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Seit Beginn der ›Militärischen Spezialoperation‹ der russischen Streitkräfte in der Ukraine nahmen Tausende Menschen in Russland an Antikriegsprotesten teil. Allein in den ersten Wochen wurden 13.800 Menschen festgenommen. Es folgten Kommunikations-Sperren, Eintragungen in ›Extremistenregister‹ sowie zahlreiche weitere Repressionen. Die Linke Russlands ist seit 2014 in ihrer Haltung zur Ukraine tief gespalten. Während die Führung der Kommunistischen Partei (KPRF) Putins Kurs unterstützt, schlossen sich viele linke Gruppen und Aktivist*innen der Protestbewegung an. "Spezialoperation und Frieden" versucht, die gesamte Bandbreite der Positionen der russischen Linken zum Krieg, zur russischen Invasionspolitik, dem NATO-Engagement, der humanitären Krise sowie den Themen Flucht und Sanktionen abzubilden. Das Spektrum reicht dabei von oppositionellen KPRF-Mitgliedern, Sozialdemokratie und Linkssozialismus, über kleinere stalinistische und trotzkistische Parteien, Anarchist*innen, Gewerkschaftsaktivist*innen und Feministinnen bis hin zu Hochschuldozent*innen und Autor*innen der Diaspora. Das Buch enthält Originaldokumente und Interviews, die durch einführende und analysierende Texte des Herausgebers gerahmt werden, die den gesamtgesellschaftlichen Kontext herstellen und die Situation der linken Kräfte in Putins Russland insgesamt fokussieren.
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Seitenzahl: 347
Veröffentlichungsjahr: 2023
Ewgeniy Alexandrowitsch Kasakow, geboren 1982 in Moskau, studierte die Kulturgeschichte Osteuropas, Philosophie und Geschichte an der Universität Bremen, wo er 2017 promovierte. Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Deutschen Auswandererhaus Bremerhaven. Er veröffentliche bisher u.a. in: konkret, Grundrisse, Phase 2, Prokla, Neues Deutschland, Jungle World, analyse & kritik, Osteuropa, Zeitschrift für Politische Theorie, Blätter für deutsche und internationale Politik, Neprikosnovennij Zapas.
Ewgeniy Kasakow (Hg.)
Spezialoperation und Frieden?
Die russische Linke gegen den Krieg
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar
Ewgeniy Kasakow (Hg.):
Spezialoperation und Frieden
1. Auflage, Dezember 2022
eBook UNRAST Verlag, Januar 2023
ISBN 978-3-95405-135-9
© UNRAST Verlag, Münster
www.unrast-verlag.de | [email protected]
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sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner
Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter
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Umschlag: Felix Hetscher, Münster
Satz: Andreas Hollender, Köln
Vorwort (Ewgeniy Kasakow)
Ein Versuch, richtige Antworten auf falsche Fragen zu finden (Ewgeniy Kasakow)
Wie links ist Putin?
Wie rechts ist Ukraine?
Wie kriegsbereit ist die Linke?
Sozialdemokratie, Linkssozialismus und Gewerkschaften
Sozialdemokratie, Linkssozialismus und Gewerkschaften im postsowjetischen Russland (Ewgeniy Kasakow)
»Die Hauptursachen für den Beginn der Kriegshandlungen sind innenpolitischer Natur«. Interview mit Boris Kagarlitzki (Ewgeniy Kasakow)
Resolution des runden Tisches der linken Kräfte
Erklärung der Konföderation der Arbeit Russlands
Kriegsgegner*innen in der KPRF
Falken, Tauben, Doppeladler: zur Problematik der kriegskritischen Positionen in der KPRF (Ewgeniy Kasakow)
Ich habe mich in den Prognosen geirrt (Oleg Smolin)
Erklärung des Fraktionschefs der KPRF im Staatlichen Rat (Regionalparlament) der Republik Komi, Wiktor Worobjew, 1. März 2022
Erklärung von Mitgliedern der KPRF-Fraktion in der Gesetzgebenden Versammlung (Regionalparlament der Region Primorje), vorgelesen am 27. Mai 2022 von Leonid Wasjukewitsch.
Erklärung der KPRF-Abgeordneten Galina Beljaewa im Rat der Volksdeputierten von Prilikskaja-Munizipalrajon [Bezirk] in der Region Woronesch, 22. März 2022
Linksstalinismus
Das Phänomen des ›Linksstalinismus‹ (Ewgeniy Kasakow)
Warum ich aus der Linken Front austrete. (Alexei Sachnin)
Wir sind gegen den Krieg. Und wir werden nicht zurückweichen. (Alexander Batow)
Nieder mit dem Krieg! (Union der Marxisten)
Russland als Stütze der alten Welt (Dmitri Jakuschew)
Trotzkismus
Trotzkistische Organisationen im postsowjetischen Russland (Ewgeniy Kasakow)
» Es braucht neue Formen und Menschen ohne bekannte Namen«. Interview mit Ilja Budrajtskis (Ewgeniy Kasakow)
»Die Repression hat eine neue Stufe erreicht«. Interview mit Anna von der linken Organisation Sozialistitscheskaja Alternatiwa über die Antikriegsproteste in Russland (Simon Konstantinow)
Wie kann die Ukraine siegen? (Sozialistische Alternative)
Nein zum Krieg mit der Ukraine! Gegen die russische Militärintervention! (Die marxistische Tendenz in Russland)
Freilassung für den Genossen Artjom! (Revolutionäre Arbeiterpartei (RRP))
Anarchismus/Anarchosyndikalismus/Autonome
Anarchismus im gegenwärtigen Russland (Ewgeniy Kasakow)
»Wir sind für die Umwandlung des Krieges in einen Klassenkrieg«. Interview mit zwei Mitgliedern der Konföderation der revolutionären Anarchosyndikalisten (Ewgeniy Kasakow)
Über den Krieg mit der Ukraine (Wladimir Platonenko)
Fortlaufende Sabotage und Widerstand gegen den Krieg in Russland und der Ukraine. Interview mit BOAK/Anarchist Communist Combat Organization (The Final Straw Radio Show)
KEIN KRIEG! Erklärung der IAA-Sektion in der Region Russland
Assoziation der Bewegungen der Anarchisten (ADA): Stoppen wir die russländische Aggression, wehrt euch gegen Krieg und Faschismus!
Statement von Food not Bombs Moskau
Feminismus
Exportprodukt im traditionsreichen Kontext – Eine unvollständige Skizze zur Geschichte des linken Flügels des russländischen Feminismus seit 1991 (Ewgeniy Kasakow)
»Wir haben jahrzehntelang eine Zivilgesellschaft aufgebaut«. Interview mit Alla Mitrofanowa (Ewgeniy Kasakow)
»Ich würde gerne die Aufmerksamkeit... auf die Vielfalt der aktuellen Geschehnisse lenken.« Interview mit Marija Wjatschina (Ewgeniy Kasakow)
Absoluter Pazifismus – ein Privileg derer, die in Sicherheit sind. (Feministische Antikriegsaktion (FAS))
Stimmen der Linken aus der Diaspora
Ein stabiler Frieden ist nicht in Sicht (Varwara Korotilova)
›Spezialoperation‹ und Frieden (Ewgeniy Kasakow)
Dekolonisazija? Russlands koloniale Kontinuitäten (Anastasia Tikhomirova)
»Es liegt also durchaus ein objektiver Widerspruch der Interessen vor«. Interview mit Alexander Amethystow (Ewgeniy Kasakow)
Anmerkungen
Als Sergei Udalzow, der Koordinator der russlandweiten Organisation Linke Front (LF) sich am 24. Februar 2022 in seinem Live-Stream zu Wort meldete, war seine Position eindeutig: Ja, er und seine Organisation befürworte zwar die Anerkennung der ›Volksrepubliken‹ Donezk und Lugansk, die selbstverständlich auch verteidigt gehören, doch die Kriegshandlungen auf das Gebiet der gesamten Ukraine auszuweiten, sei nicht im Interesse der russischen und ukrainischen Werktätigen. Weder das »Maidan-Regime« noch Präsident Wladimir Putin sollten Unterstützung erhalten.[1] Nur vier Tage später und im selben Videoblog schlug Udalzow ganz andere Töne an. Im Dialog mit Boris Litwinow, dem ehemaligen Anführer der Kommunistischen Partei der Volksrepublik Donezk,[2] der 2014 als Vorsitzender des ›Obersten Sowjets‹ der international nicht anerkannten Republik fungierte, plädierte Udalzow für eine »konsequente Bekämpfung« des »ukrainischen Faschismus«. Faktisch schloss er sich damit der offiziellen Kreml-Rhetorik an, die ukrainische Bevölkerung warte auf die »Befreiung«, die ukrainische Regierung sei faschistisch und setze die Politik der Kollaborateure aus den Zeiten des Zweiten Weltkrieges fort und die Invasion Russlands sei rein präventiver Natur.[3]
Sergei Udalzow ist eines der bekanntesten Gesichter der linken Opposition Russlands. Sein politischer Werdegang ist gezeichnet von Repressionen und konfrontativen Auseinandersetzungen mit der Staatsgewalt. Dass er in einer Situation, bei dem jeder Staat maximal anfällig für die Illoyalitätsbekundungen seiner Bürger*innen ist – nämlich in einem Kriegsfall –, seine fundamentaloppositionelle Haltung schnell und kommentarlos aufgab, ist erklärungsbedürftig. Es regt zum einen dazu an, der Frage nachzugehen, wie weit die Gegnerschaft derjenigen Kräfte in Russland, die sich heute in der ein oder anderen Weise als ›links‹ bezeichnen, zur dortigen politischen Ordnung, welche seit nun über zwanzig Jahren entscheidend von Wladimir Putin geprägt wird, wirklich geht. Zum anderen muss diese Haltung auch als symptomatisch angesehen werden, denn auch viele jener Linken in Russland, die Udalzow nicht in das Lager der Unterstützer der ›Spezialoperation‹ folgten, sahen sich vor ein Dilemma gestellt. Keine*r von ihnen möchte die NATO, ein Militärbündnis, das aktuell die ukrainische Kriegsführung technisch ermöglicht, unterstützen, aber Putins politisches System lässt ihnen keinen Raum für reales Wirken mehr.
Selbst die Zustimmung zum Krieg ist öffentlich nur noch unter Bedingung der Übernahme der offiziellen Terminologie (›Spezialoperation‹, ›Naziregime‹, ›Genozid im Donbass‹ usw.) möglich. Angesichts der andauernden Kampfhandlungen, der Verschärfung der Repressionen gegen alle Formen der Kriegsgegnerschaft sowie der Mobilisierungsmaßnahmen käme es einer völligen Einstellung der oppositionellen Tätigkeit gleich. Die Hoffnung mancher ›linker Patrioten‹, dass die scheinbar gegen den Wunsch der führenden Oligarchen begonnene ›Spezialoperation‹ zu einer ›linken Wende‹ in der Politik des Kremls führen wird, ist bisher ebenfalls unerfüllt.[4]
Die Unterstützung der ukrainischen Seite würde jedoch einer Stärkung der ohnehin mächtigen kapitalistischen Staaten gleichkommen, deren Politik die Linken seit jeher kritisieren. Sie erscheint jedoch ohne politischen, militärische und ökonomische Unterstützung seitens der NATO-Staaten nicht möglich.
Die Positionierung gegen beide kriegsführende Seiten ohne Rücksicht auf die Frage, wer diesen Konflikt angefangen hat, verspricht in der unmittelbaren Perspektive zunächst massive Einschränkung der Wirkungsmöglichkeiten, gesellschaftliche Isolation und wiederum Repressionen. Zudem wird man mit dem Vorwurf konfrontiert, mit dieser Position eben doch einer der beiden Seiten zu nützen. Die Position ›gegen alle‹ wird umso kritischer wahrgenommen, umso erfolgreicher eine der Konfliktparteien ist. Sobald eine der Seiten Erfolge zu verzeichnen hat, wird der gleichermaßen distanzierte Kurs als eine verkappte Form der Parteinahme für den Stärkeren wahrgenommen. Zumindest in den ersten Monaten des Krieges stieß so eine Positionierung seitens der Linken in Russland auf kein Verständnis bei den meisten Linken in der Ukraine. Das Versprechen des linken Internationalismus schien uneinlösbar. In der aktuellen Lage bereitet den linken Kräften also jedwede Entscheidung für eine der drei Optionen massive Probleme. Vor diesem Hintergrund verwundert es wenig, dass der Krieg, dem immer wieder das Potenzial zugeschrieben wird, zu einem neuen Weltkrieg zu eskalieren, die radikalen wie die gemäßigten Linken nicht konsolidierte, sondern zunächst einmal zu weiteren Spaltungen beitrug.
Den Gegenstand des vorliegenden Bandes bilden lediglich diejenigen linken Kräfte, die sich gegen die Invasion positionierten. Er klammert sowohl die – vielfältigen – Befürworter*innen von Putins Entscheidung aus dem linken Lager als auch die liberalen, nationalistischen und politisch nicht festgelegten oder organisierten Kritiker*innen dieser Entscheidung aus, subsumiert jedoch, wie es der aktuelle Sprachgebrauch in Russland ist, sowohl die Befürworter*innen des ukrainischen Sieges als auch die Vertreter*innen der ›Gegen alle‹-Position unter dem Terminus ›Kriegsgegner*innen‹.
Alle Bücher, die zu den laufenden Ereignissen geschrieben werden, sind dazu verurteilt, schnell von diesen überholt zu werden. Der vorliegende Band wurde von diesem Schicksal noch vor dem Erscheinen ereilt. Als die Arbeit am Buch begann, waren die einen Monat andauernden Proteste, die am 24. Februar begannen, bereits Geschichte. Das Buch befand sich bereits in der fortgeschrittenen Phase des Lektorats, als die Verkündigung der Teilmobilisierung am 21. September eine neue Welle des öffentlichen Protestes provozierte. Die am 30. September erfolgte Unterzeichnung der Verträge zur Angliederung der Gebiete Cherson, Saporischschja und der ›Volksrepubliken‹ Lugansk und Donezk an Russland schaffte eine Situation, deren Verarbeitung durch die Protagonist*innenen der linken Bewegung keinen Eingang mehr ins Buch finden konnte.
Am ersten Tag des Krieges und der Proteste dagegen zählte die Menschenrechtsorganisation OVD-Info[5] landesweit 1.700 Festgenommene in 49 Städten, am 21. September, beim Beginn der Antimobilisierungsproteste – 1.369 in 43 Städten. Die erste Welle der öffentlichen Demonstrationen und Kundgebungen in den größeren Städten dauerte bis Anfang April an und flachte dann unter dem Druck der Repressionen ab. Die Herbst-Proteste gegen die Mobilisierung unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht. Bekannte Köpf des Protestes sowie Organisationen mit ihrer erkennbaren Symbolik prägen die Bilder der Proteste nicht mehr, viele Aktionen fanden in entlegenen Regionen statt. Da die Mobilisierung bisher fast ausschließlich Männer betraf, wuchs der Anteil der Frauen erheblich. Weltweit fanden die erfolgreichen Proteste der Frauen im nordkaukasischen Dagestan Beachtung. Dennoch bleiben die Proteste auf der Straße weiterhin die Sache einer zahlenmäßig kleinen Schicht von ›Aktivist*innen‹ und nur vereinzelt werden auf regionaler Ebene breitere Teile der Bevölkerung involviert.
Davon, dass der Kriegsbeginn, die militärischen Rückschläge, die Wirtschaftssanktionen und ihre Folgen sowie die Mobilisierung sofort eine Massenbewegung hervorgebracht hätten, die Putins Macht gefährdet, kann nicht die Rede sein. Die Opposition musste sich jedoch auf neue, erschwerte Bedingungen einstellen und dieser Prozess der Einstellung ist noch nicht abgeschlossen. Zudem hat Russland seit dem Kriegsbeginn die größte Auswanderungswelle seit dem Zerfall der Sowjetunion erlebt.[6] Allein nach der Verkündung der Teilmobilisierung von 300.000 Personen am 21. September, verließen ca. 200 000 Menschen Russland. Auch wenn keineswegs alle Auswanderer*innen aktive Oppositionelle waren, hat es zu einer gewissen Erosion des oppositionellen Spektrums beigetragen. Dafür wächst die politisierte Diaspora beständig.[7]
Diejenigen Beobachter*innen, die sich von den Ergebnissen der ersten Antikriegsaktionen enttäuscht zeigen, seien darauf hingewiesen, dass die Weltgeschichte keine Beispiele von Kriegen kennt, die aufgrund von Protesten der Bevölkerung der kriegsführenden Länder bereits im Keim erstickt wurden. Alle bekannten Beispiele von halbwegs erfolgreichen Antikriegsbewegungen entfalteten erst im Verlauf des bewaffneten Konflikts ihre Wirkung. In den letzten Jahren sind die Erwartungen an die sogenannten ›elektoralen Proteste‹ geradezu unrealistisch gewachsen, worauf Jan Matti Dollbaum zurecht hinweist. Bei der Analyse der Proteste sollte von solchem Wunschdenken Abstand genommen werden.[8]
Sich bei der Untersuchung der Antikriegsbewegung in Russland allein auf die Zahlen der Demonstrationsteilnehmer*innen zu konzentrieren, wäre ein schwerwiegender Fehler. Angesichts der Repressionen und der geringen Reichsweite lassen sich Demonstrationen – eine Protestform, bei der die Staatsbürger*innen dem Staat und der interessierten Weltöffentlichkeit ihr ›Nichteinverstandensein‹ zu Protokoll geben – nicht unbedingt als effektivste Form der Antikriegsarbeit betrachten. Gerade in den ersten Wochen waren die Proteste in ihren Messages der US-Kampagne ›Not in my name‹ gegen den Irak-Krieg recht ähnlich. Doch während in einer funktionierenden liberalen Demokratie friedliche Proteste der Bevölkerung von der Regierung ohne Folgen zur Kenntnis genommen werden können – erinnert sei an die dem ehemaligen Bundeskanzler Helmuth Kohl zugeschriebene Aussage »Die demonstrieren, wir regieren«[9] –, so stören sie in einer personalistischen Autokratie, wo auf das Bild der völligen Übereinstimmung zwischen dem Willen der Führung und jenem der Staatbürger*innen Wert gelegt wird, spürbar den angeblichen Konsens. Nicht unterschätzt werden sollten solche Tätigkeiten wie die Verbreitung von Informationen im Netz oder in Printform, die Unterstützung von Flüchtlingen, Kriegsdienstverweigerern oder Deserteuren, die juristische Beratung, die Untergrabung der Propaganda und die Sabotage der Mobilisierung und der Kriegsführung. Besondere Rolle spielte die Schaffung von neuen digitalen Medien, wie zum Beispiel der Online-Plattform Posle (»danach«)[10], oder Telegram-Kanälen wie Newojna (»Keinkrieg«). In den ersten Kriegswochen, als der Repressionsapparat noch nicht darauf kalibriert war, bereits die Verwendung des Wortes ›Krieg‹ statt des offiziellen Euphemismus‹ ›Spezialoperation/Spezielle militärische Operation‹ zu sanktionieren, gab es z.B. das Phänomen der offenen Briefen, die Angehörige verschiedener, überwiegend ›intellektueller‹ Berufe, Ärzt*innen, Jurist*innen, Journalist*innen, Wissenschaftler*innen verschiedener Disziplinen etc., verfassten und in denen die sofortige Beendigung der Kämpfe, der Truppenabzug und Verhandlungen gefordert wurden.[11] Allein ein einziger Brief von Lehrkräften, Mitarbeiter*innen und Student*innen der Hochschulen sammelte ca. 10.000 Unterschriften für diese Forderungen.
Nachdem offene Stellungnahmen und Proteste auf der Straße durch Repressionen extrem erschwert wurden, nahmen anonyme Formen der Antikriegstätigkeit massiv zu. Es kam u.a. auch zu militanten Aktionen wie Brandanschlägen auf die Militärkommissariate (Kreiswehrämter) – bis August waren es mindestens 20[12], Attacken auf Autos mit der ›Z‹-Symbolik sowie ab Juli auch zu Anschlägen auf Gleise, für die Initiative Stoppt die Waggons die Verantwortung übernahm.[13] Immer wieder tauchen schwer überprüfbare Meldungen von Gründungen bewaffneter Verbände der Oppositionellen aus Russland auf, die entweder auf der Seite der Ukraine kämpfen[14], wie die Legion ›Freiheit Russlands‹[15] oder das Russische Freiwilligenkorps (RDK)[16], oder im Hinterland Anschläge organisieren, wie die Nationale Republikanische Armee (NRA)[17].
Versuche, eine zentrale Koordinationsstruktur der Bewegung in Russland oder im Exil zu schaffen, sind über Gründungserklärungen nicht hinausgekommen. Das am 27. Februar gegründete Antikriegskomitee Russlands[18] umfasste vor allem bekannte Köpfe der rechtsliberalen Opposition wie den ehemaligen Oligarchen Michail Chodorkowski, den Ex-Schachweltmeister Garri Kasparow, den Wirtschaftswissenschaftler Sergei Gurjew, den nach London geflohenen Milliardär Evgeny Chichvarkin (Jewgeni Tschitschwarkin) sowie die Journalistin Julia Latynina[19] und appellierte vor allem an die ausländischen Regierungen, eine harte Position gegenüber Putin einzunehmen, und organisierte darüber hinaus die Unterstützung der Exilant*innen.
Das am 22. Mai in Vilnius als de facto Nachfolgeorganisation geschaffene Russländische Aktionskomitee[20] mit beinah derselben Führungsriege beansprucht zwar, die gesamte demokratische Antikriegsopposition im Exil zu repräsentieren, bleibt aber auf das liberale Spektrum beschränkt und umfasst keine kollektiven Akteure.
Die von den ebenfalls aus dem liberalen Lager stammenden Kulturschaffenden organisierte Initiative Echtes Russland[21] konzentriert sich vor allem auf die Hilfe für die ukrainischen Flüchtlinge.
Im Mai haben sich mit dem in Warschau gegründeten Forum der freien Völker Russlands Regionalist*innen, Vertreter*innen der nationalen Minderheiten und oppositionelle russische Nationalist*innen eine Diskussionsplattform geschaffen.[22] Die Forderungen nach der Unterstützung von separatistischen Bestrebungen sowie die Anwesenheit der ehemaligen polnischen Außenministerin und Mitglied der PiS-Partei Anna Fotyga sowie des ehemaligen kommissarischen Verteidigungsministers der Trump-Regierung Christopher C. Miller verlieh der Veranstaltung in den Augen anderer Oppositioneller von Anfang an obskure Züge.[23]
Wie sich erkennen lässt, hinken die linken Kräfte in der Antikriegsbewegung, was die überregionale Vernetzung betrifft, den liberalen und nationalistischen deutlich hinterher. Das ist weniger verwunderlich, wenn man bedenkt, dass für die liberale Opposition die Solidarität mit der ukrainischen Regierung und ihre westlichen Unterstützer eben kein Dilemma darstellt. In diesem Spektrum gibt es keinerlei Zweifel, wer in diesem Konflikt die ›Guten‹ sind. Selbst diejenigen Linken, die eindeutig für den Sieg der Ukraine eintreten, befinden sich, wie im Folgenden gezeigt wird, in schwerer Erklärungsnot. Die Putin gegenüber feindlich eingestellten Nationalist*innen waren wiederum besser auf das Zusammenwirken mit ihren ukrainischen Gesinnungsgenossen eingestellt und durch ihre Subkultur auf den Kriegsfall vorbereitet.[24] Schon 2014 kämpfte auf der ukrainischen Seite die sogenannte Russische Aufständische Armee.[25] Die Kontakte zwischen den linken Gruppen in Russland und der Ukraine haben hingegen seit dem Krieg 2014 an Intensität verloren. Die von den Linken reklamierte ›internationale Solidarität‹ befand sich in Bezug auf die Ukraine seit Längerem in einer tiefen Krise. Am besten überregional und international vernetzt zeigte sich seit Kriegsbeginn die feministische Bewegung, worüber in dem entsprechenden Kapitel dieses Bandes die Rede sein wird.
Dieser Band soll keine Reportage über gelaufene Aktionen und Repressionen sein. Der Anspruch ist vielmehr, die Debatten und Positionen der Linken in Russland für die deutschsprachige Leserschaft zu dokumentieren, einen Einblick in den Zustand des linken Flügels der Anti-Putin-Opposition zu gewähren und die Vorarbeit für die zukünftige vollwertige Erforschung zu leisten. Die Opposition in einem Staat, in dem es seit seiner Entstehung vor nun über 30 Jahren zwar Wahlen, jedoch keinen Machtwechsel auf Bundesebene in Folge von Wahlen gibt, erfreut sich reger Aufmerksamkeit der Politikwissenschaft. Zu einem stehenden Begriff wurde ›russische/russländische Opposition‹ jedoch erst nach dem Machtantritt von Wladimir Putin – denn in der von ihm aufgebauten ›souveränen Demokratie‹ sind diametral entgegengesetzte Programme vertretende, aber gleichermaßen von dem Kampf um reale Macht ausgeschlossene Kräfte auf punktuelle Zusammenarbeit im Kampf gegen Wahlmanipulationen, Zensur und Repressionen angewiesen.[26] Die Proteste 2011–2013, die dies deutlich machten und zudem parallel zu den ›Occupy‹-Demos und dem ›Arabischen Frühling‹ stattfanden, verschafften der Anti-Putin-Opposition verstärkte Aufmerksamkeit.[27] Der Aufstieg von Alexei Nawalny zum bekanntesten Oppositionellen sorgte ab 2017 für eine erneute Welle des Forschungsinteresses.[28] Auch die scheinbar nicht parteipolitisch geprägten Proteste wurden verstärkt auf ihr oppositionell-subversives Potenzial hin untersucht.[29]
Die Linke im postsowjetischen Russland war – von der im Parlament stets vertretenen Kommunistischen Partei der Russländischen Föderation (KPRF) um Gennadi Sjuganow abgesehen[30] – bisher selten Gegenstand von Untersuchungen.[31] Dies kann nicht allein auf die liberale Optik der Politikwissenschaft zurückgeführt werden. Die besagte KPRF war in einer ganzen Reihe von Fragen eher eine wert- und sozialkonservative Partei als eine linke im westlichen Sinne. Andere linke Kräfte spielten in der Politik nur am Rande eine Rolle.[32] Die Definition von dem, was ›links‹ und ›rechts‹ sei, unterscheidet sich je nach Zeitalter und Land sehr stark. Auch wenn der Eindruck entstehen könnte, dass es sich um eine inhaltsentleerte Abstraktion handelt, geht der Herausgeber davon aus, dass es tatsächlich etwas gibt, was einen naxalitischen Guerillero in Indien und eine Queer-Aktivist*in in Canada, eine sozialdemokratische Betriebsrätin im Ruhrpott und einen situationistischen Aktionskünstler in Sankt-Petersburg, den Parteifunktionären in Nordkorea und den Genossenschaftsbauer in Chiapas gemeinsam ist: nämlich die Vorstellung von der Machbarkeit der willentlichen und kollektiven Veränderung der menschlichen Gesellschaft im Interesse der Mehrheit ihrer Mitglieder. Das radiert jedoch nicht alle Differenzen, die Inkompatibilität der Methoden und Endziele, einfach aus. Bei der Auswahl der politischen Akteure, die für diesen Band infrage kommen, richtete sich der Herausgeber vor allem nach der Selbstverordnung und der Einordnung durch andere Teilnehmer der politischen Prozesse in Russland. Konkret heißt das: die KPRF sieht sich selbst als linke Partei und wird von den anderen politischen Kräften, wenn auch nicht ohne Vorbehalte, als ›links‹ bezeichnet und ist somit hier ebenso Gegenstand wie einige Kräfte, deren Verständnis davon, was ›links‹ sei, vollkommen von dem von Sjuganows Partei abweicht. Der Dialog darüber, was ›Linkssein‹ nach dem Ende des Realsozialismus bedeuten kann, wird von den Protagonist*innen der Bewegung in Russland und in der Bundesrepublik bereits seit Längerem geführt, sei es in Form von gemeinsamen Periodika[33] oder in Form von Buchprojekten[34]. In diesem Band kommen daher nicht nur die Stimmen aus Russland, sondern aus der postsowjetischen Diaspora in Deutschland zu Wort.
Der Band basiert auf von dem Herausgeber zwischen Frühling und Sommer 2022 durchgeführten Interviews, übersetzten Artikeln, Flugblättern und Posts in sozialen Netzwerken. Soweit nicht anders angegeben, wurden die Texte vom Herausgeber übersetzt. Einige Texte erschienen bereits auf Deutsch und wurden mit der Genehmigung der Redaktionen in diesen Band aufgenommen. Das Band ist in Kapitel gegliedert, die jeweils einer bestimmten politischen Richtung gewidmet sind. Jedem Kapitel ist ein einführender Text des Herausgebers über die jeweilige Richtung vorangestellt.
Nicht alle angeschriebenen Organisationen und Personen haben auf meine Anfrage geantwortet, in einigen Fällen wurden die Zusagen zurückgezogen beziehungsweise der Kontakt abgebrochen, was angesichts der Repressionen nur allzu verständlich ist. Dennoch gelang es, aus fast allen behandelten Spektren Interviewpartner*innen zu finden. Ganz bewusst wurde darauf verzichtet, Mandatsträger*innen aller Ebenen anzufragen, da ein Interview das Risiko des Mandatsverlustes der wenigen oppositionellen Abgeordneten massiv erhöht hätte. Durch die Fokussierung auf politische Organisationen konnten in diesem Sammelband zudem die Aktivitäten einiger wichtiger humanitärer NGOs und Initiativen nicht berücksichtigt werden. Gleiches gilt für die Aktivitäten im Kulturbereich, obwohl die Beiträge der Aktionskunstgruppe Pussy Riot, der Musikband Shortparis, des Zeichners und Musikers Nikolai Kopejkin, des Rappers Oxxxymiron (Miron Fjodorow) oder des Filmkritikers und Bloggers Jewgeni »BadComedian‹ Baschenow – nur um einige Akteur*innen zu nennen – zum Antikriegswiderstand nicht unterschätzt werden dürfen.
Die Zusammensetzung der Interviewpartner*innen wird unweigerlich bei der Leserschaft die Frage nach der Repräsentanz und nach Diversität hervorbringen.[35] Wie bereits erwähnt, lag es nicht allein in den Händen des Herausgebers, wessen Stimmen zu Wort kommen. Dennoch ist es nicht bloßer Zufall, dass die Liste der interviewten Personen zum Beispiel überwiegend Menschen mit akademischem Background aufweist oder in einem so multilingualen Land wie Russland die absolute Mehrheit der Interviewten Russisch als Muttersprache hat. Ich greife an diese Stelle dankbar die Idee der Herausgeberinnen des Buchprojekts It’s more than just rap – HipHop in der Jugendarbeit auf, die Zusammenarbeit mit den Autor*innen im Vorwort zum Thema zu machen.[36] Einige der Interviewten im vorliegenden Band sprachen im Namen von Organisationen, die anderen nur in ihrem eigenen. Diejenigen, die kein Problem damit hatten, namentlich erwähnt zu werden, waren meist bereits bekannte Autor*innen, deren Bekanntschaft sie gegebenenfalls besser schützt als Anonymität. Dagegen lässt ein anonymisiertes Interview kaum Hinweise auf Genderidentität oder ›Herkunft‹ zu. Dem Herausgeber ist aufgefallen, dass bei den ›aktivistischen‹ Perspektiven, also jenen Stimmen, die im Namen von Organisationen sprechen, männliche Stimmen häufiger vorkommen als bei den akademischen. Eine Erklärung dafür könnte sein, dass die feministischen Theorien im heutigen Russland in den Hochschulen eher toleriert werden als in der übrigen Öffentlichkeit (Medien, Politik). Auch wenn die Verweise auf ›subalterne‹ Perspektiven und Unterdrückungserfahrungen der Autor*innen und Sprechenden im heutigen westlichen Kontext als etwas Fortschrittliches begrüßt werden, würde es im Kontext zu Russland eher einen verstörenden Eindruck machen, bei der Vorstellung der interviewten Person auf zum Beispiel ihren jüdischen, ukrainischen, udmurtischen oder aserischen Background hinzuweisen. Darauf wird im Folgenden konsequent verzichtet.
Die Verwendung von ›gegenderter Sprache‹ ist in Russland ein recht neues Phänomen. In den in diesen Sammelband eingeflossenen Übersetzungen wird daher nur dann gegendert, wenn dies auch im Original der Fall war. In jenen Fällen, wo die Interviewpartner*innen es nicht konsequent umsetzten, wird diese Inkonsequenz auch in den Übersetzungen dokumentiert. Wie ersichtlich wird, verzichten die meisten Gruppen und Aktivist*innen darauf, und selbst diejenigen, die es nutzen, bringen es vor allem in Bezug auf für sie persönlich sympathischere Gruppen zum Einsatz (›meine Kolleg*innen‹, aber ›Putinanhänger‹)
Im Band wird bei den russischen Namen im Text die Duden-Transliteration verwendet, bei den Angaben in den Fußnoten die wissenschaftliche Transliteration. Die ukrainischen Orts- und Eigennamen sind im Text des Herausgebers gemäß der ukrainischen Schreibweise transliteriert, in Übersetzungen gemäß der russischen (›Luhansk‹ aber ›Volksrepublik Lugansk‹). Die Abkürzungen der Organisationen werden gemäß der russischen Schreibweise wiedergegeben.
Des Weiteren wird wie im Russischen bei der Übersetzung zwischen den Adjektiven ›russkij‹ (›russisch‹ – auf Sprache und Ethnie bezogen) und ›rossijskij‹ (›russländisch‹ – auf den Staat bezogen) unterschieden (›russische Sprache‹, aber ›Russländische Föderation‹).
Dieses Band wäre ohne die Unterstützung von sehr vielen Menschen nicht entstanden. Der Dank des Herausgebers gilt nicht nur, ungeachtet aller politischen Differenzen, den Interviewpartner*innen, sondern auch dem Unrast-Verlag, der nicht nur die Idee für das Projekt an ihn herantrug, sondern es auch geduldig und aufmerksam betreute. Großer Dank gilt auch Dr. Simone Blaschka, der Direktorin des Deutschen Auswandererhaus, die dem Buchprojekt ihres Mitarbeiters viel Verständnis und Unterstützung entgegenbrachte. Maria Klassen vom Historischen Archiv der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen danke ich für die Hilfe bei der Recherche und den Redaktionen der Monatszeitung analyse & kritik und der Zeitschrift Phase 2 sowie Simon Konstantinow für die Abdruckgenehmigungen bereits veröffentlichter Texte. Martin Fries, Marie Jäger, Ilka Schröder, Johannes Spohr danke ich für Anregungen, Kritik und Diskussionen, Frau Lenk und Dima für ein offenes Ohr, gute Sitzplätze und die Drinks.
Ewgeniy Kasakow
›Russland unter Putin steht eine linksnationalistische Wende‹ bevor, so lautete das Verdikt von Grigori Jawlinski, langjähriger Anführer und bis heute faktischer Kopf der sozialliberalen Jabloko-Partei, am 19. März 2022 im Gespräch mit den Journalisten Alexei Wenediktow und Arkadi Dymarski.[37]
Eine Besonderheit von Putins Russland ist, dass auf die Frage nach den Wurzeln und dem politischen Wesen seines Regimes ein liberaler Oppositioneller mit Sicherheit die Vergangenheit des Präsidenten beim KGB[38], seine Sowjetnostalgie und das Wirken der sowjetischen Propaganda nennt. Als Beweis dafür, dass der Präsident sich nicht mit dem freien Markt anfreunden kann, wird sein Fernsehinterview aus dem Jahr 2020 angeführt, in dem er die von den liberalen Kräften so geschätzte Klasse der Unternehmer abwertend als »Krämerseelen« (torgaschi) bezeichnete.[39]
Stellt man dieselbe Frage jemandem aus der linken Opposition, dann wird der durch inflationäre Verwendung abgenutzte Begriff ›neoliberal‹ fallen und in diesem Zusammenhang nicht nur die Amtsübergabe von Boris Jelzin an Putin genannt werden, sondern auch seine Nähe zu dem Sankt-Petersburger Bürgermeister Anatoli Sobtschak sowie zu einem der berüchtigtsten ›Schocktherapie‹-Reformern und Architekten der Privatisierung der 1990er-Jahre, Anatoli Tschubajs, hervorgehoben werden. Ein oppositioneller Stalinist wird auf die staatlichen Finanzierungen für das durch und durch antisowjetische Boris-Jelzin-Museum (Jelzin-Zenter) in Jekaterinburg hinweisen.
Ein sowjetnostalgischer linker Nationalist, der dem Präsidenten nicht wohlgesonnen ist, wird auf den Beitritt Russlands zur Welthandelsorganisation (WTO) 2012 und sein beharrliches Festhalten an den Handelbeziehungen zur westlichen Welt aufmerksam machen. Und nicht unerwähnt bleiben, wird dabei Putins demonstrative Verehrung für den Schriftsteller Alexander Solschenizyn, welcher der Sowjetunion stets alles ›Russische‹ absprach, sowie Putins immer wieder erfolgte Distanzierungen von Stalin.
Ein rechter Nationalist wird dem Präsidenten seine ständigen Betonungen des multiethnischen Charakters der Russländischen Föderation vorhalten, wie auch das sich Abfinden mit den Eigenwilligkeiten von ›nationalen Eliten‹ in den nordkaukasischen Republiken und das Zulassen der massenhaften Arbeitsmigration.
Selbstverständlich variieren die Vorstellungen davon, was als ›links‹ und was als ›rechts‹ gilt, in verschiedenen Staaten und Epochen. Was heute als Standardprogramm einer westeuropäischen konservativen Partei gilt – Nationalstaat, Parlamentarismus, Freihandel – wurde vor (und in vielen Ländern auch lange Zeit nach) 1848 fast überall in Europa als höchst subversiv, revolutionär und damit eben als ›links‹ angesehen. Als 1989 Putins politischer Ziehvater, Anatoli Sobtschak, sich auf dem Kongress der Volksdeputierten der Sowjetunion einen Namen als einer der wortgewaltigsten Führer der Opposition zum Machtmonopol der KPdSU machte, teilte sich das neu entstehende politische Spektrum der UdSSR in ›Demokraten‹ und ›Kommunisten‹. Erstere galten als ›links‹, weil sie für Veränderung, für mehr Pluralismus, weniger Zensur und für mehr – über die Dosierung herrschte in diesem Lager Uneinigkeit – Marktreformen waren. Ihre Gegner, die ›Kommunisten‹, galten als ›rechts‹ und ›konservativ‹, ihr Lager umfasste diejenigen, die für Reformen, aber in einem langsameren Tempo eintraten, diejenigen, die die ideologische Rehabilitierung Stalins anstrebten, und die mit diesen zunehmend verflochtenen Strömungen der russischen Nationalisten. Erst Mitte der 1990er wurde die ›Links-rechts-Einteilung‹ im öffentlichen Bewusstsein Russlands etwas an die weltweiten Kriterien angepasst. Von nun an galt die etatistische KPRF als ›links‹, die Kräfte, die für die Marktwirtschaft eintraten, als ›rechts‹.[40] Als 1999 die Partei Einigkeit, die später den Namen Einiges Russland tragen wird, zum ersten Mal zu Wahlen antrat, galt sie als eine Kraft der politischen Mitte, wobei rechts davon die liberalen Parteien Union der rechten Kräfte (SPS) von Boris Nemzow sowie Jabloko und links davon die KPRF verortet wurden. Putin und Einiges Russland wiederum meiden die Begriffe ›links‹ und ›rechts‹ in Bezug auf die eigene Politik und erhalten dadurch die Illusion, der Präsident würde über dem politischen Spektrum stehen.
Ein genauerer Blick auf die Reihen der offen oder faktisch für Putin und gegen alle Versuche, ihn durch Proteste zu stürzen, eintretenden Personen und Organisationen offenbart jedoch, dass sich dort diejenigen wiederfinden, die sich noch in der 1990ern unerbittlich feindlich gegenüberstanden. Im Pro-Kreml-Lager lassen sich Marktliberale, Sowjetnostalgiker, Monarchisten und Nationalisten ausmachen. Man kann nicht das unter Putin entstandene Herrschaftsmodell erklären, wenn man sich lediglich auf den Repressionsaspekt konzentriert und die massive Integrationskraft des Regimes unbeachtet lässt. Faktisch entstanden unter Putin zwei parallele politischen Spektren: Es gibt kremlloyale Linke, Liberale, Nationalisten und oppositionelle Linke, Liberale, Nationalisten. Die Argumentationen für Putin ähneln sich auffällig: ›Wenn Putin nicht da wäre, hätten längst prowestliche Liberale / totalitären Kommunisten / korrupte Oligarchen / extreme Nationalisten oder Fundamentalisten die Macht übernommen‹ und suggerieren, es handele sich dabei um eine Art taktisches Bündnis. Derselbe Faktor, der das System stabilisiert und jede Opposition spaltet, könnte sich in Abwesenheit Putins als eine Schwachstelle erweisen: das Pro-Putin-Lager ist durch keine ausgearbeitete Ideologie zusammengehalten, Einiges Russland hat kein Programm jenseits der Unterstützung von Putin.
Dies bedeutet jedoch nicht, dass Putins ›Mind Setting‹ irrelevant wäre oder sich der politischen Analyse entziehen würde. Die meisten westlichen Linken würden vor allem Adjektive wie ›autoritär‹ und ›homophobe‹ verwenden, um zu beweisen, dass Putin einfach nichts mit links zu tun haben kann. Aber schließlich werden auch Politiker wie zum Beispiel der ehemalige peruanische Präsident Ollanta Humala oder der ›Maximo Lider‹ der Kubanischen Revolution eindeutig in den linken Lagern ihrer jeweiligen Länder verortet. Das Phänomen der sogenannten ›Putinversteher‹ aus dem linken Lager lässt sich nur erklären, wenn man genau untersucht, wann und wie oft der russländische Präsident Sätze formuliert hat, denen viele Linke auch im Westen nur zustimmen können.
Einer der zentralen Punkte, den Putin mit den radikalen Linken in Russland und im Westen teilt, ist die tiefe Überzeugung, dass die westliche Politik verlogen und heuchlerisch sei. »Wer stellt die Regeln auf? Wer sagt, dass sie gelten?«, fragt sich der Autokrat scheinbar ganz antiautoritär. »Wir hören von allen Seiten: Der Westen verteidigt die regelbasierte Ordnung. Was für Regeln? Wer hat sie je gesehen? Wer hat sie festgelegt? Hören Sie: Das ist alles Geschwätz, reinster Betrug, doppelte, ja sogar dreifache Standards! Für Idioten gemacht.«[41] Jedes Mal, wenn sich westliche Regierungen als eine moralische Instanz aufspielen und quasi als Weltpolizei handeln, entfährt Putin ein Aufschrei der Empörung. Daraus liest er die kolonialistische Degradierung seines Landes und der russischen Kultur heraus. »Russland ist eine Großmacht mit tausendjähriger Tradition, eine eigene Zivilisation, und solchen untergeschobenen Lügenregeln wird es sich nicht beugen.«[42] Seine Praxis als Staatschef eines wirtschaftlich schwächeren Staates passt ganz gut zu der Theorie über den ›Weltimperialismus‹, die ihm im sowjetischen Bildungssystem beigebracht wurde. In seiner ›Annexions-Rede‹ vom 30. September wirft er dem Westen Kolonialismus und Sklavenhandel in der Vergangenheit vor. Gleich im nächsten Satz kritisiert er dann aber ›die westlichen Eliten‹ dafür, dass sie ihren Bürgern die Schuld für die Taten ihrer Vorfahren anlasten, was ein unverhohlener Wink an die Rechten ist, die am Kolonialismus eher wenig auszusetzen haben. Diesem Schema folgend ist die gesamte Rede aufgebaut. Auf den Appell an das antifaschistische Gedächtnis folgen Zitate des Faschismus-Bewunderers Iwan Iljin, auf die Empörung über den Kolonialismus folgt ein Lobgesang auf die Überlegenheit der russländischen Kultur und so weiter.[43] Derart ist die gesamte Propaganda in den loyalen Medien Russlands aufgebaut. In den USA sind Aussagen wie ›Amerika ist keine echte Demokratie, da rassistische Polizeigewalt an der Tagesordnung ist‹ und › die Demokratie in Amerika ist dem Untergang geweiht, weil halbwilde Kriminelle die gleichen Rechte wie loyale fleißige Bürger für sich beanspruchen‹ Ausdruck zweier sich ausschließender politischer Haltungen. Im russländischen Fernsehen hingegen werden solche Positionen in ein und demselben Absatz vom Kommentator verwendet. Wie ich im Folgenden zeigen möchte, sind das keine Zufälle, keine Ungeschicktheiten, keine Versprecher. Es ist eine Propagandamethode, die Menschen mit verschiedenen politischen Ausgangspunkten zu denselben Konsequenzen lotsen soll.
Vermutlich ist es die selektive Wahrnehmung eines Teils der westlichen Linken, der nur jene Aussagen Putins hört, der in das eigene Bild passt und der zu einer positiven Rezeption seines Tuns führt. Etwas anders sieht es mit der Kritik solcher Kräfte wie der KPRF und anderer ›Linkspatrioten‹ in Russland aus. Es wäre falsch, ihre Anlehnung an Putin einfach als ›Opportunismus‹ zu deuten, Nicht sie übernehmen Putins Wortwahl, sondern er ihre. Die KPRF und viele weitere »volkspatriotische Kräfte« haben seit den 1990er-Jahren die Rhetorik des antikolonialen Kampfes für sich entdeckt, erwarten ständig die Besatzung und Aufteilung Russlands, sehen im liberalen Lager vor allem potenzielle Kollaborateure mit den kommenden westlichen Eroberern – und dieses Weltbild wird mit jedem neuen ›Friedenseinsatz‹, jeder ›humanitären Intervention‹ bestätigt. Wenn Putin darüber klagt, der Westen würde mit ihm nicht über Russlands Interessen verhandeln wollen, macht sich in diesem Lager eine ›Das haben wir doch immer gesagt‹-Stimmung breit. So gesehen, können diese Kräfte Putin als ihren Verbündeten wider Willen sehen. Dass unter seiner Herrschaft ihre politischen Wirkungsmöglichkeiten weitgehend neutralisiert wurden, müssen sie dabei aber ausblenden.
Die untergegangene KPdSU, die KPRF, Putin und nicht wenige Linke eint die Vorstellung, bei der parlamentarischen Demokratie handele es sich vor allem um einen raffinierten Betrug und eine Manipulation der Eliten. ›Die Eliten‹ ist ein sehr präsentes Wort in Putins Reden und es ist kein Zufall, dass sein äußerst hierarchisches System sich damit legitimiert, dass überall sonst auf der Welt nur Manipulation durch heimliche Strippenzieher stattfinde. Wenn hinter jeder Demokratie ohnehin nur Tyrannei stecke, dann sei der Autoritarismus nur ehrlich – so die scheinbare Logik.
Werfen wir nochmal einen Blick auf Putins politischen Werdegang – oder besser zuerst einmal auf den seines Schutzpatrons Anatoli Sobtschak. Der Leningrader Jurist war nicht nur einer der besten Redner auf dem Kongress der Volksdeputierten der Sowjetunion im Jahr 1989.[44] Er war häufig auch der Erste, der damals noch umstrittene Thesen aussprach. Der in den ersten und einzigen verhältnismäßig freien landesweiten Wahlen der UdSSR gewählte Kongress sollte als Legislative agieren, doch verkam er schnell zu einer Kundgebung, bei der die Deputierten ihre politischen Positionen vor den Fernsehkameras vortrugen. Sobtschak war einer der Ersten im demokratischen Lager, der sich von der Ineffektivität der Sowjets und der Notwendigkeit eines Berufsparlaments überzeugt zeigte. Als Michail Gorbatschow, als Vorsitzender des Obersten Sowjets faktisch nur zur Sitzungsleitung berechtigt und damit machtlos, sich zum Präsidenten der UdSSR wählen lassen wollte, warb Sobtschak bei den Demokraten für Unterstützung. Viele befürchteten, Gorbatschow, der nicht mehr durch den Parteiapparat regieren konnte und wollte, plane eine neue Diktatur, doch Sobtschak vertrat energisch die These, die Reformen bräuchten einen starkes, mit genügend Vollmachten ausgestattetes Staatsoberhaupt.[45]
Entgegen der späteren Mythologie waren die ›Demokraten‹ der Perestrojka-Zeit keineswegs ›vaterlandslose Gesellen‹ oder allesamt Anhänger des Zerfalls der Sowjetunion. Der Übergang von der realsozialistischen Plan- zur kapitalistischen Marktwirtschaft war für einige dieser ›Demokraten‹ nicht mit der Auflösung der Sowjetunion in einzelne Nationalstaaten gleichzusetzen. Sobtschak äußerte sich noch im Januar 1992 dahingehend, dass die Krim zu Russland gehören sollte, und sah durch eine unabhängige Ukraine schlechtere Chancen für Marktreformen gegeben. Damit war er nicht allein: Der Regierungschef Jegor Gajdar bedauerte den Verlust der Krim als notwendiges Übel, ein anderer bekannter Vertreter des Marktreformlagers, Jewgeni Saburow, wirkte in der antiukrainisch orientierten Regierung der Autonomen Krim mit – musste allerdings dafür die ukrainische Staatsbürgerschaft annehmen.
Unter den russländischen Liberalen hatten sich noch vor Ende der Sowjetunion Stimmen erhoben, die über die Chancen einer ›autoritären Modernisierung‹ spekulierten.[46] In den Kreisen der ›Schocktherapie‹-Befürworter genoss die Zusammenarbeit des chilenischen Diktators Augusto Pinochet mit den monetaristischen Experten der ›Chicago-School‹ hohes Ansehen.[47]
Sowohl vor als auch nach dem Zerfall der Sowjetunion plädierten einige namhafte Liberale für einen ›liberalen Imperialismus‹. So meinte Alexei Uljukajew, der 2013–2016 als Minister für wirtschaftliche Entwicklung in der Regierung von Dmitri Medwedjew fungierte, Russland wäre dazu verurteilt, ein Imperium zu sein.[48] Ein Jahrzehnt später äußerte Anatoli Tschubajs, ein weiterer Förderer von Putins Karriere, Russland habe eine ›liberal-imperiale‹ Mission zu erfüllen, wozu unter anderem der Schutz der russischen Minderheiten in den Nachbarländern falle, wenn auch unter Beachtung der anerkannten Grenzen.[49] Beunruhigt antwortete ihm ein ukrainischer Autor daraufhin, Liberalismus und imperiale Ambitionen würden sich nicht vertragen – doch dieser Einwand war durch keinerlei historisches Wissen gedeckt.[50]
Die reale Rolle Russlands in der Weltpolitik entsprach offensichtlich nicht den Erwartungen, die viele jener Personen hegten, die enthusiastisch das sowjetische System demontierten. Russland blieb weit vom Status einer wirtschaftlichen Weltmacht entfernt. Diejenigen ehemaligen Sowjetrepubliken, die schnell Eingang in die westlichen Bündnisse fanden, wollten zum Nachfolgerstaat der UdSSR Distanz wahren. Auf Russland angewiesen blieben Staaten, bei denen die westlichen Beobachter stets Defizite in Sachen Demokratie, Rechtstaatlichkeit und Marktreformen feststellten. Die russische Führung wiederum sah, dass auf die Diagnose ›keine Demokratie‹ bei den wenigen verbliebenen Verbündeten ein ›regime change‹ folgen konnte. Wann schlugen die Frustration über die neue, bescheidenere Position in der Weltgemeinschaft, die Realitäten des postsowjetischen Kapitalismus, der ›Pragmatismus‹ im Umgang mit den Gesetzen, der immer mehr den Tatbestand einer systemischen Korruption erfüllte, die Erkenntnis, dass die Verhandlungen mit den stärkeren Partnern die Abhängigkeit von diesen nur weiter steigerten, in eine Stimmung um, bei der die Kontrahenten der Perestrojka- und Reformzeit auf sich einmal näherkamen? Wann bekam die Sowjetnostalgie, losgelöst von irgendwelchen Sozialismusvorstellungen, wieder einen Platz in der Ideologie der russländischen Führung? Und warum sah und sieht die diese Führung das nationale Interesse nicht mehr vorrangig darin, die Hausaufgaben der westlichen Lehrer zu erledigen, sondern darin, Mittel zu finden, sich gegen diese zu behaupten? Antworten auf diese Fragen würden den Rahmen dieses Bandes sprengen, an dieser Stelle belassen wir es dabei, darauf hinzuweisen, dass es nicht nur die undemokratische Vergangenheit des Ex-Geheimdienstlers Putin ist, mit der die politisch-ideologische Metamorphose Russlands erklärt werden kann.
Aktuell wird der Posten des Stellvertretenden Leiters der Präsidialverwaltung, einer der wichtigsten innenpolitischen Ämter in Russland, von Sergei Kirijenko bekleidet. Kirijenko führte früher Seite an Seite mit Boris Nemzow[51] die Partei Union der rechten Kräfte an, fungierte 1998 kurzzeitig Regierungschef und ist heute vor allem mit dem Aufbau der Verwaltung der ›neuen Gebiete‹ in den von Russland kontrollierten Teilen des Donbass sowie den Gebieten Saporischschja und Cherson betraut. Vor Kurzem deckte die oppositionelle Website Meduza die seit Langem bestehenden engen Kontakte zwischen Kirijenko und den Anhängern des Philosophen Georgi Schedrowitzki (1929–1994) auf.[52] Zur Sowjetzeit galt der 1968 aus der KPdSU ausgeschlossene Schedrowitzki zwar nicht als offener Dissident, jedoch als origineller heterodoxer Denker, dessen Lehre sowohl bei den Funktionären als auch bei den Regimekritikern auf Interesse stieß. Aus seinem Moskauer Methodologischen Kreis entstand eine Art Sekte, die ›methodologische Spiele‹ zur Effektivitätssteigerung der ›Denkprozesse‹ mit den Führungskräften aus der Wirtschaft durchführte und die mit Beginn der Perestrojka auf immer mehr Interesse stieß. Ihre Kritiker werfen den ›Methodologisten‹ vor, ausgehend von Schedrowitzkis Idee von der Notwendigkeit einer ›Methode des Denkens‹ und völlig losgelöst von jedem Inhalt und jedem konkreten Wissen eine Vorstellung von der kompletten Manipulierbarkeit des Menschen zu entwickeln.[53] Die bis heute aktiven Schüler Schedrowitzkis[54]waren in das staatliche PR-Management- und die ›Polittechnologie‹-Aktivitäten der 1990er- und 2000er-Jahre involviert. Unter anderem entstammte der Begriff ›Russische Welt‹ (Russkij mir), den Putins Propaganda seit 2014 intensiv nutzt, ihrem Brainstorming. Allerdings war damit ursprünglich nicht die territoriale Expansion gemeint, sondern die Nutzbarmachung der russischen Diaspora für die Verbreitung russländischer Exportprodukte.[55] Zu dem Kreis von Schedrowitzki-Adepten gehörte auch der Politologe Timofej Sergejzew, der erst für solche ukrainische Politiker, wie Leonid Kutschma, Wiktor Janukowitsch und sogar den prowestlichen Arseni Jatzenjuk als ›Polittechnologe‹ arbeitete und später wegen seiner Forderung nach der ›Deukrainisierung‹ der Ukraine nach dem Sieg Russlands berüchtigt wurde.[56]
Dass Schedrowitzki selber keineswegs ein schlichter Erfinder von Werbetechnologien, sondern ein zutiefst antidemokratischer Denker war, der den revolutionären Terror nach 1917 als eindringliche Warnung vor der Beteiligung der manipulierbaren Massen an der Politik ansah, lässt sich aus dem neuesten Interview seines Sohnes und Bewahrer seines theoretischen Erbes, Pjotr Schedrowitzki, entnehmen.[57] Die Vorstellung, dass jede soziale Bewegung lediglich ein Ergebnis von Manipulation ist, war in der Ideologie von Putins Russland von Anfang an omnipräsent. Zuerst wurde sie von dem ehemaligen Dissidenten, dem autodidaktischen Politikwissenschaftler, Wahlkampfberater Jelzins und ›Polittechnologen‹ Gleb Pawlowski verbreitet. Pawlowskis Stiftung für effektive Politik galt als ›Think-Tank‹ der ›gelenkten Demokratie‹. Später hat einer der Amtsvorgänger Kirijenkos in der Präsidialverwaltung, Wladislaw Surkow, die Gründung von loyalen Fake-Parteien mit verschiedenen Zielgruppen zu einem der wichtigsten Mittel der Abwehr der ›orangenen Gefahr‹ erkoren. Da alle ›regime changes‹ in der Folge der ›farbigen Revolutionen‹ im Kreml lediglich als Ergebnis von geheimdienstlichen Aktivitäten gedeutet wurden,[58] erschien nur eine massive Gegenmanipulation der ›verführbaren Massen‹ als probates Antidot gegen die Manipulation von außen, an deren Allmacht die Führung scheinbar zu glauben vermag.
Solche Vorstellungen erklären, warum die Propaganda des Kremls so betont eklektizistisch in Erscheinung tritt, sich gleichzeitig an sich ausschließende Positionen wendet und nur schwer in ›Links-rechts-Schema‹ einzuordnen ist.
Die Debatte ist in die Fernsehgeschichte des postsowjetischen Russlands eingegangen: Am 25. April 1993 stritten in der Sendung »Itogi« der damalige Vizepräsident Alexander Ruzkoi und der ehemalige Regierungschef Jegor Gajdar über die radikalen Marktreformen. Gajdar hielt die von seinem Kabinett verordnete Schocktherapie für alternativlos. Als abschreckendes Beispiel, was passiert, wenn man versucht, den Übergang zur Marktwirtschaft mit sozialen Maßnahmen zur verzögern, führte er die Ukraine an. Inflation und Perspektivlosigkeit sei der Preis für derartigen Populismus. Im Oktober 1993 wurden für drei Tage aus den Diskussionskontrahenten militärische Gegner – der ehemalige Jelzin-Vertraute Ruzkoi erkannte die Auflösung des Obersten Sowjets, der Legislative des Landes, durch den Präsidenten nicht an, und versuchte ihn in einem Bündnis mit Kommunisten und Nationalisten zu entmachten. Der stellvertretende Regierungschef Gajdar hingegen unterstützte die Auflösung des reformfeindlichen Sowjets und den verhängten Notstand und rief alle ›Anhänger der Demokratie‹ zur Unterstützung des Präsidenten auf. Seine politische Karriere war nach Jelzins Sieg abrupt beendet.
Heute, rund dreißig Jahre später, scheint die Ukraine so konsolidiert in ihrem Willen zu sein, die Marktreformen durchzuführen und sich um die ökonomische, politische und militärische Integration in die westlichen Bündnisse zu bemühen, wie noch nie. Diese Bereitschaft wird durch die demonstrative Entsorgung der sowjetischen Vergangenheit in Form der ›Dekommunisierung‹ unter Beweis gestellt. Das Phänomen der Sowjetnostalgie gilt seit 2014 als staatsgefährdend.
Noch 2014 spielten auch die Hoffnungen darauf, dass in den »Volksrepubliken« Rätestrukturen entstehen und Oligarchen enteignet werden, eine Rolle bei den Positionierungen vieler russischer, aber auch belorussischer und ukrainischer Linker.[59] Die im linken Lager verbreiteten Sympathien für Anti-Maidan-Kräfte und die »Volksrepubliken« trieben linke und liberale Oppositionelle nach einer Phase der Annäherung 2012–2013 wieder weiter auseinander.[60] Doch die Präsenz der rechtsradikalen Kräfte, ausbleibende Änderungen der Eigentumsverhältnisse und die immer deutlich werdende Kontrolle Moskaus versetzten den Hoffnungen auf den Donbass als Laboratorium für Alternativen einen Dämpfer.[61]