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Das vorliegende Studienbuch informiert kompakt über die Wortschatzstrukturen des Spanischen. Neben grundlegenden Fragen wie "Was ist ein Wort?" behandelt es insbesondere den inneren Aufbau von Wörtern und die historische und soziale/situationsspezifische Schichtung des Wortschatzes. Traditionellen und neueren Ansätzen zur Bedeutungsbeschreibung sowie den vielfältigen syntagmatischen und paradigmatischen Bedeutungsbeziehungen zwischen Wortschatzeinheiten wird ebenfalls der ihnen gebührende Raum eingeräumt. Darüber hinaus beinhaltet das Buch eigene Kapitel zum Sprachvergleich im Bereich des Wortschatzes (mit besonderem Fokus auf den Unterschieden zwischen Spanisch und Deutsch) und zu zwei anwendungsorientierten Nachbardisziplinen der Lexikologie: Terminologie und Lexikographie bzw. Metalexikographie. Eine aktuelle, repräsentative Bibliographie und ein deutsch-spanisches Glossar runden den für die Zielgruppe BA-, MA-und Lehramtsstudierende des Spanischen konzipierten Band ab. Er kann in einschlägigen Lehrveranstaltungen, aber auch zum Selbststudium (Prüfungsvorbereitung etc.) nutzbringend eingesetzt werden.
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Seitenzahl: 286
Veröffentlichungsjahr: 2018
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Bernhard Pöll
Spanische Lexikologie
2., überarbeitete und erweiterte Auflage
A. Francke Verlag Tübingen
© 2018 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen www.francke.de • [email protected]
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen
ePub-ISBN 978-3-8233-0105-9
Seit dem Erscheinen der ersten Auflage dieses Bandes im Jahre 2002 sind 16 Jahre vergangen. Dies machte für die vorliegende Neuauflage vor allem eine bibliographische Aktualisierung notwendig, die sich jedoch auch im Text selbst niederschlägt. An den grundlegenden Zielsetzungen dieses Studienbuches hat sich jedoch nichts geändert: Es richtet sich primär an Studierende, die bereits über sprachwissenschaftliche Grundkenntnisse verfügen, aber mit diesem konkreten Bereich der hispanistischen Sprachwissenschaft bislang nicht oder nur am Rande konfrontiert waren. Es ist für das Selbststudium (z.B. zur Prüfungsvorbereitung) konzipiert, eignet sich aber auch als Begleitlektüre zu einschlägigen (Pro-)Seminaren.
Eine Einführung zu schreiben, ist wohl für jeden Forscher,1 dessen Herz auch für die wissenschaftliche Lehre schlägt, eine Herausforderung, gilt es doch, gesicherte, aber dennoch komplexe Wissensbestände einer Disziplin auf gut verständliche Weise Lesern zu vermitteln, deren Vorkenntnisse nicht immer ganz leicht abzuschätzen sind. Bei jedem Kapitel, bei jedem Abschnitt muss entschieden werden, was banal ist und als bekannt vorausgesetzt werden darf und was die potentiellen Rezipienten nicht wissen (können). Ob mir dieser Spagat immer gelungen ist, mögen meine Leser und Rezensenten entscheiden. Verbesserungsvorschläge sind in jedem Fall willkommen und werden hoffentlich in eine dritte Auflage einfließen können.
Viele haben auf die eine oder andere Weise zur Entstehung dieses Buches beigetragen; nachdrücklich gedankt sei an dieser Stelle Kathrin Heyng vom Gunter Narr Verlag sowie insbesondere Karoline Wurzer, die den Band mit viel Umsicht und Geschick zum Druck vorbereitet hat.
Dass es dieses Buch in der vorliegenden Form überhaupt gibt, geht auf die Initiative von Franz Josef Hausmann zurück (bis 2008 Ordinarius für Angewandte Sprachwissenschaft/Romanistik an der Universität Erlangen). Ohne seine Empfehlung hätte ich wohl nicht die Gelegenheit gehabt, dieses Buch zu schreiben. Es sei ihm daher ganz herzlich gewidmet!
Salzburg, im März 2018 Bernhard Pöll
In der für die romanistische Linguistik maßgeblichen Romanischen Bibliographie (Online-Datenbank)1 finden sich in der Rubrik “Lexikologie. Etymologie. Lexikographie“ u.a. Arbeiten mit den folgenden Titeln:2
“Apuntes sobre lexicocronología española”
“Características lexico-semánticas de los verbos prefijados con ‘des-’ en DRAE1992”
“El léxico indígena en el español hablado en Puerto Rico: variables socioculturales.”
Hier geht es – soweit sich dies ohne die genaue Kenntnis dieser Aufsätze sagen lässt – um Fragen der chronologischen Schichtung des spanischen Wortschatzes, um die Spezifika von Verben mit einem bestimmten Präfix wie sie im Wörterbuch der Real Academia Española (DRAE) beschrieben sind, und um die sozial bedingte Verwendung von indigenen Lehnwörtern im gesprochenen Spanisch von Puerto Rico.
In der darauffolgenden Rubrik, die den Titel “Semantik. Pragmatik” trägt, taucht erneut der Aufsatz über die präfigierten Verben im DRAE auf, daneben erscheinen hier aber auch
“Apuntaciones críticas sobre el diccionario de Cuervo. A propósito de los artículos fabricar, fácil y facilitar.”
“Die Bedeutung von spanisch silla.”
und viele andere mehr.
Zu Recht darf man sich fragen, ob den Verfassern da nicht Fehler unterlaufen sind: Sollte man (4), weil es ja um ein Wörterbuch3 geht, nicht besser unter “Lexikologie. Etymologie. Lexikographie“ eintragen? Gehört (3) nicht in eine ganz andere Kategorie, etwa Soziolinguistik? Hätte es nicht gereicht, (2) nur unter “Lexikologie. Etymologie. Lexikographie“ zu verzeichnen? Hat (5) nicht auch etwas mit Lexikologie zu tun?
Der Fairness halber wird man die Autoren der Bibliographie vom Vorwurf der Schlampigkeit oder des unüberlegten Handelns freisprechen müssen, denn solche Unsicherheiten, Doppelzuordnungen oder Überschneidungen sind symptomatisch für eine sprachwissenschaftliche Subdisziplin, in deren Gegenstandsbereich – dem Wortschatz – letztlich alle Fäden zusammenlaufen: Die Einheiten des Wortschatzes – nennen wir sie vorläufig einmal Wörter – haben Bedeutungen, und diese Bedeutungen bedingen sich oft gegenseitig, sie sind aus kleineren, isolierbaren Einheiten aufgebaut und lassen sich z.B. chronologisch nach ihrem Auftreten ordnen. Darüber hinaus ist ihre Verwendung, ihr Vorkommen in der Rede von vielfältigen u.a. geographischen, sozialen und individuellen Faktoren abhängig. Schließlich sammelt man sie auch mit verschiedenen Zielsetzungen und Ordnungskriterien in Inventaren – es entstehen Wörterbücher. Mit diesen wenigen Zeilen sind nicht einmal ansatzweise die Kernbereiche der Lexikologie beschrieben, im besten Falle haben wir eine Paraphrase der Titel unserer vorhin genannten Aufsätze. Die Ränder bleiben jedenfalls unscharf.
Dass der Aufgabenbereich der Lexikologie nicht ein für allemal fixiert ist, zeigt schon ein oberflächlicher Vergleich der in den letzten Jahrzehnten für verschiedene Einzelsprachen erschienenen Einführungen in die Lexikologie4 und ihrer jeweiligen Konzeptionen:
WUNDERLI, Peter (1989): Einführung in die französische Lexikologie. Tübingen: Niemeyer.
Im Bewusstsein des interdisziplinären Charakters der Lexikologie greift der Autor in verschiedene relevante Bereiche aus: historische Schichtung, Entlehnung, Wortbildung, Translation (verstanden als syntagmatische Ausweichverfahren, um Schwächen der Wortbildung auszugleichen), Semantik (wird hier mit “struktureller Semantik” bzw. “Lexematik” [cf. Kapitel 4.3 dieses Bandes] gleichgesetzt).
SCHIPPAN, Thea (1992): Lexikologie der deutschen Gegenwartssprache. Tübingen: Niemeyer.
Das 306 Seiten starke Werk behandelt sehr umfassend die folgenden Aspekte: Wort als sprachliche Einheit, Wortbildung, lexikalische Bedeutung, lexisch-semantisches System der Sprache (Bedeutungsbeziehungen; unter Einbeziehung psycho- und soziolinguistischer Aspekte), soziale Gliederung des Wortschatzes (mit Terminologie), neuere Entwicklungen im deutschen Wortschatz (Bedeutungswandel, Entlehnungen usw.). Einführende Kapitel versuchen den Gegenstandsbereich der Lexikologie zu umreißen, situieren die Lexikologie gegenüber “Nachbarwissenschaften” und geben allgemeine Informationen zur Schichtung und diatopischen Verbreitung des deutschen Wortschatzes.
LUTZEIER, Peter Rolf (1995): Lexikologie. Ein Arbeitsbuch. Tübingen: Stauffenburg.
Um Formalisierung bemüht, fußt diese hauptsächlich auf das Deutsche abgestellte Einführung ebenfalls auf den Grundgedanken des Strukturalismus. Aspekte wie die kognitive Relevanz der von der Linguistik aufgedeckten lexikalischen Strukturen werden berücksichtigt (Stichwort: mentales Lexikon). Die Perspektive ist dominant synchronisch.
HALLIDAY, M.A.K./YALLOP, Colin (2007): Lexicology. A Short Introduction. London/New York: Continuum.
Der schmale Band beschäftigt sich, ausgehend von Überlegungen zum Wortbegriff, primär mit grundlegenden Fragen der Semantik (denotative Bedeutung, Zusammenhang zwischen Wörtern und der Welt etc.). Überlegungen zu Etymologie, Lexikographie (insbesondere die Geschichte englischer Wörterbücher) und zum Vergleich von Wortschätzen unterschiedlicher Sprachen werden punktuell eingeflochten.
LEHMANN, Alise/MARTIN-BERTHET, Françoise (42013): Introduction à la lexicologie. Paris: Colin.
Den Autorinnen zufolge sind die “domaines constitutifs” der Lexikologie die “sémantique lexicale” (lexikalische Semantik) und die “morphologie lexicale” (Wortbildung). Dem entspricht die Zweiteilung des Buches, wie sie in der Erstauflage (1998) vorgenommen wurde. Spätere Auflagen beinhalten auch ein umfangreiches Kapitel zur Lexikographie des Französischen. Im Bereich der Semantik werden auch neuere Ansätze (Prototypen, Stereotypen) behandelt.
HARM, Wolfgang (2015): Einführung in die Lexikologie. Darmstadt: WBG.
Auf etwas mehr als 160 Seiten werden in diesem germanistisch ausgerichteten Band – wie auch in anderen Werken vom Konzept Wort ausgehend – die Form- und Inhaltsseite des Wortschatzes (Wortbildung und Modelle der Bedeutungsbeschreibung), Sinnrelationen zwischen Wörtern (paradigmatisch und syntagmatisch), die diasystematische Schichtung des Wortschatzes und der lexikalische Wandel sowie die Lexikographie behandelt.
Wir haben vorläufig als Gegenstand der Lexikologie den Wortschatz und seine vielfältigen Strukturierungen genannt. Intuitiv kann sich jeder etwas darunter vorstellen, weil dieser Begriff auch zur Alltagssprache gehört: Man hat einen großen, reichen, kleinen, differenzierten Wortschatz, etwas gehört nicht zu unserem aktiven Wortschatz, manche Wörter gehören überhaupt nicht zu unserem Wortschatz – oder zumindest behaupten das manche, um die Sprachreinheit besorgte Beobachter –, wenn es sich nämlich um Fremdwörter handelt.
Mit dieser alltagssprachlichen Verwendung ist nur ein Teil, wenngleich ein sehr wichtiger, des Interesses der Lexikologie abgedeckt, nämlich der individuelle Sprachbesitz wie er sich in Form von Wörtern und dem damit verbundenen semantischen, phonetisch-phonologischen, syntaktischen und pragmatischen Anwendungswissen manifestiert.
Um die damit nicht beschriebenen Bereiche zu umreißen, kommen wir nicht umhin, einen zusätzlichen, in hohem Maße mehrdeutigen (= polysemen) Begriff einzuführen: Lexikon.
Damit meinen wir
in Bezug auf die Sprache: den Wortschatz in Opposition zur Grammatik. Wer z.B. eine Fremdsprache lernt, eignet sich in diesem Sinne einerseits Lexikon und andererseits grammatische Regeln (= Grammatik) an.5
in Bezug auf das Individuum: lexikalische Kompetenz im Sinne der Fähigkeit zur Rezeption und Produktion. In der kognitiven Linguistik und in der Psycholinguistik spricht man vom mentalen Lexikon als dem Sitz dieser Kompetenz.
im Rahmen einer Sprachtheorie: eine Komponente des Sprachsystems in Form eines Inventars von Einheiten, auf das phonologische und syntaktische Regeln angewandt werden.
das konkret vorliegende, aufgrund von im Vorhinein fixierten Kriterien erstellte Inventar, d.h. ein Wörterbuch. Je nach Ausrichtung handelt es sich eher um ein Sprachwörterbuch oder um ein Sachwörterbuch, das Informationen zu den von den Wörtern bezeichneten Sachen angibt (cf. Lutzeier 1999, 16).6
In der weiter unten stehenden Tabelle versuchen wir, diese komplexe terminologische Situation wieder aufzulösen. Was darin als getrennt erscheint, wird in der Praxis jedoch häufig nicht so scharf geschieden.
Lag in der strukturalistisch geprägten Lexikologie das Hauptinteresse auf dem Lexikon 3, so haben sich seit den 1970er Jahren deutliche Verlagerungen ergeben: Die zentralen Bereiche der Lexikologie hängen heute am Lexikon 2und Lexikon 3. Mit der sog. kognitiven Wende der 1960er und 1970er Jahre trat das mentale Lexikon als Erkenntnisobjekt neben das modelllinguistische Lexikon (= Lexikon 3).
Objektbereich
Lexikon 1 (auch: Wortschatz)
Lexikon 2 (auch: mentales Lexikon)
Lexikon 3 (auch: Lexik)
Lexikon 4 (auch: Wörterbuch)
Element
Wort (oder größere Einheit, z.B. Redewendung)
Wort (oder größere Einheit, z.B. Redewendung)
Lexem (und seine Komponenten)
Wörterbucheintrag (auch: Lemma)
Reihenfolge bzw. Struktur der Anordnung der Elemente
?
theorieabhängig
abhängig von Konzeption (alphabetisch, nach Lautung etc.)
Status
schriftlich, mündlich
mental
theoretisch klassifiziert und beschrieben
schriflich fixiert, definiert
Rolle des Elements
Bestandteil einer Zeichenkette
Komponente eines (individuellen) Reservoirs
Komponente eines (überindividuellen) Reservoirs
Komponente eines Reservoirs
wissenschaftliche Prozeduren
Erforschung der Struktur, der Art des Zugriffs usw.
Deskription
Deskription und/oder Kodifikation
Abhängigkeit des Objektbereiches nach Umfang und Struktur
von Lernprozess und Sprachbeherrschung
von einer bestimm-ten Sprachtheorie
von benutzerabhängigen Zielvorgaben
wissenschaftliche Disziplinen
u.a. Sprachdidaktik, Lexikologie
Psycho-/Neurolinguistik, kogn. Linguistik, Spracherwerbsforschung, Lexikologie
theoretische Lin-guistik, Semantik, Terminologie, Lexikologie
Metalexikographie, Lexikographie, Terminographie
Faktisch liefert das mentale Lexikon – über den Wortschatz, der uns in geschriebenen und gesprochenen Texten entgegentritt – das Material für linguistische Theoriebildung und den Versuch, Strukturen des Wortschatzes (= Lexikon 3) aufzudecken. Die von der Lexikologie entdeckten Strukturen (siehe Kapitel 4) sollten sich im Idealfall mit jenen des mentalen Lexikons decken. Das Fragezeichen in der Tabelle soll andeuten, dass damit eine große Unbekannte angesprochen ist, denn es bleibt trotz unzähliger empirischer Untersuchungen weitgehend eine black box, wenngleich seit vielen Jahren hoher Forschungsaufwand dazu betrieben wird. Die relevanten Disziplinen für die Erforschung des mentalen Lexikons und damit in Zusammenhang stehender Fragen der menschlichen Sprachverarbeitung sind neben der Linguistik i.e.S. vor allem die Psychologie sowie die Psycho- und Neurolinguistik.
Die folgenden Ausführungen gelten heute als einigermaßen gesicherte Erkenntnisse über das mentale Lexikon:
Man darf sich das mentale Lexikon als jenen “Teil unseres Langzeitgedächtnisses vorstellen, in dem das Wissen über alle Wörter einer Sprache gespeichert ist” (Schwarz 1992, 70), allerdings sind Konzepte und Wortformen wahrscheinlich getrennt gespeichert. Diese Sicht wird durch zahlreiche Erkenntnisse der Erstspracherwerbsforschung und der Psycho- bzw. Neurolinguistik (z.B. Priming-Experimente, cf. Rummer/Engelkamp 2005) gestützt. So erwerben z.B. Kinder Konzepte von Quantität oder räumlichen Dimensionen, bevor sie sie versprachlichen können. Alltägliche Erscheinungen wie das “tip of the tongue”-Phänomen, bei dem zwar das Konzept, aber nicht die dazugehörige Wortform präsent ist, weisen ebenfalls in diese Richtung. Auch der Umstand, dass wir mental Kategorien bilden, bevor wir sie bezeichnen (können), spricht für eine getrennte Speicherung und Verarbeitung. Daraus ergibt sich, dass die von Saussure postulierte untrennbare Verbindung von signifiant (Ausdruck, Form) und signifié (Inhalt, Bedeutung) eine Idealisierung darstellt, zu der uns die normalerweise problemlos funktionierende Sprachproduktion/ Sprachrezeption verleitet (cf. Börner/Vogel 1997, 1f.). Schließlich dürften aber auch die phonologische und die morphologische Komponente eines Eintrags im mentalen Lexikon getrennt gespeichert sein, wie Ergebnisse der Aphasie-Forschung suggerieren.
Das im mentalen Lexikon gespeicherte Wissen hat deklarative und prozedurale Komponenten, m.a.W. es handelt sich einerseits um eine Art Faktenwissen, andererseits um in jedem Fall unbewusstes Handlungswissen (motorische Muster, Artikulationsprogramme usw.), das auf Basis des deklarativen Wissens funktioniert.
Neben mehrgliedrigen Einheiten, deren Bedeutung nicht (mehr) transparent ist, also formelhaften Ausdrücken oder idiomatischen Wendungen wie z.B. (dar) carta blanca ‘(jmd.) freie Hand (lassen)’, cada oveja con su pareja ‘gleich und gleich gesellt sich gern’, con su permiso ‘wenn Sie gestatten’ oder (no tener) ni son ni ton ‘weder Hand noch Fuß haben’, sind wahrscheinlich auch zahlreiche transparente und aktuellen syntaktischen Regeln gehorchende Ausdrücke als solche im mentalen Lexikon gespeichert, da sonst flüssiges Sprechen vermutlich nicht möglich wäre (cf. Coulmas 1985). Solche Einheiten dürften (bei Muttersprachlern) in Form von prozeduralem Wissen vorliegen, das konzeptuell aktiviert wird (cf. Möhle 1997, 47f.). Aus der Annahme, dass solche Ausdrücke im mentalen Lexikon gespeichert sind, ergibt sich, dass linguistische Modelle, die eine scharfe Trennung von lexikalischer und grammatikalischer Komponente anstreben, den Prozessen der tatsächlichen Sprachverarbeitung nicht vollständig gerecht werden.
Lexikologie ist die Wissenschaft vom Wortschatz und seinen Strukturen. Die Vorstellungen des Begriffs Wortschatz lassen sich im Wesentlichen auf zwei reduzieren:
individueller Sprachbesitz, der im mentalen Lexikon gespeichert ist und bei der Sprachproduktion/-rezeption realisiert wird,
und
kollektives Reservoir lexikalischer Einheiten, das nach verschiedenen Dimensionen gegliedert ist und dessen Strukturen sich unter verschiedenen Gesichtspunkten beschreiben lassen.
Für beide Grundauffassungen wird auch der Begriff Lexik(on) verwendet. Hinsichtlich der möglichen Perspektiven bei der Betrachtung des Lexikons (als kollektivem Reservoir) halten wir für den vorliegenden Band die folgenden fest (cf. auch Lutzeier 2002, Scheppan 2002):
Die Einheiten des Lexikons stehen in vielfältigen, kognitiv relevanten Beziehungen zueinander. Da diese Beziehungen z.T. mit dem inneren Aufbau der Einheiten zusammenhängen, dürfen Fragen der Morphologie und Wortbildung nicht außer Acht gelassen werden (Kapitel 3).
Inhaltsmäßige Beziehungen zwischen Wortschatzeinheiten, die auf der syntagmatischen oder der paradigmatischen Ebene angesiedelt sein können, werden im Kapitel 4 behandelt. Dies setzt auch eine grundsätzliche Beschäftigung mit der Frage nach der Bedeutung und ihrer Beschreibung voraus.
Lexikon als System von Systemen: Der Wortschatz einer Sprache besteht aus Teilwortschätzen, die historisch, sozial und situationsabhängig definiert werden können. Eine Betrachtung unter dem Gesichtspunkt der Diasystematizität verlangt die Behandlung der historischen Schichtung, der Register und Sprachniveaus sowie der Variation im Raum. Diesen Fragen ist das Kapitel 5 gewidmet.
Einzelsprachspezifische Wortschatzstrukturen werden besonders im Sprachvergleich deutlich; der Forschungsrichtung der kontrastiven Lexikologie und ihren Ergebnissen ist deshalb ein eigenes Kapitel (6) gewidmet.
Neben dem Alltagswortschatz gibt es auch Fachwortschätze, deren Verwendung situationell und sprechergruppenspezifisch determiniert ist. Als Sonderfall von lexikalischen Einheiten sind Termini und die Systeme, die sie bilden (Terminologien), ein praxisrelevantes Arbeitsfeld lexikologischer Forschung, das im Kapitel 7 skizziert wird.
Wortschatz wird nicht nur theoretisch klassifiziert, sondern auch zu vielfältigen theoretischen und praktischen Zwecken in Inventaren beschrieben. Die Lexikologie gilt dabei als eine der theoretischen Grundlagen für die Lexikographie (Praxis der Wörterbucherstellung) und die ihr vorgelagerte Metalexikographie (Theorie der Lexikographie) (Kapitel 8).
Zunächst scheint es aber unabdingbar, der Frage nachzugehen, was die Grundeinheiten des Lexikons sind.
Das Wort als intuitiv erkannte Grundeinheit des Wortschatzes hat auch in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung seinen festen Platz, obwohl häufig nicht genau gesagt wird, was damit eigentlich gemeint ist. Wie bei ähnlichen Problemfällen, z.B. Satz, stört das in aller Regel aber nicht.
Fast alle gängigen Definitionen von Wort sind in höchstem Maße problematisch; zu den im Alltag häufigsten zählt „vorne und hinten abgegrenzte Buchstabenfolge“ – eine Definition, die z.B. für den Großteil des Mittelalters nicht gehalten hätte: In der Tat sind mittelalterliche Handschriften häufig ohne jeglichen Zwischenraum geschrieben, und erst mit Änderungen im Rezeptionsverhalten – selbst stumm lesen statt Vorgelesenes rezipieren – geht man von der sog. scriptio continua ab. Ein noch näher liegendes Beispiel ist die „neue“ deutsche Rechtschreibung von 1996, deren Regeln für die Getrennt- bzw. Zusammenschreibung ebenfalls bedeutende Auswirkungen auf die Wortdefinition haben, wenn sie auf graphischen Kriterien beruht.
Die Problematik solcher Kriterien tritt besonders deutlich zutage, wenn man
stilistisch oder grammatisch motivierte Schreibvarianten vor sich hat, z.B. quiero decírtelo vs. te lo quiero decir bzw. lo veo vs. viéndolo,
zwischensprachlich vergleicht und z.B. feststellen muss, dass ein und dasselbe Konzept in der einen Sprache mit einem graphischen Wort, in der anderen aber mit mehreren graphischen Wörtern ausgedrückt wird, z.B. dt. Zuckerrohr vs. sp. caña de azúcar.
Im ersten Beispiel wären te und lo einmal Teil eines Wortes, ein anderes Mal eigenständige Wörter, in (b) hätten wir im Deutschen nur ein Wort, im Spanischen gleich drei, wenn wir uns ausschließlich auf die Graphie berufen.
Dem graphischen Kriterium widerspricht u.U. eine weitere, häufig ins Spiel gebrachte Definition: „Ein Wort ist eine Einheit zwischen Sprechpausen.“ Mit diesem Merkmal kämen wir im obigen Beispiel caña de azúcar wieder zu einem Wort, da in normaler Sprechweise weder zwischen caña und de, noch zwischen de und azúcar eine Pause zu erwarten ist.
Wieder eine andere Definition sieht vor, dass Wörter minimale freie Formen sind, d.h. auch unabhängig vorkommen können: Leonard Bloomfield baut diese Argumentation in drei Stufen auf: 1. “forms which occur as sentences are free forms”, 2. “a free form which is not a phrase, is a word”, 3. “a word is a minimum free form” (Bloomfield 1933, 177f.). Damit können wir z.B. quiero in der Äußerung quiero decírtelo zweifelsfrei als Wort identifizieren, und diese Sicht deckt sich auch mit unserer Intuition. In anderen Fällen aber würden Einheiten ausgegliedert, die wir intuitiv sehr wohl als Wörter ansehen: Da beispielsweise der Artikel nie allein vorkommt und auch nicht als Satz auftreten kann, wäre er kein Wort, dasselbe gilt etwa auch für Präpositionen, die nie ohne das Element vorkommen, das sie regieren. Anders gesagt, es fallen alle sog. Funktionswörter, deren Leistung darin besteht, Beziehungen zwischen Elementen eines Satzes oder Textes herzustellen, aus der Definition heraus: Artikel, Konjunktionen, (adjektivische) Pronomen.
Das wesentliche und leicht mit unserer Intuition zu vereinbarende Kriterium zur Bestimmung des Wortbegriffs scheint der innere Zusammenhang von Einheiten zu sein. So können wir beispielsweise in dem Satz tienes que formatear el disco duro zwischen el und disco duro problemlos ein attributives Adjektiv, etwa nuevo, einfügen. Auf der darunterliegenden Ebene ist dies nicht mehr möglich: Bricht man Einheiten wie formatear oder disco duro auf, indem man ein Element einschiebt oder Komponenten vertauscht, ist das Ergebnis kein wohlgeformtes, d.h. den Regeln der spanischen Morphologie gehorchendes Produkt mehr. Analog gilt das auch für komplexere Einheiten: *caña azul de azúcar, *caña de mi azúcar usw. In diesen Fällen bleibt die Äußerung zwar prinzipiell interpretierbar (wie?), man kann damit aber wohl kaum mehr auf das Sachobjekt ZUCKERROHR referieren.
Unter Anwendung dieses Kriteriums können wir in dem Mini-Text
[ajkerespetaɾlas'foɾmas 'kujðalas'foɾmasiseɾasrespe'taðo]
problemlos diese elf Wörter wiedererkennen:
Hay que respetar las formas; ¡cuida las formas y serás respetado!
Allerdings werden manche vielleicht sagen, es handle sich nicht um elf Wörter, sondern nur um sieben. Beide Berechnungen sind auf ihre Weise richtig: Wer zum Ergebnis elf kommt, zählt einzelne Wortformen, wer nur auf sieben kommt, fasst jeweils zwei Wortformen zu einer abstrakteren Einheit zusammen, zu einem Lexem.1 Doch auch hinter den anderen Wortformen nehmen wir sinnvollerweise abstrakte Lexeme an.
Um Lexeme zu zitieren, verwendet man bei den flektierbaren Wortarten in der Regel den Infinitiv (beim Verb) bzw. die Form des Singulars2 (Substantive, Adjektive); gelegentlich wird auch nur der Stamm zitiert (z.B. respet-), insbesondere dann, wenn sie unter dem Gesichtspunkt der Wortbildung oder Morphologie betrachtet werden.3 Für Lexem als Basiseinheit des Lexikons verwendet man gelegentlich auch den vom französischen Semantiker Bernard Pottier geprägten Begriff Lexie.
Zusammenfassend können wir festhalten, dass wir es bei Wörtern entweder mit konkreten Wortformen oder abstrakten Lexemen zu tun haben. Wie der Gegensatz zwischen (Allo-)Phon und Phonem beruht auch diese Opposition auf der Saussureschen Dichotomie langue – parole.
Lexeme können aus mehreren Komponenten oder Formelementen bestehen. Einfache Beispiele dafür sind Komposita, z.B. lavavajillas, fotocopia oder altavoz. Auch abgeleitete Wörter wie bíblico (← biblia), ensayista (← ensayo) oder formalizar (← formal) gehören hierher. Neben diesen komplexen Lexemen gibt es auch Einheiten, die in ihrem Aufbau syntaktischen Regeln gehorchen, ohne allerdings wie Phrasen zu funktionieren. Beispiele wären:
saber (algo) a demonios ‘tener (algo) muy mal sabor’
como una bala ‘velozmente’
(dar) carta blanca ‘(otorgar) plenos poderes’
lobo de mar ‘marinero con mucha experiencia’
subírsele el pavo ‘ponérsele (a uno) la cara roja a causa de la vergüenza’
¡buenas noches!
Es handelt sich um formelhafte Wendungen, die man v.a. auch als idiomatische Wendungen, Phraseologismen, Phraseolexeme oder Idiome (von engl. idiom) bezeichnet. Im Spanischen spricht man von frases hechas, modos de decir, modismos, unidades fraseológicas usw. Man fasst sie unter den Begriffen Phraseologie oder auch Idiomatik zusammen.1
Phraseologismen sind durch drei je unterschiedlich stark ausgeprägte Grundmerkmale gekennzeichnet (cf. Ruiz 1998, Zuluaga 2012):
Idiomatizität
Darunter versteht man, dass die Bedeutung der Einheit nicht direkt aus der Bedeutung der Komponenten abgeleitet werden kann. In aller Regel ergibt sich gemäß dem sog. Kompositionalitätsprinzip (auch: Frege-Prinzip) die Bedeutung mehrgliedriger Äußerungen aus den Bedeutungen der Komponenten; man könnte auch sagen, sie ist eine Funktion dieser Einzelbedeutungen. Ausdrücke, in denen keine der Komponenten zur Gesamtbedeutung beiträgt, sind vollidiomatisch. Das oben zitierte Beispiel subírsele el pavo fällt in diese Kategorie. Andere Phraseologismen wie saber a demonios sind teilidiomatisch, weil nicht alle Komponenten umgedeutet sind; saber kommt hier auch in seiner wendungsexternen Bedeutung vor. Faktisch sind vollidiomatische Phraseologismen völlig unmotiviert; vor allem muttersprachliche Sprecher empfinden dies aber anders, weil der idiomatischen Bedeutung u.U. eine für sie einleuchtende und besonders treffende Metapher zugrundeliegt (cf. Burger 1989a, 26). Das kann auch für Phraseologismen gelten, die unikale Elemente enthalten, d.h. solche, die in anderen Kontexten nicht (mehr) vorkommen, z.B. de pe a pa ‘desde el principio hasta el fin’ oder en un santiamén ‘rápidamente, en muy poco tiempo’. Sie müssen ebenfalls als vollidiomatisch aufgefasst werden. Neben der Metapher sind die Metonymie und die Synekdoche die wichtigsten Formen der Bedeutungskonstitution bei Phraseologismen. Auffällig ist dabei, dass es in allen europäischen Sprachen einen Grundstock an gleichen oder zumindest sehr ähnlichen Phraseologismen gibt; in der Regel sind sie nicht polygenetisch entstanden (verschiedene Sprachgemeinschaften greifen zufällig zur selben Metapher), sondern erklären sich aus einer gemeinsamen Bildquelle (z.B. Bibel, Texte der Weltliteratur), die durch Übersetzung an verschiedene Sprachgemeinschaften vermittelt wurde.2
Schließlich sind auch bestimmte, auf den ersten Blick völlig transparent erscheinende, feste Wendungen wie legítima defensa oder saber perder idiomatisch im Sinne von “semantisch nicht ganz regulär”: legítima defensa ist nicht das gleiche wie defensa legítima, und saber perder bedeutet nicht ‘zu wissen, was man tun muss, um zu verlieren’.
Stabilität
Wie eingangs erwähnt, verhalten sich Phraseologismen, egal ob vollidiomatisch, teilidiomatisch oder nur semantisch leicht irregulär, anders als freie Phrasen; sie sind fixiert. Ihre Festigkeit und Stabilität manifestiert sich in mehrerlei Form:
Lexikalisch-semantische Fixierung, d.h. die Bedeutung ist an die Realisierung bestimmter Komponenten gebunden: canela fina ‘das Feinste vom Feinen’ vs. *canela delicada; no tener sangre en las venas ‘Fischblut in den Adern haben’ vs. *no tener sangre en las arterias; brillar por su ausencia ‘durch Abwesenheit glänzen’ vs. *resplandecer por su ausencia. Der Austausch von Komponenten, wie hier versuchsweise mit Lexemen ähnlicher Bedeutung, lässt nur mehr eine wörtliche Interpretation als freie Phrase zu.
Fixierung der Abfolge der Komponenten, was z.B. in den folgenden Paarformeln deutlich wird: sano y salvo vs. *salvo y sano; al fin y al cabo vs. *al cabo y al fin; amigos y enemigos vs. *enemigos y amigos.
Pragmatische Fixierung: Die sog. pragmatischen Idiome oder Routineformeln (Grußformeln, stereotype Entschuldigungsformeln etc.) sind nicht nur in ihren Komponenten fixiert, sondern auch an bestimmte Situationen gebunden. Ähnliches gilt auch für andere Typen von Phraseologismen, die einen bestimmten Situationskontext verlangen.
“Transformationelle Defektivität”: Der Begriff, der von Vertretern der Generativen Grammatik geprägt wurde,3 bezeichnet den Umstand, dass Phraseologismen in der Regel Transformationen wie Topikalisierung, Nominalisierung, Expansion und Passivierung nicht unterzogen werden können: pagar el pato (‘etwas ausbaden’) vs. *el pato que pagó, *el pato, no lo ha pagado, *el pago del pato, *pagar el nuevo pato. Da hier in jedem Fall semantisch nicht präsente Elemente manipuliert werden, geht die an die fixe Komponentenabfolge gebundene Bedeutung verloren, sodass die entstehenden Äußerungen nur mehr wörtlich verstanden werden können. Eine andere Form von Nominalisierung, bei der der gesamte Ausdruck manipuliert wird, ist hingegen nicht ausgeschlossen: el hecho de pagar el pato.
Alle genannten Beschränkungen gelten für den normalen Gebrauch ohne spezifische Ausdrucksintentionen wie Ironie, Sprachspiel etc. Wenn eine Komponente eines Phraseologismus vom Sprecher aber mit der Sprechsituation konkret in Verbindung gebracht werden kann (Remotivierung), sind prinzipiell wieder alle Modifikationen möglich: Austausch von Komponenten, Expansion, Umkehr der Abfolge etc. Solche “Verletzungen” der Stabilität von Phraseologismen sind häufig in journalistischen Texten und in der Werbesprache zu beobachten, cf. die folgenden Beispiele (aus Piñel 1997):
Divide y ganarás (Werbung für Grupo Santander; < divide y vencerás)
Deja vivir y vive (Kampagne für Aids-Prävention; < vive y deja vivir)
Las copas claras (Werbung für Marie Brizard; < las cosas claras)
Lexikalisierung und Reproduzierbarkeit
Unter Lexikalisierung versteht man im Allgemeinen die Aufnahme einer neuen Einheit in das Lexikon. Sie dient wie die Wortbildung und die Entlehnung aus anderen Sprachen der Erweiterung des Begriffs- und Ausdrucksvorrats einer Sprache (cf. dazu Motsch 1983). Der Prozess der Aufnahme einer neuen Einheit geht häufig mit phonologischen und morphologischen Veränderungen einher; bei neuen mehrgliedrigen Einheiten, die ins Lexikon übernommen werden, ist damit immer eine (wenn auch manchmal nur minimale) semantische Veränderung verbunden:
Lexikalisierung ist oft (aber nicht immer) damit verbunden oder davon gefolgt, daß die komplexen Wörter idiosynkratische Eigenschaften annehmen, d.h. formal, semantisch oder phonologisch nicht mehr transparent sind. (Schwarze/Wunderlich 1985, 16)
Im zeitlichen Ablauf kann man sich diesen Prozess etwa so vorstellen: Die semantische Veränderung (Abbildung eines neuen Begriffs) geht dem Eintreten voran, was nachfolgende Bedeutungsentwicklungen aber nicht ausschließt; durch hohe Gebrauchsfrequenz folgen eventuell morphologische und phonologische Modifikationen (Vereinfachungen) – es kommt zu “interne[m] Strukturverlust” (Coulmas 1985, 255). Häufige Beispiele dafür wären Verschiebungen der Flexionsmarkierungen (alta voz > altavoz, pl. altavoces), Akzentverschiebungen ('rica 'dueña > rica'dueña), phonologische Assimilation (agua ardiente > aguardiente), Genuswechsel (una cara dura > un caradura) usw.
Reproduzierbarkeit meint, dass ein Element im konkreten Sprechakt nicht konstruiert, sondern aus dem (mentalen) Lexikon abgerufen wird, wo es als Ganzes gespeichert ist. In der Terminologie von E. Coseriu wird deshalb der Bereich der Phraseologie auch als “wiederholte Rede” bezeichnet (cf. z.B. Thun 1978).
Lexikalisierung zieht oft die Aufnahme in Wörterbücher nach sich. Für komplexe Wortschatzelemente stellt sich dabei die Frage, wie (und wo) sie in traditionell alphabetisch geordnete Wörterbücher integriert werden sollen.4
Neben den weiter oben nur kurz angesprochenen pragmatischen Idiomen gehören zur Phraseologie i.w.S. auch satzwertige Phraseologismen. Aus traditioneller Sicht ist ihre Zugehörigkeit zum Lexikon problematisch, da sie nicht auf der Satzebene integriert werden oder in jedem Fall ihre sprachliche Anschließbarkeit geringer ist, cf.
ni hablar del peluquín ‘das kommt gar nicht in Frage’
el mundoV: Stadtname o.ä.es un pañuelo ‘die Welt ist ein Dorf’
Ha pasadoV: pasóun ángel.1
Ein ähnliches Problem ergibt sich mit Sprichwörtern, Sentenzen und sprichwörtlichen Redensarten, dem Gegenstandsbereich der traditionell eng mit der Volkskunde und Literaturwissenschaft verbundenen Parömiologie.
Was ihre Bedeutungsstruktur betrifft, sind natürlich auch sie als nicht kompositionell zu interpretieren. Man muss sich allerdings fragen, ob man sie zum Sprachsystem zählen soll oder ob sie eher Texte sind, die zum kulturellen und sozialen Gemeingut gehören und als solche zitiert werden. Thun (1978, 242) betrachtet sie als “fertige Texte […], die andere kommentieren”. Neben der Funktion des Kommentars haben sie aber auch noch andere illokutionäre Funktionen (z.B. Rat, Vorschlag, etc.). A quien madruga, Dios le ayuda kann beispielsweise als Rat oder Mahnung gemeint sein; bei De la abundancia del corazón habla la boca kann in der Verwendung Ironie oder vielleicht auch Mitleid ausgedrückt werden, und bei Quien la hace la paga mag der Ausdruck der Überlegenheit oder Schadenfreude Hauptintention der Verwendung sein.
Im vorangegangenen Kapitel wurden ausgehend von der lexikalischen Basiseinheit Wort bzw. Lexem weitere Einheiten des Lexikons beschrieben (komplexe Wörter, Phraseologismen etc.). Dabei war die Perspektive vom Kleineren zum Größeren gerichtet. In diesem Abschnitt nehmen wir eine umgekehrte Blickrichtung ein und befassen uns mit der Frage,
wie einfache und komplexe Wörter aufgebaut sind und
nach welchen Prinzipien aus Bauteilen unterhalb der Wortebene neue Wörter entstehen.
Die beiden Fragen können nicht getrennt voneinander behandelt werden, da sich aus (a) die Prinzipien von (b) ableiten lassen. Der existierende Wortschatz gibt also vor, wie zukünftig gebildete Wörter aufgebaut sein werden.
Neue Wörter werden aus zwei Gründen gebildet: Auf der einen Seite muss eine Sprechergemeinschaft dem Wandel der sie umgebenden Welt Rechnung tragen und neue Begriffe sprachlich abbilden (sog. Nomination). Wortbildung ist eine von mehreren Möglichkeiten, diese Aufgabe zu erfüllen. Sie steht neben der Entlehnung aus anderen Sprachen und der Bedeutungsveränderung bestehender Wörter, z.B. durch Metaphorisierung.
Auf der anderen Seite haben manche Produkte der Wortbildung auch die Funktion von Phrasen, dann nämlich, wenn sie der individuellen, meist spontanen Beschreibung von bestimmten Situationen und Sachverhalten dienen. Beispiele dafür sind die sog. Augenblicksbildungen wie coleccionista trotagalerías ‘Sammler, der gern/häufig Galerien besucht’ (nach dem Vorbild trotamundos ‘Weltenbummler’ gebildet), teoherético (Wortkreuzung aus teórico und herético), encezannarse ‘sich in Cézanne vertiefen’, enciclomedia (Wortkreuzung aus enciclopedia und comedia).1 In der Regel werden solche Neologismen nicht in das aktuale Lexikon übernommen und natürlich auch nicht in Wörterbüchern beschrieben.
Die meisten Wörter, denen wir in Texten begegnen, lassen sich in kleinere Einheiten zerlegen; untersuchen wir die folgenden Beispiele: ilusionistas, descolgar, deseoso, por.
ilusionistas: Unter der Bedingung, dass die Teile noch in irgendeiner Form eine “Bedeutung” haben sollen, ergibt die Zerlegung dieses Wortes drei Komponenten: ilusión, -ista und -s. Alle drei haben eine bestimmte Bedeutung, und nur diese Analyse des Wortes führt zu kleineren Einheiten, die die genannte Bedingung erfüllen. Eine weitergehende Analyse würde – auf der Ebene der Lautung – zu Phonemen, also bedeutungsunterscheidenden Einheiten führen. Die bedeutungstragenden Minimaleinheiten nennt man in der Regel Morpheme.1 Welche Bedeutung oder Funktion kann man nun diesen Komponenten zuschreiben? Als das Grund- oder Basismorphem trägt ilusión die lexikalische Bedeutung; es bildet den Ausgangspunkt für die Ableitung des Substantivs ilusionista. Das Morphem -ista ist offensichtlich dafür verantwortlich, dass die komplexe Bildung jemanden bezeichnet, der das realisiert, durchführt oder betreibt, was durch die Basis ausgedrückt wird, also einen Handelnden. Beim Vergleich mit anderen Substantiven auf -ista – z.B. violonista, fisioterapista, comentarista – ist zu erkennen, dass diese Bedeutung durchaus systematisch ist. Neben anderen Funktionen, die dieses Suffix hat, bildet man damit also sog. Nomina agentis. Die Endung -s schließlich hat keine Bedeutung im engeren Sinn, sie drückt nur die Kategorie PLURAL aus. Wenn man den Begriff Morphem dafür auch gelten lassen will, muss er erweitert werden: ‘kleinste bedeutungstragende oder funktionale Einheit’.
descolgar: Hier ist die Morphemanalyse schon etwas komplizierter, weil nicht auf den ersten Blick klar ist, ob drei oder vier Komponenten vorliegen. Das Grundmorphem ist zweifelsohne in jedem Fall colg-. Allerdings könnte man die Frage stellen, ob die weiteren Morpheme (1) des-, -ar