispiel ist unsere Faszination für Lautstärke. Einer der großen technischen Fortschritte unserer Zeit war die Erfindung der Signalverstärkung. Im 20. Jahrhundert ermöglichte die Entwicklung der Glühkathodenröhre und des Halbleitertransistors die Konstruktion elektronischer Verstärker, die uns in die Lage versetzten, die Kraft der Musik zu bündeln und sie in bisher unvorstellbarem Maße zu verstärken. Wenn wir uns auf die Suche nach den Anfängen der Musik begeben, mag es etwas ungewöhnlich erscheinen, dass ein modernes elektronisches Gerät wie der Verstärker einen Hinweis auf den Weg geben könnte, den wir dabei einschlagen sollten. Doch bei genauerer Betrachtung bietet der Verstärker durchaus einen geeigneten Ausgangspunkt. Der Schlüssel liegt nicht so sehr in der zweifellos beeindruckenden Elektronik, die für die Erzeugung hoher Lautstärken erforderlich ist, sondern in den Auswirkungen, die derartige Systeme auf uns haben, und was sie uns über unsere musikalischen Gewohnheiten und Vorlieben verraten.
Insbesondere scheinen sie etwas über unsere Vorliebe für drei starke musikalische Kräfte zu verraten: für starke Resonanzen, für sehr hohe und sehr tiefe Frequenzen und für extreme Lautstärken. Seit jeher übt der Nachhall eine stete Faszination aus, vom sechssekündigen Echo in der Kathedrale Notre-Dame de Paris bis hin zum ausgleichenden Effekt des Tonhaltepedals am Klavier. Die hohen Töne eines Koloratursoprans und das tiefe Grollen eines 20 Meter hohen Orgelregisters erzeugen ihre ganz eigenen Wonneschauer. Und schon 600 v. Chr. ließen donnernde Klänge bronzezeitlicher Trompeten die Wälder und Ebenen Nordeuropas erzittern. Obwohl wir in der Regel annehmen, Lautstärke sei ein modernes musikalisches Phänomen, ist dies eindeutig nicht der Fall. Aber was genau macht ihren Reiz aus?
Manchmal nutzen wir Lautstärke, um unseren Status und unsere Macht zu demonstrieren, sei es als Einzelpersonen oder als Gruppen und Institutionen. Mithilfe immer größerer Lautsprecher verbreiten wir unsere Stimmen und Musik, um uns unserer Umgebung aufzudrängen. Fußballfans skandieren lauthals Parolen, um ihre kollektive Identität zum Ausdruck zu bringen und ihre Gegner einzuschüchtern. Im 16. Jahrhundert machten die spanischen Invasoren auf die Azteken vor allem durch den Lärm ihrer Musketen und Kanonen Eindruck, und auch heute noch werden bei staatlichen Anlässen Kanonen abgefeuert, etwa anlässlich des Platinjubiläums der verstorbenen Königin Elisabeth II. im Jahr 2022. Damals gab es Salutschüsse aus 124 Rohren. Offenbar gehen Lautstärke und Macht häufig Hand in Hand.
Sie kann aber ebenso viel Vergnügen bereiten. Freilich ist es nicht jedermanns Sache, aber für viele Menschen scheint die Freude an lauter Musik, vor allem an Tanzmusik, zumindest teilweise darin zu liegen, dass sie in die Musik eintauchen und sich von der Alltagsnormalität lösen können. Mitunter ist diese Distanzierung ziemlich extrem. Ihre Wirkung lässt sich am besten anhand chirurgischer Experimente im 18. Jahrhundert veranschaulichen, die zeigten, dass es für Patienten bei Zahnextraktionen und anderen schmerzhaften Eingriffen hilfreich sein konnte, wenn Trommeln geschlagen oder Schüsse abgefeuert wurden – sofern die Trommelschläge und Schüsse nahe genug erfolgten, um den Patienten zu erschrecken und abzulenken (und natürlich vorausgesetzt, dass der Chirurg schnell arbeitete).
Am anderen Ende des technischen Spektrums findet sich ein weiteres Kernelement der Musik, und zwar bei einer Gruppe der unscheinbarsten aller heute gebräuchlichen Musikinstrumente. Man bezeichnet sie allgemein als »Baumrindenflöten«. Wenn Sie noch nie eine in einem Musikgeschäft gesehen haben, gibt es dafür einen sehr guten Grund. Es liegt an der Biologie: Sie können nur zu einem bestimmten Zeitpunkt im Frühjahr hergestellt werden, wenn mit dem wärmeren Wetter der Saft in den Laubbäumen zu steigen beginnt. Während der kalten Monate bleibt die Rinde der neuen Zweige des vergangenen Jahres fest mit dem Holzkern verbunden, aber bei bestimmten Arten löst sie sich im Frühjahr und lässt sich für kurze Zeit als dünner, lederartiger Schlauch in einem Stück abstreifen. Mit einem kleinen Schallloch an einem Ende und einem kurzen, aus dem Kernholz herausgeschnittenen Mundstück erzeugt man einen der süßesten und zauberhaftesten Instrumentenklänge, die Sie je gehört haben.
Leider dauert es meist nur ein paar Tage oder gar Stunden, bis eine Rindenflöte austrocknet, schrumpft und Risse bekommt. Aber in dieser kurzen Zeit offenbart sie eine der fundamentalsten und universellsten Eigenschaften der Musik, die in der einfachen und sparsamen Form des Instruments verkörpert ist. Es gibt keine Grifflöcher, um die Stimmung zu verändern. Stattdessen ermöglichen Länge und Enge des Rohrs, die »Luftsäule«, eine ganz andere Art des Spiels, die auf der sogenannten »Naturtonreihe« basiert, einer präzisen Abfolge von Tönen oder Obertönen, die eine ganz bestimmte Tonleiter bilden. Die Naturtonreihe ist ein Phänomen, das nur den Gesetzen der Physik gehorcht und spontan zum Leben erwacht, wenn Luft in einer Röhre zum Schwingen gebracht wird. Die ansteigende Tonskala, die durch die Zunahme des Luftstroms in der Röhre erzeugt wird, ist immer dieselbe, und sie ist ziemlich unveränderlich. Sie war schon immer da und wird immer da sein. Sie entsteht wie durch Zauberei aus dem Gefüge des physischen Universums und lässt eine wichtige Schlussfolgerung zu.
Wenn Sie sich jemals gefragt haben, wie oder warum wir Menschen uns mehr oder weniger darauf einigen, Melodien innerhalb von Oktavrahmen zu verorten, die auf Intervallen basieren, die mehr oder weniger den Wert (und die Anzahl) von Tönen und Halbtönen haben, dann gibt es hier einen ersten Anhaltspunkt: Sie stellen Elemente der Naturtonreihe dar. Und die Rindenflöte hat noch eine weitere Überraschung für uns auf Lager. Legen Sie eine Fingerspitze über das hintere Ende des Rohrs, während Sie in das Mundstück blasen. So entsteht eine zweite Reihe von Obertönen, die sich von der ersten unterscheidet. Durch abwechselndes Öffnen und Schließen des Rohrs entsteht eine neue kombinierte Tonleiter, die sowohl melodischer als auch vielseitiger ist. Es handelt sich nicht um eine unserer üblichen Dur- oder Moll-Tonleitern oder Modi; sie besitzt vielmehr eine übermäßige Quarte und eine verminderte Septime. Aber sie ist herrlich ausdrucksstark. Diese Tonleiter ist in der traditionellen Musik auf der ganzen Welt wohlbekannt. Man kann sich durchaus fragen, wie lange die Menschen schon ihrem Einfluss ausgesetzt sind.
Da Baumrinde in feuchter Erde naturgemäß schnell zerfällt, haben Archäologen so gut wie keine Spuren solcher Flöten gefunden. Wir wissen jedoch, dass ihre Herstellung einst weit verbreitet war. Von Skandinavien bis Schottland und von Sibirien bis in die Türkei wurde die Tradition mindestens bis ins 20. Jahrhundert hinein aufrechterhalten, sodass es zur Zeit unserer Großeltern nicht ungewöhnlich war, in einem anatolischen Dorf im Frühling einen Chor von Weidenpfeifen zu hören, der wie Vogelgezwitscher von den Stellen am Wasser widerhallte, wo die Kinder spielten. So bleibt die Rindenflöte mit ihrer schlichten Eleganz und Einfachheit einerseits ein Anschauungsbeispiel dafür, wie ein primitiv anmutendes Werkzeug unerwartete Schönheit und kreatives Potenzial freisetzen kann; andererseits führt sie zu der Überlegung, wie selbst der Einfluss eines kindlichen Zeitvertreibs zur Herausbildung der Klang- und Musikwahrnehmung unserer Vorfahren beigetragen haben könnte.
Die weltweiten Rindenflöten-Traditionen sind nur ein Beispiel für das, was mein schwedischer Kollege, der Prähistoriker Cajsa Lund, Grön Musik oder »Grüne Musik« nennt. Solche lebendigen Traditionen können uns vielleicht nicht direkt sagen, wie in unserer fernen Vergangenheit Musik gemacht wurde, aber ihre Unbeständigkeit ist für uns eine frühzeitige Warnung: Die Schätze, auf die wir in diesem Buch stoßen werden (so erstaunlich die meisten davon auch sind), stellen vielleicht nur einen kleinen Teil der verlorenen Musik der Menschheit dar – nicht mehr als die sichtbare Spitze des sprichwörtlichen Eisbergs. Es ist schlicht eine Frage des Überdauerns: Die meisten gefundenen Objekte wurden aus härteren, widerstandsfähigeren Materialien wie Stein und Keramik, Metall und Knochen, Geweih oder Elfenbein hergestellt. Um die tieferen und potenziell aussagekräftigeren Schichten des musikalischen Lebens unserer Vorfahren zu verstehen, müssen wir natürlich die Objekte erforschen, die uns zur Verfügung stehen, aber wir müssen auch erkennen, wo dabei die Grenzen liegen.
Eine weitere Art von Indizien, die man sorgfältig prüfen muss, betrifft die Ursprünge musikalischer Ideen und Traditionen. Wenn wir an Innovationen in vergangenen Musiktechnologien denken, sind wir natürlich versucht, uns deren allmähliche Verbesserung im Laufe der Zeit vorzustellen. Vor allem Prähistoriker sind so sehr daran gewöhnt, langsame Veränderungen in winzigen Schritten über Tausende, ja sogar Millionen von Jahren hinweg zu beobachten, dass dies beinahe als die normale, natürliche Ordnung der Dinge erscheinen mag. Dies ist jedoch keineswegs immer der Fall. Die moderne Welt zeigt uns, dass eine musikalische Idee oft nur wenige Jahrzehnte braucht, um sich vom ersten Entwurf zu einem der beliebtesten Musikinstrumente der Welt zu entwickeln.
In den 1930er-Jahren versuchte die britische Kolonialverwaltung auf der Karibikinsel Trinidad, die beliebte Trommeltradition des Tamboo Bamboo mit der Begründung zu unterdrücken, sie gefährde die öffentliche Ordnung, insbesondere während des Karnevals. Als die Bambustrommeln schließlich verboten wurden, waren die Karnevalisten gezwungen, sich nach einer Alternative umzusehen. Der Zufall wollte es, dass die Lösung direkt vor ihrer Haustür lag. Trinidad, berühmt für seinen Asphaltsee (La Brea Pitch Lake), war bereits ein großer Ölproduzent und spielte in den 1940er-Jahren eine wichtige Rolle bei den britischen und amerikanischen Kriegsanstrengungen. Infolgedessen stapelten sich dort Unmengen leerer Ölfässer aus Stahl, die zu musikalischen Experimenten einluden, weil sie bei jeder Bewegung und jedem Schlag einen deutlichen Nachhall erzeugten. Die Musiker entdeckten, dass das abgesägte Ende einer solchen Trommel eine hervorragende, wenn auch etwas ungewöhnlich klingende Tambour abgeben konnte und dass man sie noch besser zum Klingen brachte, wenn man sie zunächst temperierte. Schon bald stellten sie fest, dass sie durch Dehnen des Metalls zu einzelnen Vertiefungen und Wölbungen aus verschiedenen Teilen einer einzigen Trommelfläche unterschiedliche Tonhöhen herausholen konnten. Diesen bescheidenen Anfängen folgten weitere Verfeinerungen, einschließlich der Entwicklung verschiedener Arten von Klöppeln und Möglichkeiten der Feinstimmung, die uns schließlich den einzigartigen Klang der Steeldrums bescherten, den wir heute so gut kennen.
All dies ereignete sich innerhalb einer Generation. Das erste Mal, dass eine Steel Band im Vereinigten Königreich auftrat, war, soweit ich weiß, 1951, als das neu gegründete Trinidad All-Steel Pan Percussion Orchestra (TASPO) beim Festival of Britain ein sensationelles Debüt gab. Von da an war der Aufstieg der »Pfannen« zu Bekanntheit und weltweiter Beliebheit geradezu kometenhaft. Obwohl man erwarten könnte, dass allmähliche, ruhige Veränderungen in der traditionellen Musik die Norm sind, gibt es offenbar auch genügend Raum für einen gelegentlichen Urknall.
Auch Zeit und Umstände spielen eine Rolle dabei, wie wir die physische Präsenz von Musik erleben und interpretieren, und nirgendwo wird dies deutlicher als im tragischen Fall der Klaviere von Prypjat. Ein Unglück wie das von Prypjat kann man wohl kaum als Glücksfall bezeichnen, und doch können die beklagenswerten Folgen einer Katastrophe mitunter Aufschluss darüber geben, wie die Stofflichkeit der Musik den Übergang in die Archäologie schafft. Beunruhigenderweise zeigt sich dabei, dass man nicht alles für bare Münze nehmen kann.
Als sich in den frühen Morgenstunden des 26. April 1986 im Kernkraftwerk von Tschernobyl eine Explosion ereignete, schliefen die meisten Bewohner der benachbarten Stadt Prypjat noch. Da die Explosion selbst offensichtlich nur das Kraftwerk beschädigte, dauerte es etwa 36 Stunden, bis die Menschen aufgefordert wurden, ihre Häuser zu verlassen. Doch als sie erst einmal fort waren, kehrten sie nie mehr zurück, und Prypjat wurde zu einer der vielen menschlichen Siedlungen, die infolge einer plötzlichen und unvorhergesehenen Veränderung der Umstände aufgegeben wurde. In diesem Fall war es der dunkle Schatten tödlicher Strahlung. Eine Besonderheit von Prypjat, die es von vielen anderen verlassenen Orten unterscheidet, besteht jedoch darin, dass wir heute genau nachvollziehen können, was dort geschehen ist und was dort weiterhin geschieht. Die Geschichte besitzt außerdem eine seltsame musikalische Komponente.
Wenn eine Stadt von ihren Bewohnern verlassen wird, überlässt man offenbar nicht einfach der Natur das Feld. Gewiss spielt die Natur eine wichtige Rolle, aber eben auch Plünderungen, Vandalismus und erstaunlicherweise sogar der Tourismus. Auf den ersten Blick scheint Prypjat eine eher ungewöhnliche Touristenattraktion zu sein, doch bis zum Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine im Februar 2022 wurden offiziell genehmigte Touren für alle angeboten, die den Schauplatz der Katastrophe bequem in einem Luxus-Minibus besichtigen wollten. Auf Tripadvisor finden sich noch immer Fotos und Berichte über die Erlebnisse der Besucher. Zu den eindringlichsten und bewegendsten Bildern im Internet gehören Fotos, die das zerstörte und entweihte Innere der Musikschule von Prypjat zeigen.
Die Bilder zeigen insbesondere das Schicksal zweier Flügel. Einer wurde in die Knie gezwungen, ein anderer brutal ausgeweidet. Zusammen mit vielen anderen beweglichen Teilen fielen die Tastaturen Plünderern und Vandalen zum Opfer, sodass nur noch der eiserne Rahmen mit einigen Metallsaiten sowie eine Reihe von Hämmern und Dämpfern übrig blieben. Für einen Archäologen stellt sich natürlich die Frage: Welche Lehren können wir aus dem Zustand dieser einst schönen und geschätzten Instrumente ziehen? Und was können sie uns über unseren Umgang mit der Musik vergangener Zeiten sagen? Ziemlich viel, wie es scheint.
Vor der Katastrophe berührten Dozenten und Musikschüler die glatten Elfenbein- und Ebenholztasten jeden Tag vermutlich genau so, wie es vorgesehen war. Heute ist das ganz anders. Das wenige, was von ihnen übrig ist, kann immer noch Töne erzeugen. Tatsächlich haben Komponisten elektronischer Musik Aufnahmen davon als Klangquelle genutzt. Andere Besucher haben versucht, die Saiten wie Harfensaiten oder in der modernen Tradition des »präparierten Klaviers« zu spielen. Aber obwohl diese qualvollen Klänge zweifellos stimmungsvoll sind, haben sie kaum eine erkennbare Ähnlichkeit mit dem ursprünglichen Klang eines Klaviers, und sie verraten fast nichts über die Musik, die auf den Instrumenten einst gespielt wurde. Darin liegt vielleicht eines der ungewöhnlichsten musikalischen Vermächtnisse von Prypjat. Hier können wir ein bekanntes Musikinstrument vor seinem Zerfall mit dem vergleichen, wozu es später wurde: Wir vergleichen den Zustand einer Sache, wie wir sie vorfinden, mit ihrer bekannten historischen Vergangenheit. Für Musikarchäologen ist dies eine wichtige Lektion. Äußere Beeinträchtigungen und Eingriffe stellen immer ein Risiko dar.
Es gibt noch eine andere Möglichkeit, wie Unbekannte ein musikalisches Phänomen für die Nachwelt versiegeln – indem sie es vergraben. In diesem Buch werden wir uns häufig auf die eher zufälligen Aspekte archäologischer Entdeckung und Konservierung konzentrieren – auf Objekte, die verloren gegangen sind oder zurückgelassen und sogar absichtlich zerstört wurden. Diese sind ein wesentlicher Teil des Handwerks moderner Archäologen. Bei unserer Suche nach den Ursprüngen der Musik müssen wir aber auch musikalische Objekte berücksichtigen, die möglicherweise absichtlich vergraben oder bestattet wurden und sich so in archäologische Zeitkapseln verwandelten. Dies hat seine eigenen Vorteile, birgt aber auch besondere Herausforderungen. Die größten und reichhaltigsten dieser »Zeitkapseln« sind Grabstätten – seien es die Gräber gewöhnlicher Menschen oder die Grabkammern von Königen, die meist die größten und eindrucksvollsten Funde bergen. Allerdings sollten diese stets mit einem Vorbehalt betrachtet werden: Ein Gegenstand, der versehentlich verloren gegangen ist, ist wahrscheinlich ein ehrliches Zeugnis dafür, wie die Dinge einst waren, aber Gegenstände, die wir in Gräbern finden, transportieren gezielt bestimmte Informationen. Wir müssen uns also immer fragen, wer sie dort hineingelegt hat – und warum.
Aus diesem Grund werden wir auf unserer Spurensuche sowohl einfache, marginale und vergessene als auch zeremonielle musikalische Handlungen in unsere Arbeitsdefinition von »Musik« einbeziehen. Dabei geht es nicht darum, auch den allerkleinsten Hinweisen nachzugehen oder eine Relevanz für bestimmte Gemeinschaften und Interessengruppen zu konstruieren. Es ist einfach eine Frage des gesunden Menschenverstands. Wenn wir eine Antwort auf die grundlegende Frage »Woher kommt die Musik?« finden wollen, müssen wir uns darüber klar werden, was genau Musik ist, und dazu müssen wir offen und unvoreingenommen bleiben.
Wie alle archäologischen Museen der Welt stellt auch dieses Buch eine Sammlung archäologischer Fundstücke zusammen und präsentiert sie. Ich habe einige Funde ausgewählt, auf die ich im Laufe meines Lebens auf der Suche nach unserer musikalischen Vergangenheit gestoßen bin und die meiner Meinung nach einen wichtigen Beitrag zur archäologischen Darstellung der Ursprünge unserer Musik leisten. Es hätten auch andere Objekte gewählt und andere Geschichten erzählt werden können: Wir haben die Qual der Wahl. Ich hoffe jedoch, dass diese spezielle Zusammenstellung zumindest eine Richtung vorgibt und dabei auch einen neuen Blick auf das Menschsein unserer Vorfahren eröffnet.
Ein Flügel und ein früher Phonograph, die selbst gebastelte Flöte eines Kindes und eine karibische Steeldrum – diese und viele andere Zeugnisse für die Vielfalt der Musik erfüllen unser Leben auch im 21. Jahrhundert mit Freude und Sinn. Da es sich jedoch um physische Gegenstände handelt, werden sie früher oder später zu einem Teil der Archäologie unserer Zeit werden. Es steht immer nahe bevor, dass etwas zum archäologischen Relikt wird. Das wahrscheinliche Schicksal dieser Objekte aus dem 20. und 21. Jahrhundert birgt Hinweise, die uns helfen werden, die fernere Vergangenheit der Musik bis hin zu ihren eigentlichen Ursprüngen zu verstehen. Bislang haben wir musikalische Traditionen und Technologien an der Schwelle zu einer archäologischen Zukunft nachgezeichnet. Jetzt ist es an der Zeit, diese Schwelle zu überschreiten und in die oberste Schicht der Archäologie vorzudringen: die Erde direkt unter unseren Füßen.
Diese Oberflächenschicht könnte man als »Archäologie der vertrauten Dinge« bezeichnen: Archäologisch, weil die Objekte trotz ihrer Modernität direkt aus archäologischen Ausgrabungen stammen, und vertraut, weil der von ihnen besetzte Zeitrahmen im Wesentlichen innerhalb unserer eigenen erinnerten und aufgezeichneten Traditionen liegt. Die Vertrautheit schmälert in keiner Weise den archäologischen Wert oder das historische Interesse eines Objekts. Im Gegenteil, sie steigert ihn sogar noch. Das Gefühl der gemeinsamen Erfahrung, das die Vertrautheit vermittelt, fügt eine ganz besondere Dimension hinzu und gibt wichtige Hinweise auf einige der tieferen Geheimnisse, die vor uns liegen.
Jüngere Musiktraditionen offenbaren noch etwas anderes: Sie geben uns Aufschluss darüber, wie die Umwelt verschiedene Materialien, Formen, Oberflächen und Strukturen über bekannte Zeiträume hinweg beeinflusst. Das ist der entscheidende nächste Schritt auf dieser Reise. Wenn der erste Schritt darin besteht, zu untersuchen, wie alltägliche Dinge überhaupt zu archäologischen Objekten werden, dann wird der zweite Schritt zeigen, wie sie durch ihre Umgebung verändert und transformiert werden und wie die Prozesse der Alterung ihren wahren musikalischen Charakter bewahren – oder verschleiern – können.
England und Texas, 19. Jahrhundert
Im Jahr 2017 bargen Taucher etwa 15 Kilometer vor der Küste von Sussex ein seltsames musikalisches Objekt vom Meeresgrund. Bei der Erkundung des Wracks eines namenlosen Dampfschiffs, das in etwa 25 Metern Tiefe im Ärmelkanal lag, fanden sie eine gebogene, spitz zulaufende Platte aus dünnem Metall, die etwa einen Meter lang und mit Reihen kleiner, sauber gebohrter Löcher versehen war. Nachdem sie das Stück an die Oberfläche befördert hatten und es genauer untersuchen konnten, stellten sie fest, dass es sich um die Messingverkleidung des Halses einer großen Pedalharfe handelte, wie man sie heute auf jeder Konzertbühne sehen kann.
Sämtliche Holzteile waren verschwunden: Dem Meerwasser ausgesetzt, sind sie wohl bald nach dem Untergang des Schiffs zerfallen. Doch eine fein eingravierte Inschrift auf der Messingplatte wies das Instrument als Werk des bekannten Harfenbauers Érard aus. Sogar eine Seriennummer war angegeben: 5331. Dies war der Anhaltspunkt, nach dem die Archäologen gesucht hatten, um den Namen des Schiffes zu ermitteln. Er führte sie zu den Verkaufsregistern von Érard, die im Royal College of Music in London aufbewahrt werden, und unter der Nummer 5331 fanden sie eine handschriftliche Notiz. Diese besagte, dass das Instrument aus Satinholz gefertigt worden war, und lieferte darüber hinaus noch zwei weitere Hinweise. Es war im Oktober 1839 gebaut und im September 1840 an einen Kunden in Irland verkauft worden: Samuel J. Pigotts Musikgeschäft in Dublin. Der Fundort des Wracks lag genau auf dem Kurs, den ein Schiff auf der Fahrt von London nach Dublin nehmen würde.
Es existieren noch spielbare Exemplare von Érards Harfen, sodass man sich das Instrument trotz der fehlenden Holzteile vorstellen kann. Die Messingplatte bot jedoch vor allem für die Schifffahrtsgeschichte einen unmittelbaren Nutzen. Als man das Datum im Verkaufsregister mit Aufzeichnungen über Schiffsverluste verglich, ergaben Form und Lage des Wracks, dass es sich um die SSOndine aus Waterford an der Südküste Irlands handelte. Das Schiff verkehrte regelmäßig zwischen Irland und London, bis es am 19. Februar 1860 mit einem anderen Schiff kollidierte und sank. Zwischen dem Verkauf der Harfe und dem Untergang der Ondine lagen zwar zwanzig Jahre, aber die Instrumente wurden häufig für Reparaturen und Wartungsarbeiten hin- und hergeschickt.
So schön sie auch sind, repräsentieren teure Konzertharfen wie die Érard 5331 nur die Spitze der viktorianischen Musiktechnologie und spiegeln nur einen kleinen Teil der musikalischen Erlebniswelt ihrer Zeit wider. Am unteren Ende der Skala sticht eine andere Kategorie von Fundstücken hervor – wenn nicht durch ihre Schönheit, so doch zumindest durch ihre Häufigkeit. Auf den ersten Blick scheinen sie nicht mehr zu sein als rostige Metallstücke ohne Bedeutung oder erkennbaren Zweck. Für das ungeschulte Auge hat ihr Aussehen nichts mit Musik zu tun. Doch mit Sicherheit haben Sie sich schon einmal von den charmanten, mitunter gefühlvollen Klängen des Instruments unterhalten lassen, zu dem sie einst gehörten. Dieses Instrument ist für mehrere berühmte musikalische Repertoires unverzichtbar: von den Folk-Balladen von Bob Dylan und dem elektrischen Blues von Little Walter bis hin zu den Konzertauftritten von Larry Adler, John Sebastian und Tommy Reilly. Diese rostigen Stücke sind Bestandteile einer Mundharmonika, genauer: einer diatonischen Mundharmonika, eines der bekanntesten Tascheninstrumente der Welt. Gerade wegen ihrer Alltäglichkeit sind sie wichtig. Sie gehören alle zum selben Instrumententyp, stammen höchstwahrscheinlich aus demselben Herstellungsland – Deutschland – und sind doch an weit voneinander entfernten Orten rund um den Globus gelandet. Eine der ersten tauchte in den 1970er-Jahren an einem berühmten Ort im texanischen San Antonio auf.
Im Winter 1835/36 belagerten mexikanische Truppen unter General López de Santa Anna die alte spanische Mission Alamo. Diese war von angloamerikanischen Rebellen besetzt worden, die für die texanische Unabhängigkeit kämpften. Nachdem die Mexikaner die Mission eingenommen und alle Aufständischen getötet hatten, zerstörten sie einen Großteil der Anlage; nur die Kirche blieb verschont. Während des Mexikanisch-Amerikanischen Kriegs von 1846 bis 1848 und des Amerikanischen Bürgerkriegs von 1861 bis 1865 nutzten die Armeen der Vereinigten Staaten und der Konföderation den Ort weiterhin als Militärstützpunkt, und als wieder Frieden herrschte, folgte die kommerzielle Entwicklung. Im Jahr 1970 begannen Ausgrabungen, um die architektonische Geschichte des Ortes zu erforschen, und 1977 fanden Archäologen in einer gelben Sandschicht nördlich der Kirche neben einer Vielzahl anderer Gegenstände ein kleines Stück rostiges Metall. Die anderen Gegenstände konnten der »angloamerikanischen« Besatzungszeit zugeordnet werden und waren vermutlich um 1836 dorthin gebracht worden. Das Metallfragment war rechteckig und etwa so groß wie eine Streichholzschachtel, mit parallelen Schlitzen leicht unterschiedlicher Länge. Ein geübtes Auge brauchte nicht lange, um es zu identifizieren: Es war von der Stimmplatte einer Mundharmonika abgebrochen.
In schwingenden Systemen erzeugen unterschiedliche Längen von Bauteilen unterschiedliche Resonanzfrequenzen. Das Fragment stammte offenbar aus dem unteren Bereich des Instruments, da die Zungenschlitze zum unversehrten Ende der Platte hin immer länger wurden. Im Labor wurden die Befestigungspunkte für die Stimmzungen erkennbar, die längst weggerostet waren – sie waren vermutlich hauchdünn gewesen.
Die Bauweise einer Mundharmonika ist genial. Nachdem der Instrumentenbauer die Stimmzungenschlitze mit einem Schneidewerkzeug ausgestanzt hat, befestigt er zwei winzige Blattfedern an einem Ende jedes Schlitzes, sodass ihre freien Enden im Raum auf und ab schwingen können. Sie sind so etwas wie winzige Sprungbretter, die über und unter einer Falltür angebracht sind. Die Passung muss so genau sein, dass der Schlitz im Ruhezustand geschlossen ist, die Feder sich aber dennoch frei auf und ab bewegen kann. Durch die Luft, die sie umgibt, hebt und senkt sie sich und erzeugt so den säuselnden, summenden Klang der Mundharmonika. Damit das Instrument jedoch spielbar ist, müssen drei weitere Elemente hinzugefügt werden, die eine Art Sandwich bilden. Über der Stimmplatte schützt ein offenes Gehäuse aus dünnem, gepresstem Metall die Stimmzungen vor versehentlicher Beschädigung, während sich unter der Platte ein dünnes Holzbrett und eine zweite flache Metallplatte mit Stimmzungen befinden. In das Holz sind Schlitze geschnitten, sodass das Ganze an einen Kamm erinnert (im Deutschen wird der Kanzellenkörper daher auch »Kamm« genannt). Zwischen den Metallplatten werden die Schlitze zu Luftkanälen, gewissermaßen zu Pfeifen, die den Positionen der Stimmzungen entsprechen und sich entlang der Vorderkante des Instruments öffnen. Bläst man in einen der Schlitze oder zieht man durch ihn Luft ein, werden einzelne Stimmzungen angeregt und erklingen in ihrem jeweiligen Ton.
Das Ergebnis ist ein wunderbar kompaktes kleines Instrument, eine diatonische Rohrblattorgel, die so klein ist, dass sie überallhin mitgenommen werden kann. Die zehn Standard-Pfeifen ermöglichen zwanzig verschiedene Töne, die so dicht beieinanderliegen, dass es möglich ist, zwei oder mehr gleichzeitig zu spielen und so einfache Harmonien zu erzeugen. Aber das ist natürlich nur ein erster Hinweis darauf, welches musikalische Potenzial das Instrument in geübten Händen entfalten kann.
Welche Art von Musik wurde auf der Alamo-Mundharmonika damals wohl gespielt? Ich vermute, es könnte praktisch alles gewesen sein: traditionelle Balladen, populäre Tanzmelodien, religiöse Hymnen, Militärmärsche, bekannte Opernarien, sentimentale Lieder – eigentlich alles, was den Leuten gefiel. Gespielt wurde die Mundharmonika entweder zum Spaß privat oder bei offiziellen Anlässen. Im Laufe der Zeit wurde sie zu einem wichtigen Merkmal des ultimativen professionellen Unterhaltungskünstlers, der Ein-Mann-Band. Außerdem spielte sie natürlich eine wichtige Rolle im Blues. Vor allem aber lässt ihre Entdeckung in Alamo und an anderen Militärstandorten darauf schließen, dass sie das Instrument der Wahl für Menschen war, die unterwegs waren.
Archäologische Funde besitzen in der Regel zwei wertvolle Eigenschaften: ihren unmittelbaren lokalen Kontext – den Ort, an dem sie gefunden wurden, und die anderen Dinge, die mit ihnen gefunden wurden – und den weiteren Kontext, den ähnliche Objekte von anderen Stätten bieten. Eine gut erhaltene, fast unversehrte Mundharmonika wurde an einem Ort namens Ploegsteert (den britischen Tommies als »Plug Street« bekannt) in der belgischen Provinz Hennegau ausgegraben – verloren oder zurückgelassen von einem Soldaten des Ersten Weltkriegs. Ein weiteres Exemplar wurde kürzlich am Ufer eines abgebrannten Herrenhauses aus der Gründerzeit in Bluffton, South Carolina, ausgegraben. Tatsächlich wird das Instrument häufig mit dem Krieg in Verbindung gebracht. Es gibt eine Mundharmonika aus Gettysburg und zwei weitere, die auf dem Bürgerkriegsschlachtfeld von Antietam oder in dessen Nähe gefunden wurden. Zwei nahezu unversehrte Exemplare wurden auf dem Schlachtfeld von Wilderness in Virginia und in Fort McCoy in Wisconsin geborgen. Wie durch ein Wunder sind bei dem Fundstück aus Virginia noch alle Zungen an Ort und Stelle, während die obere Abdeckung des Instruments aus Wisconsin die Marke von Friedrich Hotz aus Knittlingen, Deutschland, trägt (einer Firma, die später von dem großen Matthias Hohner übernommen wurde).
Die Tatsache, dass die meisten Funde aus dem 19. und 20. Jahrhundert stammen, bedeutet nicht, dass die zugrunde liegende Technologie eine viktorianische Erfindung ist. Das Prinzip der Mundharmonika beruht auf einer wesentlich älteren, weltweit bekannten Technologie, die eine Reihe bekannter mechanischer Instrumente antreibt: die Ziehharmonika, das Klavierakkordeon, das Harmonium und die Harmoniumorgel und sogar (wenn auch auf andere Weise) die Maultrommel. Aber das ist noch lange nicht alles. Schon vor mehr als 2000 Jahren bauten Instrumentenbauer in Ostasien die chinesische Mundorgel oder Sheng, die einen recht ähnlichen Klang erzeugte. Die Stimmzungen wurden zwar aus geschlitztem Bambus hergestellt, aber das Prinzip war im Wesentlichen dasselbe.
Der Umstand, dass viele der Orte, an denen Mundharmonikas gefunden wurden, Schauplätze dramatischer und gewaltsamer Ereignisse waren, hat ihre Entdeckung begünstigt. Hätte die Belagerung von Alamo nicht einen so ikonischen Platz in der US-Geschichte eingenommen, hätten Historiker weniger Nachforschungen angestellt und Archäologen weniger Ausgrabungen vorgenommen. Es ist in der Tat bemerkenswert, wie viele Fortschritte in der Musikarchäologie auf die eine oder andere Weise mit dem Krieg verbunden sind. Unerhörtes Glück (und Alamo ist sicherlich ein Beispiel dafür) spielt eine entscheidende Rolle dabei, wie Alltagsgegenstände zu archäologischen Relikten werden, und verleiht ihnen eine Zufälligkeit, die wesentlich zu ihrem Wert als historisches Zeugnis unserer musikalischen Vergangenheit beiträgt.
Letzten Endes ist die vielleicht wichtigste Lektion, die das Alamo-Fundstück für die Musikarchäologie bereithält, dass Dramatik und spektakuläre Ereignisse eben doch nicht alles sind. Funde wie die Érard-Harfe und die großen Musikfunde in antiken Gräbern, auf die wir später in diesem Buch noch zu sprechen kommen werden, sind zweifellos prächtig: die spektakulären goldenen und silbernen Leiern von Ur, die glänzenden Trompeten von Tutanchamun, das gewaltige Glockenspiel des Markgrafen Yi von Zeng. Doch die Verbindung zwischen solchen Schätzen und ihrer historischen Alltagswirklichkeit besteht aus zahllosen kleinen und weitgehend unscheinbaren Fragmenten, die über die Landschaften der Welt verstreut liegen oder bereits ihren Weg in die Magazine der Museen gefunden haben. Was uns die kleinen Dinge in kleinen Schritten offenbaren, ist die menschliche Vernetzung, die am Ende die eindrucksvollsten Darstellungen historischen Musizierens liefert – sprich: der Musik, wie sie von einfachen Menschen gemacht und erlebt wurde. Paradoxerweise sind die verstreuten Fragmente für uns gerade deshalb interessant, weil sie nichts Außergewöhnliches sind. Sie sind Teil des archäologischen Kontexts. Sie sind weniger die physischen Hinterlassenschaften musikalischer Prominenz als vielmehr ihrer Basis. Die Geschichte dieser Basis, die sie erzählen, wird zur Geschichte unserer gesamten Musik.
England, 19. Jahrhundert
An einem Frühlingsnachmittag im Jahr 1985 erhielt ich einen Anruf von der Kuratorin eines Museums in Suffolk. Ein paar Stunden zuvor, so sagte sie, sei ein Besucher von der Straße hereingekommen und habe ein in braunes Papier verschnürtes Objekt bei sich gehabt. Es habe sich um ein großes, empfindliches Objekt gehandelt, das er bei einer Metalldetektion in einem Waldstück unweit der Küste gefunden habe. Obwohl es stark beschädigt sei, scheine es mit ziemlicher Sicherheit ein Horn oder eine Trompete zu sein – offenbar handle es sich um jenen trichterförmigen Teil, den Blechbläser »Schallbecher« nennen. Sie fand, dass es sehr alt aussehe. Das dünne Blech sei mit einer graugrünen Kruste überzogen, und sie wolle unbedingt mehr über sein wahres Alter und seine mögliche Herkunft erfahren. War es vielleicht vorgeschichtlich? Suffolk hatte bereits zahlreiche antike Musikfunde vorzuweisen, und in den letzten beiden Jahrhunderten waren in ganz Europa Metallhörner und -trompeten aufgetaucht. In Großbritannien wurden unter anderem im nordwalisischen Anglesey ein langes, gebogenes Horn und im Fluss Witham in Lincolnshire eine gerade Trompete geborgen. Beide Instrumente konnten auf die vorrömische Eisenzeit vor etwa 2000 Jahren zurückdatiert werden. Stellte dieses neue Stück womöglich den Beginn eines neuen Abenteuers in der musikalischen Vorgeschichte dar?
Am nächsten Morgen fuhr ich zum Museum, um mir das Objekt selbst anzusehen. Ich war zunächst erstaunt, wie stark beschädigt es war. Mit Sicherheit handelte es sich um eine Art Trompete, aber ein großer Teil davon – das schlanke Rohr, das zum Mundstück führt – fehlte. Es war abgebrochen. Den verbliebenen Teil hatte jemand absichtlich platt geschlagen. Dann hatte man versucht, die flach gedrückten Überreste aufzurollen. Wer sollte so etwas tun und warum? Es war sehr schwierig, die ursprüngliche Form des Instruments zu erkennen und festzustellen, um was für eine Trompete es sich gehandelt haben könnte. Damals gab es noch keine Laser-Scans und keine virtuelle 3D-Modellierung. Die einzige Möglichkeit, sich das Originalinstrument vorzustellen, bestand darin, das Objekt sorgfältig zu vermessen und dann auf einem Blatt Millimeterpapier aufzuzeichnen; das tat ich dann auch. Es brauchte eine Weile, aber als ich endlich fertig war, sprang uns die ursprüngliche Form des Instruments förmlich entgegen.
Es hat schon viele magische Momente in der Archäologie gegeben, in denen ein neuer Fund zu einem Durchbruch geführt und eine neue, unerwartete Richtung für neue Forschungen eröffnet hat. Dies war jedoch leider keiner davon. Die Zeichnung zeigte, dass es sich bei dem Fund um ein modernes Instrument mit konischer Bohrung handelte, ein sogenanntes Flügelhorn: ein Ventilhorn, das ab Mitte des 19. Jahrhunderts bei Musikern beliebt war. Seine graugrüne Kruste war nicht das Ergebnis von Jahrtausenden unter der Erde, sondern lediglich von Jahrzehnten.
Dies als Enttäuschung zu bezeichnen, wäre noch untertrieben. Dennoch war der Fund nicht ganz wertlos, wie sich herausstellte. Er bot einige interessante Aspekte und ist in gewisser Weise ein Lehrstück für alle, die sich auf die Suche nach den tieferen Wurzeln der Musik machen.
In der Archäologie kann der erste Eindruck sehr leicht täuschen. Schäden und Verfall nehmen vielfältige Formen an, denn die menschlichen, chemischen und biologischen Einflüsse, die dazu führen, sind ganz unterschiedlich. Verschiedene Materialien reagieren auf unterschiedliche Weise und in unterschiedlichem Tempo auf Abnutzung, Gebrauch und Missbrauch sowie auf verschiedene Bodenbedingungen: warm oder kalt, sauer oder alkalisch, luftig oder luftlos, nass oder trocken. Wenn wir also brauchbare Informationen aus der Oberfläche eines Objekts gewinnen wollen – Informationen darüber, wie es hergestellt und benutzt wurde, wie lange und von wem –, müssen wir zunächst abschätzen, inwieweit sich diese Oberfläche im Laufe der archäologischen Zeit verändert hat und inwieweit diese Veränderungen ihre Aussagekraft verbessert oder beeinträchtigt haben. Für diese spezielle Fragestellung gibt es einen Namen: Taphonomie – die Untersuchung der Art und Weise, wie vergrabene Dinge altern. Von allen Methoden, die heute in der modernen Archäologie angewandt werden, ist die Taphonomie diejenige, die der forensischen Wissenschaft am ähnlichsten ist; und wie sich zeigt, könnte sie der Schlüssel zu einer ganzen Reihe musikalischer Rätsel sein.
Das Thema der Alterung von Metallen ist für Archäologen von besonderem Interesse. Es ist eine komplizierte Materie, die Geduld und Sorgfalt erfordert, aber wenn Taphonomen neue Fallstudien durchführen, gewinnen sie einen Eindruck davon, wie sich bestimmte Metalllegierungen zersetzen, wenn sie verschiedenen chemischen und biologischen Einflüssen ausgesetzt sind. Die Auswirkungen sind mitunter erstaunlich schön. Eine der auffälligsten Veränderungen tritt auf, wenn sauerstoffarme Meeres- und Süßwasserschlämme über längere Zeit auf alte Messinge und Bronzen einwirken. Wenn diese Gegenstände gefunden werden, sind ihre noch feuchten Oberflächen oft so glänzend und makellos, dass sich viele Finder fragen, ob sie auf Gold gestoßen sind. Leider ist das nicht der Fall: Der Glanz ist lediglich eine hauchdünne Schicht aus Pyritkristallen. Trotzdem bleiben viele Oberflächenmerkmale erhalten, die darauf schließen lassen, wie die Gegenstände ursprünglich gehandhabt und benutzt wurden. In gewöhnlichen Oberböden wie Sand und Lehm laufen die Prozesse hingegen ganz anders ab, vor allem wenn Luft und Feuchtigkeit mit im Spiel sind, was meist der Fall ist. Die Korrosion am Suffolk-Horn erwies sich als typisch für diese Art von Erde.
Dennoch hatte das Instrument etwas Seltsames und Beunruhigendes an sich: Die absichtliche Zerstörung und die Art und Weise, wie es versteckt worden war, gaben Rätsel auf. Man kam nicht umhin, sich zu fragen, wie und warum es überhaupt vergraben worden war. Für Archäologen ist das ein gängiges Rätsel. Es ist immer aufregend, wenn wir etwas freilegen, das jemand in der Vergangenheit absichtlich vergraben hat; aber wann immer wir eine Absicht vermuten, müssen wir uns auch fragen, warum – und wie sich das auf die Art und Weise auswirken könnte, wie wir das Ganze deuten. In diesem Fall gab es einen Hinweis auf eine mögliche Antwort. Warum vergräbt man so etwas wie ein Flügelhorn? Und warum sollte man es vorher zerstören? Eines war klar: Es war kein Zufall oder Versehen. Wer auch immer es zertrümmert hatte, musste vorsätzlich Gewalt anwenden. Dann musste er ein Loch graben oder zumindest ein geeignetes Kaninchenloch finden und es anschließend auffüllen. Irgendwie kam uns das alles etwas seltsam vor, und es sollte uns eine Mahnung sein.
Wenn ein Prähistoriker, Alterstumsforscher oder Mediävist auf einen vergleichbaren Fund aus früherer Zeit stößt, könnte er versucht sein, ein Ritual oder zumindest eine symbolische Dimension zu vermuten. Das heißt, dass die Deponierung im Rahmen eines Rituals stattfand, um beispielsweise ein spirituelles Bedürfnis zu befriedigen, oder als Teil einer formellen religiösen Zeremonie. »Ritual« ist ein Begriff, der in der Archäologie einst weit verbreitet war, um allen möglichen Rätseln einen Sinn zu verleihen. Dieses Instrument hingegen konnte bis Mitte des 20. Jahrhunderts jederzeit vergraben worden sein, und soweit mir bekannt war, gab es in den Aufzeichnungen über die englische Blasmusik nichts, was ein entsprechendes Ritual hätte vermuten lassen. Handelte es sich also um einen Streich, um schiere Bosheit oder gar um eine absichtliche Beseitigung von Beweisen?
Wenn man bedenkt, welch unterschiedliche Bedeutung verschiedene Arten der Deponierung haben und welche Motive sie jeweils widerspiegeln können, wird deutlich, welch wichtige, ja entscheidende Rolle dem archäologischen Kontext für unser wissenschaftliches Verständnis von wesentlich älteren Musikfunden zukommt. In diesem Fall entdeckte der Finder bedauerlicherweise keine weiteren Anhaltspunkte im umgebenden Erdreich, und da einige Zeit verstrichen war, war er sich nicht einmal mehr der genauen Fundstelle sicher. Ohne solche Informationen verlieren Objekte schlagartig einen Großteil ihrer historischen Bedeutung und werden zu reinen Kuriositäten oder bestenfalls zu Kunstobjekten. Unser Horn war in diesem Sinne verwaist, abgeschnitten von allen Hintergrundinformationen, die durch die Anwendung eines ordnungsgemäßen archäologischen Verfahrens hätten gewonnen werden können. Vielleicht war es ja tatsächlich nicht mehr als ein Stück viktorianischer oder edwardianischer Lokalgeschichte. Wäre es etwas Wertvolleres gewesen, würden wir jetzt vielleicht jammern und wehklagen.
Norwegen, 19. Jahrhundert
Eine der befriedigendsten Arten, sich mit Archäologie zu beschäftigen, war schon immer das simple Aufspüren und Sammeln vergrabener Schätze. Man muss nur irgendwo ein kleines Loch graben oder aufmerksam zusehen, wenn jemand anderes gräbt – und man weiß nie, was zum Vorschein kommt. Jedenfalls habe ich mich auf diese Weise anstecken lassen. Meine erste Entdeckung machte ich im Alter von etwa zwölf Jahren in einem frisch angelegten Rosenbeet. Bei den meisten meiner Schätze handelte es sich nur um alte Glas- und Porzellanscherben, aber mit ihnen vergraben waren auch ein paar Bruchstücke dünner weißer Pfeifentonröhrchen. Sie hatten ungefähr die Größe, Form und Farbe einer weggeworfenen Zigarette, und tatsächlich waren sie deren viktorianisches Äquivalent: abgebrochene Stiele alter Tabakspfeifen aus Ton, die vielleicht Landarbeiter hatten fallen lassen, als die Häuser noch nicht gebaut waren und das Land noch freies Feld war. Sie zu sammeln, wurde zu meinem Hobby. Wann immer ich jemanden beim Graben von Löchern beobachtete, ging ich hin und schaute nach, und überall, wo ich hinsah, schienen noch mehr dieser Pfeifenstücke zu sein. Ab und zu fand ich eines, das nicht nur ein einfaches Röhrchen war, sondern auf dem Buchstaben eingeprägt waren – der Name eines Herstellers oder ein Sinnspruch. Manchmal, mit etwas Glück, war sogar das Mundstück oder der Kopf noch vorhanden. Es gab eine solche Vielfalt faszinierender Formen und Motive, dass sie sofort als Sammelobjekte geeignet schienen. Ich fragte mich natürlich, wie alt sie waren. Ob ihre unterschiedlichen und markanten Formen und Verzierungen den Schlüssel dazu lieferten?
Von den Blumenbeeten im örtlichen Park wechselten meine Sammlerfreunde und ich bald zu den Baustellen auf den Feldern am Stadtrand – wenn die Bauarbeiter nach Hause gegangen waren. Je ehrgeiziger wir wurden, desto weiter fuhren wir mit dem Rad hinaus aufs Land, um zu sehen, was die Bauern dort mit dem Pflug ausgegraben hatten. So bekamen wir einen ersten Vorgeschmack auf einige der grundlegenden Verfahren der Archäologie: zuerst die Reinigung und Begutachtung, dann das Sortieren der Objekte in Kategorien. Manche Formen von Tonpfeifen erschienen uns älter als andere. Sie hatten längere, dickere Stiele und kleinere, schlichtere Köpfe. Aus dem Geschichtsunterricht in der Schule wussten wir, dass der Tabak bereits im 16. Jahrhundert von Amerika nach Europa eingeführt worden war; aus Büchern mit alten flämischen Gemälden hatten wir außerdem erfahren, dass helle Pfeifen ähnlicher Form im 17. Jahrhundert beliebt waren. Ob unsere Funde wirklich so alt waren? Die Mitarbeiter des örtlichen Museums sagten uns, dass einige davon durchaus so alt sein könnten. Was ich mir allerdings nicht träumen ließ, war, dass ich eines Tages auf eine Tonpfeife stoßen würde, die nicht nur sehr alt war, sondern auch eine musikalische Geschichte zu erzählen hatte.
Diese Entdeckung machte ich einige Jahre später in Norwegen. Inzwischen galt mein Interesse nicht mehr alten Tonpfeifen, sondern musikalischen Funden. Ich war Doktorand und durchstöberte Antiquitätenläden auf der Suche nach kleinen Stücken mittelalterlicher Musikinstrumente, die den Adleraugen der Sammler bislang entgangen waren. Bei dieser Art von Suche ist es sinnvoll, sich auf Orte zu konzentrieren, an denen Archäologen besonders aktiv sind und günstige Bodenbedingungen für den Erhalt von Gegenständen herrschen. Sowohl Bergen als auch Trondheim erfüllten diese Voraussetzungen. Beide Städte hatten historische Hafenanlagen, und ihre Ursprünge reichten bis zurück in die Wikingerzeit. Ihre tiefen Schluff- und Tonablagerungen am Meeresufer konservierten weiche organische Materialien wie Holz, und zum Zeitpunkt meines Besuchs im Jahr 1980 fanden in beiden Städten groß angelegte archäologische Ausgrabungen statt.
Ich war insbesondere auf Fragmente von Saiteninstrumenten aus, aber im Laufe meiner Suche sah ich mir zwangsläufig Tausende und Abertausende anderer Objekte aller Art an. In den Museen hatte man sie gesäubert und liebevoll auf offenen Schiebetabletts in hohen, beweglichen Magazinen ausgelegt. Zu meiner Freude waren sie nicht nach Material oder Gattung, sondern nach Kontext sortiert: Dinge, die man zusammen gefunden hatte, waren in Gruppen zusammengefasst, unabhängig davon, was sie waren oder sein könnten. Auf diese Weise lagen vertraute Haushaltsgegenstände wie Haarkämme und Nähnadeln neben einer großen Anzahl nicht identifizierter Objekte. Diese »geheimnisvollen Objekte« schienen mir am vielversprechendsten.
Meinem durch das Geigenspiel geschulten Auge fiel als Erstes ein gewickeltes Stück Stahldraht auf, das mich an eine Violinsaite erinnerte – und genau darum handelte es sich tatsächlich. Es gab Flöten und Pfeifen aus Holz und Knochen, dazu kleine Glöckchen in großer Zahl. Dann entdeckte ich plötzlich einen alten Bekannten: eine lange Tabakspfeife aus weißem Ton. Wie alle Tonpfeifen war sie benutzt worden und schließlich zerbrochen, aber diese hatte eine Überraschung parat: Ein Unbekannter hatte sie in eine winzige »Penny Whistle« verwandelt, eine Art von Schnabelflöte. Sie stammte von der Baustelle der neuen Stadtbibliothek von Trondheim in der Nähe des historischen Hafenviertels und war etwas mehr als vier Zentimeter lang. Als ich sie umdrehte, sah ich, dass sich an einem Ende ein kleines ovales Stimmloch befand, wie bei einer Rindenflöte. Auf dem restlichen Mittelstück waren vier winzige Grifflöcher angebracht, die allesamt mit der Spitze eines scharfen Messers gebohrt waren.
Wiederverwendung hat es in der Musikgeschichte schon immer gegeben. In Kapitel 1 haben wir bereits karibische Steeldrums aus Ölfässern kennengelernt. Heutzutage arbeiten die meisten Instrumentenbauer nur noch mit neuen Materialien, für die sie viel bezahlen, aber früher konnten sich diesen Luxus nur wenige leisten. Wo immer möglich, wurden Holz, Knochen und Metall wiederverwendet. Alte Geräte wurden ausgeschlachtet. Im weiteren Verlauf des Buches wird es um Flöten und Pfeifen aus Tierknochen gehen, die aus Kochstellen und Küchengruben stammen: lange, schlanke Flügelknochen großer Vögel wie Schwäne und Kraniche oder die stärkeren, kräftigeren Schienbeinknochen von Schafen und Ziegen. Die Menschen finden immer neue Verwendungsmöglichkeiten für weggeworfene Dinge.
Zufälligerweise hatte die kleine Tonpfeife mehr als nur eine flüchtige Ähnlichkeit mit solchen früheren Knochenflöten und -pfeifen. Allerdings gab es einen wichtigen Unterschied: Sie war winzig. Die Löcher lagen viel zu dicht beieinander, sodass meine Fingerspitzen sie nicht greifen konnten, und die Öffnungen waren so klein, dass ich bezweifelte, dass sie überhaupt funktionierte. Wenn sie überhaupt einen Ton von sich gegeben hatte, dann war es sicher ein hohes Pfeifen gewesen. Warum also hatte man so etwas angefertigt? War es nur ein einmaliges Experiment gewesen, ein Probestück vielleicht? Oder war es irgendetwas anderes?
Es gab gewisse Anhaltspunkte. Ein Stück eines fein gedrechselten Holzrohrs, das in Norwich gefunden wurde (nicht weit von dem Ort entfernt, an dem ich gerade schreibe), gehört offenbar zu einer anderen Miniaturpfeife. Aus demselben Teil Englands stammen mehrere sehr kleine mittelalterliche Flöten aus Gänseflügelknochen, die dieselbe merkwürdige Anomalie aufweisen: Ihre Grifflöcher liegen zu dicht beieinander für die Hände eines Erwachsenen. War diese kleine Tonpfeife aus Trondheim also für ein Kind oder von einem Kind gemacht worden? Musik hat zu allen Zeiten eine wichtige Rolle in der Kindheit gespielt, warum also sollten sich nicht einige archäologische Funde als musikalisches Kinderspielzeug erweisen?