Soziologie des Wohlfahrtsstaates - Carsten G. Ullrich - E-Book

Soziologie des Wohlfahrtsstaates E-Book

Carsten G. Ullrich

4,8

Beschreibung

Sozialpolitik umfasst alle Regelungen, mit denen eine Gesellschaft versucht, die Lebensverhältnisse ihrer Mitglieder zu verbessern. Carsten G. Ullrich erläutert Sozialpolitik aus soziologischer Perspektive - es geht also nicht um die ökonomischen, sondern um die gesellschaftlichen Ursachen und Folgen des Wohlfahrtsstaates. Anhand zentraler Problemkreise wie Armut, Ungleichheit und soziale Sicherheit diskutiert er die wichtigsten gesellschaftlichen Wirkungen des Wohlfahrtsstaates und die Bedeutung der sozialen Sicherung für die "Sozialbürger". Dabei werden auch die Probleme, die mit der Ausgestaltung sozialer Sicherungssysteme verbunden sind, und die Zukunftschancen des Wohlfahrtsstaates erörtert.

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LESEPROBE

Ullrich, Carsten G.

Soziologie des Wohlfahrtsstaates

Eine Einführung

LESEPROBE

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Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Copyright © 2005. Campus Verlag GmbH

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E-Book ISBN: 978-3-593-40186-7

|9|1. Einleitung

»The welfare state is here to stay« – so lautet das schlichte Resümee einer Studie zur Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates in den USA.1 Aber wer wollte – selbst jenseits des Atlantiks – ernsthaft daran zweifeln? Nach einer über hundertjährigen Geschichte staatlicher Sozialpolitik lässt sich das System der sozialen Sicherung aus unserem modernen Leben kaum noch fortdenken. Insofern ist der Wohlfahrtsstaat, so könnte man meinen, unverzichtbar (geworden).

Andererseits ist das »wohlfahrtsstaatliche Projekt« wohl noch nie so sehr unter Druck geraten wie heute, auch wenn die oft scharfe Kritik an der Sozialpolitik schon von Beginn an zu ihren ständigen Begleitern gehörte. Nun werden jedoch Fragen nach der Wirksamkeit und Finanzierbarkeit wohlfahrtsstaatlicher Leistungen immer lauter – und immer häufiger werden sie verneint. Dennoch steht wohl kaum die Abschaffung des Wohlfahrtsstaates oder der Verzicht auf jegliche staatliche Sozialpolitik bevor. Die entscheidende Frage lautet nicht, ob es in modernen Gesellschaften einer Sozialpolitik bedarf, sondern wie diese »richtig« auszugestalten ist. Dieses »Wie« der Sozialpolitik bezieht sich jedoch nicht nur auf die Höhe der Sozialleistungen, sondern auch auf die Definition von Problemlagen als »sozialpolitisch« und vor allem auf die Form der sozialpolitischen Intervention.

Dieser Einführungsband will ein besseres Verständnis der Gründe und Wirkungsweisen von Sozialpolitik ermöglichen. Hierzu vermittelt er einen Überblick über die allgemeinen Leistungen und die Leistungsfähigkeit von Wohlfahrtsstaaten sowie über die Probleme, die sich aus der wohlfahrtsstaatlichen Absicherung ergeben. Das Ziel dieses Bandes besteht dabei in der soziologischen Einführung in den |10|Gegenstandsbereich der Sozialpolitik. Es werden daher Aspekte des Wohlfahrtsstaates bzw. der Sozialpolitik in den Mittelpunkt gestellt, die in einer soziologischen Perspektive als interessant, bedeutsam und erklärungsbedürftig erscheinen.

Worin unterscheidet sich aber eine soziologische von anderen Betrachtungsweisen der Sozialpolitik? Soziologen sind vor allem an gesellschaftlichen oder sozialen Verhältnissen interessiert und daran, wie sich diese auf die Lebenssituation der Menschen auswirken. Eine negative Antwort könnte daher lauten, dass eine »Soziologie des Wohlfahrtsstaates« sich dadurch von anderen Fachperspektiven unterscheidet, dass sie weniger an wirtschaftlichen, rechtswissenschaftlichen, politischen usw. Aspekten des Wohlfahrtsstaates interessiert ist. Die positive Antwort lautet entsprechend, dass sich die »Soziologie des Wohlfahrtsstaates« vor allem mit zwei Aspekten befasst:

Zum einen sind dies die sozialen Ursachen des Wohlfahrtsstaates wie die Auflösung traditionaler Sicherungsformen und die zunehmende Bedeutung von Erwerbsarbeit. Im weiteren Sinne sind hierzu auch allgemeinere soziale Voraussetzungen zu zählen wie spezifische kulturelle Muster und nationale Traditionen, Diffusionsprozesse und institutionelle Vorläufer. Sozialpolitik bzw. Wohlfahrtsstaaten sind hier »abhängige Variablen«.

Der andere Aspekt, bei dem der Wohlfahrtsstaat die »unabhängige Variable« bildet, sind die sozialen Auswirkungen oder Folgen von Sozialpolitik. Bei den sozialpolitischen Auswirkungen können wiederum allgemeine Ziele (z. B. Sicherheit) und konkrete Zielsetzungen (z. B. Gesundheitsversorgung), intendierte und nicht-intendierte Folgen sowie konkrete Leistungen oder »outputs« und mittel- und langfristige Wirkungen unterschieden werden.

Diese soziologische Einführung konzentriert sich also auf die sozialen Ursachen und Folgen von Sozialpolitik, ohne dabei andere, vor allem politische und wirtschaftliche, Aspekte völlig zu vernachlässigen. Besonderes Gewicht wird auf die allgemeinen sozialen Auswirkungen gelegt, die nur zu einem Teil auf die konkreten sozialpolitischen Leistungen zurückgeführt werden können und den jeweiligen Zielsetzungen nur zu oft nicht in der gewünschten Weise entsprechen. Dabei soll gleichermaßen verdeutlicht und diskutiert werden, welche Bedeutung wohlfahrtsstaatliche Leistungen für die Gesamtgesellschaft |11|haben und wie sie sich auf die Lebensverhältnisse einzelner Bevölkerungsgruppen auswirken.

»Referenzobjekt« aller Ausführungen ist der deutsche Wohlfahrtsstaat und hier wiederum die oft als sozialpolitischer Kernbereich geltenden Sicherungsleistungen (Sozialversicherungen, Sozialhilfe und Leistungen für Familien). Das Ziel dieses Bandes besteht jedoch nicht in einer umfassenden Darstellung des deutschen Wohlfahrtsstaates mit allen seinen Institutionen und Leistungen, sondern in der allgemeinen Einführung in zentrale Bereiche der sozialwissenschaftlichen Wohlfahrtsstaatstheorie und -forschung.

Die Konzentration auf die sozialen Ursachen und Wirkungen von Sozialpolitik impliziert notwendig, dass andere Aspekte nicht oder in einem eher geringen Umfang berücksichtigt werden können. So bietet diese Einführung keine ausführliche oder gar vollständige Darstellung wohlfahrtsstaatlicher Institutionen. Sie ist kein sozialpolitisches Kompendium für die Praxis. Vergleichsweise wenig Raum wird hier auch für historische Entwicklungen und nationale Besonderheiten sowie für die Diskussion aktueller Probleme und Reformoptionen eingeräumt.

Das folgende Kapitel (2) befasst sich mit den Ursachen von Sozialpolitik bzw. Wohlfahrtsstaatlichkeit. Zunächst werden in einer groben Skizze die historischen Entstehungsbedingungen und die weitere Entwicklung der Wohlfahrtsstaaten (mit besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung) nachgezeichnet (2.1). In einem zweiten Abschnitt werden dann die insgesamt sehr zahlreichen Paradigmen und Theorien zur Entstehung und Entwicklung von Wohlfahrtsstaaten vorgestellt (2.2). Die hohe Variabilität wohlfahrtsstaatlicher Sicherungsformen wird anhand typologischer Unterscheidungen und an Ergebnissen der vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung verdeutlicht (2.3). In diesem Zusammenhang werden auch einige Besonderheiten des deutschen Wohlfahrtsstaates herausgestellt.

Die Kapitel 3 bis 5 stellen in mancher Hinsicht den Kern dieser Einführung in die Sozialpolitik dar. Sie befassen sich mit den wichtigsten sozialen Wirkungen wohlfahrtsstaatlicher Leistungen. Das dritte Kapitel untersucht die Bedeutung von Sozialpolitik für die Gewährleistung sozialer Sicherheit. Nach einer Klärung, was man unter sozialer Sicherheit versteht und wie sich Sicherungsbedürfnisse |12|herausgebildet haben (3.1 und 3.2), werden die Argumente dargelegt, mit denen sozialpolitische Interventionen zur Erreichung sozialer Sicherheit begründet werden (3.3). Im Hauptteil dieses Kapitels (3.4) wird untersucht, wie mit sozialpolitischen Leistungen mehr soziale Sicherheit erreicht wird und wie sich Wohlfahrtsstaaten dabei in ihrer Wirkung unterscheiden. Abschließend wird der Frage nachgegangen, ob es einen Konflikt zwischen den Zielen Sicherheit und Freiheit gibt und wie sich die soziale Sicherung auf die individuelle Autonomie auswirkt (3.5 und 3.6).

Das vierte Kapitel befasst sich mit der Armutsbekämpfung. Dabei wird zunächst dargelegt, wie Armut zu einem sozialen Problem und zu einem Gegenstand sozialpolitischer Intervention wurde (4.1). Nach einer kurzen Darstellung der Probleme, die sich bei der Definition und Messung von Armut ergeben (4.2), werden die Ursachen und Folgen von Armut untersucht (4.3). Von zentraler Bedeutung ist auch hier die Frage, wie erfolgreich die Sozialpolitik bei der Bekämpfung der Armut ist (4.4). Welche Alternativen zur herkömmlichen Armutsdefinition und Armutspolitik bestehen, wird in einem eigenen Abschnitt ausführlich diskutiert (4.5).

Ob und wie der Wohlfahrtsstaat soziale Ungleichheit verringert, wird in Kapitel 5 untersucht. Zunächst wird gefragt, inwiefern die Verringerung sozialer Ungleichheit ein sozialpolitisches Ziel ist (5.1). In einem weiteren Abschnitt (5.2) werden einige Formen der Ungleichheitsmessung vorgestellt. Wie sich sozialpolitische Regelungen auf die soziale Ungleichheit auswirken, wird am Beispiel Deutschlands dargelegt. Dabei werden auch die Unterschiede untersucht, die bei der Verringerung sozialer Ungleichheit zwischen Wohlfahrtsstaaten bestehen (5.3). Im letzten Abschnitt werden kritische Argumente gegen die Art, wie Ungleichheit und wohlfahrtsstaatliche Umverteilungswirkungen gemessen werden, erläutert (5.4).

Kapitel 6 befasst sich schließlich mit den politischen und wirtschaftlichen Wirkungen des Wohlfahrtsstaates. Zunächst werden mögliche Wechselwirkungen zwischen Wirtschaft und Sozialpolitik diskutiert (6.1). Hierzu zählen vor allem die Beeinträchtigung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit durch die Sozialpolitik, Ineffizienzen der sozialen Sicherung und die Frage der Finanzierbarkeit der sozialen Sicherung. Hinsichtlich der politischen Wirkungen wird der |13|Frage nachgegangen, ob der Wohlfahrtsstaat die ihm oft zugedachte Funktion eines Garanten politischer Stabilität (noch) erfüllt. Anhand von Ergebnissen der Akzeptanzforschung wird aufgezeigt, welche Formen von Wohlfahrtsstaatlichkeit mit politischer Unterstützung durch die Bevölkerung rechnen können (6.2).

Im Schlussabschnitt (7.) werden schließlich einige der offenen Probleme und zukünftige Herausforderungen des Wohlfahrtsstaates resümiert.

|15|2. Sozialpolitik und Wohlfahrtsstaat: Entwicklungen, Formen, Erklärungsansätze

2.1 Die Entstehung und Entwicklung von Wohlfahrtsstaaten

Sozialpolitik – Wohlfahrtsstaat – Sozialstaat – soziale Sicherung: viele Begriffe, eine Bedeutung?

Wohlfahrtsstaat, Sozialstaat, Sozialpolitik und soziale Sicherung – diese Liste ließe sich ohne Schwierigkeiten verlängern – sind selten genau definierte Begriffe mit einem ähnlichen Bedeutungsgehalt. Es ist daher notwendig, sich über den Gegenstand dieser Einführung zunächst etwas mehr Klarheit zu verschaffen. Hierzu soll ein kurzer Überblick über die wichtigsten Verwendungsweisen und Bedeutungsgehalte der in diesem Feld zentralen Begriffe dienen.

Die parallele Verwendung der Begriffe Wohlfahrtsstaat und Sozialstaat ist wesentlich auf nationale Traditionen zurückzuführen. Die Bezeichnung »Sozialstaat« wird dabei vor allem in Deutschland bzw. im deutschsprachigen Raum verwendet. Die Sozialstaatsklausel des deutschen Grundgesetzes2 ist dafür nicht nur augenfälligster Ausdruck, sondern vermutlich auch eine der Ursachen.

Oft ist mit dem Begriff Sozialstaat die Vorstellung einer »schlankeren«, auf Kernfunktionen wie die Sozialversicherungen beschränkten sozialen Sicherung verbunden. Im Unterschied dazu wird von einem Wohlfahrtsstaat gesprochen, wenn die staatlichen Befugnisse zu Eingriffen in das Marktgeschehen deutlich größer sind, u. a. in Form einer aktiven Arbeitsmarktpolitik, stärkeren Umverteilungen oder gar von Preiskontrollen und anderen Marktreglementierungen. |16|»Wohlfahrtsstaat« wurde in Deutschland dabei oft als »polemischer Begriff zur Abgrenzung des eigenen Modells der ›sozialen Marktwirtschaft‹ vom skandinavischen ›Versorgungsstaat‹ verwendet« (Kaufmann 1997a: 21).

Wie Roller (1992: 68ff.) zeigt, werden auch in der deutschen Bevölkerung mit den Begriffen Sozialstaat und Wohlfahrtsstaat unterschiedliche Vorstellungen verbunden: So wird der »Wohlfahrtsstaat« oft mit einer umfassenden Versorgung und starken staatlichen Reglementierungen assoziiert, »Sozialstaat« dagegen eher mit Sozialversicherungen und einem vergleichsweise geringen Ausmaß staatlicher Interventionen.

International ist dagegen die Bezeichnung Wohlfahrtsstaat (welfare state) gebräuchlich. Da der Begriff Sozialstaat keine Entsprechung im Englischen hat, sind im internationalen Sprachgebrauch auch keine entsprechenden begrifflichen Differenzierungen zwischen Sozial und Wohlfahrtsstaat möglich. Mit der Internationalisierung der Forschung ist die Bezeichnung Wohlfahrtsstaat vor allem in wissenschaftlichen Kontexten auch im Deutschen zunehmend üblich geworden und es ist vermutlich nur eine Frage der Zeit, wann der Sozialstaat als Fachbegriff aus den sozialwissenschaftlichen Diskursen weitgehend verschwindet. Angesichts der Fortschritte im Bereich der theoretischen Modellierung von Unterschieden zwischen Wohlfahrtsstaaten und der Entwicklung entsprechender Typologien (vgl. 2.3) scheint die definitorische Unterscheidung von Wohlfahrts- und Sozialstaaten aber ohnehin obsolet.

Konzeptionell weitreichender ist demgegenüber die definitorische Unterscheidung von Wohlfahrtsstaat und Sozialpolitik. Sozialpolitik kann man mit Kaufmann (1982: 63) definieren als »das Eingreifen des Staates in die ›sozialen Verhältnisse‹, genauer gesagt: in die strukturierten Bedingungen, unter denen Menschen ihr alltägliches Leben führen. Hierzu gehört sowohl der Bereich der Produktion […] als auch derjenige der Reproduktion.«

Man kann Sozialpolitik als Schnittstelle von Politik und Gesellschaft auffassen und in ihr das Instrument des politischen Systems zur Regulierung des gesellschaftlichen Subsystems sehen. Als allgemeinstes Ziel von Sozialpolitik ließe sich dann die Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit der gesellschaftlichen Gemeinschaft und ihrer |17|Integrationsfunktion formulieren. Sozialpolitik beschränkt sich nach dieser Definition nicht auf Eingriffe in das Marktgeschehen bzw. auf den Schutz vor den unkontrollierten Kräften des Marktes, sondern interveniert auch unmittelbar in lebensweltliche, d. h. vor allem familiale Zusammenhänge.

Sozialpolitik im Sinne staatlicher Eingriffe in die Lebensverhältnisse hat es schon in früheren historischen Phasen gegeben (als eine frühe Form gilt die englische Armengesetzgebung im 16. Jahrhundert), wird aber erst seit dem Ende des 19. Jahrhunderts als staatliche Aufgabe definiert. Von einem Wohlfahrtsstaat spricht man – zuminest nach Ansicht vieler Wohlfahrtsstaatstheoretiker – erst dann, wenn der Staat die Verantwortung für eine umfassende Daseinsvorsorge übernimmt. Die Bezeichnung Wohlfahrtsstaat meint dann aber nicht nur umfangreiche Leistungen, sondern vor allem eine Inklusion von Bevölkerungsmehrheiten – im Unterschied zu Programmen, die gezielt auf besonders bedürftige Gruppen ausgerichtet sind (Luhmann 1981). In diesem Sinne, wenn vielleicht auch etwas emphatisch, betont Esping-Andersen, der Wohlfahrtsstaat sei »[…] something other than whatever menu of social benefits a state happens to offer. […] If it is to have any meaning at all, the welfare state is more than social policy; it is a unique historical construction, an explicit redefinition of what the state is all about« (Esping-Andersen 1999: 34). Er setzt die Entstehungsphase des Wohlfahrtsstaates daher auch vergleichsweise spät an, nämlich zwischen den 20er und den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, also jenem Zeitraum, in dem die meisten westlichen Länder ihren Bürgern soziale Rechte zubilligten.

Als soziale Sicherung wird häufig der Teilbereich des Wohlfahrtsstaates bezeichnet, der auf das Ziel der sozialen Sicherheit ausgerichtet ist (s. a. Kap. 3). Zur sozialen Sicherung werden in Deutschland entsprechend vor allem die Sozialversicherungen und die Sozialhilfe gezählt, nicht dagegen Maßnahmen zur Verringerung sozialer Ungleichheit oder zur Verbesserung der Lebensverhältnisse, die über die Gewährleistung sozialer Sicherheit hinausgehen. Eine Zurechnung sozialpolitischer Leistungen zu einzelnen allgemeinen Zielsetzungen wie Sicherheit oder Gleichheit ist meist jedoch kaum möglich. Wohl auch deshalb wird die Bezeichnung soziale Sicherung häufig in |18|einem allgemeineren Sinne und mehr oder weniger als Synonym für Sozialpolitik oder Sozialstaat verwendet.

Diese hier nur angedeuteten und weitere terminologische Differenzierungen und Spezifizierungen sind bei entsprechenden Fragestellungen sicher sinnvoll. Sie sind jedoch eher die Ausnahme als die Regel. Und selbst wenn Begriffe gezielt mit unterschiedlichen Bedeutungen belegt werden, geschieht dies oft ohne Angabe genauerer Definitions- und Abgrenzungskriterien (z. B. zwischen Sozial- und Wohlfahrtsstaaten).

Überwiegend werden Begriffe wie Wohlfahrtsstaat, Sozialstaat, Sozialpolitik und soziale Sicherung jedoch in meist etwas vager, aber weitgehend ähnlicher Bedeutung verwendet. Unterschiede in der Verwendung der einzelnen Begriffe sind dabei vermutlich nur selten die Folge bewusster terminologischer Entscheidungen. Weit häufiger kommen in ihnen individuelle Vorlieben und Gewohnheiten, politisch-weltanschauliche Orientierungen und (nationale) semantische Traditionen zum Ausdruck. Wie bei vielen sozialwissenschaftlichen Begriffen, die auch im öffentlichen Diskurs gebräuchlich sind, gilt: Die Verwendung einer bestimmten Terminologie kann, muss aber nicht inhaltlich begründet sein.

Eine strenge begriffliche Unterscheidung würde auch erhebliche definitorische Probleme aufwerfen und eine terminologische Trennschärfe suggerieren, die es so im Fachdiskurs nicht gibt. Auch in dieser Einführung werden daher die Begriffe Wohlfahrtsstaat, Sozialstaat, Sozialpolitik und ähnliche Bezeichnungen verwendet, ohne dass damit sachliche Unterscheidungen verbunden sind – es sei denn, Bedeutungsunterschiede oder -begrenzungen werden explizit benannt.

Im Sinne einer Arbeitsdefinition (und in Anlehnung an die zuvor zitierte Definition Kaufmanns) sollen hier als Sozialpolitik alle staatlichen Eingriffe und Institutionen bezeichnet werden, die auf die Veränderung (in der Regel auf eine wie auch immer definierte Verbesserung) der materiellen Lebensverhältnisse der Bürger zielen, wobei diese Veränderungen sowohl auf der Ebene der Produktion (Arbeitswelt) als auch der der Reproduktion (Familie) erfolgen können. Sie können zudem auf direktem Wege (z. B. durch Sozialtransfers) oder indirekt (z. B. durch die Verbesserung der rechtlichen Situation) erzeugt werden. Als Sozial- oder Wohlfahrtsstaat soll ein Staat gelten, |19|der Sozialpolitik als seine Aufgabe anerkennt und sie in größerem Umfang und für weite Teile der Bevölkerung wahrnimmt.

Zur »Erfindung« der Sozialpolitik

Wo die Anfänge von Sozialpolitik liegen, ist – und das dürfte wohl niemanden überraschen – umstritten. Ab wann man von Sozialpolitik sprechen kann, hängt dabei natürlich maßgeblich von der zugrunde gelegten Definition von Sozialpolitik ab.

Betrachtet man etwa alle Formen kollektiver Daseinsvor- und -fürsorge (z. B. gemeinschaftliche Selbsthilfeeinrichtungen wie Zunftkassen) oder karitative Einrichtungen von Privatpersonen (z. B. Stiftungen) und nicht-staatlichen Organisationen (z. B. Armenspeisungen und Hospize der Kirchen und Klöster) als Sozialpolitik, wird man den Beginn von Sozialpolitik historisch eher früh ansetzen. Für einige Autoren gibt es daher schon im Altertum Formen von Sozialpolitik (vgl. u. a. Zöllner 1959). Häufiger ist aber die Vorstellung zu finden, Sozialpolitik beginne mit der spätmittelalterlichen oder frühneuzeitlichen kirchlichen und kommunalen Armenfürsorge. Zweifelsfrei scheint jedenfalls, dass spätestens mit Beginn der ersten Hochkulturen unterschiedliche Formen kollektiver Sicherung bekannt waren.

Insgesamt besteht jedoch ein relativ breiter Konsens, dass zumindest die moderne, staatliche Sozialpolitik (man könnte auch sagen: Sozialpolitik im engeren Sinne) jüngeren Datums ist. Frühere nichtstaatliche Formen (also Sozialpolitik im weiteren Sinne) kann man entsprechend entweder als gemeinschaftliche Selbsthilfeeinrichtungen der sozialen Sicherung oder als kirchlich, privat und auf lokaler Ebene (Gemeinden, Städte) organisierte Fürsorge für Bedürftige bezeichnen.

Der wichtigste Unterschied zwischen moderner staatlicher Sozialpolitik und älteren Formen der Selbst- und Fremdhilfe ist demzufolge nicht so sehr die staatliche Trägerschaft selbst, sondern die explizite Anerkennung einer staatlichen Pflicht zur Daseinsvorsorge sowie deren Umsetzung in entsprechende Maßnahmen der sozialen Sicherung (vgl. u. a. Alber 1982: 27). Diese explizite Anerkennung einer staatlichen Zuständigkeit – wie etwa im Preußischen Landrecht des späten 18. Jahrhunderts (Zöllner 1959: 402) oder bereits in der englischen |20|Armengesetzgebung des 16. Jahrhunderts (poor law) – kennzeichnet daher vielleicht am besten die Anfänge moderner staatlicher Sozialpolitik.

Wo wurde Sozialpolitik »erfunden«?

Mit der Frage nach den Ursprüngen von Sozialpolitik verbindet sich auch ein Streit, der wohl eher von nationalen Empfindlichkeiten als durch seine wissenschaftliche Bedeutung angetrieben wird. Dabei geht es um die Frage, welchem Land die Ehre gebührt, die Sozialpolitik bzw. den Wohlfahrtsstaat »erfunden« zu haben. Die häufigste Antwort lautet dabei nach wie vor: Deutschland aufgrund der Einführung der Sozialversicherungen in den 1880er Jahren. »Im Angebot« sind aber u.a. auch England (elisabethanisches poor law), die USA (Veteranenversorgung im amerikanischen Bürgerkrieg) und Frankreich (Einführung einer Unfallversicherung unter Napoleon III.). Als eine Art Kompromiss ließe sich hier formulieren, dass es in den einzelnen Ländern viele Anknüpfungspunkte für Sozialpolitik gab, der entscheidende Durchbruch dann aber vielleicht doch die Einführung von Sozialversicherungen im Deutschen Kaiserreich war.

Obwohl also die verschiedensten Vorformen bestanden und auch die Übernahme staatlicher Verantwortung recht weit zurückreicht, ist Sozialpolitik in einem umfassenderen Sinne eines Sozial- oder Wohlfahrtsstaates im Wesentlichen doch eine Erfindung des 19. Jahrhunderts. Den Hintergrund für die »Verstaatlichung« weiter Bereiche der sozialen Sicherung bilden dabei die Frühindustrialisierung und ihre krisenhaften und konfliktreichen Begleiterscheinungen (vgl. u. a. Stolleis 2001).

Die in der Frühphase staatlicher Sozialpolitik geschaffenen Schutzrechte und Sicherungssysteme waren aber keine creatio ex nihilo, sondern knüpften an bestehende gemeinschaftliche Selbsthilfe- und Fürsorgeeinrichtungen an. Zu diesen gehörten:

Formen genossenschaftlicher Selbsthilfe wie die Kassen und Laden der Handwerker und späteren Arbeiter, deren genauer Zweck oft nicht genau festgelegt war;

kirchlich-karitative Einrichtungen im Kranken- und Armenwesen;

bereits bestehende Institutionen wie die kommunale Armenfürsorge und knappschaftliche Sicherungsinstitutionen im Bergbau;

|21|sowie – und das ist insbesondere für die deutsche Entwicklung wichtig – feudal-patriarchalische Pflichtzuweisungen an die »Fabrikherren«, denen in Anlehnung an ältere Feudalverhältnisse eine gewisse Fürsorgepflicht für ihre Arbeiter und deren Familien »angetragen« wurde.

Zunächst waren dabei noch die »Armen« der primäre Bezugspunkt staatlicher Eingriffe, die anfangs überwiegend auf rechtliche Schutzmaßnahmen beschränkt blieben (z. B. Kinder- und Arbeitsschutzgesetz in Preußen 1839). Erst mit dem »take off« der Sozialpolitik in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts wurden die (Industrie-) Arbeiter zum zentralen Adressaten sozialpolitischer Zielsetzungen. In Deutschland kann dieser Zeitpunkt relativ genau datiert werden, nämlich mit der so genannten »Kaiserlichen Botschaft« von 1881, in der die Gründung einer Krankenversicherung und einer Unfallversicherung für Fabrikarbeiter angekündigt wurde. Diese beiden gesetzlichen Sozialversicherungen wurden dann auch 1883 (Gesetzliche Krankenversicherung) und 1884 (Gesetzliche Unfallversicherung) eingeführt. Ihnen folgte dann bald die Rentenversicherung (Invaliditäts- und Altersversicherung; 1889).

Warum aber entstand moderne, staatliche Sozialpolitik gerade in dieser Zeit? Hierfür gibt es keinen einzelnen Grund. Wie bei allen komplexen Veränderungsprozessen musste vielmehr eine Reihe von Voraussetzungen erfüllt sein, damit Sozialpolitik (im engeren Sinne) überhaupt entstehen konnte (vgl. Alber 1982: 29ff.; Reidegeld 1996: 37ff.). Sehr grob lassen sich hier sozioökonomische, politische und kulturelle Aspekte unterscheiden.

Die Notwendigkeit von Sozialpolitik ergab sich vor allem aus dem radikalen wirtschaftlichen und sozialen Wandel des 19. Jahrhunderts, für den Entwicklungen kennzeichnend sind wie industrielle Kinderarbeit, die Pauperisierung (Verarmung) breiter Bevölkerungsschichten, eine rasch voranschreitende Urbanisierung sowie eine hohe räumliche Mobilität, die zu einer Entwurzelung der Menschen und einer entsprechenden Schwächung der Unterstützungsfunktion von Nachbarschafts- und Verwandtschaftssystemen führte.

|22|

Abbildung 2.1: Wichtige sozialpolitische Innovationen nach Bereichen und Perioden

Quelle: Lampert (1994: 119f.); gekürzt und verändert

|23|Mit der Durchsetzung der industriellen Produktionsweise sahen sich die Arbeiter neuen Risiken (Invalidität, Arbeitslosigkeit) ausgesetzt. Gleichzeitig führten die Aufhebung des Zunftzwangs und die hohe Mobilität dazu, dass überlieferte Formen der sozialen Sicherung (z. B. Gesellenladen) sich in zunehmendem Maße als unzureichend erwiesen, um die »neuen« Risiken der Lohnarbeiterexistenz abzusichern.3 Die Einführung von Pflichtversicherungen, die zu gleichen Teilen von Arbeitern und Unternehmern finanziert wurden, diente daher einer wirksamen Absicherung dieser Risiken, entlastete die Unternehmer aber auch von »patriarchalischen« Verpflichtungen und neuen Schadensersatzforderungen bei Arbeitsunfällen (vgl. Abschnitt 3.2).

Als wichtigste politische Voraussetzung muss die Entstehung von Gewerkschaften und sozialistischen Parteien gelten, von denen eine wachsende Bedrohung für die bestehende soziale Ordnung ausging. Dabei galt es, einerseits berechtigten Interessen der Arbeiter entgegenzukommen, andererseits aber auch den sozialen Konflikt mit der aufstrebenden Arbeiterbewegung durch eine »pazifizierende« Sozialpolitik zu entschärfen (vgl. a. Abschnitt 6.2). Aber auch die gestiegene staatliche Handlungs- und Gestaltungsfähigkeit, die auf den Ausbau staatlicher Bürokratien zurückzuführen ist, war eine wichtige Voraussetzung für staatliche Sozialpolitik.

Die wichtigsten kulturellen Voraussetzungen sind grundlegende Veränderungen der sozialen Deutungsmuster. So musste sich zuerst die aus der Aufklärung stammende Idee durchsetzen, dass gesellschaftliche Verhältnisse weder gottgegeben noch naturgesetzlich sind, sondern durch menschliches Handeln gestaltet werden können. Sie wurde im 19. Jahrhundert allmählich durch die Vorstellung ergänzt, dass der Zentralstaat das geeignete Instrument zur Bewältigung komplexer kollektiver Aufgaben sei – und damit auch der richtige Adressat für die Lösung der »sozialen Frage«.

|24|Soziologie und Sozialpolitik

Die Idee der Gestaltbarkeit der Gesellschaft ist auch für die Soziologie grundlegend. Es ist daher gewiss kein Zufall, dass Soziologie und Sozialpolitik beide Kinder des (späten) 19. Jahrhunderts sind. Frühe Soziologen haben zudem maßgeblich zur Durchsetzung und theoretischen Fundierung staatlicher Sozialpolitik beigetragen, in Deutschland insbesondere durch den »Verein für Socialpolitik«. Im 20. Jahrhundert war das Interesse der deutschen Soziologie an sozialpolitischen Fragen dann jedoch bis in die 70er Jahre eher gering. (Zum Verhältnis von Soziologie und Sozialpolitik vgl. die Beiträge in von Ferber/ Kaufmann 1977 sowie Kaufmann 2003a.)

Zu den kulturellen Voraussetzungen von Sozialpolitik gehört schließlich auch eine veränderte Sicht der Hilfsbedürftigen. Diese wurden zwar auch im 19. Jahrhundert noch weitgehend diffamiert und victimisiert; immer mehr rückten jetzt jedoch die schlechten Arbeits- und Lebensbedingungen ins gesellschaftliche Bewusstsein und mit ihnen die Überzeugung, dass eine Politik der sozialen Sicherung moralisch geboten sei (Steinmetz 1993).

Die Entwicklung der Sozialpolitik in Deutschland

Die Grundstruktur des deutschen Wohlfahrtsstaates ist mit den Kerninstitutionen der »großen« Sozialversicherungssysteme (Renten-, Kranken- und Unfallversicherung) durch sozialpolitische Weichenstellungen im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts geschaffen worden.

Waren die Bismarckschen Reformen auch ein Meilenstein der deutschen Sozialpolitik, so dürfen jedoch zwei Aspekte nicht übersehen werden: Bis weit in das 20. Jahrhundert hinein wurden von den Sozialversicherungen nur Minderheiten – beginnend mit dem Kernbereich der Fabrikarbeiterschaft – erfasst. Weite und durchaus »schutzbedürftige« Bevölkerungsteile (z. B. Landarbeiter, Angestellte, gewerbliche Arbeiter) wurden erst viel später pflichtversichert. Zudem waren die Leistungen der Sozialversicherungen lange Zeit keineswegs bedarfsdeckend und auch nur als Ergänzung zu anderen Unterstützungsquellen gedacht. Wichtige Leistungsverbesserungen waren das Ergebnis späterer Entwicklungen; und erst für die Bundesrepublik der 1960er Jahre kann man von einem voll entwickelten Wohlfahrtsstaat sprechen.

|25|Die wohlfahrtsstaatliche Entwicklung lässt sich dabei am besten als Prozess der »doppelten Inklusion« (Alber 1992: 25; vgl. a. Luhmann 1981) charakterisieren. Damit ist gemeint, dass zum einen immer weitere Bevölkerungskreise von den sozialen Sicherungssystemen erfasst wurden und dadurch Ansprüche auf wohlfahrtsstaatliche Leistungen erwarben. Immer mehr Menschen wurden daher in unterschiedlicher Weise zu Adressaten der Sozialpolitik – als Versicherte und Steuerzahler durch die Abgabenlast, als Empfänger von Sozialleistungen, aber auch als Beschäftigte bei wohlfahrtsstaatlichen Institutionen wie Krankenkassen und Wohlfahrtsverbänden oder als Leistungsanbieter (z. B. medizinisches Personal).

Die wohlfahrtsstaatliche Expansionsdynamik lässt sich am Beispiel der Krankenversicherung verdeutlichen. Waren bei Inkrafttreten des Krankenversicherungsgesetzes ca. 10 Prozent der Bevölkerung gesetzlich versichert, so sind es heute – berücksichtigt man auch die mitversicherten Familienangehörigen – ungefähr 90 Prozent. Diese enorme Ausdehnung des Versichertenkreises ist zum Teil auf die gewachsene Zahl der lohnabhängig Beschäftigten zurückzuführen. Entscheidend war jedoch die sukzessive Erweiterung der »Adressatendefinition«. Die wichtigsten Schritte waren hier die Ausdehnung der Versicherungspflicht auf Angestelltengruppen und der Ausbau der Familienmitversicherung. Aber auch darüber hinaus wurde die Versicherungspflicht für viele weitere Bevölkerungsgruppen eingeführt, u. a. für Arbeitslose (ab 1918), Seeleute (1927), Rentner (1956), selbständige Landwirte (1972), Studenten (1975) und Künstler (1981).

Aber nicht nur der Adressatenkreis wurde sukzessiv ausgeweitet. Mindestens ebenso beeindruckend ist die Erweiterung des »sozialpolitischen Zuständigkeitsbereiches«. So ist die Geschichte der letzten 100 Jahre auch die einer permanenten Entdeckung – Kritiker würden sagen: oft genug auch Erfindung – neuer sozialer Probleme, die durch sozialpolitische Maßnahmen gemildert oder beseitigt werden können.

Beschränkte sich die soziale Sicherung ursprünglich auf die Absicherung einiger zentraler Risiken (insbesondere Arbeitsunfall, Krankheit, Invalidität und Alter), wurden im Laufe der Zeit immer mehr Risiken und Problemlagen sozialpolitisch bearbeitet. Dies gilt nicht nur für gänzlich »neue« Bereiche (z. B. Arbeitslosigkeit, Ausbildungsförderung, Erziehung, Pflege); auch bestehende Absicherungen wurden |26|kontinuierlich ausgebaut. Beispiele hierfür sind die Einbeziehung von Wegeunfällen in die Unfallversicherung, die Finanzierung von Rehabilitationsmaßnahmen durch die Rentenversicherung oder auch die Aufnahme psychotherapeutischer Behandlungen in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung.

Dieser Prozess der Ausweitung auf immer mehr sozialpolitische (oder als sozialpolitisch definierte) Problembereiche und auf immer mehr Bevölkerungsgruppen ist der Grundzug der wohlfahrtsstaatlichen Entwicklung in Deutschland und in allen anderen stark industrialisierten Ländern, der durch zahlreiche Krisen (Weltkriege; Weltwirtschaftskrise) immer wieder unterbrochen, aber nicht aufgehalten wurde.4

Schon in der Weimarer Republik kam es trotz einer vergleichsweise schwierigen wirtschaftlichen Situation zu einer Ausweitung des Kreises der Sozialversicherten. So stiegen nicht nur die Sozialausgaben, sondern auch der Bevölkerungsanteil, der von den Sozialversicherungen erfasst wurde (von 45,5% im Jahr 1920 auf immerhin 61,3% im Jahr 1930; vgl. Alber 1982: 152). Auch fallen wichtige sozialpolitische Innovationen in diese Zeit. Hierzu sind die Reform der Alterssicherung (1922), die die Orientierung an der Vollrente festschreibt, und die Fürsorgereform (1924), die erstmals einen Rechtsanspruch auf Leistungsgewährung einräumte, zu zählen. Die wohl einschneidendste und umstrittenste Neuerung war aber zweifelsohne die Einführung der Arbeitslosenversicherung (1927), denn durch diese wurde ein Risiko abgesichert, das keineswegs wie Krankheit oder Alter »natürlich« war, sondern sich aus den Defiziten der kapitalistischen Produktionsweise ergab. Zudem wurde durch die Arbeitslosenversicherung die Machtbalance zwischen Unternehmern und Arbeitern zugunsten der Arbeiter verschoben.

Auch in der Bundesrepublik5 setzte sich – nachdem die unmittelbaren Nachkriegsfolgen überwunden waren – die wohlfahrtsstaatliche |27|Expansionsdynamik fort. Als weitreichendste Reformschritte können hier die Rentenreform von 1957 (Einführung der Rentendynamisierung), die Neuregelung der Sozialhilfe im Bundessozialhilfegesetz (1961), durch die ein Rechtsanspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt gewährt wird, die Einführung der Pflegeversicherung (1995) als fünfter Sozialversicherung und die Anrechnung von Erziehungszeiten in der Rentenversicherung (1986) gelten.

Obwohl es also noch in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts zu wichtigen Erweiterungen und Ergänzungen des wohlfahrtsstaatlichen Leistungsspektrums kam, überwiegen seit längerem Leistungskürzungen. In jüngster Zeit sind diese zunehmend mit grundlegenden strukturellen Veränderungen verbunden, in denen auch eine generelle Begrenzung der staatlichen Bereitschaft zur Übernahme sozialpolitischer Verantwortung zu erkennen ist (Beispiele hierfür sind die »Riester-Rente« und das »Arbeitslosengeld II«).

Grob lässt sich die sozialpolitische Entwicklung der Bundesrepublik in drei Phasen einteilen: Nach einer stetigen und, wenn man das Gesamtvolumen der Sozialausgaben zugrunde legt, erheblichen Expansion, die in etwa bis zu der durch den Ölschock (1974) ausgelösten Wirtschaftskrise anhielt, setzte zunächst eine längere Phase der Konsolidierung (bzw. von Konsolidierungsversuchen) und reformerischer Stagnation ein (1974–1989). Spätestens mit dem Beitritt der neuen Bundesländer (1990), aber keineswegs nur dadurch bedingt, beginnt die bis heute anhaltende Phase der Restrukturierung und des Abbaus wohlfahrtsstaatlicher Leistungen.6

Insgesamt lassen sich für die Entwicklung des Wohlfahrtsstaates in Deutschland damit zwei Haupttrends feststellen: Zum einen ist dies die bis »vor kurzem« anhaltende Expansionsdynamik, die zu einer »Verwohlfahrtsstaatlichung« von immer mehr Menschen und Bereichen sowie zu einer enormen Erhöhung des Leistungsniveaus |28|geführt hat. Der andere Trend ist die ungemein hohe Strukturkontinuität. So sind etwa die ältesten Sozialversicherungen in vielen grundlegenden Strukturen (Selbstverwaltung, Arbeitgeberbeiträge, Zugangskriterien) bis heute unverändert geblieben und haben mehrere Krisen und Regimewechsel fast unbeschadet überstanden. Entsprechend hoch war lange Zeit das Vertrauen der Bevölkerung in die wohlfahrtsstaatlichen Institutionen. Als Kehrseite dieser strukturellen Stabilität könnte es sich allerdings erweisen, wenn die institutionellen Widerstände notwendige Restrukturierungen verhindern.

2.2 Erklärungsansätze der Entstehung und Entwicklung von Wohlfahrtsstaaten

Für die Entstehung und Entwicklung von Wohlfahrtsstaaten liegt eine Reihe konkurrierender Erklärungsangebote vor, die sich grob zu vier grundlegenden Paradigmen zusammenfassen lassen (zum Folgenden vgl. auch Lessenich 2000; Skocpol/Amenta 1986).

Funktionalistische Erklärungsansätze

Die wohl ältesten und in vielerlei Hinsicht auch heute noch überzeugendsten Erklärungen der Institutionalisierung und Entwicklung von Wohlfahrtsstaaten sind funktionalistische Erklärungsansätze. Diese teilen die Grundidee, dass ab einem bestimmten gesellschaftlichen Entwicklungsstand der Ausbau einer umfangreichen sozialen Sicherung unvermeidbar war.

Vor allem der wirtschaftliche Wandel habe zu einer hoffnungslosen Überforderung traditioneller Sicherungsformen (in Familien, Gemeinden oder Zünften) geführt. Nach der als »Logik des Industrialismus« bekannten These ist der Wohlfahrtsstaat eine Folge der Industrialisierung und ihrer Begleiterscheinungen wie sozialer Mobilisierung, Urbanisierung und Veränderung der Altersstruktur (Wilensky 1975). Dieser Annahme zufolge mussten also alle Gesellschaften, die mit Problemen der Industrialisierung konfrontiert waren (und sind), wohlfahrtsstaatliche Sicherungssysteme einführen. Hinsichtlich der |29|Entwicklung von Wohlfahrtsstaaten wird angenommen, dass das Niveau der wohlfahrtsstaatlichen Absicherung vor allem durch den wirtschaftlichen Entwicklungsstand bestimmt wird, dass also z. B. die Sozialausgaben mit dem BIP steigen. Zumindest für die OECD-Staaten wird dabei eine Konvergenzentwicklung in Form einer Angleichung von Sicherungsformen und -niveaus erwartet.

Für die Frage, warum staatliche Sozialpolitik überhaupt »erfunden« wurde, scheint dieser Erklärungsansatz plausibel. Auch der Zusammenhang von wirtschaftlicher Entwicklung und dem Ausbau der sozialen Sicherung ist zumindest dann gut belegbar, wenn Staaten mit sehr unterschiedlichen Entwicklungsniveaus verglichen werden (z. B. bei einem Vergleich hochindustrialisierter Wohlfahrtsstaaten mit Schwellen- oder Entwicklungsländern). Ein Großteil der Unterschiede zwischen Wohlfahrtsstaaten – z. B. das geringere Absicherungsniveau in den USA im Vergleich zu den meisten europäischen Ländern – kann jedoch nicht auf den wirtschaftlichen Entwicklungsstand zurückgeführt werden. Ebenso wenig lässt sich mit der »Logik des Industrialismus« erklären, warum gerade industrielle Nachzüglerstaaten wie Deutschland oder Österreich besonders früh soziale Sicherungssysteme eingeführt haben. Hier zeigen sich sehr deutlich die Grenzen einer funktionalistischen Betrachtungsweise.

Eine zweite Variante sozioökonomischer Erklärungsmodelle bilden neomarxistische Ansätze (Narr/Offe 1975; O’Connor 1974). Zumindest vordergründig weisen sie deutliche Ähnlichkeiten mit der Industrialismusthese auf, denn auch hier wird das Erfordernis sozialpolitischer Interventionen aus wirtschaftlichen Faktoren abgeleitet – nun jedoch nicht aus der industriellen Wirtschaftsform, sondern aus der kapitalistischen Produktionsweise. Von deren Dysfunktionalität ausgehend wird in der wohlfahrtsstaatlichen Absicherung ein Instrument zur Sicherstellung der sozialen Reproduktion gesehen. Dem Wohlfahrtsstaat komme damit eine ambivalente Funktion zu: einerseits schütze er den Kapitalismus vor seinen selbstzerstörerischen Tendenzen (»saving capitalism from itself«); andererseits werde er aber auch zunehmend zu einer ökonomischen Belastung und stehe den Verwertungsinteressen des »Kapitals« im Wege. Ein Grundproblem neomarxistischer Ansätze besteht darin, dass sich aus ihnen kaum empirisch prüfbare Hypothesen ableiten lassen.

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2.3 Die Pluralität der Wohlfahrtsstaatlichkeit

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|50|2.3.2 Strukturmerkmale des deutschen Wohlfahrtsstaates

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|63|3. Soziale Sicherheit

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3.2 Die Genese eines kollektiven Sicherungsbedürfnisses und die Entwicklung der Sozialversicherungen im 19. und 20. Jahrhundert

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3.3 Interventionsbedarf und Interventionsformen: Sozialversicherungen

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|83|3.4 »Sicherheitsperformanz«: Wie viel Sicherheit erzeugt die soziale Sicherung?

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3.5 Mehr als nur Schutz vor Risiken? Autonomie und Dekommodifizierung

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|112|3.6 Sicherheit statt Freiheit?

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|117|4. Armut und Armutsbekämpfung

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|119|4.1 Die »Entdeckung« von Armut als soziales Problem und als ein Gegenstand sozialpolitischer Intervention

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4.2 Zum Problem der Definition und Operationalisierung von Armut

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4.3 Die Ursachen und Folgen von Armut

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4.4 Armutspolitik und die Entwicklung der Armut in Deutschland

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4.5 Resümee und Ausblick: Alternativen zur klassischen Armutspolitik

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4.5.1 Soziale Ausgrenzung

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|149|4.5.2 Grundsicherungsmodelle

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|157|5. Gleichheit

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|163|5.2 Zur Messung von Einkommensungleichheit

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5.2.2 Messung des Effektes von Sozialpolitik

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5.3 Wie erfolgreich ist die Sozialpolitik bei der Reduzierung von Einkommensungleichheit?

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5.3.2 Entwicklung der Einkommensungleichheit zwischen gesellschaftlichen Gruppen

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5.3.3 Unterschiede »vor« und »nach« dem Wohlfahrtsstaat

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5.3.4 Unterschiede zwischen Wohlfahrtsstaaten

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5.4 Kritik an der Messung von Ungleichheit und wohlfahrtsstaatlichen Umverteilungswirkungen

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5.5 Resümee

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|191|6. Vom Problembewältiger zum Problemerzeuger? Die wirtschaftlichen und politischen Folgen der Wohlfahrtsstaatlichkeit

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6.1 Können wir uns den Wohlfahrtsstaat noch leisten?

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6.1.1 Wirkungen der sozialen Sicherung auf die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit

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|197|6.1.2 Ineffizienz sozialer Sicherung

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6.1.3 Zur Finanzierbarkeit des Wohlfahrtsstaates

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6.2 Wollen die Bürger d(ies)en Wohlfahrtsstaat noch?

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6.2.1 Vom Garanten politischer Stabilität zur Legitimitätskrise?

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6.2.2 Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

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|227|7. Offene Probleme und zukünftige Herausforderungen des Wohlfahrtsstaates

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|235|Glossar

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|243|Literaturverzeichnis

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|259|Register

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