Sozialer Kapitalismus! - Paul Collier - E-Book
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Paul Collier

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Beschreibung

Der Alarmruf eines weltbekannten Ökonomen - ausgezeichnet mit dem Deutschen Wirtschaftsbuchpreis

Paul Collier, einer der bedeutendsten Ökonomen unserer Zeit und besonders in Deutschland hochgeschätzt, legt ein Manifest für einen erneuerten Kapitalismus vor. Seine Diagnose: Es geht nicht nur um Verteilung zwischen Arm und Reich, viel gefährlicher ist der neue Riss durch das Fundament unserer Gesellschaft - zwischen den städtischen Metropolen und dem Rest des Landes, zwischen den meist urbanen Eliten und der Mehrheit der Bevölkerung. Eine Ideologie des Einzelnen greift um sich, die auf Selbstbestimmung beharrt, auf Konsum abzielt und sich dabei von der Idee gegenseitiger Verpflichtungen verabschiedet. "Die Rottweiler-Gesellschaft“, so Collier, "verliert den Sinn für sozialen Zusammenhalt" - und in dieses Vakuum stoßen Populisten und Ideologen. Schonungslos und leidenschaftlich verurteilt der konservative Ökonom diese neue soziale und kulturelle Kluft. Und er präsentiert ein sehr persönliches Manifest für einen sozialen Kapitalismus, der auf einer neuen Ethik der Gemeinschaft beruht.

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Paul Collier

Sozialer Kapitalismus!

Mein Manifest gegen den Zerfall unserer Gesellschaft

Aus dem Englischen von Thorsten Schmidt

Zum Buch: Ein Riss geht durch das Fundament unserer Gesellschaft – zwischen den Metropolen und dem Rest des Landes, zwischen den urbanen Eliten und der Mehrheit der Bevölkerung. Eine Ideologie des Einzelnen greift um sich, die auf Selbstbestimmung beharrt, auf Konsum abzielt und sich dabei von der Idee gegenseitiger Verpflichtungen und des Gemeinwohls verabschiedet. Schonungslos beschreibt Paul Collier diese neue soziale und kulturelle Kluft. Und er präsentiert ein sehr persönliches Manifest für einen sozialen Kapitalismus, der auf einer Ethik der Gemeinschaft beruht.

Zum Autor: Paul Collier, geboren 1949 in Sheffield, ist einer der wichtigsten Wirtschaftswissenschaftler der Gegenwart. Er war Leiter der Forschungsabteilung der Weltbank und lehrt als Professor für Ökonomie an der Universität Oxford. Seit vielen Jahren forscht er über die ärmsten Länder der Erde und untersucht den Zusammenhang zwischen Armut, Kriegen und Migration. Sein Buch Die unterste Milliarde (2008) erregte international große Aufmerksamkeit und wurde mehrfach ausgezeichnet. Im Siedler Verlag erschienen Gefährliche Wahl (2009), Der hungrige Planet (2011) und Exodus (2014), eines der wichtigsten Bücher zur Migrationsfrage, das in Berlin Furore gemacht hat. Zuletzt erschien Gestrandet (2017, mit Alexander Betts).

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel »The Future of Capitalism. Facing the New Anxieties« bei Allen Lane, London.

Das Foto zeigt Paul Collier und seine Cousine Sue 1954 im Alter von vier Jahren.

Copyright © 2018 by Paul Collier

© 2019 für die deutsche Ausgabe by Siedler Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Umschlagfoto: Getty Images/David Levenson

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-23342-6 V004

www.siedler-verlag.de

Inhalt

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Teil I: Krise

1 Die neuen Ängste

Teil II: Die Ethik erneuern

2 Die Grundlagen der Moral: Vom egoistischen Gen zur ethischen Gruppe

3 Der ethische Staat

4 Das ethische Unternehmen

5 Die ethische Familie

6 Die ethische Welt

Teil III: Die inklusive Gesellschaft erneuern

7 Die geografische Spaltung: Boomende Metropole, niedergehende Städte

8 Die soziale Spaltung: Überfluss und Entbehrung

9 Die globale Spaltung: Gewinner und Abgehängte

Teil IV: Eine inklusive Politik

10 Den Extremen Einhalt gebieten

Danksagung

Bibliografie

Anmerkungen

Register

Für Sue

Leben, die auseinanderstreben – Ängste, die sich einander annähern

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Dieses Buch handelt von den neuen sozialen Spaltungen, die in vielen westlichen Gesellschaften sichtbar werden. Zwar gehört Deutschland zu den erfolgreichsten westlichen Industriestaaten, doch die Konzentration von Vermögen nimmt auch hierzulande rasch zu. Und wie andernorts lassen sich zwei tiefe kulturelle Verwerfungen beobachten: zum einen zwischen den selbstbewussten Großstädtern und den abgehängten Bürgern im Rest des Landes, zum anderen zwischen den Hochqualifizierten und den Geringqualifizierten. Diese Gruppen stehen sich heute immer unversöhnlicher gegenüber, und die Entzweiung wird zunehmend von Aggression und gegenseitiger Verachtung begleitet.

Knapp dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung gibt es zudem Anzeichen, dass die Gräben zwischen Ostdeutschen und Westdeutschen sich eher noch vertiefen. Die Gefahr einer solchen Spaltung wurde bei den Feierlichkeiten zum Tag der Deutschen Einheit 2018 von führenden deutschen Politikern endlich – wenn auch verspätet – zum Thema gemacht.

All dies hat einen hohen politischen Preis. Wie in anderen Ländern auch haben die großen Volksparteien der Mitte massiv an Rückhalt verloren, und die Nutznießer sind die Parteien am rechten und linken Rand des politischen Spektrums. In Deutschland ist die Große Koalition nicht mehr groß: Laut Umfragen würde sie im Fall von Neuwahlen keine Regierungsmehrheit mehr erhalten. In Österreich führte die politische Polarisierung zu dem erstaunlichen Ergebnis, dass in der heftig umkämpften zweiten Runde der Bundespräsidentenwahl im Jahr 2016 keine der beiden Volksparteien mehr vertreten war. Vielmehr standen sich dabei Rechtspopulisten und die linksorientierten Grünen – beide keine traditionellen Volksparteien – gegenüber. Sie zwangen die Mitte zu einer inhaltlichen und politischen Neuaufstellung: Unter der Führung des charismatischen Jungpolitikers Sebastian Kurz gewann die konservative ÖVP die Kanzlerschaft. Indes hat sich in Deutschland eine seit dreizehn Jahren regierende Bundeskanzlerin aus der Volkspartei CDU an ihr Amt geklammert, obwohl ihre Autorität nachhaltig beschädigt ist. Offenbar ist niemand in Sicht, der den gebeutelten Parteien der Mitte in Deutschland neues Leben einhauchen könnte. Wie andernorts ist es auch hier zu einer »Umkehrung von Autorität« gekommen: Die Bürger vertrauen ihren Regierungen immer weniger und dafür den sozialen Medien immer mehr. Ungeachtet seiner wirtschaftlichen Erfolge sind in Deutschland zudem zwei Symptome kollektiver Angst besonders ausgeprägt. Wenn Menschen Zukunftsängste haben, bekommen sie weniger Kinder: Deutschland hat eine der niedrigsten Fertilitätsraten in der westlichen Welt. Und wer sich um die Zukunft sorgt, neigt zum Sparen: Deutschland weist eine der höchsten Sparquoten in der westlichen Welt auf.

Jede Gesellschaft hat ihre Besonderheiten und kulturelle Eigenschaften, die dem Außenstehenden verborgen bleiben. Bei der Lektüre werden Sie bemerken, dass dies ein sehr persönliches Buch ist. Der Anstoß dazu ging letztlich von meinen eigenen schmerzlichen Erfahrungen mit den sozialen Spaltungen aus, die ich beschreibe – mit dem Spagat, den ich selbst machte. Wie viel davon auf Deutschland und Österreich zutrifft beziehungsweise auf die Regionen in diesen Ländern, die Sie aus eigener Erfahrung kennen, mögen Sie als Leser selbst beurteilen. Wie bei meinen anderen Büchern freue ich mich über Kommentare und Anregungen von Lesern. Meinem Übersetzer, Thorsten Schmidt, möchte ich für seine gewissenhafte Arbeit danken – er versteht sein Handwerk. Meine Vermutung ist, dass ein Großteil dessen, was ich in diesem Buch beschreibe, auch auf die deutschsprachigen Länder zutrifft. Und werden die neuen Verwerfungen nicht effektiv eingedämmt, wird dies gravierende Folgen haben. Die Kernbotschaft des Buches ist allerdings keine Warnung, sondern ein Aufruf zum Handeln. Alle westlichen Gesellschaften sind so reich, dass sie es sich leisten können, den neuen Spaltungen entgegenzuwirken – dies gilt vor allem für Deutschland und Österreich.

Noch zwei Bemerkungen zur Terminologie. Zum einen gebrauche ich den Begriff Sozialdemokratie zuweilen im weiter gefassten Sinne einer politisch-philosophischen Grundlage für die gesamte demokratische Mitte, einer Programmatik über Parteigrenzen hinaus, der sich sowohl die Mitte-links- als auch die Mitte-rechts-Parteien verpflichtet fühlten. Nach diesem Verständnis haben in Deutschland auch die Unionsparteien sozialdemokratische Politik gemacht. Zum anderen benenne ich Faktoren des Niedergangs, wie ihn alle sozialdemokratischen Parteien in der westlichen Welt gegenwärtig durchmachen. Daraus lassen sich auch Erkenntnisse über die Herausforderungen für die krisengeschüttelte SPD gewinnen.

Teil IKrise

1 Die neuen Ängste

Leidenschaft und Pragmatismus

Tiefe Risse bedrohen den Zusammenhalt in unseren Gesellschaften. Bei den Menschen lösen sie neue Ängste und neue Wut aus, in der Politik entfachen sie neue Leidenschaften. Die sozialen Ursachen für diese Ängste haben mit Geografie, Bildung und Wertvorstellungen zu tun: Die ländlichen Regionen rebellieren gegen die Metropolen, Nordengland gegen London, Sachsen gegen Berlin, das Landesinnere gegen die Küstenstriche, die Gering- gegen die Hochqualifizierten, die notdürftig über die Runden kommenden Arbeiter und Angestellten gegen die »Schmarotzer« und »Absahner«. Der minderqualifizierte, sich abrackernde Kleinstädter hat die Arbeiterklasse als die revolutionäre gesellschaftliche Kraft abgelöst: An die Stelle der Sansculottes sind die Sans Cool getreten, jene, die nicht mehr ruhig und gelassen bleiben. Was empört diese Menschen?

Der Wohnort ist zu einer Dimension der neuen Missstände geworden; nachdem die geografischen ökonomischen Ungleichheiten lange Zeit geschrumpft waren, haben sie sich zuletzt wieder deutlich verschärft. Überall in Nordamerika, Europa und Japan hängen städtische Ballungsräume die ländlichen Gebiete ab. Nicht nur ihre Wirtschaftsleistung und damit der Lebensstandard sind weitaus höher, auch sozial entkoppeln sie sich immer mehr und sind nicht länger repräsentativ für das Land, dessen Hauptstadt und Zentrum sie oftmals bilden.

Aber selbst innerhalb der dynamischen Metropolen ist der erstaunliche Zuwachs an Wohlstand sehr ungleich verteilt. Die neuen Erfolgreichen sind weder Kapitalisten noch gewöhnliche Arbeiter, sondern Gebildete, die über neue Kompetenzen verfügen. Sie haben sich selbst zu einer neuen Klasse formiert; sie lernen sich an den Hochschulen kennen und prägen ein neues Zusammengehörigkeitsgefühl aus, bei dem Wertschätzung auf Qualifikation beruht. Sie haben sogar eine eigene Ethik entwickelt, die Merkmale wie die Zugehörigkeit zu einer ethnischen Minderheit und die sexuelle Orientierung zu Gruppenidentitäten mit Opferstatus erhebt. Ausgehend von ihrer ausgeprägten Sorge um Opfergruppen, nehmen sie für sich selbst in Anspruch, den weniger Gebildeten moralisch überlegen zu sein. Nachdem sie sich selbst zu einer neuen Führungsklasse erhoben haben, ist ihr Vertrauen in den Staat und ineinander höher denn je.

Während die Gebildeten besser dastehen und die volkswirtschaftlichen Durchschnittswerte mit sich nach oben ziehen, stecken die geringer Qualifizierten sowohl in den Metropolen als auch auf dem Land in der Krise und werden zuweilen als »weiße Arbeiterschaft« stigmatisiert. Das Syndrom des Niedergangs begann mit dem Verlust von Arbeitsplätzen, die den Menschen Sinn und Halt gaben. Im Zuge der Globalisierung wurden viele Stellen für angelernte Arbeitskräfte nach Asien verlagert, und der technologische Fortschritt vernichtet viele weitere Jobs. Der Arbeitsplatzverlust hat zwei Altersgruppen besonders hart getroffen: ältere Arbeitnehmer und Berufseinsteiger.

Bei älteren Arbeitnehmern führt Erwerbslosigkeit oft zum Auseinanderbrechen ihrer Familien, Drogen- und Alkoholkonsum sowie Gewalttätigkeit. In den USA schlägt sich die dadurch oftmals ausgelöste persönliche Sinnkrise in einer sinkenden Lebenserwartung für Weiße ohne Collegeabschluss nieder, und dies zu einer Zeit, in der bei begünstigteren Gruppen dank des beispiellosen medizinischen Fortschritts ein rascher Anstieg der Lebenserwartung zu verzeichnen ist.[1] In Europa haben soziale Sicherungsnetze die Folgen des Syndroms abgemildert, aber auch hier ist es weit verbreitet, und in den am schlimmsten betroffenen Städten wie dem nordenglischen Blackpool sinkt die Lebenserwartung ebenfalls. Arbeitslose über fünfzig fühlen sich überflüssig und wertlos. Geringqualifizierten jungen Menschen ergeht es kaum besser. In vielen europäischen Ländern sind Jugendliche von Massenarbeitslosigkeit betroffen: Gegenwärtig sind ein Drittel der jungen Italiener arbeitslos, eine Größenordnung, die zuletzt während der Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre erreicht wurde. Erhebungen zeigen ein beispielloses Ausmaß an Pessimismus unter jungen Leuten: Die meisten rechnen damit, dass sie einmal einen geringeren Lebensstandard als ihre Eltern haben werden. Laut einer Umfrage ging im Jahr 2017 in Deutschland lediglich jeder Achte der zwischen 1980 und der Jahrtausendwende geborenen »Millenials« davon aus, dass es ihm finanziell besser gehen werde als seinen Eltern. Und dies ist auch nicht abwegig; in den letzten vierzig Jahren verschlechterte sich die ökonomische Leistungsbilanz des Kapitalismus. Die Weltfinanzkrise von 2008/2009 hat dies offensichtlich gemacht, aber schon seit den achtziger Jahren nahm der Pessimismus stetig zu. Der Kapitalismus löste sein wichtigstes Versprechen – einen ständig steigenden Lebensstandard für alle – immer weniger ein: Einige profitierten weiterhin, aber andere wurden abgehängt. In den USA, dem Musterland des Kapitalismus, steht die Hälfte der in den achtziger Jahren Geborenen schlechter da als die Generation ihrer Eltern im gleichen Alter.[2] Für sie funktioniert der Kapitalismus nicht. In Anbetracht der enormen Fortschritte in Technologie und politischer Ordnungsgestaltung seit den achtziger Jahren ist dieses Versagen erstaunlich. Diese Fortschritte, die ihrerseits auf dem Kapitalismus basieren, ermöglichen es grundsätzlich jedem, seinen Wohlstand deutlich zu mehren. Aber die meisten Menschen erwarten heute, dass es ihren Kindern einmal schlechter gehen wird als ihnen. Unter weißen amerikanischen Arbeitern teilen sogar erstaunliche 76 Prozent diese Sorge.[3] Und die Europäer sind noch pessimistischer eingestellt als die Amerikaner.

Die Ressentiments der Geringqualifizierten sind von Ängsten geprägt. Sie merken, dass sich die Gebildeten gesellschaftlich und kulturell von ihnen distanzieren. Und sie gelangen zu dem Schluss, dass sowohl die Distanzierung als auch das Aufkommen stärker begünstigter Gruppen, die ihrer Wahrnehmung nach Leistungen – unverdientermaßen – absahnen, ihre eigenen Ansprüche auf Unterstützung schwächen. Ihr Glauben an den Fortbestand ihres sozialen Sicherungsnetzes wird just in dem Moment erschüttert, in dem sie selbst stärker denn je darauf angewiesen sind.

Angst, Wut und Verzweiflung haben die politischen Loyalitäten der Menschen, ihr Vertrauen in den Staat und sogar ihr gegenseitiges Vertrauen untergraben. Menschen mit niedrigem Bildungsstand trugen jeweils die Rebellion, die in den USA Donald Trump Hillary Clinton besiegen ließ, die in Großbritannien dem Brexit-Lager zum Sieg verhalf, die in Frankreich die Anti-Establishment-Parteien von Marine Le Pen und Jean-Luc Mélenchon über 40 Prozent der Stimmen verschaffte (und die regierenden Sozialisten auf unter 10 Prozent drückte) und in Deutschland die Große Koalition so viele Stimmen kostete, dass die AfD zur stärksten Oppositionspartei im Bundestag wurde. Die Bildungskluft wird durch die geografische Kluft verstärkt. London stimmte mit großer Mehrheit für den Verbleib, New York mit großer Mehrheit für Clinton, Paris zeigte Le Pen und Mélenchon die kalte Schulter, und Frankfurt ließ bei der Bundestagswahl 2017 die AfD abblitzen. Die radikale Opposition kam aus der Provinz. Der Aufruhr war eine Altersfrage, aber nicht in dem schlichten Sinne von Alt gegen Jung. Sowohl ältere Arbeiter, die in dem Maße ausgegrenzt worden waren, wie ihre Fähigkeiten an Wert verloren, als auch junge Menschen mit schlechten Aussichten am Arbeitsmarkt wandten sich den Extremen zu. In Frankreich stimmte die Jugend überproportional für die in »neuer Optik« auftretende extreme Rechte, in Großbritannien und den USA stimmte sie überproportional für die extreme Linke in neuem Look.

Die Natur verabscheut das Vakuum, und das Gleiche tun Wähler. Die aus der Kluft zwischen dem, was geschehen ist, und dem, was möglich ist, gespeiste Frustration hat zwei Typen von Politikern Auftrieb gegeben, die ihre Chance witterten: Populisten und Ideologen. Das letzte Mal, als der Kapitalismus aus der Bahn geworfen wurde, in den dreißiger Jahren, geschah das Gleiche. Die aufziehenden Gefahren wurden von Aldous Huxley in Schöne neue Welt (1932) und George Orwell in 1984 (1949) plastisch beschrieben. Das Ende des Kalten Krieges im Jahr 1989 schien mit der glaubwürdigen Aussicht verbunden zu sein, dass all diese Katastrophen ein für alle Mal hinter uns lägen: Wir waren am »Ende der Geschichte« angelangt, in einer permanenten Utopie. In Wahrheit spricht vieles dafür, dass wir unsere eigene Dystopie erschaffen.

Die neuen Ängste wurden umgehend mit den alten ideologischen Rezepten beantwortet, die uns zurückwerfen auf die altbekannte, fruchtlose Auseinandersetzung zwischen Links und Rechts. Eine Ideologie bietet die verlockende Kombination aus einfachen moralischen Gewissheiten und einer universellen Analyse, die eine selbstgefällige Antwort auf jedes Problem bereithält. Die nun wiederbelebten Ideologien des Marxismus des 19. Jahrhunderts, des Faschismus des 20. Jahrhunderts und des religiösen Fundamentalismus des 17. Jahrhunderts haben ganze Gesellschaften ins Unglück gestürzt. Weil die Ideologien scheiterten, verloren sie die meisten ihrer Anhänger, und so standen nur wenige ideologisch geprägte Politiker zur Verfügung, um sie wiederzubeleben. Sie gehörten Organisationen an, die weitgehend in der Bedeutungslosigkeit versunken waren: Menschen, die anfällig für die paranoide Vorstellungswelt ihrer jeweiligen »Sekte« und zu engstirnig waren, um sich der Tatsache des vergangenen Scheiterns zu stellen. In dem Jahrzehnt vor dem Zusammenbruch des Kommunismus im Jahr 1989 glaubten die verbliebenen Marxisten, im »Spätkapitalismus« zu leben. Die öffentliche Erinnerung an diesen Zusammenbruch ist mittlerweile so weit verblasst, dass ein Wiederaufleben möglich erscheint: Es gibt eine neue Flut von Büchern über eben dieses Thema.[4]

An Verführungskraft steht dem Ideologen ein anderer Politikertypus in nichts nach, der charismatische Populist. Populisten scheuen selbst die rudimentäre Analyse, an der sich die Ideologie versucht, und springen direkt zu Lösungen, die sich zwei Minuten lang wahr anhören. Daher zielt ihre Strategie darauf, Wähler durch unterhaltsame Darbietungen vom Nachdenken abzuhalten. Solcherart Führer rekrutieren sich aus einem weiteren Pool: der Medienprominenz.

Während sowohl Ideologen als auch Populisten von den Ängsten und der Wut zehren, die durch die neuen Verwerfungen erzeugt werden, sind sie unfähig, darauf angemessene Antworten zu geben. Diese Risse sind keine Wiederholungen der Vergangenheit, sondern komplexe neue Phänomene. Aber bei der Umsetzung ihrer »Quacksalber-Therapien« können diese Politiker immense Schäden anrichten. Es gibt sehr wohl nachhaltige Lösungsansätze für die Prozesse, die den Zusammenhalt in unseren Gesellschaften untergraben, aber sie lassen sich weder aus dem moralischen Rigorismus einer Ideologie noch aus den unausgegorenen Patentrezepten des Populismus ableiten. Sie erfordern Analyse und empirische Überprüfung, anders gesagt: den kühlen Kopf des Pragmatismus. Alle Maßnahmen, die ich im Folgenden vorschlage, sind pragmatisch.

Trotzdem hat Leidenschaft ihren Platz, und sie durchzieht auch dieses Buch. Ich habe jeden der drei schmerzlichen Brüche, die sich in unseren Gesellschaften aufgetan haben, selbst erlebt. Obgleich ich einen kühlen Kopf bewahrte, rührten sie mich im Herzen an.

Zuerst die neue geografische Spaltung zwischen boomender Metropole und zerrütteten Provinzstädten. Meine Heimatstadt Sheffield wurde zum Inbegriff einer Stadt im Niedergang, und der Zusammenbruch der dortigen Stahlindustrie wurde in dem Film Ganz oder gar nicht verewigt. Ich habe diese Tragödie hautnah erfahren: Unser Nachbar wurde arbeitslos, ein Verwandter fand eine Stelle als Toilettenputzer. Unterdessen war ich nach Oxford umgezogen, das zum Erfolgsmodell wurde: Das Viertel, in dem ich wohne, hat heute die höchste Immobilienpreis-Einkommens-Relation in ganz Großbritannien.

Auch die Kluft, die sich im Hinblick auf Qualifikation, innere Verfasstheit und generell die Haltung zum Leben zwischen erfolgreichen Familien und denen auftut, die in Armut gerieten, kenne ich aus eigener Erfahrung. Im Alter von 14 Jahren waren meine Cousine und ich gleichauf: am selben Tag geboren, die Kinder ungebildeter Eltern, die die Aufnahmeprüfung fürs Gymnasium bestanden hatten. Doch warf sie der frühe Tod ihres Vaters aus der Bahn; dieser Autoritätsfigur beraubt, wurde sie schon im Teenageralter Mutter, mit allem, was dies an Rückschlägen und Demütigungen mit sich brachte. Ich durchlief derweilen den höheren Bildungsweg und ergatterte ein Stipendium in Oxford.I Von dort führte mich der akademische Karriereweg auf Lehrstühle in Oxford, Harvard und Paris. Für den Fall, dass all das für mein Selbstwertgefühl noch nicht ausreichen sollte, verlieh mir eine Labour-Regierung den Orden Commander of the British Empire, und eine konservative Regierung erhob mich in den Ritterstand. Sobald die Divergenz einsetzt, entwickelt sie eine Eigendynamik. Mit siebzehn waren die Töchter meiner Cousine ihrerseits junge Mütter. Meine siebzehnjährige Tochter hingegen hat ein Stipendium für eine der besten Schulen des Landes.

Schließlich habe ich auch die globale Spaltung zwischen dem gewaltigen Wohlstand in den USA, Großbritannien und Frankreich, wo ich jeweils komfortabel lebte, und der verzweifelten Armut Afrikas, wo ich arbeite, mit eigenen Augen gesehen. Meine Studenten, überwiegend Afrikaner, sind dann, wenn sie nach ihrem Abschluss ihre eigenen Lebensentscheidungen treffen, mit diesem krassen Dilemma konfrontiert. Vor Kurzem stand ein Sudanese, ein Arzt, der in Großbritannien gearbeitet hat, vor der Wahl, im Land zu bleiben oder in den Sudan zurückzukehren, um im Büro des Ministerpräsidenten tätig zu werden. Er beschloss zurückzugehen: Das ist ungewöhnlich, wenn man bedenkt, dass es in London mehr sudanesische Ärzte gibt als im gesamten Sudan.

Die drei erwähnten alarmierenden Spaltungen sind für mich nicht nur Probleme, denen ich meine Forschung widmete – sie sind Tragödien, die zu bekämpfen ich mir zur Lebensaufgabe gemacht habe. Deshalb habe ich dieses Buch geschrieben: Ich will, dass sich die Situation verändert.

Triumph und Niedergang der Sozialdemokratie

Sheffield ist eine unansehnliche Stadt, aber das festigt nur den Zusammenhalt ihrer Einwohner, und dieses Gemeinschaftsgefühl war einmal eine starke politische Kraft. Die nordenglischen Städte waren die Wegbereiter der Industriellen Revolution und ihre Bewohner die Ersten, die den von ihr ausgelösten neuen Ängsten ausgesetzt waren. Ihre gemeinsame Bindung an den Ort, an dem sie aufgewachsen waren, brachte Gemeinschaften wie in Sheffield dazu, genossenschaftliche Organisationen zu gründen, die diesen Ängsten entgegenzuwirken suchten. Indem man sich auf die enge Verbundenheit stützte, wurden Organisationen aufgebaut, die erfolgreich dem Prinzip der Wechselseitigkeit folgten. Wohnungsbaugenossenschaften ermöglichten es den Leuten, für den Bau eines Hauses zu sparen; eine andere Stadt in Yorkshire, Halifax, brachte die größte britische Bank hervor. Über Versicherungsgenossenschaften konnte man sich gegen Risiken wappnen, Agrar- und Einzelhandelsgenossenschaften gaben Landwirten und Verbrauchern Verhandlungsmacht gegenüber Großunternehmen. Von ihren Ursprüngen in Nordengland breitete sich die Genossenschaftsbewegung rasch über weite Teile Europas aus.

Die Genossenschaften schlossen sich zusammen und bildeten so die Basis der Mitte-links-Parteien: der Parteien der Sozialdemokratie. Die positiven Effekte der Reziprozität innerhalb einer Gemeinschaft vervielfachten sich, als die Nation zur bestimmenden Gemeinschaft wurde. Wie die Genossenschaften zielte auch die neue politische Agenda auf praktische Lösungen für die Existenzsorgen gewöhnlicher Familien. Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen in Europa viele dieser sozialdemokratischen Parteien an die Macht, und sie nutzten sie, um eine Reihe pragmatischer politischer Maßnahmen umzusetzen, die besagte Ängste wirksam eindämmten. Gesetze, die die Gesundheitsversorgung, das Renten- und Bildungssystem sowie die Arbeitslosenversicherung regelten, veränderten das Leben der Menschen von Grund auf. Diese Maßnahmen erwiesen sich als so nützlich, dass sie von der gesamten Mitte des politischen Spektrums akzeptiert wurden. Mitte-links- und Mitte-rechts-Parteien wechselten sich an der Macht ab, aber die Gesetze blieben in Kraft.

Heute aber steckt die Sozialdemokratie als politische Kraft in einer existenziellen Krise. In der letzten Dekade folgte ein Desaster aufs andere. In den USA verlor auf der linken Mitte eine von Bernie Sanders arg gebeutelte Hillary Clinton gegen Donald Trump; in Großbritannien haben in der von Tony Blair und Gordon Brown einst in die Mitte gerückten Labour Party heute Marxisten das Sagen. In Frankreich beschloss Präsident François Hollande, sich gar nicht erst um eine zweite Amtszeit zu bewerben, und sein Nachfolger als Kandidat der Sozialistischen Partei, Benoît Hamon, erlitt mit nur acht Prozent der Stimmen einen beispiellosen Absturz. Aber auch die sozialdemokratischen Parteien Italiens, der Niederlande, Norwegens und Spaniens erlebten alle massive Stimmeneinbrüche. Dies wäre normalerweise eine gute Nachricht für die Politiker des Mitte-rechts-Spektrums gewesen, aber in Großbritannien und den USA verloren auch sie die Kontrolle über ihre Parteien, während sie in Frankreich und Deutschland in der Wählergunst ebenso deutlich abrutschten. Warum ist das geschehen, in Deutschland und anderswo?

Ein Grund dafür ist, dass sich sowohl die demokratischen Mitte-links- als auch die Mitte-rechts-Parteien von der praktischen Reziprozität auf kommunaler Ebene entfernten und von einer ganz anderen Gruppe vereinnahmt wurden, die einen unverhältnismäßig großen Einfluss auf sie gewann: Intellektuelle, die selbst der Mittelschicht entstammten.

Die Vordenker und Ideengeber der Linken fühlten sich zu den Vorstellungen des Philosophen Jeremy Bentham hingezogen, der im 19. Jahrhundert wirkte. Seine Philosophie, der Utilitarismus, trennte die Frage der Sittlichkeit einer Handlung von ihrer Übereinstimmung mit unseren verinnerlichten Werten und leitete die Moralität von einem einzigen Prinzip der Vernunft ab: Eine Handlung solle dann als moralisch gelten, wenn sie »das größte Glück der größten Zahl« fördere. Weil die intuitiven Werte der Menschen diesem hohen Standard nicht genügten, sei die Gesellschaft auf eine Avantgarde moralisch integrer Technokraten angewiesen, die die Regierungsgeschäfte leite. Diese Avantgarde, die paternalistischen Hüter der Gesellschaft, waren eine moderne Version der »Wächter« in Platons Politeia (»Der Staat«). John Stuart Mill, ein Schüler Benthams – und der zweite geistige Gründervater des Utilitarismus –, las die Politeia mit acht Jahren im griechischen Original.

Leider waren Bentham und Mill keine moralischen Überflieger, vergleichbar mit Moses, Jesus und Mohammed, vielmehr verschrobene Sonderlinge. Bentham war so eigenbrötlerisch, dass man ihn heute für einen schwer kontaktgestörten Autisten hält. Mill hatte von Anfang an nur geringe Aussichten auf ein normales Leben: Absichtlich von anderen Kindern ferngehalten, war er vermutlich mit Altgriechisch vertrauter als mit der Gesellschaft, in der er lebte. In Anbetracht dieser Ursprünge ist es nicht weiter verwunderlich, dass sich die Ethik ihrer Anhänger grundlegend von den ethischen Anschauungen der meisten anderen Menschen unterscheidet.[5]

Die sonderbaren moralischen Werte Benthams hätten vermutlich keinerlei Einfluss gehabt, wenn sie nicht Eingang in die Ökonomie gefunden hätten – und damit letzten Endes auch in die Politik. Wie wir sehen werden, entwickelten die Ökonomen eine Theorie des menschlichen Verhaltens, die so weit von der utilitaristischen Moral entfernt ist wie überhaupt möglich. Der Homo oeconomicus ist absolut egoistisch und unendlich habgierig, und er interessiert sich für niemanden außer sich selbst. Er wurde zur Grundlage der Wirtschaftstheorie des menschlichen Verhaltens. Aber zum Zweck der Bewertung politischer Maßnahmen benötigten die Wirtschaftswissenschaften ein Maß, das ihnen erlaubte, das Wohlbefinden beziehungsweise den »Nutzen« jedes Einzelnen dieser psychopathischen Individuen aufzuaddieren. Der Utilitarismus wurde zum intellektuellen Unterbau dieser Arithmetik: »Das größte Glück der größten Zahl« eignete sich zufälligerweise für die Anwendung mathematischer Standardverfahren der Maximierung. »Nutzen« sollte das Ergebnis des Konsums sein, und zusätzlicher Konsum sollte immer kleinere Nutzenzuwächse erzeugen. Wäre die Gesamtmenge des Konsums in einer Gesellschaft unveränderlich, wäre die Nutzenmaximierung eine einfache Frage der Einkommensumverteilung, bis die völlige »Konsumgleichheit« erreicht werden würde. Sozialdemokratische Ökonomen erkannten, dass der »Konsumkuchen« keine feste Größe ist, und da Besteuerung ein negativer Arbeitsanreiz ist, würde der Kuchen schrumpfen. Fortgeschrittene Theorien der »optimalen Besteuerung« und der »Prinzipal-Agenten-Beziehung« wurden entwickelt, um das Anreizproblem zu lösen. Sozialdemokratische Politik bestand im Grunde aus immer ausgefeilteren Methoden, um den Konsum mithilfe von Steuern umzuverteilen und gleichzeitig negative Arbeitsanreize zu minimieren.

Schon bald wurde bewiesen, dass es keine mechanische Methode gibt, um aus dem individuellen »Nutzen« Aussagen über das Wohlbefinden der Gesamtgesellschaft abzuleiten, die auch nur annähernd intellektuell kohärent wären. Die Wirtschaftswissenschaftler gestanden dies ein, machten aber trotzdem weiter wie gehabt. Die meisten akademischen Philosophen gaben den Utilitarismus wegen seiner zahlreichen Schwächen auf, während die Ökonomen die Augen davor verschlossen. Der Utilitarismus erwies sich als erstaunlich bequem. Fairerweise muss man sagen, dass er für viele politische Fragen ausreichend ist; es hängt von der konkreten politischen Maßnahme ab, ob seine Unzulänglichkeiten gravierende negative Folgen haben. Für einfache Fragen von geringer Bedeutung wie etwa »Sollte hier eine Straße gebaut werden?« ist er manchmal die beste verfügbare Technik. Aber für viele weiterreichende Fragestellungen ist er gänzlich ungeeignet.

Bewaffnet mit ihrem utilitaristischen Kalkül, infiltrierten die Wirtschaftswissenschaften die Politik. Platon stellte sich seine Wächter als Philosophen vor, aber in der Praxis waren sie in der Regel Ökonomen. Ihre Annahme, Menschen seien Psychopathen, rechtfertigte es, dass sie als besagte moralisch überlegene Avantgarde Machtbefugnisse für sich beanspruchten; und die Annahme, Zweck des Staates sei es, den gesamtgesellschaftlichen Nutzen zu maximieren, rechtfertigte die Umverteilung des Konsums auf diejenigen mit den größten »Bedürfnissen«. Unabsichtlich, und in der Regel unmerklich, verabschiedete sich die sozialdemokratische Politik davon, wechselseitige Verpflichtungen zwischen allen Bürgern zu knüpfen.

In der Kombination war das Ergebnis toxisch. Sämtliche moralischen Verpflichtungen wurden auf den Staat übertragen, und die Verantwortung wurde von den Moralhütern der Avantgarde wahrgenommen. Bürger waren nicht länger moralische Akteure mit Verpflichtungen, vielmehr wurden sie auf ihre Rolle als Konsumenten reduziert. Der allwissende Gesellschaftsplaner – der platonische Wächter – und seine utilitaristische Avantgarde aus hilfreichen Engeln wussten es am besten: Der Kommunitarismus wurde durch einen sozialen Paternalismus ersetzt.

Dieser selbstbewusste Paternalismus fand seinen sinnbildlichen Ausdruck in der Stadtentwicklungspolitik der Nachkriegszeit. Die wachsende Zahl von Kraftfahrzeugen erforderte den Bau von Hochstraßen, und die wachsende Zahl von Menschen benötigte Wohnraum. Folglich wurden ganze Straßenzüge und Viertel planiert und durch moderne Hochstraßen und Hochhäuser ersetzt. Doch zur Verwunderung der utilitaristischen Avantgarde folgte eine Gegenreaktion. Das Planieren von Vierteln war sinnvoll, wenn es lediglich darum ging, die materiellen Wohnbedingungen armer Menschen zu verbessern. Aber es schadete dem sozialen Zusammenhalt jener, die dort lebten.

Neuere sozialpsychologische Studien erlauben uns, diese Gegenreaktion besser zu verstehen. In einem brillanten Buch hat der Moralpsychologe Jonathan Haidt grundlegende Werte weltweit untersucht. Er fand heraus, dass fast alle Menschen sechs Werte hochschätzen: Loyalität, Fairness, Freiheit, Hierarchie, Fürsorge und Reinheit (gemeint ist die Unantastbarkeit von Dingen auch jenseits eines religiösen Zusammenhangs).[6] Die wechselseitigen Verpflichtungen, die die Genossenschaftsbewegung aufbaute, stützten sich auf die Werte Loyalität und Fairness. Der Paternalismus der utilitaristischen Avantgarde, der sich beispielhaft in der Planierung von Vierteln zeigt, verstieß gegen diese beiden Werte und gegen die Freiheit – während jüngste sozialpsychologische Studien unter Einbeziehung neurowissenschaftlicher Erkenntnisse herausgefunden haben, dass die bei Planern so beliebten modernistischen Designs das Wohlbefinden der Bewohner dadurch beeinträchtigen, dass sie gegen verbreitete ästhetische Wertvorstellungen verstoßen. Weshalb erkannte die Avantgarde nicht diese sittlichen Mängel ihrer Handlungen? Auch hier liefert Haidt die Antwort: Ihre Werte waren atypisch. Statt an den sechs Werten, die von den meisten Menschen hochgeschätzt werden, orientierte sich die Avantgarde lediglich an zwei eigenen, also einem deutlich geschrumpften Kanon: Fürsorge und Gleichheit. Aber nicht nur ihre Werte, sondern auch ihre Eigenschaften waren atypisch: westlich, gebildet, industriell, reich und entwickelt (oder mit dem Akronym der entsprechenden englischen Begriffe: WEIRD, »eigenartig«). Fürsorge und Gleichheit sind utilitaristische Werte, und die WEIRD, das sind die Vertreter der liberalen, wohlhabenden westlichen Bildungselite. Bestenfalls erweitert Bildung unsere Empathie, die uns befähigt, uns in andere hineinzuversetzen.II Aber in der Praxis tut sie oftmals das Gegenteil: Sie distanziert die Erfolgreichen von den Ängsten und Sorgen der einfachen Leute. Erfüllt vom Selbstbewusstsein meritokratischer Überlegenheit, hielten sich die Angehörigen der Avantgarde für die neuen platonischen Wächter, die berechtigt waren, sich über die Werte anderer hinwegzusetzen. Wenn Haidt tiefer gebohrt hätte, dann hätte er meines Erachtens herausgefunden, dass die WEIRD zwar demonstrativ Hierarchien ablehnen, darunter aber Hierarchien der Vergangenheit verstehen. Eine neue Hierarchie dagegen halten sie für selbstverständlich: Sie selbst bilden die neue Meritokratie.

Die Gegenreaktion gegen den Paternalismus gewann in den siebziger Jahren an Stärke. Sie hätte die Geringschätzung von Loyalität und Fairness angreifen und den Kommunitarismus erneuern können, aber stattdessen attackierte die Avantgarde die Geringschätzung der Freiheit und forderte, den Einzelnen gegen Übergriffe des Staates zu schützen, indem sie sich auf natürliche Rechte berief. Bentham hatte das Konzept der natürlichen Rechte »Unsinn auf Stelzen« genannt, und ich glaube, dass er in diesem Punkt recht hatte. Aber Politiker, die Wahlen gewinnen mussten, fanden es vorteilhaft, neue Rechte zu proklamieren. Rechte, das hörte sich prinzipientreuer an als bloße Versprechen zusätzlicher Ausgaben, und während spezifische Versprechen auf der Basis von Kosten und Steuern hinterfragt werden konnten, blieben bei Rechten die Verpflichtungen, die notwendig waren, um sie zu erfüllen, diskret im Verborgenen. Die Genossenschaftsbewegung hatte Rechte und Pflichten eng miteinander verknüpft; die Utilitaristen hatten beide von den Individuen abgelöst und sie auf den Staat übertragen. Jetzt erneuerten die Libertären die Rechte von Individuen, nicht aber die Pflichten.

Jene, die die individuellen Rechte einforderten, verbündeten sich mit einer neuen politischen Bewegung, die ebenfalls Rechte beanspruchte, und zwar für gesellschaftlich benachteiligte Gruppen. Vorreiter waren hier die Afroamerikaner, denen bald die Feministinnen nacheiferten. Auch sie fanden ihren Philosophen – John Rawls –, der Benthams Kritik der natürlichen Rechte ein anderes übergeordnetes Vernunftprinzip entgegensetzte: Eine Gesellschaft sollte dann als moralisch gelten, wenn ihre Gesetze zum Wohle der am stärksten benachteiligten Gruppen gestaltet waren. Das wichtigste Ziel dieser Bewegungen war die gesellschaftliche Inklusion auf gleichberechtigter Basis mit anderen, und sowohl Afroamerikaner als auch Frauen hatten nur allzu berechtigte Gründe, um tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen zu fordern. Wie wir sehen werden, können soziale Muster außerordentlich stabil sein, und so erforderte die gleichberechtigte Inklusion zwangsläufig eine Übergangsphase des Kampfs gegen Diskriminierungen.

Ein halbes Jahrhundert später befinden wir uns noch immer in dieser Übergangsphase, aber die ursprünglichen Inklusionsbewegungen haben sich, vielleicht unabsichtlich, zu Gruppenidentitäten verfestigt, die sich gegeneinander wenden: Der Kampf wird dadurch verstärkt, dass man sich eine feindliche Gruppe ausmalt.III Die Sprache der Rechte wucherte; sie umschloss nun die Rechte des Individuums gegen den paternalistischen Staat, die Rechte von Wählern, die von Politikern in regelmäßigen Abständen mit Leistungsansprüchen bedacht wurden, und die Rechte neuer Opfergruppen, die sich eine Vorzugsbehandlung wünschten. Diese drei Kategorien von Rechten hatten wenig miteinander gemeinsam, aber jede war unvereinbar mit der inklusiven Verknüpfung von Rechten und Pflichten, die die Sozialdemokratie erreicht hatte, als sie ihren kommunitaristischen Wurzeln treu geblieben war.

Die utilitaristische Sache wurde von Ökonomen unterstützt, die Sache der Rechte von Juristen. In Bezug auf manche Probleme stimmten die beiden Avantgarde-Fraktionen überein, was sie zu außerordentlich mächtigen Lobbys machte. In anderen Fragen gerieten sie aneinander: Rawls und seine Anhänger fanden sich damit ab, dass einige der Rechte, die kleine, aber benachteiligte Gruppen stärken, alle anderen schlechterstellen und daher dem utilitaristischen Kriterium nicht genügen. In dem Wettstreit zwischen ökonomischen Technokraten und Juristen hatten die Wirtschaftswissenschaftler zunächst die Nase vorn: Das Versprechen, »das größte Wohl für die größtmögliche Zahl« zu schaffen, gefiel Politikern, die um Wählerstimmen warben. Aber nach und nach verschob sich das Machtgleichgewicht zu den Juristen, die über die Allzweckwaffe der Gerichte verfügten.

Während sich die beiden Ideologien immer weiter voneinander entfernten, hatten beide wenig Raum für die Leitideen der Genossenschaftsbewegung. Utilitaristen, Rawlsianer und Libertäre – sie alle stellten das Individuum, nicht das Kollektiv, in den Vordergrund, und sowohl utilitaristische Ökonomen als auch rawlsianische Juristen betonten Unterschiede zwischen Gruppen, Erstere basierend auf Einkommen, Letztere basierend auf Benachteiligung. Beide beeinflussten die sozialdemokratische Politik. Utilitaristische Ökonomen forderten eine bedürfnisgerechte Umverteilung; nach und nach wurden Sozialleistungen neu gestaltet, wobei (die Höhe der) Ansprüche von Beiträgen abgekoppelt wurden – womit man den Grundwert der Fairness aufgab. Diejenigen, die keine Beiträge geleistet hatten, wurden gegenüber denjenigen, die dies getan hatten, bevorzugt. Rawlsianische Juristen verlangten Entschädigung aufgrund von Benachteiligung. So wurden zum Beispiel die Rechte von Flüchtlingen zur obersten Priorität der deutschen Sozialdemokraten bei den Koalitionsverhandlungen im Frühjahr 2018. Martin Schulz, der damalige SPD-Vorsitzende, forderte mit Nachdruck, Deutschland müsse »sich an internationales Recht halten, unabhängig von der Stimmung im Land«.[7] Dieses »unabhängig von der Stimmung im Land« war ein klassischer Ausdruck der moralischen Avantgarde; sowohl Bentham als auch Rawls hätten Schulz zugejubelt, aber innerhalb eines Monats musste er zurücktreten. Beide Ideologien setzen sich über die normalen moralischen Instinkte der Gegenseitigkeit und VerdienstlichkeitIV hinweg und akzeptieren jeweils nur ein einziges Prinzip der Vernunft, das von einer Avantgarde aus Experten zur Geltung gebracht werden soll. Dagegen wurzelt die Genossenschaftsbewegung in der Wertschätzung der normalen moralischen Instinkte: eine philosophische Tradition, die auf David Hume und Adam Smith zurückgeht. Jonathan Haidt erkennt diese intellektuellen Schulden an, wenn er seine eigene Arbeit als »einen ersten Schritt zur Wiederaufnahme des Hume’schen Projekts« beschreibt.

Während die Linksintellektuellen die praktische kommunitaristische Sozialdemokratie zugunsten utilitaristischer und rawlsianischer Ideologien aufgaben, versteinerten die Mitte-rechts-Parteien in einer ideenarmen Nostalgie, oder sie wurden von einer in gleicher Weise irregeleiteten Gruppe Intellektueller vereinnahmt. Die konservativen Politiker Kontinentaleuropas, für die beispielhaft Silvio Berlusconi und Jacques Chirac stehen, haben überwiegend den Weg der Nostalgie eingeschlagen; die konservativen und republikanischen Parteien der anglofonen Welt entschieden sich für Ideologie. Der Philosophie Rawls wurde diejenige Robert Nozicks entgegengesetzt: Danach haben die individuellen Freiheitsrechte Vorrang vor den Interessen des Kollektivs. Diese Idee verband sich auf natürliche Weise mit der neuen ökonomischen Analyse – deren Wegbereiter der Nobelpreisträger Milton Friedman war –, wonach die nur durch den Wettbewerb eingeschränkte Freiheit zur Verfolgung eigennütziger Interessen zu besseren Ergebnissen führen soll als öffentliche Regulierung und Planung, und sie bildete das intellektuelle Fundament der wirtschaftspolitischen Revolutionen Ronald Reagans und Margaret Thatchers. Während die neuen Ideologien der Linken und der Rechten sich als diametrale Gegensätze präsentierten, war ihnen gemeinsam, dass sie die individuellen Rechte und das Leistungsprinzip betonten: Die moralische Verdienstelite der Linken konkurrierte mit der produktiven Leistungselite der Rechten. Die Superstars der Linken wurden die »Superguten«, die der Rechten die »Superreichen«.V

Angela Merkel war eine Ausnahme von der Tendenz zu Chirac’scher Nostalgie und der Ideologie der anglofonen Welt. Sie war vielmehr äußerst pragmatisch und opferte eine langfristige Strategie zugunsten kurzfristiger Taktik. Indem sie sich Teile der sozialdemokratischen Agenda zu eigen machte und auf plötzliche Ereignisse mit populistischen Kurskorrekturen ihrer Politik reagierte, gewann sie zwar Wahlen, doch am Ende folgten die unvermeidlichen Konsequenzen. Die einseitige, nicht mit den europäischen Partnern abgestimmte Reaktion auf den Flüchtlingsansturm wies so viele Mängel auf, dass sie innerhalb weniger Monate revidiert werden musste. Aber das hatte Methode. Als die Bilder von der durch einen Tsunami ausgelösten Nuklearkatastrophe in Fukushima den Grünen Auftrieb gaben, verfügte sie im Alleingang den Ausstieg aus der Kernenergie, was wiederum die Glaubwürdigkeit der deutschen Klimapolitik erheblich beschädigte. Und als Antwort auf die europäische Bankenkrise hat sie einseitig eine Garantie für deutsche Bankeinlagen abgegeben. Um zu verhindern, dass eine Flut von Einlagen von ihren Banken an deutsche Banken transferiert wurde, mussten andere Regierungen das Gleiche tun. Auf diese Weise ging die Haftung von den Banken auf die Staaten über, wodurch aus einer beherrschbaren Bankenkrise eine Staatsschuldenkrise wurde. Solche politisch motivierten Ad-hoc-Entscheidungen erwiesen sich als Sackgasse.

Was also war so falsch an der Sozialdemokratie, dass sie sowohl von Mitte-Links als auch von Mitte-Rechts aufgegeben wurde? In ihrer Hochzeit in den 1950er und 1960er Jahren war nicht viel an ihr auszusetzen gewesen. Aber auch wenn die Sozialdemokratie die tonangebende intellektuelle Kraft in der öffentlichen Politik war, so war sie doch ein Geschöpf ihrer Zeit. Anders als sämtliche Ideologien erhob sie nicht den Anspruch darauf, universelle Wahrheiten zu verkünden, vielmehr verdankte sie ihre Entstehung bestimmten historischen Umständen, und nur in deren Rahmen war sie gültig. In dem Maße, wie sich die Umstände wandelten, wurde ihren universellen Geltungsansprüchen der Boden entzogen. Ende der siebziger Jahre, als die soziale Gleichheit in den USA und in Großbritannien ihren Höhepunkt erreichte, begannen sich diese Bedingungen jedoch bereits aufzulösen; der »Volksaufstand«, der Reagan und Thatcher an die Macht spülte, war in vollem Gange. Die Sozialdemokratie hatte zwischen 1945 und den siebziger Jahren deshalb Erfolg, weil sie von einem riesigen, unsichtbaren und nicht messbaren Kapital zehrte, das sich während des Zweiten Weltkriegs angehäuft hatte: einer gemeinsamen Identität, die sich einer extremen und erfolgreichen nationalen Kraftanstrengung verdankte. Als dieses Kapital aufgezehrt wurde, sorgte die von dem paternalistischen Staat ausgeübte Macht zunehmend für Unmut.

Aber nicht nur die gesellschaftlichen, sondern auch die intellektuellen Grundlagen der Sozialdemokratie wurden untergraben. Der allwissende Gesellschaftsplaner geriet mit dem Aufstieg der Neuen Politischen Ökonomie (Public Choice Theory) in Vergessenheit. Diese erkannte die Tatsache an, dass politische Entscheidungen in der Regel nicht von entrückten Heiligen getroffen werden, sondern dadurch, dass der Druck, den verschiedene Interessengruppen einschließlich der Bürokraten selbst ausüben, austariert wird. Man konnte sich nur so lange auf die Selbstlosigkeit des Planers verlassen, solange die an der Entscheidung beteiligten Personen das nationale Interesse, wie es der Kriegsgeneration eingeflößt worden war, mit echter Leidenschaft verfolgten. Innerhalb der Philosophie hat der Utilitarismus noch immer vereinzelte Anhänger, aber die massiven Widerstände haben zugenommen.[8] Verstärkt werden sie durch die Kritik von Sozialpsychologen wie Haidt, die aufzeigen, dass seine Werte keineswegs universelle Wahrheiten sind. Die allermeisten Leute sind keine egoistischen Einfaltspinsel, anders als es die utilitaristische Wirtschaftstheorie nahelegt, sondern Menschen, die neben Fürsorge auch Fairness, Loyalität, Freiheit, Reinheit und Hierarchie wertschätzen. Sie sind nicht egoistischer als die sozialdemokratische Avantgarde; sie erkennen vielmehr, dass es im Leben darauf ankommt, verschiedene erstrebenswerte Werte auszubalancieren, statt einige wenige herauszuheben.

Während sich der neue Libertarismus der Rechten nicht nur als destruktiver, sondern auch als effizienter erwies, als erwartet worden war, kehrte die Linke an die Macht, nicht aber zum Kommunitarismus zurück. Stattdessen wurde sie jetzt von den neuen Ideologen kontrolliert. Die neue Avantgarde hatte, vermutlich ohne es selbst zu bemerken, die Kommunitarier ersetzt. Aber normale Familien merkten es, nicht zuletzt deshalb, weil einige der von der Avantgarde beförderten politischen Maßnahmen, losgelöst von ihrem konkreten Gemeinschaftsbezug, schädlich und unpopulär waren. Die Avantgarde lenkte den Staat von der florierenden Metropole aus und ließ staatliche Unterstützung gezielt jenen Gruppen zukommen, die ihres Erachtens die bedürftigsten waren: den »Opfern«. Die neuen Ängste befielen Menschen, die oftmals nicht in ausreichendem Maße entsprechende Kriterien erfüllten, obwohl sich ihre Lebensverhältnisse sowohl absolut als auch im Verhältnis zu den herkömmlichen »Opfergruppen« verschlechterten. Eine Konsequenz des »Opferstatus« war, dass jene, denen er zuerkannt wurde, in keiner Weise für ihre Lebensumstände verantwortlich gemacht werden konnten. Selbst wenn die Arbeiter einige der Opfermerkmale aufwiesen, so berechtigte sie dies allenfalls zu einer geringfügigen Erhöhung ihrer Konsumfähigkeit: Diese stand im Mittelpunkt der utilitaristischen Umverteilung. Begriffe wie Zugehörigkeit, Verdienstlichkeit, Würde und die Achtung, die aus der Erfüllung von Pflichten erwächst, gelten als sachlich irrelevant und fehlen daher zur Gänze im fachlichen Diskurs. Aber für gewöhnlich wurde der weißen Arbeiterschaft der Opferstatus vorenthalten: Die in den USA erscheinende libertäre National Review, der Inbegriff der WEIRD, kommentierte die sinkende Lebenserwartung dieser Bevölkerungsgruppe wie folgt: »Sie verdienen es, zu sterben.«[9] Obwohl alle Opfer gleich sind, sind manche Opfer »gleicher« als andere.

Wir sind Zeugen einer Tragödie. Meine Generation erlebte die triumphalen Erfolge des Kapitalismus, die sich die kommunitaristische Sozialdemokratie zunutze machte. Die neue Avantgarde usurpierte die Sozialdemokratie und brachte ihre eigene Ethik und ihre eigenen Prioritäten ein. Als die zerstörerischen Nebenwirkungen der neuen ökonomischen Kräfte unsere Gesellschaften trafen, wurden die Unzulänglichkeiten der neuen Ethik auf schonungslose Weise offenbar. Das gegenwärtige Versagen des Kapitalismus, so wie er von den neuen Ideologien gemanagt wird, ist ebenso offensichtlich, wie es die Erfolge dessen waren, was sie ersetzten. Wir sollten nicht länger bei den Missständen verharren, sondern uns fragen, wie sie behoben werden können.

Abhilfe schaffen

Politiker, Zeitungen, Zeitschriften und Bücher erteilen jede Menge kluger Ratschläge: Wir sollten Arbeitnehmer umschulen, sozial benachteiligten Familien helfen, Steuern für die Reichen erhöhen. Viele davon sind von der Grundidee her richtig, zielen aber nur auf einen Aspekt der neuen Ängste; sie liefern keine kohärente Antwort auf das, was mit unseren Gesellschaften passiert ist. Sie werden nur selten zu praktisch anwendbaren Strategien weiterentwickelt, die sich bereits bewährt haben. Anders als die der Ideologen sind sie auch nicht in einem ethischen Bezugsrahmen verankert. Ich habe versucht, es besser zu machen. Ich bemühe mich, eine kohärente Kritik an den Fehlentwicklungen mit praktischen Vorschlägen zur Überwindung der drei grundlegenden Spaltungen in unseren Gesellschaften zu verbinden.

Die Sozialdemokratie benötigt einen intellektuellen Neustart, der sie aus ihrer Existenzkrise herausholt, sodass sie wieder zur philosophischen Grundlage der gesamten politischen Mitte werden kann, sowohl der Mitte-links- als auch der Mitte-rechts-Parteien. Ermuntert hat mich zu diesem vielleicht vermessen anmutenden Projekt die Tatsache, dass vor über sechzig Jahren ein äußerst einflussreiches Buch genau dies tat. The Future of Socialism von Anthony Crosland verlieh der Sozialdemokratie während ihrer Blütezeit intellektuelle Kohärenz. Der Autor vollzog darin einen harten Bruch mit der marxistischen Ideologie, indem er anerkannte, dass der Kapitalismus den Wohlstand der Massen nicht etwa verhindert, sondern eine unabdingbare Voraussetzung dafür ist. Der Kapitalismus bringt Unternehmen hervor und diszipliniert sie, das heißt Organisationen, die Menschen befähigen, das Produktivitätspotenzial von Massenfertigung und Spezialisierung zu nutzen. Marx war der Ansicht, dies sei die Ursache von Entfremdung: Die Arbeit für Kapitalisten in Großunternehmen führe zwangsläufig dazu, dass Freude und körperliche Anstrengung auseinanderfielen, während Spezialisierung »den Menschen an ein einzelnes kleines Bruchstück des Ganzen fesselt«. Ironischerweise enthüllte gerade der industrielle Sozialismus die Folgen der Entfremdung auf verheerende Weise: in jener Einstellung, die sich in dem Satz »Sie tun so, als würden sie uns bezahlen, und wir tun so, als würden wir arbeiten« zusammenfassen lässt. Entfremdung ist jedoch nicht der Preis, den die Gesellschaft zahlen muss, um es zu Wohlstand zu bringen; den Kapitalismus zu akzeptieren bedeutet nicht, sich mit dem Teufel einzulassen. Viele gute moderne Unternehmen vermitteln Arbeitnehmern das Gefühl, einer sinnvollen Tätigkeit nachzugehen, und räumen ihnen dafür genügend Eigenverantwortung ein. Ihre Mitarbeiter ziehen Befriedigung aus dem, was sie tun, und nicht nur daraus, was sie verdienen. Bei etlichen anderen Unternehmen ist dies allerdings nicht der Fall, und viele Menschen stecken an unproduktiven und demotivierenden Arbeitsplätzen fest. Wenn der Kapitalismus für jeden funktionieren soll, muss er so gesteuert werden, dass er sowohl dem Bedürfnis nach sinnerfüllender Tätigkeit als auch Produktivitätserfordernissen Rechnung trägt. Dabei kommt es jedoch darauf an, den Kapitalismus in bestimmte Bahnen zu lenken, nicht darauf, ihn abzuschaffen.

Crosland war ein Pragmatiker; eine politische Maßnahme sollte seines Erachtens danach beurteilt werden, ob sie erfolgreich war, nicht danach, ob sie den Dogmen einer Ideologie entsprach. Eine Kernaussage der pragmatischen Philosophie lautet, dass wir keine ewigen Wahrheiten erwarten sollten, weil sich Gesellschaften wandeln. The Future of Socialism ist keine Bibel für die Zukunft, vielmehr lieferte das Buch eine Strategie, die auf die damalige Zeit zugeschnitten war. Während Crosland ein gesundes Misstrauen gegenüber dem arroganten Paternalismus der Avantgarde zum Ausdruck brachte, war seine Sicht des Gemeinwohls aber genauso reduktionistisch, bestand es für ihn doch in der Angleichung des individuellen Konsums. Das vorliegende Buch ist keine Neuauflage von The Future of Socialism. Vielmehr versuche ich, ein schlüssiges Bündel von Maßnahmen vorzustellen, die unseren neuen Ängsten entgegenwirken sollen.

Die akademische Welt zersplittert immer stärker in voneinander abgeschottete Fachgebiete. Dies bringt gewisse Vorteile in Bezug auf die Tiefe des Wissens mit sich, aber hier geht es um ein fächerübergreifendes Thema. Ich konnte dieses Buch nur schreiben, weil ich durch die Zusammenarbeit mit einem außergewöhnlich breiten Spektrum von Spezialisten, die Weltruf genießen, viel dazugelernt habe. Die neue soziale Divergenz wird zum Teil von einem Wandel sozialer Identitäten angetrieben; von George Akerlof habe ich die neue Psychoökonomik des Verhaltens von Menschen in Gruppen gelernt. Zum Teil ist sie auf Fehlentwicklungen der Globalisierung zurückzuführen; von Tony Venables habe ich gelernt, warum städtische Ballungsräume eine neue wirtschaftliche Dynamik entwickeln und warum Provinzstädte implodieren können. Ein weiterer Faktor ist das manchmal bedenkliche Verhalten von Unternehmen; von Colin Mayer habe ich gelernt, was gegen diesen Verlust moralischer Normen getan werden kann. Fundamental ist jedoch die Tatsache, dass politische Entscheidungen heute nur noch nach utilitaristischen Kriterien getroffen werden; Tim Besley brachte mir seinen Ansatz, der Moraltheorie und politische Ökonomie auf eine neue Weise zusammenführt, näher, und Chris Hookway klärte mich über die philosophischen Grundlagen des Pragmatismus auf.

Ich habe versucht, die Einsichten dieser Geistesgrößen in meine praktischen Lösungsvorschläge einfließen zu lassen, allerdings ist natürlich keiner von ihnen für das Ergebnis verantwortlich.[10] Kritiker werden bei der Lektüre nach Aussagen suchen, die sie infrage stellen können, und sie werden zweifellos fündig werden. Dennoch ist das Buch ein ernsthafter Versuch, neue wissenschaftliche Analysemethoden auf die neuen Ängste, die unsere Gesellschaften umtreiben, anzuwenden. Ich hoffe, dass es wie The Future of Socialism eine Grundlage bereitet, auf der sich die angeschlagene Mitte des politischen Spektrums erneuern kann.

Kapitalistische Gesellschaften müssen nicht nur Wohlstand schaffen, sondern auch ethischen Maßstäben genügen. Im nächsten Kapitel hinterfrage ich das Menschenbild des Homo oeconomicus, der als habgierig und egoistisch gilt. Beschämenderweise gibt es heute eindeutige empirische Belege dafür, dass Studenten der Wirtschaftswissenschaften im Lauf ihres Studiums beginnen, sich diesem Verhaltensmuster anzupassen – dennoch ist es anormal. Für die meisten von uns sind zwischenmenschliche Beziehungen von zentraler Bedeutung für unser Leben, und diese Beziehungen sind mit Pflichten verbunden. Entscheidend ist, dass Menschen wechselseitige Verpflichtungen eingehen, die das Wesen jeder menschlichen Gemeinschaft sind. Der Kampf zwischen Egoismus und reziproken Verpflichtungen – zwischen Individualismus und Kommunitarismus – spielt sich in drei Bereichen ab, die unser Leben beherrschen: Staaten, Unternehmen und Familien. In den letzten Jahrzehnten war der Individualismus in allen dreien auf dem Vormarsch und der Gemeinschaftsgedanke auf dem Rückzug. Für jeden Bereich unterbreite ich Vorschläge, wie die Gemeinschaftsethik erneuert und durch politische Maßnahmen, die ein neues Machtgleichgewicht schaffen, verbessert werden könnte.

Ausgehend von dieser praktischen kommunitaristischen Ethik, wende ich mich den Divergenzen zu, die das Sozialgefüge unserer Gesellschaften zerreißen. Die neue geografische Kluft zwischen der boomenden Metropole und den Provinzstädten im Niedergang lässt sich verringern, aber dazu bedarf es radikal neuer Konzepte. Die Metropole erzeugt sehr hohe ökonomische Renten, die der Gesellschaft insgesamt zufließen sollten, aber dazu ist eine grundlegende Reform der Steuergesetze notwendig. Es ist möglich, abgehängte Städte zu revitalisieren, aber die bisherige Bilanz ist mager. Weder der Markt noch öffentliche Maßnahmen zeigten besondere Wirkung. Nur eine breite Palette wohlabgestimmter und nachhaltiger innovativer Maßnahmen kann hier etwas erreichen.

Auch die neue soziale Spaltung zwischen den gut verdienenden Hoch- und den verzweifelnden Geringqualifizierten lässt sich verringern. Aber einzelne Maßnahmen allein helfen da nicht: Anders als es uns der Utilitarismus mit seiner Fixierung auf den Konsum glauben machen will, ist das Problem viel zu tiefgreifend, als dass es sich durch eine Ausweitung des Konsums über höhere Sozialleistungen lösen ließe. Mehr noch als zur Wiederbelebung sterbender Städte brauchen wir eine breite Palette von Maßnahmen, um die Lebenschancen der Menschen und ihre sozialen Beziehungen zu verbessern. Die sozialpolitischen Eingriffe sollten darauf abzielen, überlastete Familien zu unterstützen, anstatt dass Behörden selbst elterliche Fürsorgepflichten übernehmen. Einige der Probleme, die Menschen verzweifeln lassen, wurden durch selbstherrliche Strategien der Hochqualifizierten verschlimmert. Auch hier gibt es gewisse Spielräume, um die schädlichsten davon einzudämmen; es geht allerdings nicht nur darum, exzessiven Konsum durch Besteuerung zu bremsen.

Was die globale Spaltung betrifft, so hat die selbstbewusste paternalistische Avantgarde in der Erwartung einer postnationalen Zukunft eine sehr unbekümmerte Einstellung zur Globalisierung an den Tag gelegt. Dabei sind individuelle Reaktionen auf globale Chancen, die für den Einzelnen vernünftig erscheinen, nicht automatisch für die Gesellschaft von Vorteil. Die sachlich fundierte Ablehnung hoher Handelsschranken verlockte Ökonomen dazu, Handelsliberalisierung vorbehaltlos zu begrüßen. Im Allgemeinen bringt der internationale Handel jedem Land so viele Vorteile, dass die Profiteure die Verlierer vollumfänglich entschädigen könnten. Aber während sich Ökonomen lautstark für den Handel einsetzten, blieben sie stumm, was die Kompensation der Verlierer anging. Bleibt sie aus, entbehren Behauptungen, die Globalisierung steigere den gesamtgesellschaftliche Wohlstand, jedoch jeglicher analytischen Grundlage. In ähnlicher Weise führte die berechtigte Forderung nach Anerkennung der Rechte ethnischer Minderheiten zur uneingeschränkten Befürwortung der Zuwanderung. Doch auch wenn beide unter die Rubrik Globalisierung fallen, sind Handel und Migration zwei grundverschiedene wirtschaftliche Prozesse: Der eine wird vom komparativen Vorteil angetrieben, der andere vom absoluten Vorteil. Es gibt keinerlei Belege für die Vermutung, Migration bringe der Gesellschaft, in die eingewandert beziehungsweise aus der ausgewandert wird, Vorteile; eindeutige Gewinner sind nur die Migranten selbst.

Ein Manifest

Der Kapitalismus hat viel erreicht, und Wohlstand kann es ohne ihn nicht geben, aber naiver Optimismus ist fehl am Platz. Keine der drei neuen sozialen Spaltungen lässt sich allein dadurch überwinden, dass man sich auf den Druck der Märkte und den individuellen Eigennutz verlässt: »Kopf hoch, und genießen Sie die Fahrt« ist nicht nur sachlich unangemessen, sondern selbstgefällig. Wir brauchen einen aktiven Staat, aber sozialer Paternalismus ist mehrfach gescheitert. Die Linke ging davon aus, der Staat wisse es am besten, aber leider war das nicht der Fall. Man unterstellte einfach, dass der von der Avantgarde geleitete Staat die einzige Instanz sei, die ihr Handeln an ethischen Normen ausrichte. Doch damit wurden seine ethische Kraft enorm überschätzt und entsprechend die von Familien und Unternehmen krass unterschätzt. Die Rechte war der festen Überzeugung, wenn erst einmal die Fesseln der staatlichen Regulierung gelöst seien – das Mantra des Libertarismus –, werde dies die Kräfte des Eigennutzes freisetzen und den Wohlstand aller mehren. Eine Vorstellung von der Magie des Marktes, die zudem mit der Ablehnung ethischer Schranken einhergeht. Wir brauchen einen aktiven Staat, der sich aber mit einer bescheideneren Rolle begnügt; wir brauchen den Markt, aber gezähmt durch ein ethisch wohlfundiertes Bewusstsein der Verantwortung für das Gemeinwohl.

In Ermangelung eines besseren Begriffs nenne ich die Gesamtheit der von mir zur Überwindung der Spaltungen vorgeschlagenen Maßnahmen sozialen Maternalismus. Der Staat würde aktiv in die Wirtschaft und die Gesellschaft eingreifen, aber er dürfte sich nicht unverhohlen selbst immer mehr Machtbefugnisse übertragen. Die Steuerpolitik würde die Mächtigen davon abhalten, sich Gewinne anzueignen, die ihnen nicht zustehen, aber nicht leichtfertig den Reichen Einkommen wegnehmen, um es an die Armen umzuverteilen. Die staatlichen Rechtsvorschriften würden jene, die unter der »schöpferischen Zerstörung« leiden, durch die der Wettbewerb den ökonomischen Fortschritt antreibt, ermächtigen, Entschädigung zu verlangen, statt den gesamten Prozess, der dem Kapitalismus seine erstaunliche Dynamik verleiht, abwürgen zu wollen.VI Staatlich getragener Patriotismus wäre eine Kraft des Zusammenhalts, der an die Stelle der Betonung fragmentierter Identitäten, die sich aus Ressentiments speisen, träte. Die philosophische Grundlage dieser Agenda ist eine Zurückweisung jeglicher Ideologie. Aber damit rede ich keineswegs einem Sammelsurium von Ideen das Wort, vielmehr geht es um die Bereitschaft, unsere vielfältigen und instinktiven moralischen Werte und die pragmatischen Kompromisse, die die Vielfalt erfordert, zu akzeptieren. Die Methode, Werte durch Rückgriff auf ein einziges absolutes Prinzip der Vernunft auszuhebeln, fördert notwendigerweise die Spaltung. Die Forderung, die Vielfalt unserer Werte zu akzeptieren, findet ihre Grundlage in der Philosophie von David Hume und Adam Smith. Die in diesem Buch vorgeschlagenen Maßnahmen transzendieren das Links-rechts-Spektrum, dessen schlimmste Auswüchse das letzte Jahrhundert prägten und das gegenwärtig mit aller Macht zurückkehrt.VII Die Katastrophen des 20. Jahrhunderts waren das Werk politischer Führungsfiguren, die entweder leidenschaftlich für eine Ideologie eintraten – Männer mit Grundsätzen – oder mit Populismus hausieren gingen – Männer mit Charisma (nun ja, es waren für gewöhnlich Männer). Im Gegensatz zu diesen Ideologen und Populisten waren die erfolgreichsten Führer des 20. Jahrhunderts Pragmatiker. Lee Kwan Yew, der eine im Sumpf von Korruption und Armut steckende Gesellschaft übernahm, griff die Korruption frontal an und machte aus Singapur das bislang erfolgreichste Land des 21. Jahrhunderts. Pierre Trudeau, der als kanadischer Premierminister ein Land übernahm, das so zerrissen war, dass es kurz vor der Sezession stand, entschärfte den Separatismus in der überwiegend frankophonen Provinz Québec und schuf eine Nation, die voller Stolz auf sich selbst ist. Aus den Trümmern des Genozids baute Paul Kagame Ruanda zu einer gut funktionierenden Gesellschaft auf. In seinem Buch The Fix studierte der kanadische Journalist Jonathan Tepperman zehn solche Führungspersönlichkeiten auf der Suche nach der Formel, mit der sie jeweils Lösungen für gravierende Probleme fanden. Er gelangt zu dem Schluss, ihre Gemeinsamkeit bestehe darin, dass sie auf Ideologie verzichteten; stattdessen konzentrierten sie sich auf pragmatische Lösungen für Kernprobleme, wobei sie sich jeweils auf die konkreten Situationen einstellten.[11] Sie waren bereit, wenn nötig hart zu sein: Ihre Bereitschaft, mächtigen Gruppen ihre Unterstützung zu verweigern, war Kennzeichen ihres Erfolgs. Lee Kwan Yew war willens, seine Freunde ins Gefängnis zu werfen; Trudeau verweigerte seinen Landsleuten in Québec den ersehnten Unabhängigkeitsstatus; Kagame verwehrte seinem Tutsi-Team die übliche Beute eines militärischen Siegs. Sie alle mussten heftigen Widerstand aushalten, um schließlich erfolgreich zu sein.

Der Pragmatismus dieses Buches ist fest und konsequent auf moralischen Werten gegründet. Aber er enthält sich bewusst jeglicher Ideologie, und er wird Ideologen jeglicher Couleur verärgern. Sie beherrschen gegenwärtig die Medien. Sich als »links« zu bekennen ist eine allzu bequeme Methode geworden, sich moralisch überlegen zu fühlen; sich als »rechts« zu bekennen ist eine allzu bequeme Methode geworden, für sich die Tugend des »Realismus« zu beanspruchen. Es geht um nichts Geringeres als die Zukunft eines ethischen, sozialen Kapitalismus: willkommen in der mühsamen Mitte.

IWie ich war auch der bekannte britische Bühnenautor Alan Bennett Sohn von Eltern aus Yorkshire mit niedrigem Bildungsstand. In dem Theaterstück (und gleichnamigen Film) History Boys erzählt er seine Geschichte, die der meinen ähnlich ist, vom gesellschaftlichen Aufstieg aus bescheidenen Anfängen nach Oxford. Allerdings wuchs er im attraktiveren Leeds auf. Um das soziale Gefälle zu verdeutlichen, das er überwunden hatte, siedelte er das Stück nicht in seiner Heimatstadt, sondern in meiner an. Der erste Akt endet damit, dass der Protagonist seine Benachteiligungen in einem Crescendo auflistet: »Ich bin klein, ich bin schwul, und ich bin aus Sheffield!« Bennett ist es nicht, aber ich bins. Und da er das Stück sogar an meiner alten Schule handeln lässt, bin ich in einer authentischeren Weise ein »History Boy« als Bennett selbst.

IIPinker (2011) legt in einer brillanten Analyse dar, wie die Alphabetisierung breiter Bevölkerungsschichten in der Mitte des 19. Jahrhunderts einen Massenmarkt für Romane schuf. Durch die Lektüre von Romanen lernten die Menschen, eine Situation aus der Perspektive eines anderen wahrzunehmen – eine Schulung in Empathie. Pinker führt den Niedergang des einstmals so populären Spektakels öffentlicher Hinrichtungen darauf zurück.

IIIDies ist die gemeinsame politische Strategie von Faschismus und Marxismus.

IVEngl. »desert«; gemeint ist damit ein ethischer Anspruch auf das, was einem legitimerweise – etwa aufgrund eigener Anstrengungen – zusteht bzw. was man verdient hat. A. d. Ü.

VEntsprechend wurden jene anormalen Individuen, die sowohl in höchstem Maße moralisch gut als auch sehr reich waren – wie mein alter Freund George Soros es ist –, zu Superschurken, denen beide Seiten misstrauten.

VI»Schöpferische Zerstörung« ist der Prozess, durch den effiziente Unternehmen weniger effiziente durch Wettbewerb aus dem Markt drängen. Ihr verdankt sich ein Großteil der allmählichen Zunahme der Durchschnittseinkommen. Geprägt wurde der Begriff von Joseph Schumpeter (1942), der ihn »die grundlegende Tatsache des Kapitalismus« nannte. Sie ist der Grund dafür, dass alle anderen »Ismen«, wie romantisch verlockend sie sich auch anhören mögen, bestenfalls belanglos sind. Die Zukunft unserer Gesellschaften hängt davon ab, den Kapitalismus zu reformieren, nicht davon, ihn zu überwinden.

VIIDie Bausteine – Pragmatismus, Wohlstand, Gemeinschaftsbindung, Ethik und Sozialpsychologie – bilden eine in sich geschlossene Einheit. Dies hängt damit zusammen, dass sie alle auf David Hume und seinen Freund Adam Smith zurückgehen. Smiths Biograf Jesse Norman (2018) behauptet, dieser sei ein Pragmatiker gewesen. Entsprechend ließen sich die Ursprünge des Pragmatismus in Smiths Werk finden: »Die Konsequenzen seiner Newtonschen Wissenschaftsphilosophie werden in der Moderne von niemandem so meisterlich erkundet wie von Peirce«, dem Begründer des Pragmatismus. Die Ethik von Smith und Hume war ausdrücklich kommunitaristisch: Wie Norman sorgfältig nachweist, waren sie keine Proto-Utilitaristen.

Teil IIDie Ethik erneuern

2 Die Grundlagen der Moral: Vom egoistischen Gen zur ethischen Gruppe

Der moderne Kapitalismus hat das Potenzial, uns allen beispiellosen Wohlstand zu bringen, aber er ist moralisch bankrott und steuert geradewegs auf eine Tragödie zu. Menschen brauchen das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun, und der Kapitalismus bietet ihnen das nicht. Dabei könnte er es. Der eigentliche Zweck des modernen Kapitalismus besteht darin, allgemeinen Wohlstand zu schaffen. Vielleicht weil ich in armen Verhältnissen aufwuchs und mich als Wissenschaftler mit einkommensschwachen Gesellschaften beschäftige, weiß ich, dass dies ein lohnenswertes Ziel ist. Aber es genügt nicht. In einer erfolgreichen Gesellschaft haben die Menschen das Empfinden, ein sinnerfülltes, gelingendes Leben zu führen, aufzublühen – materieller Wohlstand verbindet sich hier mit einem Gefühl der Zugehörigkeit und der Wertschätzung durch andere. Materieller Wohlstand lässt sich durch das Einkommen messen, und sein Gegensatz ist verzweifelte Armut; das Ausmaß sinnerfüllter Lebensgestaltung wird gegenwärtig am besten durch das subjektive Wohlbefinden näherungsweise ermittelt, und sein Gegensatz ist mit sozialer Isolation und Demütigung verbunden.

Als Volkswirt habe ich gelernt, dass dezentraler, marktgestützter Wettbewerb – der Kern des Kapitalismus – der einzige Weg ist, um Wohlstand zu schaffen. Was aber sind die Quellen der anderen Aspekte des Wohlbefindens? Während dem Homo oeconomicus Faulheit unterstellt wird, ist zweckorientiertes Handeln wie etwa Arbeitstätigkeit wichtig für die Selbstachtung.VIII Und während der Homo oeconomicus selbstbezogen ist, setzt das Gefühl der Zugehörigkeit gegenseitige Wertschätzung voraus. Ein moralischer Kapitalismus, der neben materiellem Wohlstand auch gegenseitige Achtung und das Gefühl der Zugehörigkeit fördert, ist kein Widerspruch in sich. Das aber glauben viele Menschen verständlicherweise; sie sind überzeugt, der Kapitalismus sei mit dem verhängnisvollen Makel behaftet, sich ausschließlich auf Habgier als Triebfeder des Handelns zu stützen.

Mit dieser Kritik konfrontiert, plappern Befürworter des Kapitalismus oftmals die marxistische Doktrin nach, dass »der Zweck die Mittel heiligt«. Das ist ein fundamentaler Irrtum; ein nur von Gier angetriebener Kapitalismus würde genauso scheitern wie der Marxismus, er würde Menschen erniedrigen und Gesellschaften spalten, statt für breiten Wohlstand zu sorgen. Und tatsächlich führt der Kapitalismus ganze Gesellschaften derzeit in ebendiese Richtung. Dieses Buch zeigt eine Alternative auf, bei der die Mittel einem moralischen Zweck dienen. Dieser Neustart benötigt mehr als herzerwärmende Slogans, die von den PR-Abteilungen der Konzerne oder »Davos-Menschen« kreiert wurden.

Teil II des Buches schafft die ethischen Grundlagen, auf denen diese Lösungen basieren, während es in Teil III um praktische Lösungen für die sich immer weiter vertiefenden sozialen Spaltungen geht. Das aktuelle Kapitel wiederum behandelt die Frage, wie unsere Moralvorstellungen mit unseren Emotionen zusammenhängen, wie sie sich entwickeln und was dabei schieflaufen kann.[1]

Wollen und Sollen

Die schlagfertigen Verteidiger des Kapitalismus, die behaupten, der Zweck heilige die Mittel, berufen sich auf Adam Smiths berühmtes Diktum in Der Wohlstand der Nationen, wonach die Verfolgung eigennütziger Interessen zugleich den allgemeinen Wohlstand herbeiführe. »Gier ist gut« wurde die intellektuelle Grundlage der von Reagan und Thatcher mit so viel Eifer in Angriff genommenen Revolution. Smiths Aussage ist ein nützliches Korrektiv für die naive Vorstellung, eine Handlung sei nur dann gut, wenn ihr eine gute Absicht zugrunde liege. Aber im Zentrum der modernen Volkswirtschaftslehre, deren Grundlagen Der Wohlstand der Nationen im Jahr 1776 legte, steht ein Charakter, der zutiefst verabscheuungswürdig ist. Der Homo oeconomicus ist egoistisch, habgierig und faul. Es gibt solche Menschen, und Sie werden einigen davon begegnen. Aber selbst Milliardäre leben nicht so: Diejenigen, die ich kenne, sind getriebene Workaholics, die in ihrem Leben ein Ziel verfolgen, das weit über ihren persönlichen Bedarf und Komfort hinausgeht. Viele Volkswirte räumen diese Einschränkungen bereitwillig ein, aber dergleichen Unschuldsbeteuerungen und Verteidigungsreden treffen auf unangenehme Wahrheiten: Studenten der Wirtschaftswissenschaften entwickeln einen ausgeprägten Egoismus,[2] und die zweifelhaften Grundannahmen der Modelle, an denen sich die Politik orientiert, definieren die Eckpunkte ernsthafter Diskussionen.IX

Aber Smith war gerade nicht