Spannung und Textverstehen - Philip Hausenblas - E-Book

Spannung und Textverstehen E-Book

Philip Hausenblas

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Beschreibung

Der Physiker Leonardo Vetra roch brennendes Fleisch, und es war sein eigenes. Das ist der erste Satz aus dem internationalen Bestseller Illuminati des US-amerikanischen Autors Dan Brown. Der Leser reichert den Text um die negative Konsequenz an, dass der Wissenschaftler sterben wird. Der Rezipient wird an den Text gebunden, bis aufgelöst ist, ob sich der negative Ausgang realisiert oder nicht. Dass dem Physiker dieses Schicksal bevorstehen könnte, steht nicht im Text. Dieser sogenannte Suspense-Effekt ist ein Ergebnis mentaler Prozesse beim Lesen. Auf der Grundlage der kognitionslinguistischen Textverstehensforschung werden die Auslöser der wichtigsten Spannungstypen beschrieben und die Rolle dieser Spannungstypen für die Kohärenz eines Texts charakterisiert.

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Seitenzahl: 429

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Philip Hausenblas

Spannung und Textverstehen

Die kognitionslinguistische Perspektive auf ein textsemantisches Phänomen

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

 

 

© 2018 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen www.francke.de • [email protected]

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

 

ePub-ISBN 978-3-8233-9155-5

Inhalt

VorwortI Vorbemerkung1 Einleitung1.1 Spannung – ein vernachlässigtes Thema1.2 Relevanz von Spannung1.3 Spannung, eine vorläufige Arbeitsdefinition1.4 Zielsetzung und Aufbau der Arbeit2 Forschungsstand2.1 Textexterne Spannungstheorien2.2 Zentrale Theorien im Bereich der Spannung2.3 ZwischenfazitII Grundlagen einer Theorie des Textverstehens3 Wissen3.1 Wissensrahmen3.2 Textstrukturwissen4 Lokale und globale Inferenzen beim Textverstehen4.1 Wörter evozieren Frames4.2 Notwendige Inferenzen4.3 Elaborative Inferenzen4.4 Die Klassifizierung von Inferenzen4.5 Leserziele5 Die mentale Textweltrepräsentation5.1 Verstehen als Konstruktion einer mentalen Welt5.2 Die propositionale Struktur5.3 Die handlungszentrierte Textweltrepräsentation5.4 Situationsmodelle6 ZwischenfazitIII Spannung7 Vorüberlegungen zur Spannung7.1 Spannungsphasen7.2 Lokale und globale Spannungsbögen, Rekursivität7.3 Subjektivität und Intersubjektivität7.4 Spannung als interdisziplinärer Forschungsgegenstand7.5 Methodische Aspekte8 Suspense8.1 Das Quest-Motiv8.2 Suspense als Antizipation eines negativen Ausgangs8.3 Die Konstruktion negativer Konsequenzen8.4 Negative Konsequenzen als globaler inferentieller Bezugspunkt8.5 Zwischenfazit9 Curiosity und Puzzles9.1 Curiosity9.2 Puzzles10 Inferenzen durch textuell etabliertes Wissen11 Das Verhältnis von Textverstehensforschung und Spannungsforschung11.1 Wo die Spannungsforschung von der Textverstehensforschung profitieren kann11.2 Wo die Textverstehensforschung von der Spannungsforschung profitieren kann12 Abschlussbemerkung12.1 Textverstehen12.2 SpannungLiteratur

Vorwort

Das Thema Spannung gilt als ein Phänomen der Trivialliteratur und siedelt sich nicht im linguistischen Mainstream an. Deshalb glaube ich, dass viele potentielle Betreuer aus der (germanistischen) Sprachwissenschaft dieses Thema für eine Dissertation nicht zugelassen hätten. Dass Dietrich Busse mir die Möglichkeit eröffnete, daran zu arbeiten, dafür bin ich ihm dankbar. Darüber hinaus danke ich ihm für die Unterstützung und die Ratschläge, die er mir über die gesamte Zeit hinweg in zahlreichen Gesprächen gegeben hat.

Ich danke Susanna Dinse, Kristin Kuck und Phillip Angermeyer dafür, dass sie die Arbeit gründlich gegengelesen haben, dass sie mich auf einige Schwächen aufmerksam gemacht und dass sie mir wertvolle Tipps zur Überarbeitung gegeben haben. Alexander Ziem hat mir in der Endphase einige konzeptionelle Ratschläge gegeben, auch dafür danke ich.

Ich danke meiner Lebensgefährtin Silvia Halajova dafür, dass sie mir immer zur Seite stand. Und ich danke meinen Eltern, sie haben mich mein Leben lang auf alle erdenklichen Arten unterstützt.

 

Düsseldorf, im April 2017    Philip Hausenblas

IVorbemerkung

1Einleitung

1.1Spannung – ein vernachlässigtes Thema

Über Spannung spricht man nicht – zumindest nicht in Seminaren von Philologen und Diskussionsrunden von Linguisten. In Einführungen, in Nachschlagewerken und in der Sekundärliteratur findet sich kaum etwas zum Thema, was für die Linguistik und Literaturwissenschaft gleichermaßen gilt.

Spannung gilt als ein Phänomen der Trivialliteratur. Kein Wunder also, dass sie als Gegenstand der Forschung nicht präsent ist. Edward M. Forster bringt die abwertende Haltung gegenüber der Spannung auf den Punkt:

Scheherazade avoided her fate because she knew how to wield the weapon of suspense – the only literary tool that has any effect upon tyrants and savages.1

Zahlreiche Abhandlungen beschäftigen sich mit anderen Wirkungen von Texten. In der Rhetorik untersucht man, wie Argumente am nachhaltigsten wirken, wie Texte überzeugen. Sprachwissenschaftler erforschen die Sprache der Werbung, die per definitionem von der Wirkungsabsicht dominiert wird.2 Warum kümmert sich die Linguistik nicht um Strategien, die in einem Text Spannung generieren? Ist es Absicht oder Versäumnis?

Diese Frage drängt sich umso stärker auf, wenn man an die zunächst für das Medium Film bestimmte Beschreibung von Peter Vorderer denkt, der Spannung als Hauptfaktor bei der prärezeptiven und postrezeptiven Bewertung von Filmen beschreibt, die von Junkerjürgen auf Unterhaltungsliteratur ausgeweitet und damit auch für die Linguistik zugänglich gemacht wurde.3 In ähnlicher Weise äußert sich Volker Mertens, wenn er schreibt, dass die Hauptfaszination des Romans […] in der Spannungsstruktur4 liegt.

1.2Relevanz von Spannung

In Science-Fiction-Texten, Fantasygeschichten und Kriminalromanen, in Zeitungsberichten über kulturelle, wirtschaftliche und gesellschaftliche Ereignisse, in Nachrichtenmeldungen, Interviews und Reportagen, in Reden, Sachbüchern und Biographien, in all diesen Textsorten spielt Spannung eine entscheidende Rolle.

Spannung besitzt in den verschiedensten fiktionalen und nicht fiktionalen schriftsprachlichen Textsorten einen zentralen Stellenwert. Gleichzeitig gilt sie als ein entscheidender Anreiz für den Konsum audiovisueller Texte. Kaum ein Film kommt ohne Spannung aus. Unabhängig davon, ob es sich um einen Hollywoodstreifen handelt oder um ein Werk der skandinavischen Avantgarde. Gleiches gilt für Werbetrailer, Serien oder TV-Shows wie Wer wird Millionär?

Dabei durchzieht Spannung die einzelnen Textsorten (inklusive der kinematischen bzw. audiovisuellen) in zweifacher Hinsicht. Zum einen wird sie innerhalb eines Textes aufgebaut, gehalten und wieder abgebaut. Zum anderen kann sie über Textgrenzen hinweg aufgebaut werden und spannt sich so einerseits über verschiedene Texte einer Modalität, was für Romanreihen gilt wie Harry Potter von Joanne K. Rowling oder Der Herr der Ringe von John R. R. Tolkien, die sowohl schriftsprachlich als auch in den adaptierten audiovisuellen Versionen über mehrere Einheiten verfügen. Darüber hinaus wird sie verschiedene mediale Kanäle überspannend aufgebaut. So werden Sportereignisse in crossmedialen Werbekampagnen aufgebläht, bei denen spannungsinduzierende Elemente aus allen erdenklichen Richtungen die Rezipienten überfluten. Dieser wird in Zeitungsartikeln, Fernsehbeiträgen und Rundfunkberichten mit der Frage konfrontiert, wer das Viertelfinale gewinnt, ob Griechenland gegen Spanien eine Chance hat und wer wohl Weltmeister wird. Zugleich werden statistische Fakten bemüht wie Seit 1972 hat England kein Spiel mehr gegen Deutschland gewonnen; Krämpfe und Zerrungen von Spielern bestimmen die mediale Berichterstattung. Alles, um die Aufmerksamkeit auf Fragen wie diese zu lenken: Wird ein bestimmter Spieler beim nächsten Spiel antreten können? Dabei werden in der Regel Worst-Case-Szenarien aufgebaut, die darüber reflektieren, wie das Spiel ohne den besagten Spieler ausgeht, ob ohne ihn überhaupt eine Chance besteht.

Das gilt nicht nur für den Sport. Die gesamte mediale Berichterstattung verlässt sich in hohem Maße auf Spannung. Ein Blick auf die auflagenstärksten Zeitungen, Magazine und Boulevardblätter genügt. Häufig stehen lebensverändernde Einzelschicksale, Skandale und weltbewegende Ereignisse im Mittelpunkt. Fliegt der Publikumsliebling raus in der neuesten Castingshow? Verliert dieser Minister sein Amt? Wird jener Prominente verurteilt? Wer wird die Wahl gewinnen? Wird die Katastrophe nach Europa überschwappen?

Kurz: Spannung ist ein allumfassendes Prinzip mit hoher praktischer Relevanz, die sich nicht nur auf Literatur beschränkt, sondern einen Großteil des Medienkonsums prägt. Sie gilt als ein Garant dafür, die Aufmerksamkeit des Rezipienten zu gewinnen und zu sichern.

1.3Spannung, eine vorläufige Arbeitsdefinition

Bei dem Begriff Spannung handelt es sich Junkerjürgen zufolge um einen Oberbegriff für viele Arten von medien-induzierter Affekterregung5. Während sich im Deutschen im Bereich der Spannung keine weiteren Begriffe durchgesetzt haben, bietet das Englische Differenzierungen, die sich bei den wenigen Forschern zur Spannung etabliert haben. Bei den drei Haupttypen dieses textuellen Effekts handelt es sich um den Suspense, das Curiosity und das Puzzle.

Bei der Beschreibung von Spannung müssen zwei wesentliche Aspekte berücksichtigt werden: die textuelle Dimension und die Rezipientenseite. Beide sind für die Bestimmung von Spannung konstitutiv.6 Junkerjürgen bringt dies folgendermaßen auf den Punkt:

Spannung als Leserreaktion und Textphänomen verhalten sich komplementär zueinander und müssen daher auch gleichgewichtig berücksichtigt werden.7

Spannung ergibt sich aus einer inferentiellen Anreicherung der Textwelt, die auf einzelnen Textsegmenten und auf Wissen basiert. Der Text setzt verschiedene Verarbeitungsprozesse in Gang, die eine Unterscheidung der Typen erlauben. Die drei Haupttypen werden im Folgenden einleitend und in kompakter Form vorläufig beschrieben.

(1)

Der Physiker Leonardo Vetra roch brennendes Fleisch, und es war sein eigenes.8

(1) stellt den Initialsatz dar aus dem internationalen Bestseller Illuminati vom amerikanischen Erfolgsautor Dan Brown. Auf der Grundlage des Textes und seines Wissens konstruiert der Rezipient das zukünftige Ereignis, dass der Wissenschaftler sterben wird. Dass dem Physiker dieses Schicksal bevorsteht, steht nicht im Text. Es ist ein Ergebnis rezipientenseitiger Prozesse.

Hans-Jürgen Wulff zufolge zeichnet sich diese Art der Spannungserzeugung dadurch aus, dass der Rezipient einen negativen Ausgang ableitet, der nicht im Text steht. Der Rezipient wird an den Text gebunden, bis aufgelöst wird, ob sich die inferentiell hergestellte Konsequenz tatsächlich realisiert oder nicht.9 Dieser Spannungstyp wird Suspense genannt. Zu den zentralen Autoren, die sich wissenschaftlich mit diesem Typ auseinandergesetzt haben, zählen neben Wulff auch William F. Brewer, Noël Carroll, Meir Sternberg, Dolf Zillmann sowie Paul Comisky und Jennings Bryant. In Kapitel 8 wird der Suspense ausführlich behandelt. Zugleich kann ein Satz wie (1) einen Curiosity-Effekt hervorrufen, wie er im folgenden Beispiel vorgestellt werden.10

(2)

Der Aufruhr im Breidenbacher Hof war groß.11

Im Initialsatz (2) aus dem Roman Königsallee des deutschen Schriftstellers Hans Pleschinski wird im Text eine Situation beschrieben, die der Rezipient als Wirkung oder Folge eines vorangegangenen Ereignisses interpretiert und dessen Ursache er nicht aus seinem Wissen ableiten kann. In dem Beispiel kann der Rezipient nicht erklären, warum das Düsseldorfer Luxushotel in großen Aufruhr versetzt war. Dass es eine Ursache gibt, steht nicht im Text. Der Rezipient reichert also auch hier die Textwelt inferentiell an und wartet darauf, dass der Text die Ursache offenbart. Für diese Art der Spannungserzeugung hat sich die Bezeichnung Curiosity etabliert. Das Curiosity wird bei Sternberg, Carroll sowie Brewer behandelt. In Abschnitt 9.1 wird dieser Spannungstyp im Detail besprochen.

(3)

An einem schneegepeitschten Abend im Januar 1991 verließ Jonathan Pine, der englische Nachtmanager des Palasthotels Meister in Zürich, seinen Platz hinter dem Empfangstisch und bezog, erfüllt von ihm bis dahin unbekannten Gefühlen, seinen Posten im Foyer, um im Namen seines Hotels einen vornehmen späten Gast willkommen zu heißen. Der Golfkrieg hatte gerade angefangen.12

(3) gibt die ersten zwei Sätze aus dem Roman John Der Nachtmanager von John le Carré wieder. Der erste Satz beschreibt alltägliche Vorgänge in einem Züricher Hotel, der zweite Satz beschreibt die politische Situation in einem weit entfernten Land. Der Rezipient versucht die Sätze in ein kohärentes mentales Textweltmodell zu integrieren. Da es keine unmittelbare Anschlussmöglichkeiten zwischen den beiden Sätzen gibt, erscheint der Text zunächst inkohärent. Diesem Typen liegt das rezipientenseitige Ziel zugrunde, ein kohärentes Diskursmodell zu erlangen. Der Rezipient geht auf der Grundlage seines Wissens davon aus, dass es einen, wenn auch entfernten Zusammenhang zwischen beiden Sätzen gibt. Dass ein möglicher Zusammenhang existiert, steht nicht im Text. Es wird vom Rezipienten auf der Grundlage seines Wissens ergänzt. Dieser Fall wird unter dem metaphorischen Begriff des Puzzles besprochen und er wird von Graham Petrie sowie Wolfgang Iser beschrieben, wobei er Iser zufolge mit einer Kompositionsleistung des Rezipienten einhergeht. In Abschnitt 9.2 wird dieser Typ kognitionslinguistisch untersucht.

Damit ein Rezipient Spannung erleben kann, ist es wichtig, dass dieser die Textwelt für real hält. Zur textintern aufgebauten Realität schreibt Monika Fludernik, dass diese nicht unbedingt mit der Lebenswelt des Rezipienten übereinstimmen muss, es kann sich auch um eine abweichende Wirklichkeitkonstitution handeln wie zum Beispiel in einem Fantasy-Roman.13 Daher handelt es sich in der Regel um eine Realitätsillusion.14

Die Realitätsillusion kann unter anderem durch textimmanente Signale etabliert werden. Ein Text suggeriert Realitätsnähe zum Beispiel dadurch, dass Ereignisse und Handlungen innerhalb der Textwelt plausibel erscheinen, sie sollten sich nicht als unmotiviert, beliebig oder zufällig darstellen.15 Ebenso kann die Illusion verstärkt werden durch Details, die aus der Perspektive des Rezipienten keine unmittelbare Relevanz für den Verlauf einer Geschichte besitzen (rückblickend können sie sich als wichtig erweisen). Roland Barthes spricht in diesem Fall von Realitätseffekten, französisch effet de réel.16 Kommentare von Erzählern und stilistische Techniken hingegen wie zum Beispiel eine auffällige Syntax in einem Gedicht lenken die Aufmerksamkeit von der Textwelt weg und verschieben sie hin zur textproduzierenden Instanz. Dadurch besitzen sie einen spannungshemmenden Effekt.17

Als Leser dieser Arbeit muss man also als Voraussetzung im Hinterkopf behalten, dass ein spannungsvoller Text in der Regel eingebettet ist in einen realitätssuggerierenden Rahmen. Im Idealfall wurde zusätzlich eine positive Relation zu einzelnen Figuren aufgebaut. Da die Arbeit versucht, Spannung in abstrahierter und verdichteter Form zu beschreiben, werden realitätsstiftende und Figuren beschreibende Textsegmente ausgelassen – anderenfalls würde die Arbeit in einem unüberschaubaren Umfang aufgebläht werden.

Da die Forschungsliteratur im Bereich der Spannung sich auf vergleichsweise wenige Beiträge beschränkt, erweisen sich sowohl die jeweiligen Beschreibungsmodelle als auch die Fälle, die diskutiert werden, als sehr heterogen. Zugleich verteilen sich diese Beiträge auf so unterschiedliche Disziplinen wie die Literaturwissenschaft, Filmwissenschaft, Psychologie und Philosophie, wobei die Untersuchung in der Regel relativ frei von den Ergebnissen anderer Forscher und Wissenschaftsdisziplinen stattfindet. Die Auswahl dieser drei Spannungstypen kann daher nur zum Teil durch die Forschungslage begründet werden. Als weitere Auswahlkriterien werden deshalb die Frequenz und die werkimmanente Relevanz eines Spannungstyps herangezogen. Die drei genannten Spannungstypen tauchen einerseits am häufigsten in Texten auf, zugleich besitzen sie das Potential, größere Teile eines Textes bis hin zu gesamten Werken zu umspannen. Die Unterscheidung in Suspense und Curiosity stammt von Sternberg, das Puzzle beschreiben Iser sowie Sternberg, wobei die Bezeichnung von Gulino stammt.

Bei allen drei Haupttypen der Spannung reichert der Rezipient die Textwelt auf der Grundlage seines Wissens an. Wie dieser Ausbau der Textwelt zu Spannung führt, lässt sich auf die zentrale konstruktivisitische Grundannahme zurückführen, die sich in verstehensorientierten Theorien findet. Diesem Paradigma zufolge strebt ein Rezipient beim Lesen danach, zu einer ganzheitlichen und kohärenten mentalen Repräsentation zu gelangen, er folgt aktiv dem Prinzip des search after meaning.18 Deshalb versucht er Ursachen herauszufinden, Zusammenhänge herzustellen und den tatsächlichen Wahrheitswert von negativen Konsequenzen zu bestimmen. So erfährt der Rezipient den Wunsch, die Spannung aufzulösen.

1.4Zielsetzung und Aufbau der Arbeit

Die Hauptziele der Arbeit. Diese Arbeit verfolgt das Ziel, das Verhältnis auszuloten zwischen der Spannungsforschung und einer verstehensorientierten, kognitiven Linguistik.19 Dabei wird gezeigt, dass beide Disziplinen eine Vielzahl von Implikationen für die jeweils andere besitzen und dass beide voneinander lernen und profitieren können. Drei Kernziele stehen im Mittelpunkt:

Das erste Hauptziel besteht darin, die Auslöser der oben genannten zentralen Spannungstypen aus der Perspektive der kognitionslinguistischen Textverstehenstheorie systematisch zu präzisieren.

Das zweite Hauptziel besteht darin, zu zeigen, dass spannungsauslösende Elemente als Grundlage für die Verarbeitung darauffolgenden Textmaterials dienen können, was sowohl direkt angrenzende als auch weit über einen Text verstreute Diskurssegmente betreffen kann.

Das dritte Hauptziel besteht darin, herauszuarbeiten,

welchen Beitrag die verstehensorientierte Linguistik zur Erforschung von Spannung leisten kann und

welchen Beitrag die Erforschung von Spannung für diesen Zweig der linguistischen Forschung leisten kann.

Aufbau der Arbeit. In Kapitel 2 wird ein Überblick über zentrale Ansätze im Bereich der Spannungsforschung gegeben. Dabei zeigt sich, dass dieser Bereich in vielerlei Hinsicht ein hohes Maß an Heterogenität aufweist. Die Autoren kommen aus verschiedenen Disziplinen wie der Philosophie, Psychologie und Literaturwissenschaft. Zum Teil liegt ihren Analysen und Theorien schriftsprachlicher Text zugrunde, zum Teil beschäftigen sie sich auch mit audiovisueller Spannung oder erheben einen universalen Anspruch, der sich durch eine modalitätsunabhängige Beschreibung niederschlägt. Häufig untersuchen die Autoren nur begrenzte Teilbereiche des Phänomens Spannung. In den Arbeiten werden viele der übrigen Forscher und deren Ergebnisse ausgeblendet.

In Teil II werden die Grundlagen einer Theorie des Textverstehens zusammengetragen. Im Mittelpunkt stehen kognitive Strukturen und Inferenzen, die erforscht werden in der Kognitionslinguistik und der Psycholinguistik auf der Ebene des Textverstehens. Auf der Grundlage des Textes und seiner Wissensbestände konstruiert der Leser während der Rezeption ein mentales Modell der jeweiligen Textwelt. Dabei stellt er auf der lokalen und globalen Ebene Bezüge zwischen einzelnen Textsegmenten her. Zugleich reichert er die Textwelt mit zusätzlichen Informationen an. Der Teil zielt einerseits darauf ab, das theoretische Fundament für die anschließende Analyse von Spannung zu liefern. Zugleich versucht er, die psycho- und kogntionslinguistische Theorie zum Textverstehen in kompakter Form vorzustellen.

In Teil III werden die Haupttendenzen spannungsinduziernder Verfahren aufgegriffen, die zum größten Teil in der Filmwissenschaft, der Philosophie und der Psychologie beschrieben werden und die sich überwiegend auf audiovisuell erzeugte Spannung beziehen. Zunächst werden verschiedene Vorüberlegungen angestellt, die Spannungsbögen und deren Reichweite innerhalb des Textes betreffen sowie das Zusammenspiel unterschiedlicher Spannungsbögen. Spannung wird als ein intersubjektives Phänomen und interdisziplinärer Forschungsgegestand charakterisiert. Anschließend werden mit dem Suspense, dem Curiosity und dem Puzzle die drei zentralen Spannungstypen dieser Arbeit auf der Grundlage der in Teil II erarbeiteten Aspekte beschrieben. Dabei wird das Erklärungspotential der Textverstehensansätze verglichen mit dem Erklärungspotential von Spannungstheorien, die aus benachbarten Disziplinen stammen. Es wird sich zeigen, dass linguistische Begriffe zum Teil isoliert ein hohes explanatorisches Potential besitzen; zum Teil entfalten sie ihre explanatorische Kraft auch synergetisch.

Die dabei zugrunde liegenden Beispiele stammen aus der Sekundärliteratur und aus der intensiven Lektüre eines breiten Spektrums an Texten. Dabei wird auf so unterschiedliche Textsorten zurückgegriffen wie zum Beispiel Kriminalromane, Drehbücher und Zeitungsartikel. Es fließen neben schriftsprachlichen Texten auch audiovisuelle in die Analyse mit ein. Häufig treten die Beispiele in einer abgewandelten Version auf, um versteckte Variablen zu eliminieren und ihre Komplexität zu reduzieren (ausführliche Überlegungen zur Wahl und dem Umgang mit Beispielen finden sich in Abschnitt 7.5, der der Analyse verschiedener Spannungstypen vorausgeht).

In Teil IV werden die wechselseitigen Implikationen von Spannungsforschung und Linguistik ausgeführt. Es wird sich einerseits zeigen, dass die Forschung im Bereich des Textverstehens in vielfacher Hinsicht von der Erforschung von Spannung profitieren kann. Andererseits ermöglicht es die Textverstehensforschung mit ihrer Terminologie und theoretischen Annahmen, Spannung differenzierter zu beschreiben, als dies andere Ansätze erlauben. Dadurch erhalten die Textverstehenstheorien Bestätigung, weil sie sich auf einen weiteren, stark von ihr vernachlässigten Bereich anzuwenden erlaubt. Insgesamt handelt sich daher um ein Unterfangen, dass sich für beide Seiten als äußerst fruchtbar erweist.

2Forschungsstand

Bei der Sichtung der Literatur zum Thema Spannung stellt man fest, dass verhältnismäßig wenig Material zu diesem Phänomen existiert. Im deutschsprachigen Raum findet man zu dem Phänomen ein paar ältere Positionen, die regelmäßig auftauchen. Zunächst ist die Beschreibung von Staiger zu nennen. Über Spannung schreibt er Folgendes:

Spannung wird von der Unselbstständigkeit der Teile ausgelöst. Kein einziger Teil ist sich selber oder dem Leser genug. Er bedarf Ergänzung. Der folgende Teil genügt wieder nicht, er wirft eine neue Frage auf oder fordert ein neues Supplement. Erst am Schluss steht nichts mehr aus und wird die Ungeduld befriedigt.1

Diese Charakterisierung ist widersprüchlich. Wenn jeder Teil unselbstständig ist (was durch die Relationalität des Ausdrucks Teil garantiert ist) und wenn Unselbstständigkeit zu Spannung führt, dann müsste auch der Schluss eines Textes zu Spannung führen, da auch der Schluss den Teil eines Textes darstellt (ebenso wie die vorhergehenden Teilen auch). Da die Spannung Staiger zufolge mit dem Schluss allerdings aufgehoben wird, kommt es zum Widerspruch, die Beschreibung ist zurückzuweisen.

Während Staiger versucht, Spannung auf der Grundlage der Unselbstständigkeit der Teile zu bestimmen, stehen bei Fógany und Fógany sowie Pfister die Unvollständigkeit literarischer Texte im Zentrum der Spannungskonzeption.

Bei Fógany und Fógany wird die Konstruktion von Spannung im Roman oder Drama beschrieben als das Aufwerfen von Fragen.

Es ist anzunehmen, dass die Spannung mit der Zahl der aufgeworfenen Probleme, d.h. der zu lösenden Fragen in Verbindung steht. Offensichtlich kann diese Verbindung nur positiv sein: Die Spannung wird größer, wenn die Zahl der Fragen wächst und verringert sich mit der Lösung der aufgeworfenen Fragen.2

Neben der Möglichkeit, Spannung als Fragen an den Text zu paraphrasieren, findet man mit der Position von Pfister einen ähnlichen Versuch, Spannung zu beschreiben. Er entwickelt seinen Begriff in erster Linie für das Drama. Sie entsteht Pfister zufolge durch eine partielle Informiertheit des Rezipienten. Dem Leser fehlt Wissen, der Rezeptionsprozess wird geleitet durch seinen Wunsch, dieses Defizit aufzuheben.3

Die Positionen von Fógany und Fógany sowie Pfister sind zu allgemein. Ihnen mangelt es einerseits an Präzision, da sie sich auf einer relativ unspezifischen Ebene mit dem Phänomen Spannung auseinandersetzen. Darüber hinaus erweisen sie sich aus einer modernen linguistischen Perspektive als so allgemein, dass sie an Trivialität grenzen. Denn bei der Rezeption eines jeden Textes gibt es mögliche Fragen, was dazu führt, dass der Rezipient bei jedem Text partiell informiert ist. Das liegt an der frame-theoretischen Annahme, dass beim Textverstehen Wissensrahmen und dazu gehörende Leerstellen geöffnet werden und dass Leerstellen als Fragen paraphrasiert werden können.4 (Mehr zu diesen Ansätzen findet sich in Abschnitt 3.1.) Wenn also jeder Text Fragen aufwirft und den Rezipienten nur partiell informiert, so müsste auch jeder Text Spannung erzeugen. Da dies nicht der Fall ist, erlauben es weder die Fragen, die ein Text aufwirft, noch die partielle Informiertheit Spannung zu konstituieren. Es bedarf präziserer Beschreibungsversuche.

Im deutschsprachigen Raum finden sich darüber hinaus nur vereinzelte Beiträge. Die große Mehrheit der wenigen überhaupt vorhandenen Beiträge zum Thema Spannung stammt aus dem englischsprachigen Raum.

Die Beiträge verteilen sich auf verschiedene Disziplinen und Teildisziplinen. So wird das Thema unter anderem in der rezeptionsorientierten Literaturwissenschaft, in der Filmwissenschaft, in der Psychologie und in der Philosophie behandelt. In keiner dieser Disziplinen kann man im Bereich der Spannung von einer etablierten Forschungsrichtung sprechen.

In den jeweiligen Disziplinen wird das Thema Spannung relativ autonom behandelt, Ergebnisse einzelner Forscher fließen in der Regel nicht in die Arbeiten anderer Wissenschaftler ein, wie bereits Junkerjürgen festgestellt hat.5

Das ist auch der Grund dafür, dass nicht alle Autoren die Haupttypen Suspense, Curiosity und Puzzles gleichermaßen in ihre Analysen miteinbeziehen, sondern dass sie sich auf einen einzelnen Typen in einem speziellen Medium konzentrieren. Überwiegend steht der filmische Suspense im Zentrum der Untersuchungen.

Insgesamt weist die Forschung daher in vielerlei Hinsicht eine hohe Heterogenität auf. Gemeinsam ist den verschiedenen Ansätzen, dass der Rezipient beim Lesen eine aktive Rolle spielt. Die aktive Rolle des Rezipienten wird allerdings lediglich als solche benannt. Sein kognitiver Beitrag beim Aufbau der Spannung wird bis auf wenige Ausnahmen nicht thematisiert. Damit wird ein Thema vernachlässigt, dass in dieser Arbeit im Mittelpunkt steht.

Im Folgenden werden einige Beiträge vorgestellt. Zunächst werden textexterne Spannungstheorien kompakt skizziert. Im Anschluss werden die zentralen Ansätze zur Spannung vorgestellt, die präzisere Versuche darstellen, das Phänomen greifbar zu machen.

2.1Textexterne Spannungstheorien

Es gibt Ansätze, die sich auf einer fundamentaleren Ebene mit dem Phänomen der Spannung beschäftigen. Sie widmen sich der Frage, warum Spannung überhaupt entstehen kann, ohne die Textebene genauer in die Untersuchungen mit einzubeziehen. Beispielhaft werden im Folgenden zwei ausgewählte Ansätze knapp zusammengefasst.

Spannung und der Zeigarnik-Effekt: Den Zeigarnik-Effekt hat die russische Psychologin Bljuma Wulfowna Seigarnik in dem Aufsatz „Das Behalten erledigter und unerledigter Handlungen“ beschrieben. Der Aufsatz beschäftigt sich mit dem Phänomen, dass sich nicht vollendete Handlungen besser ins Gedächtnis einprägen als abgeschlossene. Zeigarnik führt dieses Phänomen darauf zurück, dass der Mensch ein generelles Bedürfnis besitzt, einmal angefangene Aufgaben abzuschließen.6 Katja Mellmann überträgt diesen Ansatz auf die Rezeption spannungsvoller Texte. Dabei identifiziert sie unaufgelöste Spannung mit einer ungelösten Aufgabe. Unaufgelöste Spannung setzt sich im Gedächtnis fest und schafft ein Bedürfnis nach Auflösung.7

Spannung als Kontrollverlust: Peter Wuss bietet auf der Grundlage des Psychologen Rainer Oesterreich und dem daraus entwickelten Ansatz von Dömer, Reither und Stäudel eine Spannungsbestimmung im Bereich des Suspense. Oesterreich unterteilt beim Menschen verschiedene Bedürfnisebenen. Zu den Primärbedürfnissen zählt er das Bedürfnis nach Kontrolle. Das ermöglicht dem Menschen

die Umwelt oder die Innenwelt nach seinen Wünschen beeinflussen zu können (aktive Kontrolle) oder doch die Entwicklungen in der Zukunft voraussehen zu können (passive Kontrolle, d.h. die Möglichkeit der Vorausschau).8

Wuss benutzt diesen Ansatz, um Spannung zu erklären. Demnach kann der Rezipient keine aktive Kontrolle auf den dargestellten Verlauf einer Geschichte ausüben, er kann allerdings passive Kontrolle gewinnen, indem er Hypothesen bildet. So entsteht dann Spannung.9

Die Ansätze werden als Hintergrundtheorien angesehen, die sich auf einer tieferliegenden Ebene ansiedeln. Sie liefern damit Gründe dafür, warum Rezipienten überhaupt Spannung erleben können. In dieser Arbeit wird nicht weiter auf diese und ähnliche Forschungszweige eingegangen, weil diese sich linguistisch nicht beschreiben lassen. Wenn man allerdings annimmt, dass diese Ansätze sich auf einer tieferliegenden Ebene ansiedeln, so sollte mindestens einer kompatibel sein mit allem, was in dieser Arbeit besprochen wird.

2.2Zentrale Theorien im Bereich der Spannung

In diesem Abschnitt werden die zentralen Ansätze zur Spannung vorgestellt. Dieser Teil des Kapitels zielt nicht darauf ab, die Literatur zur Spannung in allen Einzelheiten abzudecken. Die Auswahl der Ansätze soll lediglich als Überblick über die wichtigsten Ansätze dienen und über die Breite der verschiedenen Disziplinen und die damit verbundenen Konzeptionen orientieren. Darüber hinausgehende Aspekte zu einzelnen Teilbereichen werden in den Kapiteln bereitgestellt, die die einzelnen Spannungstypen behandeln.

2.2.1Sternberg

Der israelische Literaturwissenschaftler Sternberg ist einer der ersten Autoren, die sich intensiv mit dem Phänomen Spannung auseinandergesetzt haben. Seine Analyse stammt aus dem literaturwissenschaftlichen Bereich der Rezeptionsästhetik. Er gibt in vielfacher Hinsicht wichtige Anstöße und bietet unter anderem drei Grundtypen der Spannung an.

In seinem fundamentalen Werk zur Rezeption von Texten schreibt Roman Ingarden, dass nicht alle Aspekte einer Textwelt an der Textoberfläche realisiert werden. Zum Beispiel werden nicht in jedem Text die Augenfarbe, die Länge der Füße, die Färbung der Stimme, die Haltung und der Körperbau der Figuren zwangsläufig expliziert. Wo die Beschreibung ausbleibt, eröffnet ein Text sogenannte Unbestimmtheitsstellen bzw. Leerstellen, die die unterschiedlichsten Aspekte der Textwelt betreffen können. Diese können vom Leser ergänzt bzw. wie Ingarden es formuliert konkretisiert werden. Er spricht bei dieser leserseitigen Aktivität von der mitschöpferische Tätigkeit des Lesers.10

Während diese von Ingarden hervorgehobenen Leerstellen zunächst kaum Spannungspotential besitzen, zeigen die rezeptionsästhetischen Arbeiten von Sternberg in eine deutlich andere Richtung. Spannung entsteht, sobald der Text über eine Reihe bestimmter Leerstellen verfügt. Zum einen können Zusammenhänge innerhalb der Textwelt im Verborgenen bleiben. Bei den Leerstellen kann es sich auch um Ursachen von Ereignissen und Motive von Figuren handeln, wobei dem Rezipienten das Vorhandensein der jeweiligen Leerstelle bewusst ist. Darüber hinaus kann der Leser sich fragen, was als nächstes passieren wird. Leerstellen lassen sich Sternberg zufolge als Fragen wiedergeben.11

The literary text may be conceived of as a dynamic system of gaps. A reader who wishes to actualize the field of reality that is represented in a work, to construct (or rather reconstruct) the fictive world and action it projects, is necessarily compelled to pose and answer, throughout the reading-process, such questions as, What is happening or has happened, and why? What is the connection between this event and the previous ones? What is the motivation of this or that character?12

Suspense ergibt sich bei zukunftsgerichteten Leerstellen, die mit der Frage einhergehen, was als nächstes passieren wird. Curiosity entsteht bei rückwärtsgewandten Unbestimmtheitsstellen, die die Vergangenheit betreffen. In Bezug auf das Curiosity fügt Sternberg beläufig hinzu, dass es bei diesem Spannungstyp eine Abweichung gibt zwischen der tatsächlichen Reihenfolge der Ereignisse (literaturwissenschaftlich ausgedrückt auch plot) und der auf der Textebene dargestellten Reihenfolge der Ereignisse (auch story). In der Textstruktur wird beim Curiosity ein Element ausgelassen, was dem Leser bewusst ist.13 Die Spannungsform des Puzzles wird bei Sternberg durch die Frage What is the connection between this event and the previous ones? angedeutet, darüber hinaus wird dieses nicht weiter besprochen. Der Spannungstyp wird allerdings bei einem anderen zentralen Forscher aus dem Bereich der Rezeptionsästhetik, Iser, auch erwähnt, der beim Puzzle die Kompositionsleistung des Lesers betont.14

Der Leser kann Sternberg zufolge in zweierlei Weise auf Unbestimmtheitsstellen reagieren, einerseits kann er sie ignorieren und andererseits kann er sie füllen.15 Im zweiten Fall bildet er Hypothesen über die jeweilige Leerstelle aus. Anschließend überprüft er seine Hypothesen für die Unbestimmtheitsstellen, wobei diese Annahmen gegenläufig sein und sich ausschließen können. Zugleich können diese Hypothesen verschiedene Glaubenswahrscheinlichkeiten besitzen.16 Sowohl Leser als auch Werk beeinflussen die Bildung von Hypothesen.17

2.2.2Brewer

An die Beschreibung des Curiosity und Suspense von Sternberg schließen die Forschungsarbeiten um den US-amerikanischen Kognitionswissenschaftler William F. Brewer an. Seiner Structural-Affect Theory zufolge hängen die dramatischen Effekte unterhaltender Texte von der Reihenfolge der Ereignis-Darstellung im Text ab. Dieser Ansatz hebt gezielt die Unterscheidung zwischen der tatsächlichen Reihenfolge von Ereignissen und der Reihenfolge ihrer Darstellung hervor, die bei Sternberg eher beiläufig erwähnt wird und die der israelische Autor lediglich für den Spannungstyp des Curiosity ausführt. So erhält Brewer einen seiner wesentlichen Anstöße von dem israelischen Literaturwissenschaftler.18

Im Vergleich zu Sternberg, der sich auf schriftsprachliche Texte bezieht, heben Brewer und Lichtenstein hervor, dass es sich bei diesen Spannungstypen um Effekte handelt, die unabhängig von der Modalität entstehen. Sie können in schriftsprachlichen, in audiovisuellen etc. Texten realisiert werden.19

Ein Suspense-Beispiel von Brewer und Lichtenstein:

(4)

The sniper was waiting outside the house. Charles got up from the chair. He walked slowly toward the window. There was the sound of a shot and the window broke. Charles fell dead.

Bei dieser Art Spannung zu erzeugen, entspricht die Ereignis-Darstellung der tatsächlichen Reihenfolge der Ereignisse. Der Leser ist vorinformiert und fragt sich, wie es ausgehen wird. Er antizipiert eine signifikante Folge für eine Figur, die nur partiell informiert ist. Die Leser-Emotionen sind verschieden von den Figuren-Emotionen.20 Da die Figur nicht über den Plan des Angreifers informiert ist, handelt es sich beim diesem Effekt um die Art, die Hitchcock in seinen Filmen regelmäßig benutzte und die er in dem berühmten Interview mit Truffaut ausgeführt hat. Der Ansicht des Master of Suspense führt diese Form zu den intensivsten Zuschauerreaktionen.21

Ein Beispiel für Curiosity von Brewer und Lichtenstein:

(5)

Charles fell dead. The police came and found the broken glass, etc.

Bei diesem Mittel Spannung zu erzeugen, muss die tatsächliche Ereignisstruktur mit einem bedeutungsvollen Ereignis beginnen. In der Darstellung des Geschehens wird dieses allerdings ausgelassen. Der Leser bekommt genug Informationen, um zu wissen, dass vorher etwas vorgefallen ist, das Informationsdefizit muss ihm bewusst sein. Auf diese Art und Weise wird seine Neugier auf das zurückliegende Ereignis gelenkt. Im weiteren Textverlauf wird die ausgelassene Information nachgereicht, sodass der Leser das bedeutungsvolle Ereignis rekonstruieren kann und die Spannung aufgelöst ist.22

Mit den Forschungsarbeiten von Brewer und Lichtenstein erlöscht dieser durch Sternberg angeregte Untersuchungszweig.

2.2.3Carroll

Fragen kontrollieren die Erwartungen des Zuschauers. Während Brewer und Lichtenstein auf Sternberg Bezug nimmt, beschreibt der US-amerikanische Philosoph Noël Carroll unabhängig von den Forschungsergebnissen dieser Autoren den Suspense und das Curiosity. Seine Untersuchungen beziehen sich auf Filme. Carroll zufolge stellt der Zuschauer bei der Filmrezeption ununterbrochen Fragen. In der Regel geschieht dies unbewusst. Sobald ein Film allerdings angehalten wird, dringen die Fragen an die Oberfläche und werden sprachlich realisiert.23

Die Fragen werden ausgelöst durch audiovisuelle Ereignisse.24 Fragen und Antworten verbinden audio-visuelle Einheiten verschiedener Ausdehnung. Von Szenen bis hin zum gesamten Text.25

 

Anzahl möglicher Antworten, zeitliche Dimension, Moral. Spannung beschreibt Carroll unter Rückgriff auf Fragen. Sie konstituieren fictions of uncertainty. Die Abgrenzung zwischen dem Suspense und dem Curiosity basiert auf der zeitlichen Dimension dieser Spannungstypen. Demnach sind die Fragen entweder zukunfts- oder vergangenheitsgerichtet.26 Als ein weiteres Abgrenzungskriterium dient die Anzahl möglicher Antworten auf eine Frage. Um die beiden Spannungstypen voneinander zu trennen, greift er unter anderem zurück auf die Unterscheidung in Entscheidungsfragen, bei denen es nur zwei mögliche Antworten gibt, die sich logisch ausschließen, und Ergänzungsfragen, die mehrere, sich nicht ausschließende Möglichkeiten besitzen.27

Das Curiosity charakterisiert er als offene Ergänzungsfragen. Beim Genre Kriminalgeschichte fragt sich der Leser zum Beispiel, welche Motive den Täter leiten. Grundsätzlich sind eine Reihe verschiedener Möglichkeiten denkbar, die einzeln vorkommen können oder gleichzeitig wahr sein können. Dieser Spannungstyp ist vergangenheitsbezogen.28

Suspense ergibt sich bei einer Entscheidungsfrage, die sich auf die Zukunft bezieht. Allerdings erzeugt nicht jede zukunftsgerichtete Frage Spannung. Zusätzlich benötigt der Suspense eine moralische Dimension. Von den zwei möglichen Antworten muss eine Möglichkeit unwahrscheinlich und moralisch korrekt und die andere wahrscheinlich und moralisch fragwürdig sein.29

I am holding that, in the main, suspense in film is (a) an affective concomitant of an answering scene or event which (b) has two logically opposed outcomes such that c) one is morally correct but unlikely and the other is evil and likely.30

Die Moral basiert auf einer Alltagsmoral. Sie kann durch tugendhafte Szenen vermittelt werden, in denen der Protagonist zum Beispiel seine Tapferkeit unter Beweis stellt. Sie muss nicht zwangsläufig mit der außermedialen Realität übereinstimmen, in diesem Fall kann ein Moralsystem relativ zum jeweiligen Film entstehen. Zugleich steht beim Suspense etwas auf dem Spiel. Gefahren müssen hervorgehoben werden. Sie drohen sich in unmittelbarer Zukunft einzustellen.31

Die Wahrscheinlichkeiten müssen betont werden (adding probability factors). Im Film entsprechen sie nicht den Wahrscheinlichkeiten in der Welt der Rezipienten. Man darf sich auch nicht dazu verleiten lassen, den Begriff technisch zu verstehen. Während der Rezeption greift der Zuschauer nicht auf seine stochastischen Fähigkeiten zurück, er versucht also nicht, die Wahrscheinlichkeit bis auf die dritte Ziffer hinter dem Komma zu berechnen.32

 

Mikro-, Makroebene und Rekursivität. Carroll unterscheidet zwischen Spannung auf der Mikro- und auf der Makro-Ebene. Die Zuordnung ergibt sich aus der textuellen Distanz zwischen Frage und Antwort.33

(6)

Wird James Bond dem brennenden Aufzug entkommen?

(7)

Wird das Gute oder das Böse siegen?

(6) und (7) geben mögliche Suspensefragen wieder, die der Rezipient während der Rezeption aufwerfen kann. In (6) handelt es sich um eine Frage, die die augenblickliche Situation in einem Film betrifft, sie siedelt sich daher auf der Mikroebene an. In (7) liegt eine Frage vor, die sich auf das Gesamtwerk bezieht und daher in den Bereich der Makrofragen eingeordnet wird.

Makro- und Mikro-Fragen können in wechselseitiger Beziehung zueinander stehen. Die Antwort von Mikro- und Makrofragen können sich überschneiden. Fragen und Antworten verbinden Szenen, aber auch gesamte Texte.34

Auf der Grundlage von Fragen lassen sich verschiedene Funktionen von Szenen klassifizieren. Carroll unterscheidet zwischen a) Szenen, die dem Rezipienten Orientierung (establishing shot) bieten (zum Beispiel wird die Fifth Avenue gezeigt, bevor ein Büro gezeigt wird) und die nicht unbedingt Fragen aufwerfen muss. Daneben gibt es b) Szenen, die eine Frage aufwerfen (questioning scene), c) Szenen, die eine Antwort liefern (answering scene), d) Szenen, die Fragen aufrechterhalten oder verstärken (sustaining scene), e) Szenen, die eine Antwort geben und zugleich eine neue Frage aufwerfen, und letztendlich f) Szenen, die Teilantworten bereitstellen (incomplete answering scene). In diesem Fall erstrecken sich Antworten über mehrere Szenen. Je größer die Anzahl solcher Szenen in einem Film ist, desto komplexer ist der Film. In Szenen können die einzelnen Film- bzw. Textelemente eine Vielzahl anderer Funktionen gleichzeitig übernehmen. Nicht alle Szenen dienen dem Fragen-Aufwerfen. Darüber hinaus gibt es Szenen, die Antworten moralisch färben.35

Um Spannung zu analysieren, müssen diejenigen Szenen bestimmt werden, die Fragen auslösen und erhalten. Zugleich bietet es sich an, einerseits Szenen herauszusuchen, die mögliche Antworten moralisch situieren, und andererseits, Szenen zu isolieren, die Wahrscheinlichkeiten zuordnen.36

Ein Film wird als Suspensefilm klassifiziert, wenn eine Suspensefrage das Werk auf der Makroebene überspannt, wenn statt einer suspensevollen Makrofrage eine Reihe von Suspense-Mikrofragen aufeinanderfolgen und wenn entscheidende Szenen mit Suspense beladen sind.37

2.2.4Zillmann

Positive und negative Ausgänge. Der US-amerikanische Psychologe Dolf Zillmann greift bei seiner Suspense-Definition auf mögliche zukünftige Entwicklungen der Geschichte zurück und untersucht diese innerhalb des Mediums Film. Dabei unterscheidet er zwischen solchen Ausgängen, die einen Anreiz darstellen, und solchen Ausgängen, die eine Bedrohung darstellen. Als Anreiz dient häufig eine soziales, finanzielles oder erotisches Gut. Die Bedrohung ergibt sich in der Regel dadurch, dass der Protagonist einer unmittelbaren Gefahr ausgesetzt ist, Leib und Leben sind bedroht. Als Beispiel nennt Zillmann eine Schiffskatastrophe oder die Besteigung eines Berges, in beiden Fällen befinden sich Figuren in lebensbedrohlichen Situation. Häufig sind Bedrohung und positiver Anreiz aneinander gekoppelt. Sollte die jeweilige Figur den negativen Ausgang abwenden können, so erhält sie gleichzeitig eine Belohnung.38

Suspense kommt ohne die positive Dimension aus. Um ein möglichst intensives Suspenseerlebnis zu bieten, müssen Geschichten nach Zillmann folgende Kriterien erfüllen:39

Geschichten müssen mögliche negative Ausgänge suggerieren

Gemochte Protagonisten (liked protagonists) oder eine substitute entity40 müssen betroffen sein von möglichen negativen Ausgängen, damit diese Ausgänge gefürchtet werden von den Rezipienten

Die Wahrscheinlichkeit, dass negative Ausgänge eintreten, muss hoch sein aus der Perspektive des Rezipienten

Bei der Negativität von Ausgängen differenziert Zillmann zwischen verschiedenen Graden. So ist beispielsweise der mögliche Tod auf einem höheren Negativitätsniveau angesiedelt als der Verlust von Eigentum oder die soziale Isolation. Um das Suspenseerleben zu ermöglichen, müssen die antagonistischen Kräfte den gemochten Protagonisten glaubwürdig schädigen können. Die Gefahr kann an dritten Parteien demonstriert werden, um die Glaubwürdigkeit zu erhöhen. Suspense setzt nach Zillmann nicht voraus, dass Moral im Spiel, womit er sich explizit gegen Carroll richtet.41

Bei der Erzeugung von Suspense spielen die Angst und die Hoffnung von Rezipienten eine zentrale Rolle. Die negativen Konsequenzen für einen Protagonisten werden gekoppelt an die Angst, dass ein erhofftes Ereignis nicht eintreten und dass ein unerwünschtes Ereignis eintreten wird. Zugleich werden sie gekoppelt an die Hoffnung, dass ein bevorzugter Ausgang eintreten wird, dass ein unerwünschtes Ereignis für den Protagonisten nicht eintreten wird und dass negative Ereignisse für antagonistische Figuren eintreten werden. Beide sind als affektive Reaktionen eng aneinander gebunden, es handelt sich um zwei Seiten einer Medaille.42

Zillmann zufolge kann der Suspenseeffekt mit körperlichen Reaktionen einhergehen. Als mögliche Reaktionen nennt er Schweißausbrüche und Fingernägelkauen. Der Rezeption kann von Rastlosigkeit und Unruhe begleitet werden. Zum Teil lässt sich der Rezipient dazu hinreißen, zu applaudieren, wenn sich die Handlung zum Positiven für den Protagonisten auflöst.43

Dem Rezipienten weist Zillmann die Rolle eines Zeugen zu. Auf der Leinwand dargestellte Handlungen und Ereignisse wirken sich weder positiv noch negativ auf seinen Alltag aus. Auch umgekehrt besitzt er keinen Einfluss auf die Textwelt, die Entwicklungen im Film bleiben vom Rezipienten unberührt.44

 

Hoffen, Bangen und die Einstellung zum Helden. Hoffnung und Angst hängen stark mit der Einstellung des Rezipienten zum Protagonisten zusammen. Diese Relation zum Protagonisten beschreibt Zillmann als Empathie (ein identifikatorisches Verhältnis weist er zurück, weil die Figuren und Leser über verschiedene Wissensbestände verfügen und daher auch verschiedenen Emotionen ausgesetzt sein können).45

Diese affektiven Dispositionen basieren nach Zillmann auf soziopsychologischen Prozessen, die je nach der emotionalen Beziehung zu den Figuren variieren. Leidet eine gemochte Figur, so leidet auch der Rezipient. Freut sich diese Figur, so überträgt sich das positive Gefühl auf den Leser bzw. Zuschauer. Antipathie gegenüber einer Person führt zu einer entgegengesetzten emotionalen Reaktion. Die Freude des Antagonisten verursacht negative, sein Leiden positive Emotionen. Die Wahrnehmung von positivem und negativem Ausgang kehrt sich also um, wenn sich die Einstellung zu den Figuren umkehrt. So kann das gleiche Ereignis beim Zuschauer verschiedene Reaktionen hervorrufen – je nachdem, in welcher Relation er zu einzelnen Figuren steht.46

Mit der Relation ändert sich auch die Bewertung von negativen und positiven Ausgängen einzelner Figuren. Eine negative Konsequenz für einen Antagonisten wird vom Rezipienten als positiv empfunden. Eine negative Konsequenz, die den Protagonisten betrifft, wird als negativ eingestuft. Es gibt also negative Konsequenzen für Figuren, die je nach der Einstellung der Rezipienten als positiv und negativ eingeordnet wird.47

 

Suspense, Euphorie und Disphorie. Von der Relation zum Protagonisten und vom negativen Ausgang hängen Euphorie- und Disphorie-Reaktionen ab. Euphorie entsteht, wenn eine Gefahr für einen gemochten Protagonisten verringert oder abgewendet wurde. Sie steigt, je größer der Schaden für den Antagonisten und der Nutzen für den Protagonisten ist. Mit der Disphorie-Reaktion verhält es sich umgekehrt. Sie steigt zum Beispiel, wenn eine negative Konsequenz eintritt. In Geschichten nehmen mögliche negative Emotionen den Großteil der Zeit ein, bis am Ende eine positive Auflösung erfolgt. Das bedeutet, dass viele Episoden häufig mit Disphorie beladen sind, dass das finale Ende jedoch Euphorie erzeugt.48

Zugleich beeinflusst auch der Beitrag des Protagonisten zum Ausgang die Euphorie- und Disphorieintensität. Die Disphorie steigt, wenn der Protagonist die negativen Folgen selbst herbeiführt. Die Euphorie ist größer, je stärker der Protagonist zur Lösung des Problems bzw. zur Abwendung des negativen Ausgangs beigetragen hat. Handelt es sich um einen inaktiven Protagonisten, so steigt die Euphorie nur marginal.49

Daraus leitet Zillmann praktische Implikationen für den Anfang und das Ende von Geschichten ab: Zu Beginn einer Geschichte sollte der Protagonisten in ein positives Licht gerückt und der Antagonist negativ darstellt werden. Erst danach kann begonnen werden, den Protagonisten mit Gefahrensituationen zu konfrontieren. Die Auflösung verläuft optimal, wenn der Protagonist das Böse selbst (allein) besiegt und dafür belohnt wird.50

 

Die Gewichtung der Wahrscheinlichkeit negativer Ausgänge und der Einstellung gegenüber den Figuren. In einer experimentellen Studie haben Comisky und Bryant die Faktoren Relation zur Figur und die Wahrscheinlichkeit des negativen Ausgangs kombiniert und den Einfluss auf das Suspenseempfinden untersucht. Verschiedenen Gruppen ihres Experiments haben sie die gleiche Filmsequenz vorgespielt. Dabei wurde die jeweilige Vorstellung durch einen Kommentar des Erzählers eingeleitet, der von Gruppe zu Gruppe verschiedene Informationen über die Überlebenschancen des Helden enthielt und den Protagonisten entweder in einem neutralen, in einem positiven oder in einem sehr positiven Licht erscheinen ließ. Die Auswertung dieses Experiments ergab, dass die Wahrscheinlichkeit des Ausgangs den Hauptteil bei der Suspensebildung ausmacht. Je geringer die Chance des positiven Ausgangs, desto höher der Suspense. Die hohe positive Relation zum Protagonisten steigert die Spannung zwar, sie besitzt allerdings einen geringen Teil an der Spannungsbildung.51

2.2.5Wulff

Eine konstruktivistische Zeichen- und Textdefinition.

Die Funktion von Text ist, den Textverarbeitungsprozess zu strukturieren und kontrollieren, und nicht so sehr, ein Thema oder eine Geschichte als ein wohlgeformtes, ganzheitliches Gebilde zu exponieren.52

Der deutsche Filmwissenschaftler Hans J. Wulff legt für die Analyse von Suspense die konstruktivistische Kernannahme zugrunde, das dem Rezipient eine aktive Rolle bei der Bedeutungskonstitution von narrativ-audiovisuellen Texten zukommt. Denken und Wahrnehmung vollziehen sich bei der Rezeption von audiovisuellen Texten demnach aktiv und mit dem Ziel, eine kohärente (Text-)Welt zu konstruieren (auch konstruktivistisches Rezeptionsmodell). Der audiovisuelle Text stellt Szenen, Situationen und Sequenzen bereit, die der Rezipient kognitionsgestützt verarbeitet. Diese nutzen den Kohärenz- und Ganzheitswunsch des Rezipienten gezielt aus.53

Um Suspense zu erzeugen, muss der Text dem Zuschauer Informationen bieten, aus denen dieser zukünftige Entwicklungen und die Wahrscheinlichkeit ihres Auftretens erschließen kann. Bei der Analyse von Suspense darf weder die textuelle noch die kognitive Seite vernachlässigt werden. Der Text gilt dieser Auffassung nach als ein instruktionales Gebilde.54

Die Spannungskonstruktion wird darum gefaßt als eine Sequenz von Textinformationen, die eine dazugehörige Sequenz von Verarbeitungsoperationen des Zuschauers erforderlich macht und diese steuert; diese beiden Komponenten bilden zusammen einen Untersuchungsgegenstand.55

Als typischen Fall beschreibt er, wie der Protagonist im Gebirge an einer Steilwand in einem Seil hängt und wie sein Seil über eine scharfe Bergkante reibt. Auf der Basis dieser Informationen bildet der Zuschauer die Hypothese, dass das Seil reißen könnte und dass die Figur in die Tiefe stürzt und stirbt.56

Die jeweiligen Erwartungen ergeben sich aus einzelnen Text-Informationen und verschiedenen Bereichen des Wissen:

Nun spielen schematisierte Wissensbestände […] eine zentrale Rolle, seien es nun stofflich orientierte Einheiten des Wissens (wie Gegenstands-Frames oder situationale Skripten) oder aber syntaktsiche Bauformen des Textes (wie z.B. Alternationsmontage) oder semantosyntaktische Prinzipien der Textbildung (wie sie in den verschiedenen Geschichtengrammatiken zu beschreiben versucht werden).57

Auf dieser Grundlage generiert der Rezipient Wulff zufolge Hypothesen, die sich auf der Mikro- und Makroebene ansiedeln und die auf beiden Ebenen Spannung erzeugen.58 Suspense entsteht nach Wulff durch possible and probable developments in the plot, which often cannot even be proven on the surface of the film.59

Neu einlaufende Informationen sollten nicht nur als Tatsache verarbeitet werden sondern auch als starting point von zukünftigen Entwicklungen hinsichtlich einer Geschichte, sozialen Situationen oder einer Folge von Ereignissen gesehen werden.60

Wulff betont – ähnlich wie Zillmann –, dass die antizipierten Entwicklungen keine beliebigen sein dürfen, der Zuschauer muss einen negativen Ausgang antizipieren. Deshalb sollten die textuellen Erzeugnisse die Aufmerksamkeit der Rezipienten in Richtung Probleme, Gefahren und Hindernisse manipulieren, die auf diese Weise mögliche Entwicklungen andeuten und diesen gleichzeitig Wahrscheinlichkeitsgrade suggestiv zuordnen. Der Text suggeriert lediglich ein Ensemble alternativer Möglichkeiten bzw. ein Feld möglicher Entwicklungen.61 Die negativen Aspekte müssen sich nicht konkretisieren.62

Textuelle Elemente, die dazu dienen, mögliche zukünftige Entwicklungen anzudeuten, bezeichnet Wulff Kataphora. Wulff unterscheidet darüber hinaus zwischen Textsegmenten, die das Problem präzisieren, und Textsegmenten, die den Problemraum in eine andere Richtung lenken. Letztendlich kann der Rezipient eine Reihe möglicher Entwicklungen mental konstruieren, die durch neu einlaufende Textsegmente erweitert werden können. Die Textwelt wird dabei nicht vollständig realisiert, die Textebene umfasst nur relevante Aspekte. Es gibt auf der Textebene eine Selektion.63

Auch der Rezeptionsprozess vollzieht sich selektiv. Nur problembezogenem wird Aufmerksamkeit geschenkt. Wulff spricht in diesem Zusammenhang auch von einer metarezeptiven Hypothese der Rezipienten.64

2.3Zwischenfazit

Auf einer fundamentalen Ebene befinden sich textexterne Überlegungen zu Spannung. Dabei wird Spannung auf den Zeigarnik-Effekt zurückgeführt oder durch das rezipientenseitige Bedürfnis nach Kontrolle begründet. Diese Ansätze vernachlässigen Strukturmerkmale von Texten, daher entziehen sie sich der linguistischen Analyse und werden deshalb nicht weiter berücksichtigt.

Auf einem rezeptionstheoretischen Fundament charakterisiert Sternberg die Spannungsleerstellen des Curiosity, des Suspense und vom Puzzle, die er auch als rezipientenseitige Fragen beschreibt. Beim Curiosity gibt es einen Vergangenheitsbezug, beim Suspense steht eine zukunftsgerichtete Leerstelle im Zentrum. Er konzentriert sich auf schriftsprachliche Texte.

Sternbergs Ansatz dient als Anknüpfungspunkt für das Forscherteam um Brewer. Sie orientieren sich an dem Verhältnis zwischen Plot-Story-Ebene und an der Terminologie und beschreiben die Typen Suspense und Curiosity. Beim Suspense kommt zusätzlich die Frage hinzu, wie sich das Verhältnis zwischen dem Wissen der Rezipienten und dem Wissen der Figuren gestaltet, ein Aspekt der in der Hitchcockschen Suspensedefinition entscheidend ist und der in den anderen Ansätzen keine Rolle spielt. Die rezeptionstheoretische Terminologie wie Leerstelle und die damit verbundenen Fragen gehen dabei verloren. Die zeitliche Dimension ist vorhanden, wenn auch wie bei allen anderen Autoren außer Carroll stillschweigend. Brewer abstrahiert in seinen Forschungen von einer konkreten Modalität.

Carroll untersucht das Curiosity und den Suspense im Film, die gemeinsam fictions of uncertainty konstituieren. Beim Curiosity steht eine Frage im Zentrum, die mehrere Antworten zulässt, die sich nicht gegenseitig ausschließen. Den Suspense beschreibt er als das Stellen von Fragen, von denen eine als moralisch gut und zugleich unwahrscheinlich gilt und die andere als moralisch schlecht und wahrscheinlich gilt. Die Antworten schließen sich logisch aus. Unabhängig von Sternberg kommt Carroll zu dem Schluss, dass sich der Suspense (zukunftsbezogen) und das Curiosity (vergangenheitsbezogen) in zeitlicher Hinsicht unterscheiden.

Zillmann konzentriert sich im Rahmen seiner psychologischen Theorie nur auf den filmischen Suspense. Seinem Ansatz nach entsteht dieser dramatische Effekt durch negative Konsequenzen für gemochte Helden, die vom Rezipienten für sehr wahrscheinlich erachtet werden. Bei den negativen Konsequenzen spielt die von Carroll postulierte moralische Dimension keine Rolle, er grenzt sich in diesem Punkt explizit von Carroll ab. Die Arbeiten von Sternberg und von Brewer besitzen im Rahmen von Zillmanns Arbeiten keinen Einfluss.

Wulff ergänzt Zillmanns Analyse um eine kognitive Dimension, der zufolge sich die Erwartung eines negativen Ausgangs ergibt aus Textinformationen und Schemata, die durch Relevanzerwägungen zu einander in Beziehung gesetzt werden. Die Ergebnisse der anderen Autoren spielen bei ihm keine Rolle. Im Zentrum steht der filmische Suspense.

Wulff ist der einzige Autor, der die kognitive Dimension der Spannung in seine Überlegungen mit einbezieht. Damit entwickelt er das Fundament, um die Ziele dieser Arbeit zu erreichen. Er gibt den Anstoß, um den Suspense und andere Spannungstypen aus einer kognitionslinguistisch orientierten Perspektive zu beleuchten, wobei neben lokalen Aspekten auch die globale Dimension ergänzt werden soll, um zu einem umfassenden Bild zu gelangen.

IIGrundlagen einer Theorie des Textverstehens

If someone said, ’It’s raining frogs‘, your mind would swiftly fill with thoughts about the origins of those frogs, about what happens to them when they hit the ground, about what could have caused that peculiar plague, and about whether or not the announcer had gone mad. Yet the stimulus for all this is just three words. How do our minds conceive such complex scenes from such sparse cues? The additional details must come from memories and reasoning.65

Sprachliche Kommunikation besitzt einen elliptischen Charakter. Auf der Basis einer geringen Anzahl textueller Signale (sparse cues, stimulus) wird eine Vielzahl rezipientenseitiger Aktivitäten stimuliert, die sich nähren aus den im Zitat benannten Bereichen des Wissens (memory) und der Inferenzen (reasoning), die die Grundlage bilden für die Konstruktion eines mentalen Modells (hier scenes). Im Folgenden werden diese drei Hauptfelder kognitiv orientierter Disziplinen vorgestellt. Damit rückt dieser Teil die repäsentationalen und prozedualen Aspekte des Textverstehens ins Zentrum, die sich aus kognitionsorientierten und psycholinguistischen Ansätzen ergeben.

In Kapitel 3 werden Frame- und Schema-theoretische Ansätze integrativ vorgestellt, die auch Wissen über Textsorten mit einschließen. Dabei werden zentrale Begriffe wie Leerstelle, Füllwert, Prototypikalität etc. eingeführt. Zunächst werden diese Entitäten unabhängig von sprachlichen Aspekten als fundamentale Einheiten der Kognition beschrieben.

In Kapitel 4 wird eine Vielzahl mentaler Prozesse vorgestellt, die auf den kognitiven Strukturen basieren. Dabei wird zunächst der für diese Arbeit zentrale Begriff der Inferenz definiert. Nachdem ein kompakter Einblick in die Welt der Inferenzen in der klassischen Philosophie gegeben wurde, werden die Ansätze zu verstehensnotwendigen Inferenzen aus der Textverstehenstheorie vorgestellt. Dabei werden zunächst Inferenzen auf Wortebene vorgestellt, wobei der Satzkontext in der Regel eine wichtige Rolle spielt. Dann werden Inferenzen vorgestellt, die angrenzende Sätze verbinden. Im Anschluss werden Inferenzen beschrieben, die sich auf größere Diskurssegmente eines Textes beziehen und diese vorstellen. Der Aufbau folgt also der Komplexität des zugrunde liegenden Textmaterials. Darüber hinaus wird eine weitere Klasse von Inferenzen vorgestellt, die sogenannten elaborativen Inferenzen. Diese besitzen keine kohärenzstiftende Funktion. Das Kapitel endet mit einer Klassifikation von Inferenzen und mit der Beschreibung von Leserzielen, die einen Grund dafür liefern, warum Rezipienten überhaupt eine derartige Aktivität bei der Textrezeption zeigen.

Während diese Prozesse in Kapitel 4 auf der Ebene einzelner Sätze, Satzpaare und kurzer Abschnitte beschrieben werden, fasst Kapitel 5 komprimiert zusammen, was die Textverstehensforschung im Bereich der mentalen Repräsentation umfangreicherer Texte anbietet, deren Konstruktion auf einer wiederholten Anwendung der in Kapitel 4 vorgestellten Prozesse basiert.

3Wissen

Im Folgenden wird eine Reihe von kognitiven Ansätzen integrativ vorgestellt. Dabei wird das kognitive System zunächst isoliert betrachtet. Dieser Schritt ergibt sich aus dem Cognitive Commitment, das besagt, dass es sich bei den Verarbeitungsprozessen nicht um sprachspezifische Mechanismen handelt sondern um allgemeine mentale Operationen.1

3.1Wissensrahmen

Kognitionsbezogene Theorien zum Wissen wurden in verschiedenen, zum Teil relativ autonomen Wissenschaftsdisziplinen entwickelt und in Abhängigkeit von der jeweiligen Forschungsunternehmung und den damit verbundenen Erkenntnisinteressen unterschiedlich akzentuiert – letztendlich mit konvergierender Evidenz, was sich niederschlägt in einer zunehmenden wechselseitigen Rezeption und in einer verstärkten gegenseitigen Beeinflussung. Marvin Lee Minsky – Frame-Pionier, Mathematiker und Informatiker – stellt eine allgemeine Theorie auf und verweist auf eine Vielzahl unterschiedlicher Phänomene, die sein Ansatz explanatorisch bewältigen kann und die hauptsächlich auf der Ebene der visuellen und sprachlichen Verarbeitung liegen. Der Linguist Fillmore bezieht sich überwiegend auf die Wort- und Satzebene, erkennt allerdings ein globales Anwendungspotential. Forscher wie der US-Psychologe Rumelhart richten ihre wissenschaftlichen Aktivitäten auf umfangreichere Texte wie zum Beispiel Geschichten. So erwachsen aus einer kognitionszentrierten Perspektive Erklärungsmöglichkeiten für eine Vielzahl unterschiedlicher Phänomene. Sie erweist sich als global anwendbar und besticht durch ihre unifizierende Kraft.

Trotz terminologischer und theoretischer Unterschiede zwischen den Ansätzen weisen die Theorien starke strukturelle und funktionale Parallelen auf, worauf bereits Rumelhart in seinem Artikel „Schemata: The Building Blocks of Cognition“ hinweist.2 Das ist wahrscheinlich auch ein Grund dafür, warum Fillmore Begriffe wie Schema, Frame etc. in einem seiner zentralen und mehrfach veröffentlichten Aufsätze „Frame Semantics“ gleichsetzt.3

 

Terminologische Inhomogenitäten. In der Literatur zur Untersuchung von Wissen finden sich eine Reihe konkurrierender Begriffe, die erhebliche Schnittmengen aufweisen und deshalb kaum auseinanderzuhalten sind. Die Begriffe variieren nicht nur von Autor zu Autor, sondern zum Teil auch innerhalb des Œuvres eines Autors. So bezeichnen Sanford und Garrod das Wissen als scenarios ,4 Minsky spricht von frames.5 Bei Fillmore werden verschiedene Theorieversionen begleitet von verschiedenen terminologischen Präferenzen. In seinen theoretischen Vorarbeiten spricht Fillmore (1971) von Kasusrahmen,6 Fillmore (1975) von scene,7 Fillmore (1977a) von scenes,8 Fillmore (1977b) von schemata, 9 Fillmore (2006) wieder von frames.