Spanische Literaturwissenschaft - Maximilian Gröne - E-Book

Spanische Literaturwissenschaft E-Book

Maximilian Gröne

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Beschreibung

Der mittlerweile in 3. Auflage vorliegende Band Spanische Literaturwissenschaft aus der Reihe bachelor-wissen richtet sich als leserfreundliche Einführung speziell an die Studierenden und Lehrenden in den litraturwissenschaftlichen Modulen der hispanistischen Bachelor-Studiengänge. Die anschauliche Aufbereitung des fachlichen Grundwissens wird dabei von anwendungsorientierten Übungseinheiten gerahmt, die eine eigenständige Umsetzung des Erlernten ermöglichen und einen nachhaltigen Kompetenzerwerb unterstützen. Neben traditionellen Lerninhalten wird nicht zuletzt auch die besondere Rolle der neuen Medien berücksichtigt. Hinweise zur beruflichen Orientierung ergänzen die fachwissenschaftlichen Grundlagen.

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Maximilian Gröne / Rotraud von Kulessa / Frank Reiser

Spanische Literaturwissenschaft

Eine Einführung

A. Francke Verlag Tübingen

 

 

© 2017 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen www.francke.de • [email protected]

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

 

ePub-ISBN 978-3-8233-0011-3

Inhalt

Vorwort zur 3., aktualisierten Auflage1 Begriff ‚Literatur‘1.1 Literatur ‚an und für sich‘1.2 Literatur medialLiteratur2 Literaturgeschichtliche Ordnungsmodelle2.1 Poetik2.1.1 Die Poetik des Aristoteles2.1.2 Poetiken des Siglo de Oro2.2 Gattungen2.3 Epochen2.4 Literaturgeschichte2.5 KanonLiteratur3 Literaturwissenschaftliches Arbeiten3.1 Bachelor- und Master-Studiengänge3.2 Arbeitsfelder für Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftler3.3 Zum Wissenschaftsbegriff der Geisteswissenschaften3.4 Wissenschaftliche Hilfsmittel3.5 ArbeitstechnikenLiteratur4 Grundlagen der Textanalyse am Beispiel der Lyrik4.1 Verstehen – Analysieren – Interpretieren4.2 Ebenen der Strukturanalyse4.3 Strukturanalyse: Vorgehensweise4.4 Gattung LyrikLiteratur5 Lyrik analysieren: Beispiele und Übungen5.1 Die Lyrik im Siglo de Oro5.2 Lyrik des Modernismo: Antonio Machado5.3 Der lateinamerikanische Modernismo: Pablo NerudaLiteratur6 Dramenanalyse6.1 Dramatische Gattungen6.2 Drama als Text und Aufführung6.3 Raum und Zeit6.4 Figuren6.5 Figurenrede6.6 Figurenkonstellation6.7 Handlung6.7.1 Aufbau und Untergliederung6.7.2 ‚Offene‘ und ‚geschlossene‘ Form des Dramas6.7.3 Episches Theater6.7.4 Experimentelles TheaterLiteratur7 Beispiele und Übungen zur Dramenanalyse7.1 La vida es sueño7.1.1 Calderón de la Barca7.1.2 Inhaltsangabe7.1.3 Analyse ausgewählter Passagen7.2 Bodas de sangre7.2.1 Federico García Lorca7.2.2 García Lorcas ‚tragedias rurales‘7.2.3 Zum Inhalt der Bodas de sangre7.2.4 Analyse ausgewählter PassagenLiteratur8 Epik und Erzähltextanalyse8.1 Gattung Epik8.2 Erzählerische Gestaltung oder Diskurs8.2.1 Stimme8.2.2 Zeit8.2.3 Distanz8.2.4 Fokalisierung8.3 Struktur des Erzählten oder Geschichte8.3.1 Figuren8.3.2 Handlung, Geschehen und ‚Plot‘Literatur9 Epik analysieren – Beispiele und Übungen9.1 Benito Pérez Galdós und das Spanienproblem9.1.1 Kontext eines literarischen Projekts9.1.2 Doña Perfecta9.2 Selbstbezügliches Erzählen: Julio Cortázar, Continuidad de los parquesLiteratur10 Text und Autorschaft10.1 Literarische Kommunikation und Interpretationsansätze10.2 Positivismus10.3 Exkurs: Frühe Philologie in Spanien10.4 Psychoanalyse10.5 Literatursoziologie10.5.1 Marxistische Literaturwissenschaft10.5.2 Gattungen als ‚Sitz im Leben‘10.5.3 FeldtheorieLiteratur11 Textvergleich und Textwirkung11.1 Komparatistische Literaturwissenschaft11.1.1 Thema, Stoff, Motiv11.1.2 Typologischer und genetischer Vergleich11.1.3 Exkurs: Allgemeine Literaturwissenschaft11.1.4 Imagologie11.1.5 Kulturtransfer11.2 Die Rezeption literarischer Werke11.2.1 Rezeptions- und Wirkungsgeschichte11.2.2 Rezeptionsästhetik11.3 Feministische Literaturwissenschaft und Gender StudiesLiteratur12 Strukturalismus und Poststrukturalismus12.1 Strukturalismus12.1.1 Zum Begriff ‚Struktur‘12.1.2 Der strukturalistische Umgang mit Texten12.2 Poststrukturalistische Ansätze12.2.1 Intertextualität12.2.2 Historische Diskursanalyse12.2.3 Postkoloniale Literaturtheorien12.2.4 DekonstruktionLiteratur13 Filmanalyse13.1 Zwei Methoden der Filmtranskription13.2 Bildebene13.3 Tonebene13.4 Montage13.5 Filmisches ErzählenFilmeditionLiteratur14 Übungen und Beispiele zur Filmanalyse14.1 Pedro Almodóvar14.2 Inhaltsüberblick zu Todo sobre mi madre14.3 Leitlinien der Analyse14.3.1 Filmisches Erzählen14.3.2 Intertextualität, Intermedialität, Hybridgattung14.3.3 Körperlichkeit und Gender-Perspektive14.4 Interpretationsansätze14.4.1 Interpretation unter Gender-Aspekten14.4.2 Interpretation unter poststrukturalistischen Vorzeichen14.4.3 Interpretation aus psychoanalytischer PerspektiveFilmeditionLiteraturAbbildungsverzeichnisSachregister

Vorwort zur 3., aktualisierten Auflage

Von der Einführung der ersten Bachelor-Studiengänge bis zum heutigen Zeitpunkt haben einschneidende Veränderungen die Hochschullandschaft umgestaltet. Infolge der Vorgaben der sog. ‚Bologna-Reform‘ wurde auf breiter Ebene eine Modularisierung der Studiengänge eingeführt, die mit einem gestuften System von Abschlüssen und dem Anspruch auf verbesserte Studierbarkeit und Qualitätssicherung einhergeht. Zumal die europaweite Vergleich- und Anrechenbarkeit von Studienabschnitten oder Diplomen sollte eine erleichterte Mobilität der Studierenden nicht nur innerhalb der deutschsprachigen Staaten, sondern über deren Landesgrenzen hinweg ermöglichen. Auf die damit verbundenen problematischen Aspekte in Konzeption und Umsetzung braucht an dieser Stelle nicht eingegangen zu werden. Festgehalten werden kann indes die deutlichere Profilbildung und die größere Transparenz hinsichtlich der Inhalte und Standards in den literaturwissenschaftlichen Grundlagenmodulen der verschiedenen hispanistischen und lateinamerikanistischen Studiengänge. Eine besondere Rolle spielt dabei gerade der jüngste Entwicklungsprozess, in dessen Verlauf die Lehramtsstudiengänge nicht nur in ihren Strukturen modularisiert wurden und damit inzwischen in weiten Teilen zu den Bachelorstudiengängen parallel angelegt sind. Vielmehr wurde in Deutschland, in Österreich und in der Schweiz die Lehrerausbildung bereits in großen Teilen bzw. sogar vollständig auf das Bachelor-Master-System umgestellt, oder aber es wird ggf. ein das Lehramtsstudium begleitender Bachelor of Education angeboten. Damit ist das Bachelor-Studium gleichsam vom Reformprojekt zum Standard avanciert.

Der vorliegende Band der Reihe bachelor-wissen versteht sich in diesem Sinne als eine möglichst universell einsetzbare Einführung in Theorien, Analyseinstrumente und Methodik der hispanistischen und lateinamerikanistischen Literaturwissenschaft sowie des wichtigen angrenzenden Bereichs der Filmanalyse. Die vorliegende 3. Auflage wurde erneut aktualisiert und einer kritischen Korrektur unterzogen. Das Gleiche gilt für die umfangreichen Online-Materialien, die begleitend zum Lehrbuch unter www.bachelor-wissen.de zur Verfügung stehen.

 

Augsburg/Freiburg i.Br., Juli 2016

Rotraud v. Kulessa, Maximilian Gröne und Frank Reiser

1Begriff ‚Literatur‘

Inhalt
1.1

Literatur ‚an und für sich‘

1.2

Literatur medial

Überblick In diesem ersten Kapitel beschäftigen wir uns mit der Definition von ‚Literatur‘ als Gegenstandsbereich der Literaturwissenschaft. Wir ziehen dazu Beispieltexte aus der spanischsprachigen Literatur heran und suchen notwendige oder typische Eigenschaften von Literatur. Anschließend lernen Sie einige medientheoretische Grundlagen von Literatur als Schrift-Kunst kennen.

1.1Literatur ‚an und für sich‘

Aufgabe 1.1 ? Lesen Sie folgende Texte kurz an und überlegen Sie, welche von ihnen Sie zur Literatur im engeren Sinne zählen würden.

Überlegen Sie sich weitere Unterscheidungskriterien neben den bereits angeführten.

Text 1.1

Miguel de Cervantes: El ingenioso hidalgo Don Quijote de la Mancha (1605) En un lugar de la Mancha, de cuyo nombre no quiero acordarme, no ha mucho tiempo que vivía un hidalgo de los de lanza en astillero, adarga antigua, rocín flaco y galgo corredor. Una olla de algo más vaca que carnero, salpicón las más noches, duelos y quebrantos los sábados, lantejas los viernes, algún palomino de añadidura los domingos, consumían las tres partes de su hacienda. El resto della concluían sayo de velarte, calzas de velludo para las fiestas, con sus pantuflos de lo mesmo, y los días de entresemana se honraba con su vellorí de lo más fino. Tenía en su casa una ama que pasaba de los cuarenta y una sobrina que no llegaba a los veinte, y un mozo de campo y plaza que así ensillaba el rocín como tomaba la podadera. Frisaba la edad de nuestro hidalgo con los cincuenta años. Era de complexión recia, seco de carnes, enjuto de rostro, gran madrugador y amigo de la caza. Quieren decir que tenía el sobrenombre de “Quijada”, o “Quesada”, que en esto hay alguna diferencia en los autores que deste caso escriben, aunque por conjeturas verosímiles se deja entender que se llamaba “Quijana”. Pero esto importa poco a nuestro cuento: basta que en la narración dél no se salga un punto de la verdad.

Es, pues, de saber que este sobredicho hidalgo, los ratos que estaba ocioso, que eran los más del año, se daba a leer libros de caballerías, con tanta afición y gusto, que olvidó casi de todo punto el ejercicio de la caza, y aun la administración de su hacienda. Y llegó a tanto su curiosidad y desatino en esto, que vendió muchas hanegas de tierra de sembradura para comprar libros de caballerías en que leer, y así, llevó a su casa todos cuantos pudo haber dellos; y de todos, ningunos le parecían tan bien como los que compuso el famoso Feliciano de Silva, porque la claridad de su prosa y aquellas entricadas razones suyas le parecían de perlas, y más cuando llegaba a leer aquellos requiebros y cartas de desafíos, donde en muchas partes hallaba escrito: La razón de la sinrazón que a mi razón se hace, de tal manera mi razón enflaquece, que con razón me quejo de la vuestra fermosura. Y también cuando leía: … los altos cielos que de vuestra divinidad divinamente con las estrellas os fortifican, y os hacen merecedora del merecimiento que merece la vuestra grandeza. Con estas razones perdía el pobre caballero el juicio, y desvelábase por entenderlas y desentrañarles el sentido, que no se lo sacara ni las entendiera el mesmo Aristóteles, si resucitara para sólo ello. (Cervantes: 2008, 113f.)

Abb. 1.1

Juan de Jáuregui: Miguel de Cervantes (1600)

Text 1.2

Guillermo de Torre: Paisaje plástico (1919) (de Torre: 1919, 160)

Text 1.3

Cortázar, Julio: Situación de la novela (1950) Alguna vez he pensado si la literatura no merecía considerarse una empresa de conquista verbal de la realidad […] cada libro lleva a cabo la reducción a lo verbal de un pequeño fragmento de realidad […] Es así que mientras las artes plásticas ponen nuevos objetos en el mundo […] la literatura se va apoderando paulatinamente de las cosas […] (Cortázar: 1950, 223)

Text 1.4

Gustavo Adolfo Bécquer: Rimas (1868) Yo sé un himno gigante y extraño

que anuncia en la noche del alma una aurora,

y estas páginas son de este himno

cadencias que el aire dilata en las sombras.

 

Yo quisiera escribirlo, del hombre

domando el rebelde, mezquino idioma,

con palabras que fuesen a un tiempo

suspiros y risas, colores y notas.

 

Pero en vano es luchar; que no hay cifra

capaz de encerrarle, y apenas ¡oh hermosa!

si teniendo en mis manos las tuyas

pudiera, al oído, cantártelo a solas.

 

(Bécquer: 2009, 109)

Abb. 1.2

Gustavo Adolfo Bécquer (1836–1870)

Text 1.5

José Sanchis Sinisterra: Ñaque o de piojos y actores (1980)RÍOS. ¿Dónde estamos?

SOLANO. En un teatro…

RÍOS. ¿Seguro?

SOLANO. … o algo parecido.

RÍOS. ¿Otra vez?

SOLANO. Otra vez.

RÍOS. ¿Esto es el escenario?

SOLANO. Sí.

RÍOS. ¿Y eso es el público?

SOLANO. Sí.

RÍOS. ¿Eso?

SOLANO. ¿Te parece extraño?

RÍOS. Diferente…

SOLANO. ¿Diferente?

 

(Sinisterra: 2008, 125)

Text 1.6

El País, 18. 12. 2008 Una mezcla de realismo de la vida cotidiana y de mundo mágico, en palabras de la también escritora Ángeles Caso, definirían la última novela de Matute. Ambas dialogaron en tono distendido sobre la literatura y la vida, dos conceptos que significan la misma cosa, a juicio de Ana María Matute. “La literatura es mi mundo y, en realidad, podría decir que la literatura es la vida de verdad”, remachó la novelista y académica. Situada la trama en la época de la Segunda República, en el ambiente de una familia burguesa, el contraste entre un realismo duro y unas fabulaciones mágicas a través de sus lecturas marcan la formación sentimental de la pequeña Adriana, enamorada de Gavrila, un niño ruso, hijo de una bailarina. “La niña protagonista vive en función de sus lecturas, tal como hice yo que siempre fui una rebelde. Yo tenía auténtica pasión por los cuentos”, recordó Ana María Matute que destacó, una y otra vez, la importancia de la infancia en todas las personas. “La infancia nos marca de una forma tremenda y yo he intentado mantener la niña que fui”, manifestó muy convencida.

(El País, 18. 12. 2008)

Text 1.7

Jorge Luis Borges: La Biblioteca de Babel (1942) El universo (que otros llaman la Biblioteca) se compone de un número indefinido, y tal vez infinito, de galerías hexagonales, con vastos pozos de ventilación en el medio, cercados por barandas bajísimas. Desde cualquier hexágono se ven los pisos inferiores y superiores: interminablemente. La distribución de las galerías es invariable. Veinte anaqueles, a cinco largos anaqueles por lado, cubren todos los lados menos dos; su altura, que es la de los pisos, excede apenas la de un bibliotecario normal. Una de las caras libres da a un angosto zaguán, que desemboca en otra galería, idéntica a la primera y a todas. A izquierda y a derecha del zaguán hay dos gabinetes minúsculos. Uno permite dormir de pie; otro, satisfacer las necesidades finales. Por ahí pasa la escalera espiral, que se abisma y se eleva hacia lo remoto. En el zaguán hay un espejo, que fielmente duplica las apariencias. Los hombres suelen inferir de ese espejo que la Biblioteca no es infinita (si lo fuera realmente ¿a qué esa duplicación ilusoria?); yo prefiero soñar que las superficies bruñidas figuran y prometen el infinito […] La luz procede de unas frutas esféricas que llevan el nombre de lámparas. Hay dos en cada hexágono: transversales. La luz que emiten es insuficiente, incesante.

(Borges: 1999, 105–106)

Suche nach Kriterien Ein erster Blick auf die sieben Texte führt dazu, dass wir einige spontan, ohne sie überhaupt eingehend zu lesen, in die Kategorie Literatur einordnen, so die Texte 1.4 und 1.5, die uns aufgrund ihrer Anordnung und des Schriftbildes sofort an ein Gedicht (1.4) und ein Drama (1.5) denken lassen. Diese spontane Einordnung verdanken wir wiederum unserem Vorwissen (vgl. hermeneutischer Zirkel, Einheit 4), das unser Bewusstsein für literarische GattungenGattungen (vgl. Einheit 2.2) beeinflusst. Ähnlich verhält es sich mit Text 1.6. Hier verrät uns die Quellenangabe, dass es sich um einen Zeitungsartikel handelt, den wir spontan nicht zur Literatur zählen würden. Unsere Entscheidung wird in allen drei Fällen durch textexternes Wissen bestimmt bzw. durch eine Form von ParatextParatextParatextParatext (vgl. Einheit 12.2.1), d.h. in diesem Fall einen für sich sprechenden Titel, nämlich den einer bekannten spanischen Tageszeitung. Es stellt sich natürlich die Frage, warum ein Presseartikel für uns nicht zur ‚Literatur‘ zählt. Entscheidend ist hier wohl der Aspekt der Erwartung des Lesers, der mit der Presse vor allem den Zweck der Information verbindet. Ein weiteres Unterscheidungskriterium Zweck/Funktion wäre also der Zweck oder die Funktion einer schriftlichen Äußerung bzw. eines Textes. Um diesen für die einzelnen Texte zu klären, müssen wir uns nun jeweils ihrem Inhalt zuwenden. In allen sieben Texten geht es im weiteren Sinne um die Literatur selbst, um das Schreiben, das Lesen, das Erzählen. Der Inhalt Inhalt ist als Unterscheidungskriterium also erst einmal nicht sachdienlich. Es kommt hinzu, dass sich der Sinn der Texte 1.2 und 1.4 nicht beim ersten Lesen enthüllt. Erkennen wir letzteren (d.h. Text 1.4) zwar aufgrund formaler Kriterien und aufgrund des ParatextesParatext, nämlich des Titels (Rimas), sofort als Literatur, erweist sich Text 1.2 als Problem. Nur vor dem Hintergrund des Titels in Zusammenhang mit literaturhistorischem Wissen erschließt sich der Sinn bzw. Unsinn und damit der Zweck dieses Textes. Der Autor Guillermo de Torre, geboren 1900 in Madrid und gestorben 1971 in Buenos Aires, war Mitglied der Generación del 27Generación del 27 und der Bewegung der ultraístas, eines Zusammenschlusses spanischer Dichter, die auch in die spanische Literatur die Futurismus, Dadaismus, SurrealismusSurrealismus europäischen Avantgarde-Bewegungen wie den Futurismus, den Dadaismus und vor allem den SurrealismusSurrealismus einbringen wollten. Der Titel des Gedichtes von Guillermo de Torre, El paisaje plástico, verweist auf den Zusammenhang von Literatur und bildender Kunst. Es handelt sich bei dem Text um ein so genanntes Kalligramm, eine Gedichtform, die auf der Bedeutungsebene mit Wort und Bild spielt, indem Schriftbild und Textbedeutung sich gegenseitig bedingen. Wie bei den dadaistischen Collagen und den Werken der Futuristen handelt es sich um ästhetische Experimente, bei denen die formale Neuerung Autonomieautonom: Eigengesetzlichkeit der Kunst und die Autonomieautonom der Ästhetik im Vordergrund stehen, und somit Kunst und ihre Eigengesetzlichkeit thematisieren. Auch in Text 1.4 steht die Dichtung selbst im Mittelpunkt. Gustavo Adolfo Bécquer (1836–1870) kündigt in dem Einleitungsgedicht zu seinen Rimas (1871), die er in Anlehnung an den Canzoniere Petrarcas verfasste, eine neue Dichtungsauffassung an und problematisiert dabei insbesondere die Rolle von Sprache als UniversalmediumMedium (vgl. StrophenStrophe2 und 3). Text 1.2 und Text 1.4 haben eines gemeinsam: die Sprache steht im Mittelpunkt und verweist gleichsam auf sich selbst. Das Gedicht von Komposition und StrukturStruktur Bécquer ist in hohem Maße durchkomponiert bzw. strukturiertStruktur. Zunächst durch die Verse, die den Text rhythmisieren (hier im Wechsel von Zehn- und Zwölfsilblern, span. decasílabo und dodecasílabo), dann durch die StrophenStrophe (drei Quartette, span. cuartetos), schließlich durch den ReimReim, einen assonantischen ReimReim in den geradzahligen Versen (zur lyrischen Form siehe Einheit 4.4). Weiter fallen Besonderheiten in der sprachlich-stilistischen Gestaltung auf. So begegnen wir Metaphern wie „la noche del alma“ für die Stimmung des lyrischen Ichs oder Parallelismen wie in Vers 8 („suspiros y risas, colores y notas“). Weiterhin fällt in Vers 10 („¡oh hermosa!“) eine Anrufung (Apostrophe, span. apóstrofe) ins Auge, die die Geliebte des lyrischen Ichs als Adressatin des Gedichts zu Erkennen gibt. Allen diesen Eigenheiten ist Sprache gemeinsam, dass der Text eine eigentümliche, von der ‚Normalsprache‘ abweichende Sprache verwendet, die sich nicht darauf beschränkt, den Inhalt des Textes darzustellen, sondern auch eine gewisse Aufmerksamkeit auf die Art und Weise dieser Darstellung lenkt. Diese Eigenschaft von Texten bezeichnet PoetizitätPoetizität man üblicherweise mit dem Begriff PoetizitätPoetizität (poeticidad, f.).

Abweichung Das Moment der Abweichung als Kennzeichen literarischer Texte ist durchaus naheliegend. Es begegnet uns in der verbreiteten Vorstellung,Deviationsstilistik im FormalismusFormalismus ‚Literatur‘ sei im Gegensatz zu alltäglicher Sprachverwendung eine Form stilistisch anspruchsvollen, ‚guten‘ Schreibens – insgesamt gesehen zumindest, wobei es freilich auch ‚minderwertige‘ Literatur gibt, die diesen Anspruch zwar nicht FormalismusFormalismus (‚Formale Schule‘): zwischen 1914 und 1930 in Moskau und Leningrad tätige Gruppe von Sprach- und Literaturwissenschaftlern einlöst, aber dennoch an ihm gemessen werden kann und wird. Auch Literaturwissenschaftler haben auf diesen Gesichtspunkt abgehoben, am nachhaltigsten die russischen FormalistenFormalismus. Für sie war es die wesentliche Aufgabe von Literatur, ästhetische Wahrnehmung zu ermöglichen und zu schulen, den Leser ein ‚neues Sehen‘ zu lehren. Voraussetzung dafür war, die gewohnten, ‚automatisierten‘ Wahrnehmungsmuster mit gezielter Verfremdung und Erschwerung der Form zu durchbrechen. Unter weitgehender Absehung vom Inhalt verstanden die FormalistenFormalismus literarische Texte als Summe der ‚Verfahren‘, d.h. (verfremdender) Bearbeitungen des sprachlichen Ausdrucks (was Klang, Bildlichkeit, RhythmusRhythmus, Reim ebenso einschließt wie Metaphorik, Satzbau und Erzähltechniken). Dahinter steckt der Gedanke, dass man ein MediumMedium – also hier Sprache, aber die Theorie galt auch etwa für die bildende Kunst und ihre Wahrnehmung – ‚spürbar‘ macht, wenn man von der Ökonomie des praktischen Gebrauchs abweicht, also etwa Sprache nicht so verwendet, wie sie im Alltag benutzt wird, sondern anders, neu – wie dies Bécquers und de Torres Gedichte tun. Innovation und Abweichung wird so zum entscheidenden Wesensmerkmal ‚poetischerpoetisch‘ Sprache und damit der Literatur.

Problematik der ‚Abweichung‘ Wissen wir nun, was Literatur kennzeichnet? Das Kriterium der Abweichung und Innovation besitzt den bereits erwähnten Vorteil, literarische Texte mit einem formalen Anspruch zu assoziieren, und entspricht zudem einer Menge insbesondere lyrischer Texte; indes hat es Schwächen, die nicht übersehen werden dürfen. Wenn nämlich die Formalisten die innovative Überbietung gewohnter sprachlicher Muster – und das heißt: der jeweils vorhergehenden, etablierten literarischen Verfahren – als Wesen und Auftrag der Literatur bestimmen, dann wird deutlich, dass wir erst dann entscheiden können, ob ein Text ‚literarisch‘ ist, wenn wir wissen, ob und worin er sich von vorhergehenden literarischen Texten unterscheidet, deren Literarizität wir dann wiederum erst in Abgrenzung zur Tradition vor ihnen zu bestimmen haben und so weiter – man kommt so, streng genommen, an kein Ende. Zieht man stattdessen die ‚Alltagssprache‘ als Vergleichsfolie heran, so wird das Sprachempfinden des jeweiligen Lesers der Gegenwart zum ausschlaggebenden Kriterium. Im Falle Borges’, dessen Texte in relativer zeitlicher Nähe zu uns stehen, mag die dadurch bedingte Verzerrung noch gering sein, bei sehr alten Texten zeigt sich rasch, dass der Leser der Gegenwart sehr viel schwerer zu entscheiden vermag, ob ein Text von der damaligen ‚Normalsprache‘ abweicht, also ‚poetisch‘ ist oder nicht (wie z.B. im Fall von Text 1.1) – ganz zu schweigen von anderen Variablen einer jeden Sprache, in der Terminologie der Linguistik etwa diatopische (d.h. regionale), diastratische (sozial-schichtenspezifische) oder diaphasische (anlassabhängige) Varietäten, die es schwer machen, eine ‚Norm‘ und damit die ‚poetischepoetisch‘ Abweichung festzustellen. Und selbst wenn es ginge, macht einerseits manche Abweichung noch keine Literatur (Dialekte beispielsweise), andererseits gibt es auch Literatur, die keine wesentliche sprachliche Verfremdung erkennen lässt, wie zum Beispiel Text 1.7.

‚Imaginatives‘ Schreiben: FiktionalitätFiktionalität Wer diese Texte liest, wird bei hinreichender Kenntnis des Spanischen zunächst kaum jenen sprachlichen oder formalen Widerstand spüren, die unser erster Ansatzpunkt auf der Suche nach Literarizität gewesen war. Wenn wir Text 1.3 und 1.1 miteinander vergleichen, stellen wir fest, dass die Texte sich inhaltlich beide mit Literatur befassen. Der Text 1.3 untersucht das Verhältnis von Literatur und Realität, während Text 1.1 von der Beziehung zwischen Leser und Text handelt. Der Beginn von Text 1.1 deutet aufgrund der entfernt an MärchenMärchen erinnernden Erzählweise allerdings gleich darauf hin, dass es den besagten Hidalgo (Kleinadligen) in der Realität nicht gibt, wohl aber die angesprochenen Werke, die er gelesen hat. Auch wenn der fiktive Hidalgo selbst nicht zwischen der Realität und der FiktionFiktion der Romane, die er gelesen hat, unterscheidet, ist dieser Gegensatz doch nicht unerheblich: Auch Text 1.6 handelt von realen Büchern, verzichtet aber als journalistischer Text darüber hinaus auf alles, was seine Glaubwürdigkeit als zweifelhaft erscheinen lassen könnte, wohingegen wir mit Text 1.1 spontan eine erfundene – und damit literarische – Geschichte assoziieren. Dies ergibt sich aus dem ritterromantypischen Titel und Textanfang sowie aus der Tatsache, dass der Erzähler seine Geschichte als ‚cuentoCuento‘, also als literarische GattungGattungen, ankündigt. Der Text von Cervantes ist im strengen Sinne ‚unwahr‘, erfunden, wie dies für viele andere literarische Texte gilt und von Cervantes im Text selbst auch problematisiert wird („[…] aunque por conjeturas verosímiles se deja entender que se llamaba Quejana. Pero esto importa poco a nuestro cuentoCuento; basta que en la narración dél no se salga un punto de la verdad“). Ihr Kennzeichen ist somit FiktionalitätFiktionalität.

DefinitionFiktionalitätFiktionalität (ficcionalidad, Adj. fiktional, ficcional) bezeichnet die Darstellungsweise eines Textes, der seinen Inhalt als nicht real existierend präsentiert bzw. seinen Gegenstand erst im Sprechakt (z.B. der Erzählung) selbst schafft. FiktionalitätFiktionalität kennzeichnet den Status einer Aussage.

Fiktivität (fictividad, Adj. fiktiv, fictivo, ficticio) bezeichnet die Existenzweise von erfundenen, nicht in der Wirklichkeit existierenden Gegenständen. Fiktivität kennzeichnet den Status des Ausgesagten.

Fiktivität und FiktionalitätFiktionalität nicht immer deckungsgleich Cervantes Text ist fiktional, da die von ihm erzählte Welt nicht unabhängig von ihm existiert, er ist aber nicht fiktiv, denn den Text gibt es schließlich in unserer Realität. Die Hauptfigur, Don Quijote, hingegen ist fiktiv, wenngleich der Erzähler vorgibt, er habe tatsächlich gelebt. Diese Unterscheidung ist wichtig, da zwar die meisten fiktionalenFiktion Texte auch ausschließlich fiktive FigurenFigur darstellen, aber eben doch nicht alle: Historische RomaneRoman etwa lassen – teilweise oder durchgehend – realgeschichtliche, also nicht-fiktive Personen auftreten, erzeugen aber die erzählte Welt mehrheitlich selbst, sei es in Gestalt nicht verbürgter Handlungsdetails, sei es durch psychologische Innenansichten einer historischen Person, sie sind also fiktionalFiktion. Umgekehrt ist nicht jeder Text, in dem fiktive Personen eine Rolle spielen, deswegen gleich fiktionalFiktion – eine literaturwissenschaftliche Studie wie z.B. Text 1.6 etwa versteht sich natürlich als Sachtext, d.h. als nicht-fiktionaler, referenziellerreferenziell Text (texto referencial), auch wenn in ihr fiktive FigurenFigur eine wichtige Rolle spielen. Ein mögliches Kriterium für Literarizität eines Textes ist demnach allein seine FiktionalitätFiktionalität, nicht die Fiktivität seiner Bestandteile.

FiktionalitätFiktionalität als nur relative Kategorie Nun ist es nicht immer so einfach, FiktionalitätFiktionalität festzustellen. Meist ist die Entscheidung nicht textintern, sondern allenfalls unter Rückgriff auf textexternes Wissen über die historische Wirklichkeit oder zumindest auf die oben bereits erwähnten ParatexteParatext wie die klärende Angabe „RomanRoman“ auf dem Titelblatt zu treffen. Mitunter kann sich der FiktionalitätsstatusFiktion eines Textes sogar ändern: Die Schöpfungsgeschichte des Alten Testaments etwa war über lange Zeit für den abendländischen Kulturkreis zweifellos ein nicht-fiktionaler Sachtext, sogar die ‚Wahrheit‘ schlechthin, heute hingegen wird er auch als FiktionFiktion gelesen und wohl von der Mehrheit der Leser jedenfalls als nicht im wörtlichen Sinne ‚wahr‘ verstanden. (Zugleich zeigt dieses Beispiel, dass die Entscheidung über FiktionalitätFiktionalität oder ReferenzialitätReferenzialität, so schwierig sie sein mag, mitunter alles andere als ‚egal‘ ist.)

Lassen Sie uns jetzt noch einmal einen Blick auf Text 1.2 werfen, den wir mit dem Kriterium der ‚Abweichung‘ gekennzeichnet hatten. Formal ist der Text von einem alltagssprachlichen Gebrauch extrem weit entfernt. Darüber hinaus drängt sich uns als Leser die Frage auf: „Was wird mit diesem Text eigentlich bezweckt?“ Während etwa Julio Cortázars Text sich mühelos als Abhandlung über die Beziehung von Literatur und Realität zu erkennen gibt, hat Text 1.2, von einem gewissen provokativen Effekt einmal abgesehen, zunächst keinen EntpragmatisierungEntpragmatisierung ersichtlichen Zweck. Er ist ‚entpragmatisiertEntpragmatisierung‘.

Die Bestimmung von Literatur als Summe derjenigen Texte, die unmittelbaren pragmatischen, also Sach- und Handlungskontexten enthoben sind, stimmt in der Tat gut mit dem gewöhnlichen Verständnis von Literatur überein. Im Gegensatz zu einem Reiseführer über Barcelona würde wohl niemand die KriminalromaneRoman von Manuel Vásquez Montalbán, die Serie Carvalho, heranziehen, um sich über diese Stadt zu informieren (wenngleich das durchaus denkbar wäre). Allerdings bedeutet dieser Ansatz, dass wir Funktionale statt essenzialistischer Kriterien nicht mehr Merkmale am Text selbst angeben können, die ihn als literarisch kennzeichnen, sondern wir uns vielmehr auf etwas außerhalb seiner, nämlich den Gebrauchskontext, berufen, in dem er steht: Wir wechseln von essenzialistischen, also das Wesen eines Textes betreffenden, zu funktionalen Kriterien und erkaufen uns relative Trennschärfe um den Preis, nicht mehr am Text als solchem die Literarizität festzumachen.

Ready-madesReady-made Ein besonders eindrückliches Beispiel für die letzte Feststellung sind sog. Ready-madesReady-made (span. objeto encontrado oder confeccionado). Wie der Begriff bereits andeutet, handelt es sich hierbei um vorgefertigte bzw. vorgefundene Gegenstände, die – überarbeitet oder nicht, neu kombiniert oder völlig unverändert – aus dem praktischen in einen künstlerischen Kontext ‚verpflanzt‘ werden. Konjunktur hatte dieses Prinzip besonders zur Zeit der künstlerischen Avantgarden von 1910 bis 1930, aber es besteht beispielsweise als Objektkunst bis in die Gegenwart fort. Eines der berühmtesten Ready-madesReady-made der Kunstgeschichte, Fountain, zeigt ein Urinal, das, sieht man einmal von der möglicherweise notwendigen Demontage ab, ohne erkennbare materielle Veränderung durch den Künstler Marcel Duchamp zur Skulptur umgewandelt wurde. Es ist klar, dass mit Erreichen einer Kunstauffassung, die diese Art von künstlerischem Schaffen ermöglicht, die Vorstellung von im Kunstwerk inhärenten Wesensmerkmalen überholt wird, und das gilt für alle Kunstformen, auch die Literatur, die natürlich das Ready-madeReady-made ebenfalls kennt. Die für Duchamps Fountain offensichtlich besonders zentrale Frage ist: Durch welche Faktoren (außer der Position des Urinals und dem Verzicht auf Anschlüsse, die einen ‚pragmatischen‘ Umgang wenig sinnvoll erscheinen lassen) wird eine ‚ästhetische‘ Aufnahme von Artefakten ausgelöst?

Abb. 1.3

Marcel Duchamp: Fountain (1917)

Aufgabe 1.2 ? Unterbrechen Sie für einen Moment die Lektüre und beantworten Sie für sich die zuletzt gestellte Frage in Bezug auf Literatur.

Auslösende Faktoren ‚ästhetischer‘ Aufnahme Die erste und augenscheinlich banalste Antwort lautet, dass Texte als Literatur rezipiert werden, wenn die jeweilige Umgebung sie als solche kennzeichnet; so macht beispielsweise der Buchdeckel, auf dem „Roman“ steht, den Unterschied, oder auch der mündliche Vortrag bei einer Lesung in einer Buchhandlung, die Aufführung in einem Theater usw. Es gibt also bestimmte mediale Medialer und institutioneller Kontext und institutionelle Kontexte, die gemäß einer (meist unausgesprochenen) kulturellen Vereinbarung Entpragmatisierung und ästhetischen Umgang signalisieren. Ein zweiter wichtiger Faktor ist die Instanz des Urhebers, des ‚Autor-FunktionAutor-Funktion‘ (Michel Foucault)AutorsAutor, für die Kategorisierung eines Textes. Mit ‚AutorAutor‘ meinen wir üblicherweise dasjenige Individuum, das einen Text geschrieben hat, aber auf diesen objektiven Zusammenhang beschränkt sich der Begriff nicht, wie der Philosoph Michel Foucault (1926–1984) in seinem berühmten Aufsatz „Was ist ein AutorAutor?“ von 1969 ausführt. Ihm geht es in kritischer Absicht darum zu zeigen, wie der ‚AutorAutor‘ zur abstrakten Instanz mit grundlegender Bedeutung für die Beurteilung eines Textes wird. So ist es für einen Text nicht ohne Belang, ob er, sagen wir: Cervantes, Borges oder einem anonymen AutorAutor zugeschrieben wird, selbst wenn sich der Text ‚objektiv‘ dadurch nicht ändert. Denn er ordnet sich damit in ein (typischerweise stimmiges oder in seiner Entwicklung erklärbares) Gesamtwerk ein, das einem vernunftbegabten und spezifisch motivierten Individuum entspringt. Der ‚AutorAutor‘ ist nicht nur diese reale Person, sondern ein Konstrukt der Leserschaft, das auf einen Text bezogen wird, seine Einordnung, Gruppierung und InterpretationInterpretation ermöglicht und die Komplexität und Widersprüchlichkeit des Textsinns vereinfacht (was Foucault die „Verknappung des Diskurses“, d.h. der Menge des Sagbaren, nennt). Diese ‚Autor-FunktionAutor-Funktion‘ als wesentlicher Bestandteil literarischer Texte ist ein Phänomen der Neuzeit – im Mittelalter waren literarische Texte ohne Autorzuschreibung gültig (man fragte nicht nach dem Individuum, das einen Text verfasst hatte), im Unterschied zu anderen Textsorten, etwa medizinischen Traktaten, die sich zumindest auf eine (meist antike) Autorität berufen mussten, um als gültig anerkannt zu werden. Für unsere Fragestellung lässt sich diesen Überlegungen entnehmen, dass zum ‚literarischen Werk‘ wird, was von einem ‚AutorAutor‘ kommt – und nicht nur umgekehrt jemand zum AutorAutor wird, weil er ein literarisches Werk geschrieben hat. Ein banaler Text, ein kurzer handschriftlicher Tagebucheintrag etwa oder ein Brief, wie Sie und ich ihn verfasst haben könnten, kann literarische Weihen erhalten, wenn man feststellt, dass er von García Lorca stammt; er wird dann ediert, eventuell von Literaturwissenschaftlern kommentiert und so fort. Selbst wenn wir nicht biographisch ausgerichtet arbeiten, sondern beispielsweise textimmanent an literarische Texte herangehen, so bleibt der AutorAutor – nicht die reale Person, sondern das Konstrukt, die ‚Funktion‘ – unter Umständen für die Frage entscheidend, was überhaupt unser Gegenstand ist.

Abb. 1.4

Jesse Bransford: Head (Michel Foucault)

Aufgabe 1.3 ? Lesen Sie nun folgenden Text von Wolfgang Iser und versuchen Sie ein weiteres Kriterium für die Literarizität von Texten anzuführen.

Text 1.8

Wolfgang Iser: Die Appellstruktur der Texte (1971) […] Wir aktualisieren den Text über die Lektüre. Offensichtlich aber muss der Text einen Spielraum von Aktualisierungsmöglichkeiten gewähren, denn er ist zu verschiedenen Zeiten von unterschiedlichen Lesern immer ein wenig anders verstanden worden […].

Wie ist das Verhältnis von Text und Leser beschreibbar zu machen? Die Lösung soll in drei Schritten versucht werden. […] In einem dritten Schritt müssen wir das seit dem 18. Jahrhundert beobachtbare Anwachsen der Unbestimmtheitsgrade in literarischen Texten zu klären versuchen. Unterstellt man, dass Unbestimmtheit eine elementare Wirkungsbedingung verkörpert, so fragt es sich, was ihre Expansion – vor allem in modernerer Literatur besagt. Sie verändert ohne Zweifel das Verhältnis von Text und Leser. Je mehr die Texte an Determiniertheit verlieren, desto stärker ist der Leser in den Mitvollzug ihrer möglichen Intention eingeschaltet. (Iser: 1971, 8)

Kehren wir noch einmal zurück zu Text 1.2 und versuchen wir Isers Überlegungen darauf anzuwenden. In der Tat erscheint das Werk formal unseren Lesegewohnheiten gegenüber zwar als abweichend, ist jedoch in sich geschlossen. Nur der Sinn offenbart sich uns nicht spontan; jeder von uns könnte aus dem Text etwas anderes herauslesen. Wolfgang Iser spricht in diesem Zusammenhang LeerstelleLeerstellen/Unbestimmtheit von den ‚LeerstellenLeerstellen‘ bzw. der ‚Unbestimmtheit‘ eines Textes. Ein weiteres Kriterium für die Literarizität eines Textes wäre also sein Gehalt an LeerstellenLeerstellen (siehe Einheit 11.2.2) bzw. sein Grad an InterpretierbarkeitInterpretation. Dieses Kriterium gilt laut Iser vor allem für moderne Literatur, doch auch Cervantes’ Don Quijote lässt sich unterschiedlich lesen, nämlich z.B. als Geschichte über die Abenteuer des Don Quijote, als Parodie auf den RitterromanRoman (vgl. Einheit 8.1) oder als Reflexion über die Literatur und das Lesen im Allgemeinen, d.h. als autoreferenziellerAutorRomanRoman. Im Text sind alle drei Möglichkeiten und darüber hinaus auch noch viele andere angelegt. Es handelt sich hierbei also um OffenheitOffenheit (apertura) einen sehr offenen, ‚unbestimmten‘ Text (texto abierto).

Unsere Beispiele haben gezeigt, dass ‚Literatur‘ eine Kategorie mit recht ‚Literatur‘: Kategorie mit klarem Zentrum und unscharfen Rändern unscharfen Grenzen ist. Die provisorischen Charakteristika, die wir anhand der Textbeispiele vorgeschlagen haben, liefern keine absoluten Kriterien in dem Sinne, dass die Zugehörigkeit eines Textes zum Bereich des Literarischen überzeitlich und unabhängig von den verschiedenen Gesellschaften, die ihn gelesen haben oder lesen werden, feststünde: Was ‚poetischepoetisch‘ Sprache ist, hängt von einer schwer zu bestimmenden, zudem historisch, sozial und sogar individuell variierenden ‚Normalsprache‘ ab. FiktionalitätFiktionalität und ReferenzialitätReferenzialität sind, wie wir sahen, keine unveränderlichen Eigenschaften, und selbst wenn sie es wären, schiene es höchst problematisch, FiktionalitätFiktionalität zur Voraussetzung für Literarizität zu machen. Wie gehen wir beispielsweise mit einer AutobiographieAutobiographie wie Las confesiones de un pequeño filósofo von Azorín oder den zahlreichen cuadros de costumbres der Romantik um, also Texten, die in häufig didaktischer Absicht die Sitten des einfachen Volkes auf dem Lande oder in der Stadt darstellen und damit referenziellreferenziell sind? Heute sind sie in allen Literaturgeschichten verzeichnet. Dieser Umstand weist einmal mehr darauf hin, dass die Beurteilung von Texten und ihrer Wichtigkeit sehr davon abhängt, was bestimmte Leser mit diesen bezwecken, warum und wie sie sie lesen – ein Kontextfaktor außerhalb des Textes selbst, wie wir im Zusammenhang mit Text-Beispiel 1.2 bereits sahen. So klar die Kategorie ‚Literatur‘ im Alltagsgebrauch auch sein mag und so sehr die erwähnten Charakteristika auch auf viele ‚große‘ Werke (die ‚Klassiker‘) zutreffen mögen, so durchlässig zeigt sie sich an den Rändern (d.h. an untypischen Texten). Dies gilt umso mehr ab der Moderne (ungefähr ab der Mitte des 19. Jh.), mit der weniger ein klares Regelsystem im Sinne von Gattungspoetiken (siehe Einheit 2.2) als der Anspruch permanenter Neuerung zum Kennzeichen von Literatur wird und damit notwendigerweise auch die Grenzen des Literarischen immer wieder verschoben werden.

Aufgabe 1.4 ? Suchen Sie weitere – imaginäre oder Ihnen bekannte reale – Beispieltexte, die gegen die Kriterien der PoetizitätPoetizität und der FiktionalitätFiktionalität zur Bestimmung von Literatur sprechen.

1.2Literatur medial

Intensiver vs. extensiver LiteraturbegriffLiteraturbegriff Bisher haben wir versucht, Literatur anhand bestimmter Eigenschaften von anderen, nicht-literarischen Schriftstücken abzugrenzen. Wir haben damit einen sog. intensivenLiteraturbegriffLiteraturbegriff vertreten. Manche Schwierigkeit lässt Extensiv verstanden: Literatur ist geschriebene Sprache sich umgehen, wenn man dagegen einen extensiven, also ausgedehnten LiteraturbegriffLiteraturbegriff zugrunde legt, zu unserer Eingangsdefinition zurückkehrt und Literatur gemäß der Ursprungsbedeutung des Wortes als geschriebene Sprache versteht. Diese Definition umfasst ein ungleich größeres Textvolumen und freilich eine Unmenge von Schriftstücken, die gemeinhin kaum ‚Literatur‘ genannt würden (dabei, wie wir sahen, jedoch als Ready-madeReady-made relativ leicht Literatur werden könnten), lenkt zugleich aber die Aufmerksamkeit auf einen Aspekt, der bisher nicht erwähnt wurde und auch sonst häufig stillschweigend oder gar nicht beachtet wird: die Medialität von Literatur.

MediumMedium Hier ist gleich ein klärendes Wort zum Begriff ‚MediumMedium‘ angebracht. Er wird in zweierlei Bedeutung gebraucht. Wir bezeichnen (1) Datenträger wie Zelluloidfilme, DVDs oder serverbasierte Videostreams als „MediumMedium“. Einen Spielfilm kann ich, die entsprechenden technischen Apparaturen vorausgesetzt, mit Hilfe aller genannten Datenträger rezipieren, ohne dass sich der Inhalt (das, was ich sehen und hören kann) deswegen ändert. Allerdings kann der Datenträger indirekt einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf den Inhalt ausüben: so wurden durch die Publikation von Literatur in MassenmedienMedien wie den auflagenstarken Tageszeitungen des 19. Jh. neue Leserschichten mit ihren spezifischen Erwartungen erreicht und die Produktion durch die Schriftsteller beschleunigt und auf kommerziellen Erfolg des Herausgebers ausgerichtet. Der RomanRoman am Ende des 19. Jh. ist ohne die Massendistribution in Tageszeitungen nicht denkbar, ebensowenig wie Videoblogs ohne freie Internetportale wie Youtube. – Wir bezeichnen (2) Zeichensysteme als MedienMedien. Das MediumMedium des Films beispielsweise sind bewegte Bilder und Töne, das von Literatur geschriebene Sprache. Im Unterschied zur Bedeutung 1 ist hier der Inhalt nicht ohne Weiteres vom MediumMedium abkoppelbar: Während es möglich ist, einen RomanRoman ohne Informationsverlust als e-Book oder PDF auf dem Bildschirm zu lesen (Datenträgerwechsel), kann man ihn nicht eins zu eins ins MediumMedium (Zeichensystem) des Films überführen (es sei denn, man würde das QuellmediumMedium selbst übernehmen, indem man alle Seiten des Buchs abfilmte). LiteraturverfilmungLiteraturverfilmung geht zugleich mit Informationsverlust und -zugewinn einher, ist InterpretationInterpretation, und zwei Verfilmungen ein und desselben literarischen Textes werden stets deutlich voneinander abweichen.

Aufgabe 1.5 ? Versuchen Sie vor dem Weiterlesen, einige medienspezifischeMedien Grundeigenschaften von Literatur zu nennen. Der Vergleich mit anderen MedienMedien (Zeichensystemen) wird Ihnen bei der Suche helfen, ebenso Ihre evtl. bereits erworbenen Grundkenntnisse der Linguistik.

Medialität jeder Wahrnehmung Auch wenn es uns bei der Lektüre eines fesselnd geschriebenen Romans oder bei der Betrachtung eines detailrealistischen Films so vorkommen mag, als ob wir dem Dargestellten unmittelbar begegnen, mitunter gleichsam darin ‚eintauchen‘ könnten – worin nach wie vor einer der Hauptreize der Rezeption gerade von Literatur und Film liegt –, so bleibt es ein unhintergehbares Faktum, dass zwischen uns und diesen Inhalten ein MediumMedium steht und stehen muss: ‚Unmittelbar‘ dringt nichts in unsere Psyche ein (lassen wir religiöse oder parapsychologische Erlebnisse einmal beiseite), und das dazwischen liegende MediumMedium ist nie völlig transparent.

Linearität, Abstraktheit und Arbitrarität des sprachlichen Zeichens (Ferdinand de Saussure) Für die Literatur als ‚Wortkunst‘ liegt das mediale Apriori, die vor jeder Poetik liegenden Ausdrucksbedingungen, zunächst einmal in der Bindung an Sprache. Die Eigenschaften dieses Zeichensystems bestimmen die Eigenschaften von Literatur mit. Der Begründer der strukturalistischen Sprachwissenschaft, Ferdinand de Saussure (1857–1913), hat als zentrale Merkmale sprachlicher Zeichen ihre Linearität, ihre Abstraktheit und ihre Arbitrarität SignifikantSignifikant/Signifikat und SignifikatSignifikant/Signifikat herausgestellt. Linear ist Sprache, weil ihre Ausdrucksseite (der SignifikantSignifikant/Signifikat, span. significante, m., also Laute oder Buchstaben) aus aufeinanderfolgenden, nicht gleichzeitig übermittelten Zeichen und Zeichenelementen besteht – ich vernehme einen Satz normalerweise eindimensional Laut für Laut, selbst wenn ich u.U. den durch ihn übermittelten Inhalt (die Bedeutung, das SignifikatSignifikant/Signifikat, span. significado, m.) oder auch die grammatische Struktur des Satzes sowie seine Einbettung in einen situativen Kommunikationskontext kognitiv nicht linear, sondern ganzheitlich erfasse. Literatur ist demnach eine Kunstform, die in der Linearität des Nacheinanders eine Bedeutung entwickelt, im Gegensatz etwa zum Film, der zwar auch linear abläuft, aber stets gleichzeitig einen mehrdimensionalen Bildraum eröffnet und diesen mit einer großen Bandbreite von Geräuschen, Musik oder Stimmen ausgestalten kann. Abstrakt ist ein sprachliches Zeichen, weil es nach de Saussure zunächst auf ein Konzept im Kopf des Sprechers oder Hörers und (noch) nicht auf ein konkretes Objekt (Referent) verweist. Ein literarischer Text lässt demnach notwendigerweise eine relativ große Unbestimmtheit vor allem in Bezug auf Konkretes – was der Leser bei dem Wort „Haus“ denkt, ist individuell unterschiedlich, während ein Film eben dies sehr viel konkreter und detailgenauer steuert, wenn er „Haus“ ‚sagt‘, d.h. ein solches zeigt. Umgekehrt hat Literatur durch ihre mediale Grundlage eine besondere Stärke eben in der Darstellung von Abstrakta – ein Text kann „Friede“ sagen, ein Film muss, will er sich nicht seinerseits der Sprache bedienen, sondern auf sein Zeichensystem rekurrieren, Bilderfolgen entwickeln, die dem Zuschauer diese Bedeutung suggerieren, mit einem freilich viel höheren Aufwand auf der Ausdrucksseite und einer Fülle nicht relevanter Informationen. Arbiträr (willkürlich) sind sprachliche Zeichen in der Regel, weil zwischen ihrem SignifikantenSignifikant/Signifikat und ihrem SignifikatSignifikant/Signifikat keine Motivation, d.h. natürliches Verhältnis (Ursache-Wirkung, Urbild-Abbildung o.ä.) besteht, sondern Ausdruck und Bedeutung nur durch Konvention aneinander gebunden werden – es ist nicht zwingend, ein Gebäude variabler Größe mit Fenstern und Türen mit der Lautfolge <haus> zu bezeichnen, man kann es auch <casa>, <maison> oder beliebig anders nennen, wenn sich eine Sprechergemeinschaft im Gebrauch darauf einigt. Literatur ist unmittelbar abhängig Kultureller Code von der Konvention eines Codes – ein Text in einer unbekannten Sprache ist noch nicht einmal hinsichtlich des Wortlauts verständlich, von symbolischen Bedeutungen ganz abgesehen –, während der Film zunächst einmal seinen Ausdruck jenseits eines Codes vom gefilmten Objekt selbst erzeugen lässt, das Zeichen also höher motiviert ist, abbildet – was nicht heißt, dass im Film nicht auch kulturelle Codes eine zentrale Rolle spielen und ein Film nicht jenseits der unmittelbaren Bildinhalte völlig unverständlich sein kann.

Literatur in verschiedenen ‚AufschreibesystemenAufschreibesystem‘ (Friedrich Kittler) Die Funktion, die eine Kunstform für eine Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt übernimmt, liegt dabei nicht allein in ihren eigenen medialen Möglichkeiten begründet, sondern ergibt sich auch aus dem Verhältnis zu konkurrierenden Kunstformen mit anderen medialen Grundlagen. Für dieses mediale Umfeld hat der Literatur- und MedienwissenschaftlerMedien Friedrich Kittler (1943–2011) den Begriff ‚AufschreibesystemAufschreibesystem‘ (span. sistema de registro) geprägt. Er versteht darunter „das Netzwerk von Techniken und Institutionen […], die einer gegebenen Kultur die Adressierung, Speicherung und Verarbeitung relevanter Daten erlauben“ (Kittler 2002: 501), also sowohl die zu einem Zeitpunkt zur Verfügung stehenden MedienMedien (Datenträger und Zeichensysteme) als auch Einrichtungen wie Schulen oder Verlage, die den Umgang mit und den Zugang zu ihnen regeln. Die Rolle des AufschreibesystemsAufschreibesystem für ein MediumMedium und die auf ihm beruhende(n) Kunstform(en) veranschaulicht Kittler eindrücklich in der Gegenüberstellung zweier historischer Momente: 1800 und 1900. Um 1800 hatte die Schrift das Monopol serieller Datenspeicherung. Es war das einzige MediumMedium, das Vorgänge in ihrer Prozesshaftigkeit festhalten konnte. Diese Speicherung funktioniert nur über menschliches Bewusstsein: keine Aufzeichnung ohne jemanden, der sie durchführt, niederschreibt. Insbesondere Sprache ist nur durch Schrift speicherbar. Die entscheidende Voraussetzung dafür, dass Schrift als das UniversalmediumMedium begriffen wurde, war eine millionenfache Alphabetisierung, bei der erstmals laut gelesen, Schrift an Stimme gekoppelt wurde. Im Gegensatz zu bisherigen Lernmethoden, die auf dem stummen Auswendiglernen von Wortgestalten bzw. (Bibel-)Versen beruhten, und zur mittelalterlichen Schriftkultur, in der Schreiber oft lediglich Kopisten waren und das von ihnen Kopierte gar nicht lesen konnten, sich also nur mit dem Zeichenträger (Buchstaben) ohne Bedeutung befassten, wurde nun dieser gleich hin zu den Lauten übersprungen, d.h. zur gesprochenen Sprache, die, so die implizite Annahme, das Denken selbst repräsentierte. Schrift wurde dadurch nach Kittler immateriell, da man die Materialität der Sprache (Tinte auf Papier, Sprechen als Körpertechnik) aus dem Blick verlor. Und sie wurde universal, weil sie das einzige serielle SpeichermediumMedium war, nunmehr von großen Teilen der Bevölkerung benutzt und zudem als Verkörperung des Denkens selbst aufgefasst wurde. Für die Dichtung als sprachliche Kunstform bedeutete dies: Da Denken und Vorstellungskraft die Grundlage aller menschlichen Produktion und insbesondere der Kunst ist, ging man davon aus, alles sei in Sprache überführbar, also auch Malerei und Bildhauerei, die im Gegensatz zur Dichtung an Materie (Leinwand, Stein usw.) gebunden schienen, d.h. jedes beliebige Artefakt sei letztlich ohne Informationsverlust in Dichtung zu übersetzen. So wie Schrift ‚UniversalmediumMedium‘ war, war Dichtung ‚Universalkunst‘.

Abb. 1.5

Dichtung im AufschreibesystemAufschreibesystem von 1800

AufschreibesystemAufschreibesystem von 1900 Die technischen Neuentwicklungen des 19. Jh., insbesondere das Grammophon und der Film, verändern diese Situation grundlegend und führen zum AufschreibesystemAufschreibesystem von 1900. Sie ermöglichen nun serielle Datenspeicherung ohne menschliches Bewusstsein und unterhalb der Wahrnehmungsschwelle. Grammophon und Film speichern dabei das Reale selbst (Schallwellen auf Wachswalze, Lichtwellen auf chemisch behandeltem Papier) und nicht mehr symbolische Repräsentation (etwa in Buchstaben, die Laute verschriften) oder Bedeutung. Da gesprochene Sprache in ihrer individuellen Gestalt (Stimme) konservierbar wird und äußere Wirklichkeit durch detailreiche bewegte Bilder gespeichert werden kann, ist klar, dass Schrift und mit ihr Literatur nun nicht mehr universal sind. Zudem führen die neuen Aufzeichnungssysteme vor Augen, dass auch geschriebene Sprache von einem materiellen Zeichenträger abhängig ist – sie verliert ihren Status als quasi immaterielles MediumMedium. Neue MedienMedien und die entsprechenden Kunstformen ersetzen alte nicht, aber sie weisen ihnen neue Systemplätze zu, wie Kittler betont: Die ehemalige Universalkunst ‚Dichtung‘ weicht einer Schriftkunst ‚Literatur‘, die ihre Aufgaben neu zu bestimmen hat. Ihr bleiben mehrere Möglichkeiten. Sie kann sich (1) auf den Bereich konzentrieren, der von den konkurrierenden MedienMedien nicht oder unzureichend erfasst wird. Dazu gehört, wie wir oben bereits sahen, alles, was nicht konkret (‚real‘) oder bildhaft (‚imaginär‘), sondern abstrakt (‚symbolisch‘) ist; so werden sprachliche Zeichen nicht mehr in den Dienst einer Wirklichkeitsabbildung gestellt, die von anderen Künsten wie der Fotografie besser zu leisten ist, sondern absolut gesetzt – eines der poetologischen Hauptmerkmale des bereits erwähnten Futurismus. Sie kann (2) die Wiederentdeckung der materiellen Zeichen feiern, indem sie mit Buchstaben statt (oder zusätzlich zur) Bedeutung spielt; ein Beispiel hierfür ist das Kalligramm von Guillermo de Torre (Text 1.2). Oder sie ordnet sich (3) den (zunehmend erfolgreichen) KonkurrenzmedienMedien unter, indem sie MedienwechselMedien (z.B. VerfilmungLiteraturverfilmung) bereits in der Machart des Textes einkalkuliert. Mitunter sind etwa filmische Verfahren auch im Hinblick auf eine selbstbewusste Erneuerung für Literatur adaptiertAdaption worden, z.B. in Gestalt einer Nachahmung von Schnitt und Größeneinstellungen in der Erzähltechnik von RomanenRoman (siehe Einheiten 8 und 9).

Abb. 1.6

Literatur im AufschreibesystemAufschreibesystem von 1900

Zusammenfassung Ausgehend von Textbeispielen aus der spanischsprachigen Literatur konnten wir in der zurückliegenden Einheit eine Reihe von literarischen Merkmalen beschreiben, die durchaus dem Allgemeinverständnis vom Wesen und Anspruch der Literatur entsprechen und dieses konkretisieren. Zugleich stellten wir fest, dass es keine absoluten Kriterien für Literarizität gibt, sondern dass die Zurechnung eines Textes zur ‚Literatur‘ sehr stark durch den Kontext und den jeweiligen Umgang einer Gesellschaft oder eines Individuums mit ihm bestimmt wird. Charakterisiert man sehr allgemein Literatur als geschriebene Sprache, so richtet sich der Blick auf ihre medienspezifischenMedien Funktionsbedingungen, die anhand einer historischen Gegenüberstellung von 1800 vs. 1900 illustriert wurde.

Aufgabe 1.6 ? Erstellen Sie ein grafisches Resümee der Ausführungen zum LiteraturbegriffLiteraturbegriff. Rubrizieren Sie dabei die verschiedenen Eingrenzungsvorschläge und notieren Sie, farblich abgesetzt, jeweils Einwände und Gegenbeispiele. Eine Möglichkeit hierfür wäre eine Baumstruktur:

Literatur

Gustavo Adolfo Bécquer: Rimas. Madrid: Espasa-Calpe 102009.

Jorge Luis Borges: „La Biblioteca de Babel“, in: Ders., Narraciones. Madrid: Cátedra 1999, 105–124.

Miguel de Cervantes: Don Quijote de la Mancha. Band I. Madrid: Cátedra 272008.

Julio Cortázar: „Situación de la novela“, Cuadernos americanos, IX, 1950, 223.

El País,18. 12. 2008.

José Sanchis Sinisterra: Ñaque o de piojos y actores. Madrid: Cátedra 122008.

Guillermo de Torre: „Paisaje plástico“, in: Poesía española de vanguardia (1918–1936). Madrid: Castalia 1995, S. 160.

Michel Foucault: „Was ist ein Autor?“, in: Ders., Schriften zur Literatur. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, 234–270.

Wolfgang Iser: Die Appellstruktur der Texte: Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa. Konstanz: Universitätsverlag 1971.

Friedrich Kittler: Aufschreibesysteme 1800–1900. München: Fink 42003.

Weiterführende Literaturhinweise finden Sie unter www.bachelor-wissen.de.

2Literaturgeschichtliche Ordnungsmodelle

Inhalt
2.1

Poetik

2.1.1

Die Poetik des Aristoteles

2.1.2

Poetiken des Siglo de Oro

2.2

Gattungen

2.3

Epochen

2.4

Literaturgeschichte

2.5

Kanon

Überblick In Einheit 2 wird Ihnen der Begriff ‚Poetik‘ in Abgrenzung zur Literaturgeschichte und Literaturkritik vorgestellt. Wichtige poetologische Schriften werden als Orientierungspunkte im historischen Entwicklungsverlauf hervorgehoben. Ein spezielles Augenmerk gilt in diesem Zusammenhang den literarischen Gattungen, Epochen und dem Begriff des Kanons.

Der LiteraturbegriffLiteraturbegriff im zeitlichen Wandel Der Begriff ‚Literatur‘Literaturbegriff, das hat die vorangehende Einheit 1 verdeutlicht, ist inhaltlich nur schwer eingrenzbar und bleibt in seinen jeweiligen Definitionsversuchen abhängig von der jeweiligen Position in einem historischen und kulturellen Gefüge. Insofern kann man Texte immer nur für ihren bestimmten geschichtlichen Augenblick und unter dem Gesichtspunkt des jeweiligen Literaturverständnisses auf ihre Literarizität hin prüfen.

2.1PoetikPoetik

! PoetikPoetik ist die Lehre von der Dichtkunst Unter PoetikPoetik (poética) versteht man die Lehre von der Dichtkunst, und zwar in zweifacher Weise: Zum einen befasst sie sich mit dem Wesen von Dichtung, ihrer Bestimmung, ihrer Einteilung in Gruppen gleichartiger Texte und ihrem ästhetischen Wert. Zum anderen will sie in vielen Fällen auch eine Anleitung zum Dichten geben, sei es, dass sie bereits vorliegende bekannte Werke in ihren Vorzügen und Mängeln kritisch betrachtet (deskriptivesdeskriptiv, d.h. beschreibendes Vorgehen), sei es, dass sie konkrete Hinweise bzw. Vorschriften für das Zum Begriff der ‚Dichtung‘ Verfassen von Werken enthält (normativernormativ Anspruch). Neben den expliziten PoetikenPoetik, die sich als eigenständige Abhandlungen zur Literatur darbieten, existieren zahllose aussagekräftige immanente (auch: implizite) PoetikenPoetik, welche Autorinnen und Autoren in ihren Vorworten oder Vorreden, Nachworten oder Selbstaussagen (z.B. Interviews) formuliert haben und die über ihr persönliches Literaturverständnis Auskunft geben. Im Falle von ‚Metapoesie‘ bzw. ‚Metapoetikmetapoetisch‘ handelt es sich schließlich um Literatur, die selbst Auffassungen und Funktionen von Literatur betrachtet.

DefinitionLiteratur und Dichtung: im Gegensatz zum allgemeinen LiteraturbegriffLiteraturbegriff (siehe Einheit 1) geht der emphatisch, d.h. bedeutungsschwer aufgeladene Dichtungsbegriff (‚hohe‘, ‚schöne‘ Literatur) von vornherein nur von literatur- und menschheitsgeschichtlich ‚wertvollen‘ Texten aus, wobei tendenziell eine Bevorzugung von Versdichtungen anklingt.

Insgesamt betrachtet, können PoetikenPoetik oder poetologischepoetologisch Betrachtungen (das Adjektiv ‚poetologischpoetologisch‘ zielt auf die PoetikPoetik, das Adjektiv ‚poetischpoetisch‘ auf das dichterische Werk ab) eine Reihe von Funktionen erfüllen:

die Beschäftigung mit der Frage nach dem Ursprung und dem Wesen der Dichtung und ihre Abgrenzung von den anderen Künsten;

eine Auseinandersetzung mit dem ‚Schönen‘ und ‚Wahren‘ in der Literatur (Ästhetik, Literaturphilosophie);

die Erörterung richtiger Rede (Grammatik) und

ebenso kunst- wie wirkungsvoll ausformulierter Rede (RhetorikRhetorik);

das Studium stilistischer Besonderheiten bzw. stilistischer Angemessenheit (StilistikStilistik);

die Beschreibung literarischer GattungenGattungen;

die Betrachtung der geschichtlichen Entwicklung einer Sprache (diachrone Sprachwissenschaft);

die kritische Sichtung literarischer Beispiele (Literaturkritik), oftmals unter

Einordnung in literaturhistorische Zusammenhänge (LiteraturgeschichteLiteraturgeschichte) und

Ableitung allgemeiner Aussagen zu literarischen Phänomenen (Literaturwissenschaft);

Aussagen zu sozio-kulturellen Implikationen bestimmter Textsorten (Literatursoziologie; Rezeptionsforschung [vgl. Einheit 11.2]).

Welche Aufgaben PoetikenPoetik im Einzelnen zu lösen versuchten, aber auch in welchem Maße sie tatsächlich einen Einfluss auf die Produktion literarischer Texte ausüben konnten, ist von Fall zu Fall verschieden und auch bedingt durch die jeweiligen literaturgeschichtlichenLiteraturgeschichte Rahmenverhältnisse. Zahlreiche antike ‚PoetikenPoetik‘ formulieren allgemeine Überlegungen und spezielle Kommentare zu den gegebenen literarischen Phänomenen, hatten aber als Dichtungslehren später grundlegenden Charakter für alle nachfolgenden Überlegungen und konnten dadurch eine normativenormativ Wirkung entfalten. Aus heutiger Sicht aber erscheinen sie womöglich als unvollständig und episodisch, da sie allzu sehr den Beschränkungen des einstigen historischen Horizonts unterliegen.

Um die eigenständige Entwicklung der spanischen Dichtungslehre und -praxis im europäischen Kontext ansatzweise nachzeichnen zu können, soll zunächst ein Blick auf einen poetologischenpoetologisch Schlüsseltext geworfen werden, die PoetikPoetik des Aristoteles.

2.1.1Die PoetikPoetik des Aristoteles

Text 2.1

Aristoteles: PoetikPoetik Von der Dichtkunst selbst und von ihren GattungenGattungen, welche Wirkung eine jede hat und wie man die Handlungen zusammenfügen muss, wenn die Dichtung gut sein soll, ferner aus wie vielen und was für Teilen eine Dichtung besteht, und ebenso auch von den anderen Dingen, die zu dem selben Thema gehören, wollen wir hier handeln […] (Aristoteles: 1994, 5)

Abb. 2.1

Aristoteles (384–322 v. Chr.)

Die nur zum Teil erhaltene PoetikPoetik des Aristoteles, die ungefähr um das Jahr 335 v. Chr. entstanden ist, zählt zu den bedeutsamsten kunsttheoretischen Texten der abendländischen Kultur. Sie steht an der Seite einer RhetorikRhetorik, verlässt aber deren auf die Redekunst zugeschnittene Betrachtung, um sich – nicht zuletzt anhand der Diskussion wichtiger Referenztexte – allgemeinen Fragen der zeitgenössischen literarischen GattungenGattungen zuzuwenden. Dazu zählen in erster Linie die EpikEpik, die tragische Dichtung und die KomödieKomödie (der der Komödie gewidmete Teil ist leider nicht überliefert). In Abwendung von Platon, der in dichtungskritischen Passagen seiner Schriften (vor allem Politeia, X 595a–602b) die Dichtung bezichtigt, der Wahrheit der ursprünglichen ‚Ideen‘ in ihrem verzerrten Abbild nicht zu entsprechen („die Dichter lügen“), und sie einer rigiden Staatsmoral unterwerfen möchte, führt Aristoteles die dichterische Schaffenskraft des Menschen auf ein geradezu anthropologisches Bedürfnis MimesisMimesis-Begriff zurück, nämlich den Drang zur Nachahmung (mimesisMimesis). Dem gemäß stelle die Dichtung nichts anderes dar als die Nachahmung gesellschaftlichen Handelns (praxis), d.h. eine Abbildung der vom Menschen erlebbaren Wirklichkeit. Dass hiermit aber keineswegs ein ungebrochener RealismusRealismus gemeint ist, verdeutlichen die weiteren Ausführungen: nicht die Wahrheit im Sinne von faktengetreuer Wiedergabe, sondern die Wahrscheinlichkeit im Sinne einer tief gründenden Einsicht in die menschliche Natur sei das Verdienst der Dichtung, die damit philosophische Qualitäten aufweise und die Aussagekraft der oftmals unwahrscheinlich wirkenden historischen Ereignisse (und damit der Geschichtsschreibung) hinter sich lasse.

Hierarchie der GattungenGattungshierarchie Von grundlegender Bedeutung für das Literaturverständnis nahezu jeglicher Epoche ist die von Aristoteles thematisierteThema Verknüpfung der GattungswahlGattungen mit dem kulturellen und sozialen Prestige. So ordnet er der TragödieTragödie und dem EposEpos die Nachahmung edler Menschen zu, die es für das Publikum wiederum nachzuahmen gilt, während die schlechten Menschen in ihren Lastern von der KomödieKomödie aufgegriffen werden, die sie der Lächerlichkeit preisgeben und somit gewissermaßen abschreckend wirken soll. Für die angesehene GattungGattungenStändeklauselStändeklausel Tragödie forderte Aristoteles, dass nur Personen von herausragendem sozialen Rang mit einem tragischen Geschick konfrontiert werden dürften, da sich bei ihnen die Wendung von Glück in Unglück durch eine besonders beeindruckende ‚Fallhöhe‘ auszeichne (altura de la caída). Wenn also ihr Streben in einer ‚KatastropheKatastrophe‘ (also im tragischen Ausgang der Tragödie) ende, so erschüttere dies die Zuschauerschaft sehr viel mehr als das Unglück einer Figur aus einer niederen sozialen Schicht, die dem Elend von vornherein näher stehe. Eine solche emotionale Erschütterung sowie die durch sie bewirkte innere Reinigung (katharsisKatharsis, span. catarsis) galten ihm als wichtiges Ziel der Tragödie.

Aufgabe 2.1 ? Welches über die Dichtung vermittelte Menschenbild lässt sich aus den zuletzt genannten Vorgaben ableiten?

StilartenStilarten Diese Art der Übertragung sozialer Hierarchien in literarische GattungenGattungen gibt Aufschluss über ein wichtiges Kriterium der damaligen Beurteilung von Dichtung: die bei Aristoteles (und Horaz) geforderte ‚Angemessenheit‘ in der Behandlung eines vom Dichter gewählten Stoffes. Die Grundlage hierzu bildete die in den antiken RhetorikenRhetorik ausgearbeitete Lehre von den drei StilartenStilarten (lat. genera dicendi, span. tres géneros del decir), welche für öffentliche Reden je nach Anlass spezifische Leitlinien formulierten. Dabei handelte es sich zunächst einmal um Vorgaben, die eine Orientierung dafür boten, welches ThemaThema auf welche Art und Weise vor welchem Publikum bzw. zu welchem Anlass angemessen behandelt werden sollte. Daraus erwuchs ein variabel gehandhabtes System, welches jeder GattungGattungen bestimmte Themen, Zielsetzungen, FigurenFigur und eine eigene Stilart inklusive der geeigneten rhetorischenRhetorikFigurenFigur zuschrieb (Einteilung in hohen, mittleren und niederen StilStilarten). Eine wichtige Mittlerfunktion bei der Überlieferung und der Anpassung der antiken Dichtungslehre spielten unter anderem die römischen RhetorikerRhetorik Cicero (106–43 v. Chr.) und Quintilian (35–ca. 96 n. Chr.), letzter insbesondere vermittels seines Lehrwerks Institutio oratoria.

Abb. 2.2

Quintilian (35–96 n. Chr.)

Speziell für die Abfassung von TragödienTragödie empfahl die Aristotelische PoetikPoetik, die HandlungHandlung vom Ausgangspunkt des dramatischen KonfliktsKonflikt bis zu dessen Die drei ‚Aristotelischen Einheitenaristotelische Einheiten‘ Ende konsequent zu gestalten und dabei nicht durch übermäßige Länge und unübersichtliche NebenhandlungenHandlung vom zentralen Geschehen abzulenken (Einheit der HandlungHandlung). Um zugleich die Wahrscheinlichkeit des aufgeführten Zusatzmaterial zur Ars poetica des Horaz finden Sie unter www.bachelor-wissen.de Bühnengeschehens für die Zuschauer zu erhöhen, sollte sich die dargestellte HandlungHandlung höchstens auf den Zeitraum eines Sonnenumlaufs beschränken (Einheit der Zeit). Aus der letztgenannten Vorschrift folgerten spätere PoetikenPoetik, die HandlungHandlung solle sich auch nur an einem einzigen Ort zutragen, womit in der Regel ein und dieselbe Stadt gemeint war (Einheit des Ortes).

Aufgabe 2.2 ? Welche Auffassung von Literatur steht hinter dem Bemühen, PoetikenPoetik zu verfassen?

2.1.2PoetikenPoetik des Siglo de OroSiglo de Oro

Während des Mittelalters (la Edad Media) griffen PoetikPoetik und RhetorikRhetorik weitestgehend ineinander. Gerade in der universitären Ausbildung wurde die Dichtung der Unterweisung im richtigen Sprachgebrauch zugeordnet und innerhalb der sog. ‚sieben freien Künste‘ (lat. septem artes liberales) den Fächern Grammatik und RhetorikRhetorik unterstellt. Eine Verselbständigung erfolgte erst ab der RenaissanceRenaissance (Renacimiento) unter dem Einfluss der zuvor abgerissenen und nun wieder aufgegriffenen Aristoteles-Rezeption (erste lateinische Übersetzung durch den Italiener Lorenzo Valla, 1498). Dieser Neuansatz führte zu einer systematischeren Auseinandersetzung mit den dichterischen Formen, beispielsweise im 1592 erschienen Arte poética española des Juan Díaz Rengifo, der sein Werk in die drei Teile Poética, Métrica und ein Diccionario de rimas gliederte. Einen gemäßigten neo-aristotelischen Einfluss belegt etwa die Philosophia antigua poética des Alonso López Pinciano (1596). Mit ihr treten die ästhetisch-philosophischen Grundsatzüberlegungen gegenüber der handwerklichen Anleitung zum Anfertigen meisterlicher Verse, auf die sich noch der Arte poética konzentrierte, in den Vordergrund. In Francisco de Cascales Tablas poéticas (1617) schließlich wird die platonische Vorstellung von der göttlichen Inspiration des Dichters fassbar, wie sie bereits Horaz im Rahmen der antiken römischen PoetikenPoetik konzipiert hatte, ebenso eine Reflexion über die Funktion der unterschiedlichen GattungenGattungen und die Bezüge zwischen Literatur und den anderen Künsten.

Abb. 2.3

Die septem artes liberales (Miniatur von 1180)

HumanismusHumanismus: Erneuerung der Wissenschaften und der Künste aus dem Geist der Antike, eng verbunden mit der RenaissanceRenaissance Im Zentrum der PoetikenPoetik des Siglo de OroSiglo de Oro steht der Arte nuevo de hacercomediasComedia (1609) von Lope de Vega. Unter dezidierter Abwendung vom aristotelisch geprägten DramaDrama des HumanismusHumanismus orientierte Lope de Vega sich am Geschmack seines zeitgenössischen Theaterpublikums, dessen Bedürfnisse Vorrang gegenüber normpoetischen Bestimmungen erhielten. Daraus folgte ein deutlich flexiblerer Umgang mit den sog. drei Aristotelischen Einheitenaristotelische Einheiten: Die Einheit der Zeit sollte zwar innerhalb der Akte gewahrt werden, zwischen den Akten jedoch dürfen sich größere zeitliche Sprünge ereignen. Die Einheit der HandlungHandlung wird zumindest empfohlen. Neue Akzente setzen die Vermengung von Tragischem und Komischen, von edlem und niederem Stand sowie ein an der (natürlich: volkssprachlichen) schlichten Alltagssprache angelehnter Sprachstil (vgl. auch Einheit 6.1