Spiel der Mächte: Schicksalsfäden - Zara Kent - E-Book

Spiel der Mächte: Schicksalsfäden E-Book

Zara Kent

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Beschreibung

Voller Stärke ist Mia bereit, als Seraphin zurückzukehren. Zurück zu Vince, der zusehends mit der Finsternis in sich kämpft. Indes sind Caspian und Jeanne noch immer verschwunden, die Angriffe der Schattenwesen und Dämonen nehmen zu und selbst die Engel greifen nun erstmals seit langer Zeit in die Konflikte ein. Eine explosive Mischung aus Aggression, Verlust, Zuneigung und Magie fordert einen endgültigen Kampf. Das Finale des Spiels der Mächte mischt die Karten neu. Denn die Würfel sind gezinkt und nicht jeder spielt nach den Regeln.

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HYBRID VERLAG

Vollständige elektronische Ausgabe

11/2021

 

Spiel der Mächte - Schicksalsfäden

 

© by Zara Kent

© by Hybrid Verlag, Westring 1, 66424 Homburg

Umschlaggestaltung: © Magical Cover Design, Giuseppa Lo Coco

Lektorat: Paul Lung

Korrektorat: Petra Schütze

Buchsatz: Paul Lung

Autorenfoto: privat

Coverbild ›Woodtalker‹ © 2019 by Creativ Work Design, Homburg

Coverbild ›Halbwesen‹ © 2018 by Creativ Work Design, Homburg

Coverbild ›Zwei Welten‹

© 2019 by Creativ Work Design, Homburg

Modellfoto © Fotograf Exxpression Homburg

Coverbild ›Myzel‹ © 2018 by Creativ Work Design, Homburg

Coverbild ›Spiel der Mächte - Erwachen‹

© 2019 Magical Cover Design, Giuseppa Lo Coco

 

ISBN 978-3-96741-138-6

 

www.hybridverlag.de

www.hybridverlagshop.de

 

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

 

Printed in Germany

 

Zara Kent

 

 

Spiel der Mächte

 

Schicksalsfäden

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Fantasy

 

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

The End of this Time

Epilog

Liste der Personen

 

 

 

 

 

 

Für Steffen.

In loving memory

 

 

 

 

 

Kapitel 1

 

~Mia~

 

Seit ich als Seraphin zur Gänze erwacht bin und meine Erinnerung an alles zurück habe, was die letzten Jahre geschehen ist, sowohl meine alten als auch die, die ich die letzten Monate erlebt habe, sind alle vollständig. Seit diesem Tag im Allerheiligsten der Engel gehen sie mir alle aus dem Weg. Blicke verfolgen mich, kaum dass ich mich aus meinem Pavillon heraus bewege. Sie verwehren mir jeglichen Zutritt zu den Gebäuden, doch sie wissen, dass sie mich nicht davon abhalten können, wenn ich es wirklich will. Aber ich will ihnen zeigen, dass ich keine Bedrohung für sie bin, dass ich nicht ihr Feind bin. Deswegen verhalte ich mich passiv und versuche, nicht mehr Aufsehen zu erregen, als ich es ohnehin schon tue.

Michael versucht, zwischen den Engeln und mir zu vermitteln, was sich als äußert schwierig darstellt. In ihren Augen hat er sehr viel an Achtung und Respekt verloren. Nur noch seine Stellung als Erzengel schützt ihn vor offenen Anfeindungen oder gar Strafe, weil er mir nicht meine Erinnerungen genommen hat, sondern sich sogar mit mir verbündet. Sie werten es als Verrat an seiner eigenen Rasse. Ich sehe, wie er leidet, und dies ist der einzige Grund, warum ich noch hier bin. Er hat so viel für mich geopfert, dass ich ihn nun nicht im Stich lassen kann. Auch wenn ich jetzt die Wahrheit um Vince wieder kenne — ich muss noch hier bleiben. Zumindest eine Weile.

Heute findet eine Anhörung im Allerheiligsten statt, in dem entschieden werden soll, was Michaels Handeln für Konsequenzen haben wird und wie mit mir verfahren werden soll. Doch auch wenn es mich unmittelbar betrifft, wurde mir der Zutritt versagt. Wenn ich ihnen bisher meinen guten Willen gezeigt habe, so ist mir dies heute egal. Ich werde Michael zur Seite stehen und mich selbst verteidigen, wenn ich dies tun muss.

Zwei Engel stehen vor dem Eingang, wollen schon ihre langen Lanzen vor mir verschränken, als sie mich erkennen und sich gegenseitig Blicke zuwerfen. Sie sind sich unsicher, was sie tun sollen. Denn sicher lautet ihr Befehl, niemanden hineinzulassen, erst recht nicht mich. Doch das Menschliche, was sie so ständig zu verbergen suchen, steht ihnen ins Gesicht geschrieben: Angst.

Mit aufrechter Haltung laufe ich die Stufen nach oben und verringere nicht das Tempo meines Schrittes, während ich auf sie zugehe. Wieder sehen sie sich unsicher an, bleiben aber regungslos stehen und lassen mich passieren.

Ungehindert stoße ich die Türen auf. Das Geräusch verebbt in der leeren Halle und das hereinfallende Sonnenlicht lässt den Boden vor mir aufglühen. Nur wenige Engel halten sich hier auf, sie warten, was wohl hinter den Türen geschehen mag, was für Entscheidungen gefällt werden. Auch sie starren mich an mit einer Mischung aus Unglauben und Angst. Auch sie regen sich nicht, während ich mit festen Schritten die Halle durchquere und auf die anderen Türen zugehe.

Die Säulen in der Halle sind verschwunden, nur Stümpfe ragen hüfthoch nach oben. Risse ziehen sich ausgehend von der Hallenmitte über den Boden bis hin zu den Wänden und diese hinauf. Die zerbrochenen Fenster sind bereits durch neue ersetzt, aber alle Auswirkungen meines Erwachens konnten sie noch nicht beseitigen. Selbst die Tür, vor der ich stehe, ist merklich mitgenommen. Dafür, dass ich das alles angerichtet habe, fühle ich mich nicht wirklich anders. Vielleicht, weil ich nun vollständig bin und dies sich so normal anfühlt wie das Atmen. Es gehört zu mir, als sei es nie anders gewesen. Ob ich mich machtvoller fühle? Nicht unbedingt. Natürlich spüre ich ständig die Wellen in mir, die Stränge, die jede meiner Gaben miteinander verbindet. Wie eine Kette, die nun durch jedes Glied vervollständigt ist und ein Ganzes bildet. Eine Harmonie von Eigenschaften und Gaben, die ich so selbstverständlich nutze wie meine Gliedmaßen.

So weiß ich auch, dass die Türen sich für niemanden öffnen würden, der nicht erwünscht ist. Aber ich ergreife die großen Eisenringe, die golden glänzen, und ziehe mit einem Ruck daran. Wieder hallt dieses Geräusch einer sich öffnenden, schweren Tür durch den Raum und lässt die murmelnden Gespräche hinter mir verstummen.

Auch in dem Raum, der sich vor mir ausbreitet, herrscht Schweigen. Fast könnte man es mit einem Kinosaal vergleichen, aber auch nur fast. Denn er ist kreisrund und nur eine Treppe führt mittig hinunter. Wo in einem Kinosaal die Leinwand wäre, residiert der Kronrat auf einer Empore wie die Hauptattraktion. Vermutlich ist jeder Film spannender als die Gesichter, in die ich blicke. In der Mitte des Raums steht Michael, neben ihm die schweigsamen Engel, die ich bei meinem Erwachen aus Versehen gegen die Tür geschleudert hatte; dieses Mal tragen sie Schwerter an ihren Hüften. Sicher gehören sie zu diesem Rat, der mich direkt im Blick hat. Wenn ich schätzen müsste, die Anzahl der Reihen, die nach hinten gehen, müssen es mehr als 10 sein. Vielleicht knapp 14?

Die anderen Ränge sind mit normalen Engeln gefüllt, mal höher, mal niedriger Gestellte. Sie tragen schwarze Kleidung, wohingegen die in der Empore, der Kronrat, goldene Gewänder tragen, mit Kapuzen, tief ins Gesicht gezogen.

Michael ist der Erste, der sich wieder fängt. Er will zu mir hocheilen, doch er wird von der erhobenen Hand des Engels neben ihm zum Halten bewegt. Etwas zerknirscht, dass man ihm eine Anweisung gibt, fügt er sich, blickt aber weiterhin zu mir herauf.

Ich stehe am Absatz der Treppe und sehe unverhohlen in die Gesichter, ohne Scham oder sonst ein Schuldgefühl. Als ich einen Fuß auf die Stufe unter mir setzen will, erklingt eine Stimme.

»Seraphin.«

Ich sehe auf. Der Engel, der in der Mitte der Empore steht, schlägt seine Kapuze zurück und ich bin überrascht, dass er so gewöhnlich aussieht mit seinem braunen Haar und den goldschimmernden Augen.

»Wie ich sehe, zeugt Euer Kommen nicht von Respekt unseren Gesetzen gegenüber.«

»Ich respektiere Gesetze sehr wohl, wenn sie vernünftig sind. Doch da es hier auch um mich und meinen Gefährten geht, habe ich das Recht, anwesend zu sein. Oder seid Ihr da anderer Meinung?«

»Ihr gehört nicht in den Kreis der Engel. Und was Eure Stellung zu dem Erzengel betrifft, muss darüber erst noch entschieden werden«, gibt er mit einer ruhigen, klaren Stimme zurück.

Mein Blick trifft Michaels und auch aus der Entfernung kann ich seinen Schmerz sehen. Unsere Verbindung ist so schwach wie nie, womit die Frage des Gefährten wirklich im Raum steht.

Dennoch trete ich auf die Stufe hinunter und beginne den Abstieg. Wie las ich einmal: Der Abstieg ist ein leichtes? Oh nein, dem ist ganz und gar nicht so. Es gibt nur eine Sache in meinem Leben, die mir schwerer gefallen ist als dies, nämlich Vince zu verlassen.

Aber wieder gehe ich diesen Weg, weil es sein muss. Meine Gedanken und Gefühle sind klarer, als sie es je waren. Es wirkt, als wären sie früher wie ein trüber Teich gewesen und nun blicke ich in sauberes, klares Wasser.

»Was meine Verbindung zu Michael betrifft, die Ihr ansprecht, so ist sie noch immer vorhanden. Also hat sich daran nichts geändert, ich bin seine Gefährtin.«

»So ist dies nicht ganz richtig«, meldet sich eine Stimme, die mir nur allzu vertraut ist.

Ich wende meinen Blick auf die Person neben dem ersten Sprecher. Ceres zieht die Kapuze vom Kopf und ihre Augen funkeln, als hasse sie mich abgrundtief. Was ich ihr getan habe, weiß ich nicht. Aber in mir regt sich ein Verdacht, der mir bisher nicht gekommen war. Sie lehnte mich von Anfang an ab, war entrüstet und entsetzt wie die anderen, als sie von Michaels Handeln erfahren hat. Aber nun sehe ich deutlich etwas anderes. Ich lege meinen Kopf zur Seite, sehe tiefer als es die Engel tun und erkenne das Feuer in ihr. Es lodert schon sehr lange und wie ich weiß, lodert es bei Engeln nur für ein Wesen, wenn sie sich entschieden haben.

Engel sind menschlicher als sie wollen. Deswegen unterziehen sie sich alle selbst immer wieder diesen Lösungstrainings, weil sie die Emotionen nie gänzlich auslöschen können. Sie keimen immer wieder auf, weil kein Wesen ohne Gefühle ist, seien es dunkle oder lichte. Sie sind in uns allen vorhanden. Doch die Engel fürchten sie wie nichts anderes.

»Eure Verbindung mag bestehen, dies ist korrekt«, sagt sie, als ich unten ankomme; sofort weichen die beiden anderen Engel zur Seite aus, halten sich fortan am Rand des runden Platzes auf. »Doch ist sie nicht vollendet worden.«

Davon höre ich zum ersten Mal, und ich sehe in Michaels Blick, dass sie Recht hat. Er wirkt seltsam peinlich berührt. Und als sie weiterspricht, weiß ich auch warum.

»Ihr habt sie nicht vollzogen, nach all der Zeit nicht. Und daher steht die Frage, inwieweit diese Gefährtenverbindung echt ist, im Raum.«

Nun ist es auch mir peinlich, so etwas Intimes vor so vielen anzusprechen. Fast bereue ich es, hierhergekommen zu sein. Wer konnte auch ahnen, dass selbst in einer Welt der Engel so etwas eine Rolle spielt. Sicher würden sie nie das Wort Sex in den Mund nehmen, aber darauf läuft es doch letztendlich hinaus: ob wir nun miteinander geschlafen haben oder nicht. Dabei war mir wirklich nie bewusst, dass dies wichtig sei oder dass gar Michael so etwas wollte. Er war mir nie so nahe gekommen, dass irgendetwas in solch eine Richtung gedeutet hätte.

Als sich unsere Blicke treffen, versuche ich die zarten Bande unserer Verbindung aufleben zu lassen, um ihn zu fühlen, mit ihm zu reden. Aber es ist kaum spürbar; sein Blick sagt mir dafür umso mehr. Seine leicht rosigen Wangen lassen ihn auf einmal unglaublich jung wirken, fast so, wie ich mich früher in Vince’ Nähe gefühlt habe. Wie ein frisch verliebter Teenager, der zum ersten Mal seine große Liebe ansieht und an mehr denkt, als nur Händchen halten.

Ein Schmunzeln umspielt meine Lippen. Wenn Michael so auf dieses Thema reagiert, werden die anderen Engel es vielleicht ebenso und den Punkt schneller fallen lassen als gewollt.

»Wenn die Frage lautet, ob wir Sex hatten, dann finde ich diese Frage mehr als intim und bin nicht bereit, dies vor aller Ohren zu erläutern.«

Ceres ruckt etwas zurück, ihre Wangen färben sich wirklich rosig und sie wirft Michael einen nervösen Blick zu. Der sieht aber nur mich an, überrascht, aber auch mit ein klein wenig Belustigung in den Augen.

Der erste Sprecher beugt sich allerdings vor und mustert mich, versucht mich zu durchforsten, das spüre ich. Dieses Eindringen, ich habe es so oft wahrgenommen, nur nie so brutal. Es brennt auf meiner Seele, will sich wie ein spitzer, glühender Dolch Einlass erzwingen und sich hineinbohren. Doch er hat keine Chance gegen mich. Er prallt an mir ab wie ein Vogel an der Fensterscheibe. Ich kenne nun meine Kräfte. Das ängstliche Mädchen, das sicher nie hier herein gegangen wäre, um sich Engeln zu stellen, ist verschwunden, endgültig. Ich bin die, die ich immer sein wollte und die immer in mir geschlummert hat.

Da der Sprecher nicht weiterkommt, seine Augen verstimmt blitzen, erhebt er wieder das Wort. »Diese Frage muss geklärt werden, ob du sie uns erläutern willst oder nicht.«

»Raziel, ist dies wirklich nötig?« Michael wendet sich diesem nun in Gänze zu. »Sie hat recht damit, dass diese Frage weder vor dem gesamten Kronrat noch vor der Versammlung der Engel erläutert werden muss. Oder wollt ihr Emotionen wecken, für die sie wieder ins Training müssen?«

Raziel blickt sich um, in die Gesichter der Engel in den Rängen. Dann sieht er zu mir, zu Michael, und nickt. »Stellen wir diese Frage hinten an. Nun sollten wir über die wahren Gründe sprechen, die das Erschaffen eines Seraphin zur Folge hatte. Den obersten Verstoß, den es für Engel geben kann.«

Michael hat es mir bereits erzählt, doch die anderen wissen wohl immer noch nichts von Gabriel und welche Rolle dieser gespielt hat. Auch jetzt scheint sich Michael dabei unwohl zu fühlen. Ich denke, dass die beiden eng verbunden waren, sie lebten fast gleich lang und haben vielleicht sogar noch die höhere Macht gekannt, von der Michael mal gesprochen hatte.

»Was ich euch sagen werde …«, beginnt Michael, sieht zu Raziel hinauf, dann ringsum in jedes einzelne Gesicht und wieder zurück. »Was ich euch nun sage, ist die Wahrheit, und genauso hat es sich zugetragen.« Er scheint sich noch einmal zu sammeln, bevor er weiterspricht. »Wie einige von euch wissen, diejenigen, die die Zeit der höheren Macht noch erlebt haben, gab es schlimme und harte Zeiten für jedes Wesen, nachdem die höhere Macht die Ordnung und das Chaos erschaffen hatte und verschwand. Wir suchten, deuteten alle mögliche Zeichen, um sie wiederzufinden. Doch alles war vergeblich. Sie blieb fort und wir zurück. Um unser Überleben zu sichern und zu sehen, was mit uns geschehen würde, ohne sie, bereiste Gabriel die Zeiten und Dimensionen, reiste zwischen den Welten umher. Er sah viel Gutes und dann … sehr viel Grauenhaftes. Er sah ein Wesen, von unvorstellbarer Macht. Erst glaubte er, die höhere Macht würde zu uns zurückkehren. Doch er irrte sich, das war ihm klar, als er die Zerstörung sah, das Leid und den Tod. Nicht nur die Schattenwesen oder die Lichtwesen, nein, auch wir würden alle vernichtet durch ihn, weil es vor keiner Dimension und Zeit mehr halt machen würde auf der Suche nach Rache und Vergeltung. Getrieben von Hass und blinder Wut.«

Mir wird schlagartig bewusst, dass er von Vince redet und mir fällt es zwar äußerlich leicht, meine Fassung zu bewahren, aber innerlich erbebt meine neugewonnene Stärke. Sie bröckelt und ich spüre Furcht. So intensiv, dass es mir fast die Kehle zuschnürt und ich froh bin, jetzt nicht reden zu müssen.

So drastisch hatte es Evrani nicht ausgedrückt. Zwar war ich mir des Ausmaßes bewusst, aber so, wie es Michael ausspricht, klingt es vielfach schlimmer und grauenvoller. Vielleicht tut er dies auch nur, damit er die Angst in ihnen schürt, und sie seine nächsten Worte, seine Tat besser verstehen können.

»Gabriel sah nur einen Ausweg: ein Wesen zu schaffen, das diesem Stand halten kann. Ein mächtiges Gegenstück, das alle Welten und Zeiten retten könnte.«

»Du behauptest, es war Gabriels Entschluss, einen Seraphin zu erschaffen?« Das erste Mal glaube ich, Emotionen aus der Stimme Raziels zu hören.

»Dies tue ich.« Michaels Blick liegt ruhig und offen auf dem Vorsitzenden.

»Selbst wenn dies wahr wäre«, wirft Ceres ein, »ein Seraphin allein kann niemals so stark werden, um solch ein Wesen aufhalten zu können, das so mächtig ist, alles zu zerstören, so wie du behauptest.«

»Ein gewöhnlicher Seraphin sicherlich nicht. Aber sie« — er deutet mit einer ausschweifenden Geste auf mich — »ist weit mehr als das.«

Nicht nur die Engel und der Kronrat sind überrascht, auch ich kann meine Irritation nicht verbergen. Und dennoch sehe und fühle ich ihn so klar, wie ich es noch nicht getan habe. Er blickt mich an und lächelt, so offen wie ich es nicht von ihm kenne. Und ich bin mir sicher, dass ich ihn das erste Mal so klar und wahr vor mir sehe wie das Wasser in einer Quelle.

»Sie verfügt über die Portalmagie, die alle Welten überwinden kann. Sie ist eine Zeitmeisterin, zum Teil durch die Engelsmagie von Gabriel, zum Teil durch eigene Begabung ihrer Ahnen. Und was das Wichtigste ist, sie wurde nicht aus einem Engel erschaffen, nein, sie ist ein Menschenkind mit Gefühlen und Emotionen, die ihr unglaublich viel Wille und Kraft verleihen.«

Ein Kloß, einem Planeten gleich, setzt sich in meiner Kehle fest, während meine Augen beginnen zu brennen. Trotz der Tränen, die in mir hochkommen, lächle ich ihn an und kann mich dabei kaum mehr rühren.

Für einen Moment ist dies alles, was wir tun: uns ansehen. Dann aber wendet er sich wieder zu Raziel, der wie versteinert wirkt. Auch die anderen starren uns an, nein, eher mich.

»Gabriel legte seine Macht in sie, verband sie mit dem Rest seiner Magie mit mir, dass auch ich sie stärken und schützen kann, damit sie ihren Weg gehen kann. Und was meine Gefühle für sie betrifft«, kurz blickt er wieder zu mir, dann direkt in Ceres’ Gesicht, »so sind sie entstanden, weil ich sah, wer sie mal sein würde. Ich schäme mich dessen nicht, denn sie sind rein und ehrlich. Sie sind so rein und ehrlich, dass es mir egal ist, was ich für sie bin. Ich werde an ihrer Seite sein, egal ob sie meine Geliebte ist oder einfache Gefährtin, was die Menschen als Freunde bezeichnen. Und wenn sie mich als Bruder sieht, wäre mir das ebenso Recht und somit sollte es auch für euch rechtens sein. Denn ich bin es, der dafür andere Dinge aufgibt. Ihr wisst, dass wir uns nur einmal entscheiden, und das für die Ewigkeit. Niemand kann sich dem entgegensetzen. Und wenn zwei Erzengel, Gabriel und ich, dies so festgelegt haben, dann solltet ihr dies respektieren. Weder dürft ihr uns verstoßen noch Hand an sie legen.«

Schweigen, so erdrückend wie eine warme Decke im Hochsommer. Mir fällt das Atmen schwer, denn auch ich bin vollkommen berührt von seinen Worten. Am liebsten würde ich zu ihm treten, seine Hand nehmen und ihm danken. Mit seinen Worten hat er mich vor allen frei gegeben, ich bin nicht mehr gezwungen, mich von Vince fernzuhalten.

Genau diese Sehnsucht hat mich die letzten Tage am meisten gequält. Oft lag ich in meiner Hängematte und weinte mich in den Schlaf, den Impuls unterdrückend, zu reisen oder ein Portal zu schaffen, durch das ich endlich zu ihm gelangen könnte. Ich will ihn so sehr wiedersehen, ihn endlich wirklich berühren und ihm sagen, wie sehr ich ihn liebe. Wie leid es mir tut, dass ich gegangen bin. Dass er einfach alles für mich ist.

Auch jetzt verspüre ich wieder diese brennende Sehnsucht und würde am liebsten hinausrennen. Doch ich muss bleiben. Noch.

»Du verstehst sicher, dass wir angesichts der neuen Berichte und Geschehnissen beraten müssen«, sagt Raziel. »Dies sind …«

»Was müsst ihr noch beraten?« Der Ton in Michaels Stimme lässt nicht nur mich ihn anstarren. Er hat etwas Gebieterisches. »Als euer einziger Erzengel, Befugnis und Macht gegeben von der einzigen und wahren höheren Macht, habt ihr keine Zweifel an meinen Worten zu hegen. Dies ist zu akzeptieren. Oder ich muss eure Loyalität mir gegenüber anzweifeln.«

Einige ziehen hörbar die Luft ein, ein Raunen geht durch die Menge.

»Wenn es euch beruhigen würde, werde ich euch alle an meinen Erinnerungen teilhaben lassen. So, wie ich sie gesehen habe. Denn ich bin nicht nur euer Erzengel, sondern ich gehöre zu eurer Familie, in der nichts zwischen den Mitgliedern stehen sollte. Und sei es nur ein Funke des Zweifels.« Michael streckt plötzlich die Hand zu mir aus. »Dafür bräuchte ich deine Hilfe.«

Versucht, meine Unsicherheit zu verbergen, trete ich zu ihm und lege meine Hand in seine.

»Was wirst du ihnen zeigen?«, dringe ich in ihn ein.

»Alles.«

 

Als würden wir durch meine Vergangenheit wandern, laufen wir wie durch ein Buch meiner Kindheit. Auf der einen Seite werde ich gerade mal geboren, greife schon damals im Arm meiner Mutter nach etwas, das sie nicht sieht, ich und jeder andere Engel aber umso deutlicher. Die vielen bunten Lichter, die durch das Zimmer schweben. Auf einer anderen Seite des Buches spiele ich in einem Kinderzimmer mit den Lichtern, ziehe sie auseinander, presse sie zusammen, wie es mir gefällt, und kichere dabei. Wir blättern die Seite um und gehen durch eine Landschaft, die mich stark an das Ferienhaus meiner Eltern erinnert. Kinder spielen am See, doch ich sitze am Rand und starre ins Wasser, sehe dort nicht nur Fische, sondern sonderbare Wesen, die mir zuwinken. Heute weiß ich, dass es Nixen waren. Eine Seite weiter sitze ich im Klassensaal, starre zur Tafel, aber nicht, weil die Lehrerin dort etwas hingeschrieben hat. Nein, ich sehe, wie sich Lichter zusammenfügen und sich durch das kleine Portal eine faltige Hand zu meiner Lehrerin ausstreckt. Damals habe ich wie am Spieß geschrien und ihnen allen erzählt, was ich gesehen habe. Fortan hielten sie mich alle für verrückt und ab da legten meine Lehrer meinen Eltern ständig nahe, zu einem Arzt zu gehen. Die Seiten blättern immer schneller um, bis zu dem Tag, an dem ich die Blume aus dem Engelreich pflückte, was ein erstauntes Raunen in den Reihen der Engel auslöst.

Wieder blättern die Seiten vor und wir laufen neben meinen Eltern durch den Wald, Jalgrimm, das Blutbad. Ich versuche, es mit Abstand zu betrachten, doch die Gefühle überwältigen mich und ich spüre, wie mir Tränen die Wangen hinab laufen. Ich wünsche mir, wie schon so oft, ich könnte es verhindern.

Michael erscheint und verjagt Jalgrimm, bringt mich zum Himmelstor. Doch dieses Mal sehe ich noch mehr. Gabriel kommt durch das Tor hindurch, nimmt mich auf den Arm und verschließt mir die Augen und mein Bewusstsein. Je länger er mich hält und seine Hand über den Kopf, wirkt sein Gesicht grauer, seine Erscheinung älter.

Er blickt Michael an. »Sieh«, fordert er ihn auf. Und Michael legt ebenfalls die Hand auf meinen Kopf, seine Augen werden glasig, sein Ausdruck, als sei er weit entfernt. Doch dann lächelt er, wirkt noch immer verträumt, während Gabriel meine kleine Hand auf Michaels legt und unsere Hände mit seiner umschließt. Sie glüht auf und Michael starrt ihn mit normalen Augen an.

»Schütze sie. Sei alles und jeder. So wie es dir bestimmt ist.«

Er legt mich in Michaels Arme, tritt zurück und reckt die Hände zum Himmel. Ein Lichtstrahl bahnt sich durch die Dunkelheit, von ihm in den Himmel und direkt auf meinen Körper hinunter. Das Licht blendet ungemein und als ich wieder hinsehen kann, ist Gabriel fort, Michael mit meinem kleinen Ich im Arm steht alleine da. Mit Tränen in den Augen wendet er sich zum Tor und geht mit mir hindurch …

 

»Ich suchte mit ihr ein Kloster auf. Die Schwestern brachten sie auf meinen Wunsch hin in ein irdisches Heim«, erklärt Michael.

Kaum, dass er die letzten Worte gesprochen hat, sind wir bewusst wieder zurück. Die Bilder sind verschwunden und mir ist so elend wie nie. Tränen rinnen meine Wangen hinab, während ich fest Michaels Hand halte. Mein Atem geht kurz und abgehakt, ich ringe schwer gegen die Decke an, die sich auf mich presst, als wolle sie mich niederdrücken. Fast bin ich versucht, nachzugeben und auf den Boden zu sinken.

Minutenlang herrscht Schweigen, doch ich glaube, sie unterhalten sich. Eigentlich könnte ich eindringen und sie belauschen. Aber ich will es nicht. Mein Kopf ist gefüllt mit den Bildern und es fällt mir schon schwer genug, aufrecht zu stehen.

Eben hatte ich meine Stärke gespürt, nun fühle ich mich fast wieder wie ein Kind. Mit geschlossenen Augen atme ich tief ein und aus, versuche so wieder eine Gleichmäßigkeit hineinzubekommen. Dies gehört zu mir, diese Gefühle, sie machen mich zu dem, was ich bin, wer ich bin. Und dies war meine Geschichte und es war vielleicht richtig, mir in Erinnerung zu rufen, woher ich komme.

»Wir wissen nun, dass du die Wahrheit sagst«, erklingt Raziels Stimme.

Irgendetwas in seiner Stimme macht mich misstrauisch. Ich sehe nach oben. Sein Blick ist besorgt, schweift umher, bleibt dann an mir hängen, wandert dann weiter zu Michael.

»Wir werden ihr nichts tun, du hast unser Wort. Unsere Treue gilt dir ebenfalls.« Auch dieses Mal schwingt etwas in seiner Stimme mit, was ich nicht recht deuten kann. »Doch zeigt mir sein Handeln auch, was für eine Gefahr uns bevorsteht.«

Er spielt auf Vince an. Ich blicke in die Gesichter der anderen, diese sehen ebenfalls besorgt aus; Angst, die ich nicht geglaubt hatte, jemals wieder zu spüren, kriecht in mir empor.

»Wenn Gabriel so weit ging, solch einen mächtigen Seraphin zu erschaffen, müssen wir handeln.«

Ruckartig sehe ich zu Michael. Dieser blickt mich nicht an, aber seine Lippen sind nur noch ein Strich. Er senkt den Kopf und sieht zu Boden, er wirkt wie erstarrt. Hatte er das geahnt?

»Wir müssen die Gefahr beseitigen, bevor es überhaupt so weit kommt.«

»Er ist keine Gefahr«, rufe ich panisch aus; Raziel sieht mich an, er beugt sich vor und mustert mich eindringlich.

»Also wisst Ihr bereits, von wem die Gefahr ausgeht?«

»Ich …« Nun erstarre ich ebenfalls. Das hat Michael also getan, seine Emotionen zurückgehalten, um ihnen keinen Hinweis zu geben. Ich hingegen bin blind in ihre Falle getappt. So viel dazu, dass meine Gefühle mir helfen würden …

»Sprich!«

Entsetzt schüttle ich den Kopf. Eine Welle von Macht trifft mich und drückt mich nun doch nieder auf die Knie. Sofort will Michael mir beistehen, doch die Engel, die um uns herumstanden, kommen ihm nun bedrohlich nahe.

Michael funkelt sie an. »Wollt ihr euch wirklich gegen mich stellen? Euren Erzengel?«

»Das wollen wir nicht.« Die Traurigkeit ist deutlich aus Ceres’ Stimme herauszuhören, welche ich so noch nie bei ihr wahrgenommen habe.

Noch immer kämpfe ich gegen die Kraft an, die mich am Boden hält. Raziel ist wirklich mächtig, das hätte ich ihm nie zugetraut.

»Dann vertraut uns«, plädiert Michael an die Anwesenden. »Wir werden mit der Bedrohung fertig. Sie wird damit fertig.«

Für einen Moment glaube ich, dass sie auf ihn hören. Doch dann höre ich Raziel lachen. Er lacht! »So wie ich das sehe, muss die Seraphin noch viel lernen. Sie scheint keineswegs bereit zu sein, wenn ich sie niederdrücken kann. Wir werden uns um das Problem kümmern. Also nenn uns die Person, die so viel Unheil über alle bringen wird.«

Seine Worte verletzen mich nicht, nein, sie machen mich wütend. Dabei habe ich alles getan, um meine guten Absichten zu zeigen. Doch wenn sie Vince bedrohen, dann bedrohen sie auch mich. Mein Körper bebt und beginnt zu glühen, so wie meine Augen. Ich kann spüren, wie die Seraphin in mir mehr und mehr meinen Körper erfüllt, jede Zelle flutet.

»Wollt ihr das einer Prüfung unterziehen?« Mühelos richte ich mich nun unter seiner Macht auf, sodass er keuchend ein wenig zurückweicht.

Michael wirkt wenig überrascht, dafür aber die Engel in unserer Nähe. Sie versuchen, sich etwas zurückzuziehen, doch ihr Blick gleitet nach oben und ich sehe, wie Raziel sie fixiert; sie bleiben, wo sie sind, sich sichtlich unwohl fühlend.

»Ich glaube«, ertönt wieder Ceres’ Stimme, »ich weiß, wen sie zu schützen versucht.«

Wütend funkle ich sie an und zische: »Wage es nicht.«

Sie wirkt zwar ängstlich, lächelt mich dann aber an und mir ist klar, sie wird ihr Wissen nutzen.

»Ceres!« Michaels gebieterische Stimme hallt von den Wänden wider.

»Gefühle trügen, Michael.« In ihrem Blick liegt etwas Entschuldigendes und doch scheint sie nicht aufhören zu wollen. »Auch sie wird getäuscht. Dies ist unvermeidlich. Niemand kann seinem Schicksal entfliehen, und das weißt du.«

Michael blickt zu mir, schüttelt resigniert den Kopf. Ich weiß, was ich nun zu tun habe. Wir haben es besprochen. Und ich hoffe, dass es gelingen mag, er sie überzeugen kann. Er verschafft mir Zeit.

So schnell, dass sie nicht reagieren können, bin ich bei einem der Engel, ziehe das Schwert aus seiner Scheide und erhebe es, direkt auf seine Kehle. Kurz ritze ich meine Handfläche darauf, damit die Klinge etwas von meinem Blut abbekommt. Es ist nicht viel, aber für den Moment reicht es. Die Waffe glüht in meinen Händen auf.

Sofort geht ein Raunen durch den Saal, und der Stillstand wandelt sich in Bewegung. Einige Engel weichen zur Seite, manche stürzen hinaus, doch ich bleibe, wo ich bin. Sehe Raziel an, wie er mich nun keineswegs mehr gleichgültig anblickt.

»Wenn ihr ihn auch nur anrührt, dann habt ihr mich zum Feind. Und ihr wollt nicht wissen, was ich wirklich zu tun vermag. Gebt mir Zeit, die Dinge auf meine Weise zu regeln. Ansonsten …« Ich blicke zu dem Engel, der wie erstarrt vor der Klinge steht und diese ängstlich ansieht. Funkle ihn an, obwohl es mir schon leidtut, bevor ich es tue. Im letzten Moment entscheide ich mich um und ritze nur seine Haut auf, aber es genügt, dass er erbleicht zu Boden sinkt.

Im gleichen Moment höre ich in mich hinein, suche mir einen Zeitpunkt kurz vor diesem aus und lasse mich fortziehen. Sanft lande ich dort, wo ich hinwollte: im Runenhaus. Ich stürze zur Leiter, behalte aber das Schwert in der Hand, das noch immer in meiner Hand glüht, und erklimme sie nach oben. Vor Tagen bin ich schon hier gewesen und habe die Rollen, die ich brauche, zur Seite gelegt, sie stehen neben dem Regal. Ich ziehe sie aus dem Dunkel hervor und steige schnell die Sprossen wieder hinab. Die Pergamente und das Schwert kurz auf den Tisch ablegend, fange ich an, die Lichter zu rufen, sie zusammenzufügen zu dem Bild, das hinter meinen Lidern brennt. Dem einzigen Ort, an den ich nun gehen will.

Kapitel 2

 

~Vince~

 

Mein Herz hämmert noch immer in dem Versuch, dem Ganzen in mir Ausdruck zu verleihen. Vielleicht tut es aber auch nur seine Arbeit. Ich weiß es nicht. So, wie ich im Grunde gerade nichts mehr weiß.

Ich sitze auf den Stufen des Anwesens, die Beine angewinkelt, als könnten sie mir Stabilität geben. Tun sie nicht wirklich. Den Halt habe ich verloren. So hängen meine Hände erschlafft herab, abgestützt auf den Knien. Tropfen für Tropfen fällt und vergrößert die Blutlache zwischen meinen Beinen. Es tropft von Fingern, eigentlich von allem an mir. Starr ist mein Blick darauf gerichtet und sieht doch nicht zu.

Leere. Solch eine Leere habe ich nach einem Abfall der Dunkelheit noch nie gespürt. Oder stehe ich unter Schock?

Eine Hand legt sich behutsam auf meine Schulter, so als hätte die Person Angst. Angst vor mir oder dem, zu was ich fähig bin?

Ich hebe den Blick und erkenne Adrian. Was in seinen Augen steht, will ich nicht sehen, weil ich es nicht verdient habe. »Du musstest es tun. Es gibt Entscheidungen, die muss man treffen, so hart sie erscheinen mögen. Du bist Großmeister.«

Vermutlich sollte ich ihm danken …

Ich nicke nicht. Ich sage nichts. Alles, was ich tue, ist, mich zu erheben und auf das Portal zuzugehen, das Adrian hierhergebracht hat. Es wird mich hier wegbringen. Einfach nur weg.

 

Ich fühle die Schwere des Metalls des Dolches an meinem Bein. Er steckt wie immer im Stiefel und doch fühlt er sich das erste Mal wie ein Fremdkörper an. Es ist nicht so … dass ich es wirklich bereue. Wir haben getan, was getan werden musste. Die Gespräche mit den Vampyren hatten eine Grundlage, auf der wir aufbauen konnten. Cody war nicht ihr Feind und wird es nicht werden. Zumindest nicht so. So bleibt die Hoffnung, auch diese Wesen einmal wirklich zum Frieden zu bewegen.

Kaltes Kalkül.

Das stehende Portal schließt sich und das Rauschen verklingt, nimmt Adrian wieder mit sich. Ja, wen hätte ich sonst anrufen sollen, dass er dieses aktiviert und dorthin kommt? Verrückt, wenn man unsere Geschichte bedenkt. Als ich ihm damals fast das Gesicht zu Brei geschlagen hätte, ihn in Stücke gerissen, hätte wohl niemals jemand geglaubt, dass er der Einzige wäre, dem ich etwas sage.

Ich hätte ihm doch danken sollen … irgendwas sagen.

Nun laufe ich schweigend an den Mauern des Atriums vorbei, an Sträuchern, die sich im sanften Wind wiegen und dem ersten Licht des Tages entgegenstrecken. Wächter begegnen mir, werfen mir verstohlene Blicke zu, sprechen mich aber nicht an.

Mich erfüllt ein Déjà-vu, als ich um die Ecke komme und Eric auf der Treppe vor dem Eingang des Atriums sitzen sehe. Sein Gesicht gleicht einer Maske, angespannt, hart. Ich weiß nicht, wie viel er von meinen Gefühlen mitbekommen hat, ob er überhaupt etwas wahrgenommen hat.

Unsere Blicke kreuzen sich für einen Moment, ehe ich einfach an ihm vorbeigehe und die Stufen hochsteige. Die Tatsache, dass er sitzen bleibt, ist schon ein Zeichen dafür, dass er weiß, es stimmt etwas nicht und dass er sich nicht sicher ist, wie er mit mir umgehen soll. Doch wie viel weiß er?

»Willst du mir erzählen, was los war?«

Ich halte inne, dicht vor den Türen. Ohne zu ihm zu sehen, weiß ich, dass er mich mustert, das Blut, das an mir haftet. Außerdem kann ich fühlen, wie er vorsichtiger als sonst zu mir vorzudringen versucht. Seine Präsenz ist dennoch … störend. Sie war sonst warm oder hitzig. Jetzt fühlt es sich wie ein harter Fremdkörper an.

»Ich muss mich duschen … und brauch Schlaf.«

Ich höre, wie er aufsteht und wende mich nun doch zu ihm. Sein Blick ist eindringlich, suchend und noch etwas schwimmt darin mit. Ist das Schmerz? Enttäuschung darüber, dass ich ihm nichts sage?

Mit zusammengepressten Lippen nickt er. »Alles klar.« Damit wendet er sich abrupt um und steigt die zwei Stufen hinab, biegt zu den Unterkünften ab, in denen er kurz darauf verschwindet.

In mir macht sich ein Schmerz breit und so balle ich meine Hand in dem Versuch, das Gefühl durch diesen Druck niederringen zu können. Aber ich … ich kann nicht.

Kaltes Kalkül … dass ich nicht lache.

Es erfordert mehr als nur Selbstbeherrschung, ruhigen Schrittes ins Atrium zu verschwinden und in meinen Turm.

 

Wenn ich geglaubt habe, Eric würde lockerlassen, habe ich mich getäuscht. Er hat nur seine Taktik geändert. Ein wenig schürt es einen Groll in mir, weil er nun Flynn, Dela, Rachel, Isabell und Jackson mit ins Boot gezogen hat. Denn diese sind es, die im Atrium auf mich warten, fast wie eine Intervention. Eric bleibt zwar etwas im Hintergrund, steht an den Stufen zum Podium, aber dennoch spüre ich seinen Blick und seine abgeschwächten Empfindungen.

»Scheiße, wo warst du so lange?«, platzt es aus Flynn heraus; ich ignoriere ihn, laufe an ihm vorbei.

Doch schon die Nächste wartet auf mich. Rachel. Die Hände typisch für sie in die Hüften gestemmt, funkeln mich ihre Smaragdaugen an. Noch ehe sie ihre Lippen zu einer Schimpftirade öffnen kann, trete ich auch an ihr vorbei.

»Vincent Wanclear. Wag es nicht, deinen hübschen Hintern jetzt durch diese Türen zu bewegen, ohne uns Antworten zu geben!« Es ist nicht Rachel, aber eine ebenso weibliche und mindestens genauso wütende Stimme. Ihren Liebreiz kann Isabell schnell ablegen. Jetzt ist sie die Magierin und Freundin, die man zu fürchten weiß. Denn ich spüre ihre Magie. Auch wenn sie mir auf dem Rücken brennt, scheine ich kräftiger geworden zu sein. Im Gegensatz zu früher gehe ich einfach weiter, ziehe die Türen auf und lasse sie lautstark ins Schloss fallen. Für alle ist nun der Weg zu mir versperrt. Erst jetzt lasse ich Emotionen sowohl in mir zu als auch äußerlich erkennbar.

Ich kann jetzt keinen von ihnen gebrauchen. Ihre Freundschaft … ist so schmerzhaft, als würde ich aus offenen verbrannten Wunden bestehen und sie legen ihre Hände darauf. Sicher im Wunsch zu helfen, aber nichts davon ist Heilung. Ich muss alleine sein. Mit mir. Mit meinen Gedanken und … meiner Sehnsucht.

Meine Stirn liegt auf dem kühlen Glas des Fensters, das mir noch immer Alabama zeigt. Die Augen geschlossen, genieße ich die Stille und wünschte, sie wäre bei mir. Wann wird sie endlich zu mir zurückkehren?

Das wird sie nicht mehr. Du musst in ihre Welt eindringen und sie holen, egal wer sich dir in den Weg stellt, flüstert eine dunkle Stimme in mir.

Die Rune auf meiner Brust glüht auf, ich versuche, es zu ignorieren. Doch es wird immer stärker, brennt förmlich. Es macht mich wütend. Denn ich weiß, Eric will herein. In mich und in diesen Raum.

Die Erde erbebt und die Türen hinter mir erzittern. Das ist nicht Eric! Instinktiv wirble ich herum, bereit, gegen jeden Eindringling vorzugehen. Wenn dies ein Angriff ist, wieso habe ich ihn nicht bemerkt? Die Türen springen auf, doch was ich sehe, verschlägt mir den Atem.

Mia steht im Türrahmen, mit einem Schwert in der einen Hand, das glüht wie mein Dolch, in der anderen hält sie Rollen aus Pergament an sich gepresst. Ihre Kleidung ist, wie früher, schwarz und ihre weinrote Lederjacke. Ihr dunkles Haar ist offen und weht um sie herum, ein starker Kontrast zu ihren Augen, die wie flüssiges Silber wirken. Doch dann wird es schwächer und sie sind so braun wie ich sie kenne. Braune Perlen auf weißem Grund.

Auch wenn sie sicher genau wusste, dass ich hier sein würde, steht Verwunderung in ihrem Blick. Das Schwert gleitet ihr aus der Hand, fällt scheppernd zu Boden und das Leuchten erlischt sofort. Auch die Rollen fallen ihr hinunter.

»Vince …«

Es ist nicht Vincent, sie nennt mich, wie sie es immer tat. Und ich weiß, fühle es mit jeder Faser, dass sie wieder zurück ist. Dies ist meine Mia. Und mein Herz reagiert sofort. Eben noch stand es still, jetzt beginnt es zu hämmern.

Erst scheint es, als seien wir unfähig, uns zu bewegen, doch dann stürze ich auf sie zu. Auf halbem Weg kommt sie mir entgegen und schlingt die Arme unter meinen hindurch, um meine Hüfte und presst sich mit der gleichen Intensität an mich, wie ich mich an sie.

»Mia!«

Ich streiche über ihr seidenes braunes Haar, drücke sie am Hinterkopf fester an mich. Es ist zu fest und zu stark, doch sie hört ebenfalls nicht auf. Wir halten uns, als würde uns jeden Moment etwas trennen wollen. Ihr Licht umschließt mich, vertreibt die Düsternis, als hätte es niemals dunkle Momente gegeben. Die Dunkelheit schweigt.

Sie ist wieder zurück. Meine Mia ist hier, bei mir.

Ich umfasse ihr Gesicht, sehe in ihre Augen, als könne ich es nicht glauben. Dann tue ich das, wonach ich mich so gesehnt habe, presse meine Lippen auf ihre weichen warmen. Sie erwiderten den Kuss so intensiv, wie nur sie es kann. Ich schmecke ihre Süße, ihre Liebe mit jeder Berührung mehr. Alles in mir verschwindet hinter einer Wand, bis auf das Gefühl, dass ich sie liebe und nur sie will, jetzt und für alle Zeit.

Immer und immer wieder treffen sich unsere Lippen, als wollten sie sich gegenseitig verschlingen. Ja, ich will sie verschlingen, mit Haut und Haaren. Mich in ihr verlieren. Jetzt und auf der Stelle.

Jemand räuspert sich hinter uns, nur zögernd lösen wir uns. Ich sehe den gleichen Unwillen in ihren Augen, doch sie fasst sich schneller als ich, lächelt mich an, während ihre Hand meine Wange sanft berührt. Ihr Blick soll mir sicher sagen, dass wir dafür später noch Zeit haben. Aber ich habe Angst, keine zu haben, die Freude weicht langsam dieser Furcht. Dennoch sehe ich zur nun offen stehenden Tür.

Eric steht vor den Rollen und dem Schwert und grinst uns an. »Wirklich, ich störe euer Wiedersehen nur ungern, aber die Sachen sollten vielleicht nicht hier herumliegen.«

»Ja, natürlich.« Mia lässt mich gänzlich los, tritt zu ihm hin und hebt die Rollen auf, die sie nun auf meinem Tisch ablegt, als würden sie dort hingehören.

»Und das Schwert?«, fragt Eric etwas ehrfürchtig. Er steht daneben, macht aber keine Anstalten, es anzufassen.

»Du kannst es beruhigt aufheben. Es beißt dich nicht.«

Mias Lachen und wie sie sich an den Tisch lehnt … Ich sehe nur sie an. Sie jedoch beobachtet amüsiert, wie Eric ihren Worten Taten folgen lässt.

Vorsichtig, als hebe er eine giftige Schlange hoch, hebt er die Klinge auf und mustert sie. »Ist das eine …?«

»Ja und nein. Ich muss sie noch richtig weihen. Magst du es dann haben?«

Sein Kopf ruckt nach oben und er blickt sie ungläubig an. »Heißt das, du kannst sie zu einer Himmelswaffe machen und sie irgendwie auf mich übertragen?«

»Ja, natürlich. Das war eine der Aufgaben, die Seraphin übernommen haben. Außerdem habe ich vor, noch sehr viele davon zu machen.« Ihr Lächeln ist nicht warm, eher verbittert. Dann blickt sie mich an, gefasst, aber ich sehe, dass ihr etwas auf der Seele liegt. »Wir haben einiges zu bereden.«

Eric schließt die Türen und legt das Schwert auf den Tisch, während ich noch dabei bin, Mia anzustarren, jeden Zentimeter von ihr zu mustern. Sie wirkt verändert und doch vertraut.

»Also dann«, meint Eric leichthin, doch auch ihm ist die Anspannung anzumerken. Er lässt sich auf einen der Stühle nieder.

Ich wünschte, er würde uns allein lassen. Ich will das jetzt nicht, will nicht reden. Dennoch reiße ich mich zusammen, gehe hinter den Schreibtisch, damit etwas zwischen uns steht, sonst wüsste ich nicht, ob ich mich beherrschen könnte.

»Wie lange kannst du bleiben?«, fragt Eric an Mia gewandt; meine Kehle ist auf einmal wie zugeschnürt.

Sie wendet sich um und sieht mich an, während sie antwortet. »Solange ich will.«

Misstrauen regt sich in mir, was völlig widersinnig gegenüber den anderen Gefühlen ist. Aber es ist schwer, dagegen anzukämpfen. »Und wie lange soll das sein?«

Beide sehen mich irritiert an; ich wende mich zur Aussicht um. Jetzt auf einmal fällt mir ihr Anblick schwer. Vielleicht, weil ich Angst vor der Antwort habe?

Bin ich denn verrückt? Sie ist endlich hier und ich benehme mich so irrational.

»Ich habe die Engel verlassen. Und noch einige nützliche Dinge mitgenommen.«

Ich höre, wie sie die Rollen auf dem Tisch ausbreitet und Eric aufkeucht. »Das ist unglaublich. Vince, sieh dir das an.«

Mit einer Mischung aus Widerwillen und Verlangen danach drehe ich mich um, versuche, Mia keinen Blick zu schenken. Der Zwiespalt zwischen der Freude, sie wiederzuhaben und der Angst, dass sie wieder geht, zerreißt mich fast. Dabei habe ich mich so danach gesehnt.

Schlagartig werden meine Gedanken verdrängt, als mein Verstand begreift, was meine Augen auf den Rollen erkennen. Das sind Runen! Aber keine, die ich je gesehen hätte. »Unmöglich …«

»Diese Runen stammen von den Seraphin und sollten eigentlich zu den Wächtern gelangen. Doch die Engel hielten dies wohl für zu gefährlich«, erklärt Mia. »Sie würden Wächter sehr mächtig machen. Davor hatten sie Angst.«

»Heißt das, du kommst mit diesen Runen und dann noch der Fähigkeit, Himmelswaffen zu machen, um uns zu helfen? Aber wie ist das möglich?« Neugierig sehe ich sie an und bemerke, dass sie mich die ganze Zeit beobachtet hat.

»Kurz nachdem wir getrennt wurden, brachten sie mich in ihr Allerheiligstes. Dort wollten sie mir endgültig mein altes Ich austreiben, damit ich vollständig als Seraphin erwache.«

Zorn lodert in mir auf, sodass ich meine Kiefer aufeinanderpresse, um nicht aufzuschreien. Meine Hände zu Fäusten geballt, sehe ich auf die Runen und studiere sie, während sie weiterredet.

»Doch sie haben sich geirrt — wie bei so vielem. Michael stand mir zur Seite und half mir, dass ich nicht wieder alles vergaß.«

»Ausgerechnet er?«, fahre ich ungläubig auf.

Ihre Mimik und Stimme sind im Gegensatz dazu völlig ruhig. »Ja, Michael hat mir nicht wieder die Erinnerung genommen und mir geholfen. Er steht nun auf unserer Seite.«

»Wohl eher auf deiner.« Die Bitterkeit kann ich nicht aus meinen Worten heraushalten.

Eric scheint sich unbehaglich zu fühlen. Er weiß, er sollte uns erst einmal Zeit geben. Eben war dies mein Wunsch. Nun weiß ich nicht, ob ich das noch will.

»Auf meiner heißt auf unserer.«

»Bedeutet das nun, wir haben von den Engeln nichts zu befürchten?«, fragt Eric.

Betrübt sieht Mia auf die Rollen. »Das weiß ich noch nicht. Mein Abgang war … nicht sehr einvernehmlich.«

Für einen Moment sieht Eric besorgt ins Leere, dann zu mir. Sekunden, ehe sich seine Lippen zu einem Lächeln formen. »Nun gut, dann ist das eben so.« Fast klingt es sogar nach Lachen, etwas verhalten, aber es ist eines. »Wäre nicht das erste Mal, dass es kompliziert wird.« Erics Lächeln breitet sich über sein ganzes Gesicht aus.

»Michael wird tun, was er kann. Sie sind sicher nicht erfreut, dass ich die Rollen gestohlen habe. Aber sie werden sich nicht gegen Michael stellen, das kann ich mir nicht vorstellen.« Mia verschränkt die Arme vor der Brust. »Er ist ihr Erzengel. Es wird unglaublich viel Streitereien und Diskussionen geben, da bin ich mir sicher. Und falls sie doch hier erscheinen sollten, um —« Sie bricht ab und kaut auf ihrer Unterlippe.

Ich mustere sie. »Um was?«

Sie weicht meinem Blick aus, lässt sich auf der Kante des Tisches nieder und sieht zur Tür. Nun hält es mich nicht mehr. Ich gehe um den Schreibtisch herum und stelle mich in ihr Blickfeld. Sie will wieder wegsehen, doch ich ergreife ihr Kinn mit Daumen und Zeigefinger und drehe ihr Gesicht zu mir.

»Um was?«

Tränen glitzern in ihren Augen, sie entwindet mir ihr Gesicht und steht auf. Vor dem Fenster schlingt sie die Arme um sich selbst. Eric zuckt mit den Schultern, bedeutet mir dranzubleiben. Doch Mia dreht sich schon wieder um und sieht mich an. »Sie wollen dich töten.«

»Was?«, lache ich freudlos. »Nicht, dass sie das nicht sowieso schon öfter gerne getan hätten. Aber wieso sollten sie das jetzt tun? Wegen dir?«

Wieder weicht sie meinem Blick aus, malträtiert ihre Unterlippe und wirkt, als überlege sie genau, wie sie es sagen soll. »Das, wovon Evrani sprach, davon wissen sie nun auch.«

»Hast du etwa —«

Ruckartig sieht sie mich an. »Nein, natürlich nicht!«

»Und wenn sie es in deinen Erinnerungen gesehen haben?«, wirft Eric ein.

Sie schüttelt den Kopf. »All die Zeit habe ich diese Erinnerungen in mir verschlossen. Sie kamen nicht an sie heran.«

»Aber wie dann? Niemand außer uns dreien weiß davon«, werfe ich ein.

Mia wendet sich wieder ab und sieht auf unsere Plantage hinaus. Was ihr dabei durch den Kopf geht, kann ich nicht sagen. Vielleicht erinnert sie sich an die schönen Tage, die wir dort verbracht haben.

»Sie wissen davon«, ihre Stimme stockt, zittert, »weil Gabriel damals die Zukunft sah und Michael ihnen dies mitteilte.«

»Aber Evrani sagte, es gäbe mehrere Möglichkeiten der Zukunft. Und ich kann nicht erkennen, dass es danach aussieht. Also betrifft es unseren Zeitstrang überhaupt nicht. Du hast ebenfalls eine Zukunft gesehen.« Mit festem Schritt gehe ich zu ihr und drehe sie zu mir um, indem ich sie an den Schultern packe. »Dies wird unsere Zukunft sein. Dafür haben wir die ganze Zeit gekämpft.«

Ihre Lippen sind ein Strich, sie nickt, sieht mich aber nicht an.

»Aber wieso hat Michael ihnen das überhaupt gesagt?«, fragt Eric auf einmal. »Du sagtest, er sei auf deiner — unserer — Seite.«

»Es war die Rede von einer Bedrohung, die sie vernichten kann. Ich hatte meine Gefühle nicht unter Kontrolle … und meine Reaktion brachte sie auf deine Spur. Michael kann dafür nichts.« Nun fließen ihre Tränen und sie schluckt schwer. »Es tut mir leid … Ich habe versagt.«

»Nein, das hast du nicht.«

Meinen Widerspruch lässt sie nicht gelten, schiebt mich von sich, als ich sie umarmen will. »Doch, das habe ich. Nun habe ich die Macht, habe alles getan … und bin doch dafür verantwortlich …«

Ich verstehe überhaupt nichts. Sie wendet sich wieder ab und schluchzt, will sich nicht berühren lassen. Was ist mit ihr los? Verschweigt sie mir etwas?

»Für was solltest du verantwortlich sein? Weil sie nun denken, sie müssten mich als Bedrohung ausschalten? Was soll ihnen das bringen? Damit lösen sie doch nur die nächste Katastrophe aus!« Vorsichtig berühre ich ihre Schulter; sie zuckt merklich zurück, doch lässt sie sie zu. »Wir erklären ihnen eben alles, was diese Bedrohung auslösen wird. Denn mir geht es gut. Eine andere Bedrohung, als dass ich sterben könnte, gibt es nicht.« Wo nehme ich nur diese Vernunft gerade her? Die Achterbahn, die ich gerade durchlebe, ist kaum zu fassen. Alles in mir ist ein Chaos.

Dass ein Teil von mir in schallendes Gelächter ausbricht, ignoriere ich. Dieser Teil weiß, was für eine Bedrohung es wirklich gibt. Sie wächst an. Aber ich bin der Herr und werde es nicht zulassen. Jetzt, wo ich sie wiederhabe, habe ich doch keinen Grund, auszurasten. Die Kontrolle zu verlieren und mich der Dunkelheit hinzugeben. Es ist alles gut. Nun ist alles gut.

Mit Tränen an den Wimpern sieht sie mich an, ich streiche sanft ihre Wange entlang. »Solange du bei mir bist, kann überhaupt nichts passieren.« Ich umfasse mit beiden Händen ihr Gesicht und sehe eindringlich in Ihre Augen. »Hörst du? Nichts wird passieren. Du bist bei mir und das ist alles, was zählt. Alles, was ich brauche.«

Der Knoten der Angst ist zwar noch immer vorhanden, aber ihr Blick sagt mir alles, was ich wissen muss. Dann nickt sie sogar und ich weiß, sie wird mich nicht mehr verlassen.

Sie schlingt in einem Impuls die Arme um mich und zieht meine Lippen auf ihre. Ich ignoriere Erics Anwesenheit und erwidere ihren Kuss ebenso intensiv.

Die Türen gehen auf und schließen sich lautstark. Wir sind endlich allein. Gerade zur rechten Zeit, denn ich kann mich nicht mehr zurückhalten. Ich will mich nicht mehr zurückhalten, ebenso wie Mia.

Wir pressen uns aneinander und ich sie kurz darauf an die Scheibe, während meine Lippen an ihren saugen, sie auseinander zwingen. Dabei treffe ich auf keinen Widerstand, nur auf dasselbe Verlangen. Alsbald löse ich meine jedoch vonihrer Süße und wandere stattdessen über ihre Haut hinab zu ihrem Hals, nur um dort feste Küsse zu verteilen.

»Ich hätte nie gehen dürfen«, bringt sie mit erstickter Stimme hervor, vergräbt dabei ihre Hände in meinem Haar. »Du bist der Einzige, den ich will.«

Von ihren Worten noch mehr in den Rausch gezogen, küsse ich sie wieder, hebe sie an den Beinen hoch, die sie um mich schlingt, mich so enger an sich presst, Mitte an Mitte.

Unser beider Atem geht stoßweise, so drückt sich ihre Brust gegen meine, immer wieder in dem Bestreben, den fehlenden Sauerstoff zu bekommen. Kurz lasse ich sie runter, zerre ihr die Jacke von den Schultern. Eigentlich will ich bei ihr weiter machen, doch sie zieht mein Shirt aus der Hose und mir über den Kopf.

Ihre Hände berühren meinen von Kampfspuren übersäten Körper, fahren kurz über eine Narbe, die sich deutlich von meiner Haut abhebt. Dort hält sie inne. Ich sehe, wie sie schluckt und etwas sagen will, doch ich gebe ihr keine Zeit dafür, küsse sie erneut stürmisch. Solange, bis ich glaube, dass sie nichts mehr sagen wird. Erst dann löse ich kurz meine Lippen, nur um ihr das Shirt über den Kopf zu ziehen. Normalerweise würde ich mir alle Zeit der Welt lassen, um sie anzusehen. Und für einen kurzen Blick lasse ich diesen auch wirken, presse sie dann aber wieder ausgehungert gegen das Fenster.

Ihr Atem wird ein Keuchen, während ich sie liebkose, ihre Emma-Narbe am Hals küsse, jede Rune an ihrem Körper mit meinen Lippen berühre. Es reicht mir alles nicht. So hebe ich sie hoch, drehe mich mit ihr um und setze sie auf dem Schreibtisch ab.

Wie habe ich mich nach ihr gesehnt. Nach ihrem ganzen Wesen, ihrer Leidenschaft, ihrem Feuer und ihrer Liebe. Nur sie bringt mich so vollkommen um den Verstand, dass ich nicht mehr atmen kann, während ich aber nie genug davon bekommen kann. Ja, lieber will ich ersticken, als damit aufzuhören.

Auch ihre Hose landet bei den anderen Sachen. Ich küsse selbst die Runen auf ihrem Oberschenkel; sie zieht hörbar die Luft ein, schiebt mit einer Handbewegung die Sachen vom Tisch und zieht mich zu sich hoch, während sie sich nach hinten legt. Anscheinend kann nicht nur ich es kaum erwarten.

Auf dem Schreibtisch liegend küssen und liebkosen wir uns. Ihre Hände erkunden mich und mit jeder Berührung jagen kleine Stromstöße durch meinen Körper. Etwas in mir folgt ihr, so wie ich das tue. Laut die Luft ausstoßend, vergrabe ich mein Gesicht an ihrem Hals, presse meine Lippen auf diese zarte Haut, während ihre Hand mich um den Verstand bringt. Doch sie hält inne, bebt, als ich spüre, was sich schon die ganze Zeit angekündigt hat. Sie krallt sich fest, aber ich weiß, dass es nicht ausreicht. Und länger können wir es nicht mehr ertragen. Auch wenn sie eine unglaubliche Hitze ausstrahlt, mein Vilablut sich vollkommen überschlägt vor Verlangen, ist es die Befriedigung unserer Sehnsucht, endlich in ihr zu sein. Heiß und vollkommen. Sie drückt ihren Rücken durch, mir entgegen. Ich habe das Gefühl, als sei es noch viel intensiver als früher. Ist es unsere Liebe, die nun endlich Erfüllung findet oder die Macht, die uns beide durchströmt? Vielleicht beides. Doch unsere Vereinigung ist das einzig Richtige, das Einzige, was wir nun wollen.

Wir tauchen ein in dem Rausch, sie krallt sich in meinen Rücken — es schmerzt mich kein bisschen. Ich reiße und beiße regelrecht an ihrer Unterlippe, doch sie stöhnt und keucht nur und krallt sich noch mehr in meine Haut. Alles in mir brodelt, schwingt und glüht, doch wir hören nicht auf. Ihre Runen glühen alle auf, ohne dass etwas geschieht, sie vibriert regelrecht unter mir. Ich halte ihr zuckendes Bein gepresst und dränge mich immer wieder in dieses Paradies. Ihre Stimme, ihr Duft, ihre Reaktion und das Gefühl, wie sie mich umschließt, alles raubt mir jeglichen Sinn für alles, außer uns. Wir beide beben, halten uns fest und finden in einer regelrechten Machtexplosion Erfüllung.

Noch immer halten wir uns fest, fast ungläubig über das, was eben geschehen ist. Aber ich fühle mich vollkommen glücklich, sehe sie an und streiche ihr die verschwitzte Strähne aus der Stirn, die dort klebt. Sie ist die schönste Frau der Welt für mich.

»Ich liebe dich. So unbeschreiblich. Du bist mein.«

Auch sie streicht mir das Haar aus den Augen hinter mein Ohr und lässt ihre Hand dort ruhen. »Ich liebe dich auch. Dich alleine und sonst niemand anderen.«

Lächelnd küsse ich sie wieder, nun sanft und zärtlich.

Plötzlich legt sie ihren Kopf in den Nacken und versucht, zu den Türen zu sehen. Ihre Wangen werden noch röter. »Ähm, also … vielleicht sollten wir uns anziehen, bevor noch jemand hereinkommt.«

Schmunzelnd ziehe ich ihren Kopf am Kinn wieder hinunter. »Keine Sorge, hier kommt niemand rein, wenn ich es nicht will. Im Moment wird hier keiner den Raum betreten. Wir sind ganz für uns.«

Nun ist sie es, die schmunzelt. »Na, wenn das so ist«, haucht sie und zieht meine Lippen wieder auf ihre, legt ihr Bein um meines und presst sich wieder stärker an mich; ich habe verstanden, mein Körper reagiert ebenfalls.

 

Alles vergessend genießen wir die nächsten Stunden für uns. Damit wir uns nicht anziehen müssen und uns niemand sieht, baut sie einfach ein Tor in mein Schlafzimmer im Turm, und das so schnell, wie ich es noch nie bei ihr gesehen habe. Unglaublich, wie groß ihre Macht gewachsen ist, und doch ist sie meine Mia.

Wir lieben uns immer wieder, können nicht aufhören, uns zu berühren und anzusehen. All das, was wir glaubten, die Monate verpasst zu haben, holen wir nach.

Eine Mischung aus Leidenschaft und einfachem Halten. Egal ob wir uns Zeit lassen oder uns wild ausleben, jede Sekunde davon ist perfekt.

Wieder einmal halten wir uns einfach, und das schon eine ganze Weile, reden nicht, genießen einfach nur. Manchmal glaube ich, dass sie eingeschlafen ist. Jetzt aber ist sie so wach wie ich es bin. Eng umschlungen liegen wir in meinem Bett. Sie in meinem Arm, mit dem ich immer wieder sanft ihren Rücken streichle, während sie verträumt den Finger auf meiner Brust auf und ab fahren lässt.

»Woher hast du all diese Narben?«, fragt sie auf einmal.

Schlagartig verkrampfe ich mich, so hebt sie den Kopf, um in mein Gesicht blicken zu können. Ich weiche ihrem aus, indem ich aus dem Fenster in den blauen Himmel sehe, der fast schon saphirblau schimmert. Bald wird es dunkel werden.

»Vince? Rede mit mir.« Ihre Hand an meiner Wange, zieht sie meinen Blick wieder auf sich. »Hast du dir das angetan?«

»Nein«, sage ich mit voller Überzeugung. Füge dann aber hinzu: »Aber ich glaube, so mancher würde da etwas anderes behaupten.« Ich löse mich aus der Umarmung und setze mich auf den Bettrand. Sie ist sofort hinter mir und schlingt die Arme um meinen Hals, als hätte sie Angst, ich würde gehen.

»Was hast du denn getan, dass jemand das behaupten würde?«

Wolken ziehen am Himmel vorbei; ich schweige, genieße aber ihre Nähe. Sie lässt mir die Zeit, wie sie es schon immer getan hat. »Vielleicht habe ich so den einen oder anderen Lykaner oder Vampyr aufgemischt. Nichts Wildes.« Vollkommen runtergespielt und an der Wahrheit dicht vorbeigeschrammt, aber zugeben, was ich die Monate alles getan habe, kann ich nicht.

»Den einen oder anderen? Für mich sieht das so aus, als hättest du ganze Clans angegriffen.«

Ruckartig stehe ich auf und nehme mir etwas Frisches zum Anziehen aus dem Schrank. Ich will nicht darüber reden, auch sie wird es nicht verstehen.

»Du musstest wohl Dampf ablassen«, meint sie auf einmal; ich sehe überrascht zu ihr. In die Decke gewickelt kniet sie auf meinem Bett und sieht mich unverwandt an. »Jeder verarbeitet Dinge anders. Energie rauslassen. Frust, Wut, Angst … Das verstehe ich.«

Was diese Worte mir bedeuten, hätte ich nicht gedacht. Ich hatte vergessen, wie gut sie mich kennt und versteht. Der einzige Mensch, neben Eric. Aber auch wenn er es versteht, er toleriert es nicht. Und Mia?

Ich gehe vor ihr in die Hocke, nur mit einer Hose bekleidet, und nehme ihre Hände in meine. »Ich konnte den Schmerz nicht ertragen, dass du fort bist. Das Dunkel riss mich mit sich, bei jedem Kampf wollte ich nur noch mehr. Meine Entscheidungen waren mehr ein Selbstmordunternehmen, als dass sie für die Uni waren. Als du gingst, kam ich dir noch nach. Und als ich sein triumphierendes Gesicht sah, wollte ich ihn nur noch töten«, gestehe ich ihr, was sie sicher schon längst weiß. »Auch als er dich von den Vampyren mitnahm, wollte ich ihn töten. Scheiße, ich wollte es so sehr …« Und ein Teil in mir will es noch immer, doch das kann ich ihr nicht sagen. »Aber das alles ist nun vorbei. Du bist jetzt da.«

Während ich geredet habe, sind Tränen in ihre Augen gestiegen, die ihr nun über die Wangen laufen. Schmerzlich lächelnd wische ich sie ihr fort.

»Weine nicht.«

»Was habe ich dir nur angetan …«, flüstert sie.

»Das ist unwichtig. All das ist nun unwichtig.«

Sie rutscht zu mir auf den Boden und schlingt, mich küssend, die Arme um meinen Hals. Die Decke gleitet zu Boden, doch es ist ihr egal. Sie presst sich an mich und ich schließe sie fest in meine Arme.

Es stimmt. Das alles hat nun wirklich keine Bedeutung mehr für mich. Sie ist hier und sie bleibt hier. Wir gehören zusammen und egal was kommt, wir treten diesem gemeinsam entgegen. Nichts wird uns mehr trennen können.

Etwas Dunkles in mir blitzt auf und lacht. Doch ich verdränge es. Mit Mia.

Kapitel 3

 

~Mia~

 

Weit haben wir es nicht geschafft. Wieder aneinander gekuschelt und wieder nackt, auch wenn ich nie angezogen war, liegen wir am Boden. Er zieht die Decke eng um uns herum und küsst meine Stirn, dabei kann ich sein Lächeln deutlich spüren.

»Also wenn wir so weiter machen, kommen wir hier nie mehr raus.« Das Grinsen in seiner Stimme kann ich deutlich hören, dieser Schalk darin.

Davon angestachelt lege ich meinen Kopf in den Nacken und hauche: »Wäre das so schlimm?«, nur, um ihn dann in einen Kuss zu verwickeln.

Und wieder spüre ich, wie sein Kuss mehr sagt, als Worte es je könnten, und nach mehr schmeckt. Seine Hand gleitet unter der Decke über meinen Bauch nach oben. Seine Lippen berühren meine Narben am Hals, mein Schulterblatt. In mir kribbelt es wieder ungemein stark, aber er hat recht, wir sollten langsam zur Vernunft kommen.