Spiel der Mächte: Zeitgefüge - Zara Kent - E-Book

Spiel der Mächte: Zeitgefüge E-Book

Zara Kent

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Beschreibung

Um die Liebe ihres Lebens zu suchen, begibt sich Mia in die Abgründe der Dimensionen Richard Wanclears. Sie lässt alles hinter sich – selbst ihre Erinnerung. In parallelen Welten und Zeiten findet sie sich als andere Variante ihres Ichs wieder und muss sich erst erinnern, um nach ihrem Geliebten zu suchen und tiefer in das Gewirr aus Zeit, Fallen und Dämonen einzudringen. Die Tatsache, mit jeder neuen Dimension immer wieder ihre Erinnerung zu verlieren – und Vince – bringt sie an ihre Grenzen. Ebenso wie ihre erstarkenden Fähigkeiten und die Gefahren der Parallelwelten, die ihr alles abverlangen. Und dennoch: Wahre Liebe findet immer ihren Weg.

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HYBRID VERLAG

Vollständige elektronische Ausgabe

11/2020

Spiel der Mächte - Zeitgefüge

© by Zara Kent

© by Hybrid Verlag

Westring 1

66424 Homburg

Umschlaggestaltung: © Magical Cover Design, Giuseppa Lo Coco

Lektorat: Paul Lung

Korrektorat: Birgit van Troyen

Buchsatz: Lena Widmann

Autorenfoto: privat

Coverbilder ›Woodtalker‹, ›Halbwesen‹, ›Myzel‹

© by Creativ Work Design, Homburg

Coverbild: ›Zwei Welten‹, © by Creativ Work Design, Homburg

Modellfoto © Fotograf Exxpression Homburg

Coverbild ›Spiel der Mächte - Erwachen‹

© 2019 Magical Cover Design, Giuseppa Lo Coco

ISBN 978-3-96741-084-6

www.hybridverlag.de

www.hybridverlagshop.de

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

Printed in Germany

Zara Kent

Spiel der Mächte

Zeitgefüge

Fantasy

Für Isa.

Mein geistiger Zwilling. Die so sehr beim Lesen mitgefiebert und geweint hat, dass sie mich erschlagen wollte.

Du bist eine Amazone und du schaffst alles.

1      5

2      24

3      37

4      52

5      71

6      94

7      119

8      145

9      166

10      181

11      199

12      217

13      236

14      252

15      274

16      292

17      310

18      329

Danksagung und Nachwort      7

DIE AUTORIN      10

Hybrid Verlag …      11

1

~Mia~

Seit Wochen bin ich zerstreut. Ich habe manchmal das Gefühl, weit weg zu sein, träume mich in Welten, die ich niemals gesehen habe. Eigentlich gefallen sie mir besser als meine eigene.

Ich stehe am Geländer und sehe aufs Wasser hinaus. Liberty Island ist an so einem sonnigen Tag voll besucht. Menschen lachen miteinander, albern herum, ganze Familien sind hier. Aber ich stehe alleine am Geländer und träume vor mich hin.

Es ist nicht so, dass ich hier alleine angekommen wäre. Rina und Darren, meine Freunde aus Kindertagen, sind zur Aussichtsplattform der Liberty hochgefahren. Keine Ahnung warum, aber Höhen liegen mir nicht. Ich habe richtiggehend Angst davor. So wie vor vielem. Ich habe Angst, alleine gelassen zu werden, überhaupt alleine zu sein – was ich gerade ja irgendwie bin. Angst davor, jemandem zu vertrauen, generell vor fremden Menschen. Sie können noch so lachen und freundlich sein. Ständig denke ich, sie könnten ja sonst was denken und wollen. Außerdem habe ich Versagensängste, gerade was die Prüfungen angeht. Bald stehen sie an und ich glaube, einfach nicht gut genug für die Aufnahmeprüfung der Uni zu sein. Auf einem Gelände zu leben, wo ich niemanden kenne, macht mir nochmal so viel Angst. Gott bewahre, ich müsste mit jemandem ein Zimmer teilen. Völlig undenkbar. Dennoch habe ich mich angemeldet. Es wird so von mir erwartet.

Ständig tue ich Dinge, weil sie von mir erwartet werden, nicht, weil ich sie will. Ich habe den Heiratsantrag von Michael Angel angenommen, dem begehrtesten Junggesellen der New Yorker Oberschicht. Er ist der Sohn der Bürgermeisterin. Was er von mir will, ist fraglich. Jede Frau New Yorks begehrt ihn und er wählt mich. Warum? Weil wir uns auch schon seit Kindertagen kennen und unsere Eltern es von Anfang an darauf angelegt haben?

Ich lasse den Klunker an meinem Finger in der Sonne glänzen; es kommt mir vor, als wiege er Tonnen. Ein goldener Ring mit einem großen fetten Diamanten.

»Der sieht so schwer aus, als breche er Ihnen gleich die Hand.«

Überrascht sehe ich zur Seite, Angst überkommt mich. Ein fremder blonder Mann steht neben mir und blickt ebenfalls auf das Wasser hinaus, wirft aber öfter einen Seitenblick auf mich und meine Hand. Schnell schiebe ich sie unter meinen Arm, der auf dem Geländer ruht.

»Keine Angst, ich will ihn Ihnen nicht vom Finger stehlen.« Ein Schmunzeln umspielt seine Lippen. »Aber Sie sollten aufpassen.«

Ich rutsche ein Stück zur Seite, was ihn noch mehr zum Lachen bringt.

Der will doch irgendetwas!

»Die da hinten«, er weist auf eine Gruppe Jugendlicher, die wild und verwahrlost aussehen. »Eben habe ich gesehen, wie sie einer alten Dame die Golduhr vom Handgelenk weggeklaut haben. Also passen Sie besser auf, ihnen nicht zu nahe zu kommen.«

Neugierig beobachte ich die Gruppe, sehe dann aber wieder zu dem Blonden. Die Sonne fällt auf sein Gesicht, was seine eisblauen Augen zum Leuchten bringt; mein Herz beginnt auf einmal zu rasen.

»Na dann.« Er wendet sich um und geht einige Schritte, bleibt dann aber stehen. Panik überkommt mich abermals, als er sich wieder zu mir umdreht. »Sagen Sie mal, kennen wir uns irgendwoher?«

»Nein …«, meine Stimme ist leise, ich bekomme mal wieder kaum einen Ton heraus.

Er mustert mich nachdenklich. »Alles in Ordnung mit Ihnen? Sie sind auf einmal so blass.«

»Fremde …«, stammele ich; er sieht sich um, deutet dann auf sich und ich nicke.

»Ah, verstehe. Ich mache Ihnen Angst.« Einen Moment schweigt er, legt dann den Kopf zur Seite und meint: »Weswegen?«

Das überrascht mich. Was denkt er sich denn? Das ist doch völlig normal.

»Weswegen?«, platzt es auf einmal aus mir heraus und ich sehe ihn böse an. »Sie sind ein Fremder und quatschen mich von der Seite an und weisen mich noch dezent darauf hin, dass hier Diebe unterwegs sind.«

Er zuckt mit den Schultern. »Sicher, soll ich Sie etwa beklauen lassen? Meinetwegen, wenn Ihnen das lieber ist.«

Dass er sich nun einfach umdreht, überrascht mich wieder. Aber am meisten, dass ich ihm hinterher gehe. Irgendetwas zieht mich an, ich weiß nicht, was es ist. Obwohl mir schlecht vor Angst ist, will ich nochmal in diese Augen sehen …

Einige Meter laufe ich ihm nach, komme mir blöd dabei vor und kindisch. Was tue ich hier eigentlich? Laufe einem Wildfremden nach. Hab ich den Verstand verloren?

Irgendwann bleibe ich einfach stehen und lasse ihn weiterlaufen. Ob er es bemerkt hat, weiß ich nicht. Aber ich komme mir so schon albern genug vor.

Ich sinke auf eine Parkbank, lehne mich so weit zurück, dass ich in den Himmel sehen kann. Wolken ziehen vorbei, Vögel fliegen wie schwarze Schatten vor blauem Grund. Mein Atem wird langsam und allmählich drifte ich wieder ab in meine Welt, voller Abenteuer, für die ich niemals den Mut aufbringen würde. Die Wolken formen Bilder …

Plötzlich schiebt sich ein Gesicht zwischen mich und den Himmel.

»Den Arm so lässig ausgestreckt, verhindert aber keinen Diebstahl. Und am helllichten Tag zu träumen erst recht nicht.«

Ich schrecke auf und der Blonde von eben kommt grinsend um die Bank gelaufen. Er lässt sich neben mir nieder, regelrecht fallen; ich ziehe meinen Arm zurück. Lässig lehnt er sich ebenfalls zurück und starrt in den Himmel.

»Was gibt es dort denn so Interessantes?«

Unkontrolliert zittern meine Hände, mein Atem geht stoßweise. Aber ich habe nicht das Gefühl, dass meine Angst der Grund ist.

Er schielt zu mir rüber. »Na was gibt’s denn? Sind Sie nun wirklich stumm vor Angst?«

Ich schüttele den Kopf, kaue auf meiner Unterlippe.

Reiß dich zusammen!

Im Versuch, so lässig zu sein wie er, lehne ich mich wieder zurück und sehe in den Himmel; meine Hände lasse ich in meinem Schoß.

»Die Wolken«, sage ich. »Sie formen Bilder für mich.«

»Für Sie?«

»Naja, nicht für mich. Aber sie bilden eben verschiedene Formen und ich überlege, wonach sie aussehen. Beruhigt ungemein …«

Eine ganze Weile sitzen wir schweigend da und fast vergesse ich, dass er da ist. Langsam werden die Wolken mehr.

Ich deute nach oben. »Da! Da ist ein Turm zu sehen und weiter unten sehe ich sogar ein Tor.«

»Was? Wo denn?«, fragt er.

»Na da!« Ich beuge mich zu ihm und zeige nach oben.

Wie dicht ich bei ihm bin, bemerke ich erst, als ich seinen Blick auf mir spüre. Er grinst, als Blut in meine Wangen schießt und ich ruckartig zurückweiche.

Mit dem gleichen Grinsen sieht er wieder in den Himmel. »Stimmt, ich seh ihn. Man kann ihn ja gar nicht übersehen.«

War das Absicht von ihm? Was will er eigentlich von mir? Ist er vielleicht irgendein Verrückter, der fremde Frauen erst vertrauensselig macht und dann überfällt?

Sei doch mal nicht immer so verdammt ängstlich.

Den Kloß in meiner Kehle und meinen flauen Magen ignorierend, lehne ich mich wieder zurück.

Eine Wolke bildet ein merkwürdiges Bild, sieht fast aus …

»Ist das ein Wolf?«, fragt er.

Ich folge seinem Fingerzeig und er scheint das gleiche gesehen zu haben wie ich.

»Hab ich auch eben gedacht«, gebe ich zu.

»Ach ja?« Wieder wirft er mir einen Seitenblick zu, den ich mit klopfendem Herzen versuche zu ignorieren.

Als der Himmel immer dunkler wird, kann ich ein Gähnen nicht unterdrücken. Ohne viel zu reden, saßen wir da und betrachteten die Wolken, wiesen uns hin und wieder auf eine besondere gegenseitig hin. Und nun sind doch wirklich Stunden vergangen, ohne dass ich seinen Namen erfahren hätte oder er meinen.

»So langsam muss ich gehen«, sage ich dann und richte mich auf; er bleibt zurückgelehnt, blickt ruhig zu mir rüber.

»Wenn man gehen muss, muss man eben gehen. Aber es war ein sehr interessanter Nachmittag.«

Ich sehe ihn an und zum ersten Mal an diesem Tag lächle ich. »Stimmt, das war er.«

»Lächeln Sie öfter«, meint er auf einmal und steht auf. »Steht Ihnen.«

Etwas perplex sehe ich ihn an. Was sollte der Spruch denn?

Er grinst verhalten. »Wollten Sie nicht gehen?«

Ich stehe auf. Meine Beine fühlen sich nach dem langen Sitzen etwas wackelig an, aber ich versuche, mir nichts anmerken zu lassen. »Genau, das wollte ich. Also, eigentlich muss ich.«

»Heißt, Sie wollen eigentlich nicht?«

Keine Ahnung, warum ich das sagte und warum ich dies nun sage, ich kenne ihn ja nicht. Also ist es egal, was er von mir denkt. »Ich werde zu einer Besprechung erwartet. Am Wochenende soll eine Feier stattfinden, deswegen muss noch über einiges gesprochen werden.«

»Und das ist todlangweilig, vermute ich.«

Ich sehe zum Meer, die nächste Fähre legt an und spuckt vereinzelte Passagiere aus. Sehr viel mehr gehen aber an Bord. »So kann man es sagen.«

Er wartet, auf was, weiß ich nicht. Aber bald wird die Fähre ablegen und ich sollte darauf sein.

»Vielleicht sieht man sich mal«, meint er dann auf einmal. »Alles Gute.«

Sein abruptes Gehen verwirrt mich ebenso wie alles andere an ihm.

Meine Mutter lässt sich über Tischdekorationen aus, welche Blumen passen, welche überhaupt nicht gehen.

»Also ich hätte ja lieber Lilien«, werfe ich ein. Aber wie immer hört mir niemand zu.

Sie redet einfach weiter, rote Rosen müssen es sein. Die Tischdeckchen alle in Weiß gehalten. Ich starre aus dem Fenster, draußen flattert eine Motte gegen die Scheibe und versucht, zum ersehnten Licht zu kommen. Sie will rein … und ich raus …

Irgendwann schiebt mir meine Mutter Deckkärtchen unter die Nase, die mich aus meinen Gedanken reißen.

»Welche gefallen dir besser für die Gästenamen?« Ohne meine Antwort abzuwarten, plappert sie direkt weiter. »Also ich finde ja diese hier am Schönsten.« Sie hält mir eine rosafarbene Karte mit goldener Schrift hin. »Ja, ich glaube, die sind gut.«

Und weiter geht’s im Text. Nur nicht mit meinem. Gedankenversunken sehe ich der Motte zu, wie sie noch immer gegen die Scheibe fliegt, so als ob sie bei jedem einzelnen Versuch es doch schaffen könnte, die unsichtbare Wand zu durchdringen.

Heute ist Donnerstag, am Samstag wird sie stattfinden: meine Hochzeit. Aber wieso kommt es mir so vor, als würde jemand anderes heiraten und ich bin nur Gast?

Ich sehe in den Spiegel, stehe im weißen Kleid, das weiter ist als alles, was ich bisher getragen habe. Es ist über und über mit Brillanten bestückt. Den Wert dieses Kleides will ich lieber nicht wissen, sonst passiert mir nur wieder irgendetwas Blödes und ich mache es kaputt.

»Wieso ist es nur so schwer?«, frage ich und versuche den Rock anzuheben.

»Weil so viel Stoff darin verarbeitet ist.«

»Und für wen?« Ich ächze unter dem Gewicht, als ich von dem Stühlchen steige. Die Ankleiderin öffnet die Schnüre an meinem Rücken.

Ich bin froh, als ich endlich aus dem Laden gehen kann. Meine Mutter unterhält sich angeregt mit der Verkäuferin. Sie hat nicht einmal bemerkt, dass ich hinaus gegangen bin.

Eigentlich ist der Tag viel zu schön, als dass ich nun zum Tortenessen in einem stickigen alten Raum herumhocken sollte. Allerdings hatte ich noch nie so was Rebellisches getan.

Mit einem kurzen Blick versichere ich mich, dass sie noch immer mit ihr redet, eile zur Straße und hebe die Hand. Kurz drauf hält ein Taxi, in das ich rasch einsteige.

»Zum Fährhafen bitte«, sage ich, meine Stimme ist etwas außer Atem, obwohl ich nicht gerannt bin. Mein Herz rast, denn zum ersten Mal seit Langem tue ich etwas nur für mich selbst. Mein Körper kribbelt aufgeregt, als das Taxi losfährt und ich durch die Rückscheibe sehe, wie meine Mutter sich suchend umblickt.

Ich habe es wirklich getan! Ohne nachzudenken. Irgendetwas in mir löst sich oder als verschwinde ein Druck, so als hätte immer jemand auf meiner Brust gestanden und wäre nun herunter gestiegen. Es fühlt sich fantastisch an.

Das erste Mal genieße ich die Sonne auf der Fähre. Und als sie auf Liberty Island anlegt, fühlt es sich an, als sei ich hier richtig. Keine Ahnung, warum dieser Ort mich so anzieht. Ob er der Grund ist? Es ist erst ein Tag vergangen, dass ich hier war und dennoch scheint es mir eine Ewigkeit her zu sein.

Warum? Was ist auf einmal anders?

Die Menschen, die um mich herumlaufen, Kinder, die an mir vorbeirennen, machen mir nichts aus. Ich lächle still vor mich hin, lehne mich dieses Mal mit dem Rücken an das Geländer und beobachte die Menschen, nicht das Wasser.

»Na, wen haben wir denn da?«

Ich sehe nach rechts und erkenne den Blonden. Und interessanterweise wundert es mich kein Stück, dass wir uns hier treffen.

»Hallo«, grüße ich kurz, noch immer am Lächeln.

»Sie lächeln. Geht Ihnen heute wohl besser als vorgestern.« Er stellt sich neben mich und fängt an, mit mir die anderen zu beobachten.

»So kann man es sagen.«

»Hat es einen besonderen Grund?« Er mustert mich neugierig. »Alles schon fertig organisiert?«

»Nein.«

»Und wieso stehen Sie dann hier?«

»Wieso nicht?« Mir fällt es leichter zu reden. Woran liegt es? Daran, dass ich einfach gegangen bin? Oder liegt es an ihm? »Weswegen sind Sie wieder hier?«, frage ich im Gegenzug.

»Dies ist ein öffentlicher Platz, oder nicht?«

»Richtig.«

Er scheint amüsiert. »Sie wirken lockerer. Ist irgendwas anders?«

»Hm …« Ich sehe in den Himmel hinauf und suche selbst nach einer Antwort. Doch ich bleibe ihm und mir die Antwort schuldig, zucke nur mit den Schultern, gehe einen Schritt und sehe zur Liberty hinauf. Ein seltsames Gefühl beschleicht mich und ich lege den Kopf zur Seite.

»Ob man da hochklettern kann?«

Er tritt neben mich und sieht ebenfalls hinauf. Auch er wirkt nachdenklich. »Möglich ist dies sicherlich. Aber wieso sollte man das wollen?«

»Keine Ahnung«, erwidere ich und kann den Blick nicht abwenden. Erst recht nicht dieses merkwürdige Gefühl. »Wegen der Aussicht?«

»Ist dafür nicht die Aussichtsplattform da?«, fragt er.

»Schon. Aber wäre weniger spannend, als hochzuklettern und oben auf dem Kopf zu stehen.«

Irgendwas scheint ihn daran noch mehr zu amüsieren, er lacht. »Haben Sie vielleicht eine Zwillingsschwester?«

Nun bin ich es, die ihn mustert. »Nein, wieso?«

»Ach, nur so.« Er sieht wieder hinauf. »Waren Sie schon einmal oben?«

Wieder ist da dieses Gefühl. »Leider nicht.«

Plötzlich fasst er meine Hand und zieht mich mit. Mit glühenden Wangen lasse ich es zu. Selbst als wir in der Schlange stehen, lässt er sie nicht los. Sie fühlt sich wärmer an als meine. Aber irgendwie überhaupt nicht unangenehm.

Er schaut, als sei es das Normalste der Welt und als seien wir nicht zwei völlig Fremde. Und … es fühlt sich gar nicht mehr danach an. Fast so, als kenne ich ihn schon viel länger.

Ein Kribbeln durchfährt mich, während wir warten. Selbst als wir im Aufzug stehen, hält er meine Hand, aber kein einziges Mal sieht er mir ins Gesicht. Vielleicht ist dies auch besser so. Dafür sehe ich ihn umso intensiver an. Sein blondes Haar ist gegelt, seine Augen blicken freundlich und irgendwas darin strahlt unglaubliche Wärme aus. Seine Kleidung ist lässig, Jeans und Shirt, viel zu lässig für meine Mutter oder ihre Gesellschaft. Aber ich finde sie toll.

Auf der Plattform angekommen, zieht er mich direkt an ein Fenster, etwas abseits. Ich blicke hinaus und es verschlägt mir den Atem. Mein Herz rast, dieses Mal aber mehr wegen der Höhe. Ich muss mich am Fenster abstützen.

»Alles okay?«

Ich kann nur nicken, muss nach Atem ringen. »Die Höhe … behagt mir nicht wirklich.«

»Wieso sagten Sie das nicht schon unten, dass Sie Höhenangst haben?«

Als ich ihn ansehe, bringe ich nur ein gequältes Lächeln zustande. »Naja, ich wollte sehen, wie mutig ich sein kann.«

Er mustert mich. »Aha. Und?«

Ich sehe hinaus, mir wird wieder etwas bang. »Schwierig, aber es muss sein.«

»Wieso?«

Jetzt muss ich schmunzeln. »Also Sie stellen viele persönliche Fragen, dafür, dass ich Sie nicht kenne.«

Er erwidert nichts, tritt näher an mich heran; ich sehe nur hinaus. Ein Duft umweht mich auf einmal, als hätte es geregnet und nun sei die Luft gereinigt. Merkwürdig. Aber langsam vergeht meine Angst, mein Atem beruhigt sich, ich entspanne mich. Meine Welt erscheint mir hier oben so klein, so fern.

Könnte ich doch ewig hier stehen …

Ich lege meine Hand an die Scheibe, denke an die Motte, die hineinwollte, ich wollte hinaus. Nun will ich das nicht mehr, ich will hier bleiben.

Die Plattform leert sich, die Sonne sinkt tiefer, aber ich rühre mich nicht.

»Also ich finde, dafür, dass Sie Angst hatten, stehen wir hier verdammt lange.«

Ich werfe ihm einen Seitenblick zu. »Wenn Sie gehen wollen …«

»Das habe ich nicht vor. Mir gefällt es hier oben ganz gut.« Sein Blick fällt auf etwas am Fenster. »Hat der eigentlich was zu bedeuten?«

Sein Blick haftet an meinem Ring; ich nehme meine Hand von der Scheibe und betrachte ihn selbst. »Für manche mehr, für andere weniger.«

»Und für Sie?«

Tja … gute Frage. Es war nicht meine Entscheidung. Aber wieso war es das eigentlich nicht? Was sagt das über mich aus?

Aus dem Lautsprecher erklingt eine Stimme: »In wenigen Minuten wird die Plattform geschlossen. Wir bitten alle Besucher, diese zu verlassen und hinunter zu fahren.«

Ein verrückter Gedanke durchzuckt mich und ich grinse. Es ist albern, kindisch und das Verrückteste, das ich je getan habe. Aber ich ziehe ihn plötzlich an der Hand hinter einen Erfrischungsautomat und dränge uns gegen die Wand.

»Was tun Sie da?«, fragt er, sichtlich amüsiert.

»Sschh«, zische ich.

Dass ich dicht bei ihm stehe, bemerke ich erst, als er den Arm um mich legt und mich eng an sich zieht, aus dem Blickfeld eines Wachmanns, der sich noch einmal umblickt und dann im Aufzug verschwindet.

Dieser frische Duft umweht mich erneut und nun begreife ich, dass er von ihm kommt.

Wie seltsam …

Mein Herz rast, aber seines auch, das kann ich unter meiner Hand spüren, die auf seiner Brust liegt. Und was ich noch fühlen kann, sind die Muskeln, die ganz eindeutig hervortreten und mein Herz noch mehr zum Rasen bringen.

Ich sehe zu ihm auf und kann trotz des wenigen Lichts seine eisblauen Augen erkennen.

Ein Schauer überläuft mich. Sein Lächeln ist verschwunden, aber dennoch sieht er mich voller Wärme an, streicht mir eine Haarsträhne hinters Ohr.

War ich einem Mann je näher? Jede Berührung, die ich von einem Mann hatte, von Michael, war weniger intensiv als sein Blick gerade, seine Hand in meinem Haar.

»Dafür, dass Sie vor zwei Tagen kaum mit mir geredet haben …«

»Manchmal muss man eben mutig sein.« Meine Stimme kommt mir fern vor. Was ist das nur für ein Gefühl? Wer ist er eigentlich? Und wieso hat er diese Wirkung auf mich?

Ich bin es, die sich zuerst löst und in die nun dunkle Aussichtsplattform tritt. Von draußen scheinen die Lichter der Strahler herein. Sie werfen Schatten, aber ich habe nicht deswegen Angst. Auch nicht davor, hier allein mit einem Fremden zu stehen. Sondern vor dem Gefühl, das er in mir auslöst.

Die Sterne kann man wegen den Strahlern kaum sehen, aber der Mond wirft uns sein Licht trotzig entgegen. Des Fremden Schritte hallen nun durch den leeren Raum, dicht bleibt er hinter mir stehen. Wenn ich mich umdrehen würde, ständen wir viel zu nah … Viel zu nah.

Fast hatte ich geglaubt, er würde die Arme um mich legen, doch er tut es nicht. Stellt sich nur wieder neben mich und sieht hinaus. Keiner von uns beiden sagt etwas. Wir genießen die Aussicht und die Stille. Seltsamerweise ist sie nicht störend, sondern angenehm. Fast wieder zu vertraut.

Gleichzeitig sehen wir uns an. Er lächelt, seine Augen leuchten und mein Herz macht einen Satz. Wieso werde ich das Gefühl nicht los, dass er kein Fremder ist?

Auch ich lächle nun; er nimmt meine Hand in seine und sieht wieder hinaus.

So stehen wir da, die halbe Nacht. Bis uns ein Nachtwächter erwischt. Schimpfend bringt er uns mit dem Aufzug nach unten. »Wenn wir unten sind, werde ich die Polizei rufen. So geht das nicht. Einfach sich verstecken und dort oben ein Stelldichein abhalten.«

Meine Wangen flammen auf, weil Blut hineinschießt. »Aber das … Wir wollten doch gar nicht …«

Der Wachmann hört mir gar nicht zu und schimpft einfach weiter.

Was mache ich nur, wenn er wirklich die Polizei ruft? Wenn Michael davon erfährt, wenn rauskommt, wer ich bin, wird es einen Skandal geben und er wird enttäuscht von mir sein … Meine Mutter wird mich strafen, mit allem, was sie kann.

Der Fremde wirft einen Seitenblick auf mich, sieht meine Panik und fasst meine Hand. Kaum dass die Türen aufgehen, zieht er mich mit sich, rennt mit mir davon in die Nacht. Immer weiter. Der Wachmann, der nach einigen Schritten aufgeben muss, schreit uns nach. Aber wir rennen immer weiter, sehen kaum die Hand vor Augen. Außer den kleinen Lichtern am Rand der Wege gibt es nämlich keine. Aber er wirkt sicher in seinen Schritten, als würde er alles sehen.

Wir sind mit Sicherheit fast über die ganze Insel gerannt, als er langsamer wird. Er bleibt stehen, stemmt die Hände auf die Knie und lacht los. Schnell atmend ringe ich nur nach Luft, tue es ihm gleich, muss meine Hände ebenfalls auf meinen Knien abstützen und lachen. Ich lache, bis mir wirklich der letzte Rest an Luft ausgeht.

»Das war … das Verrückteste … was ich je … gemacht hab«, sage ich halb lachend, halb keuchend.

»Stimmt«, meint er. Seine Stimme ist schon wieder fester als meine. Er stellt sich aufrecht hin und grinst mich an. »Kann’s weiter gehen?«

»Was?« Verwirrt sehe ich mich um. »Mit was?«

»Den verrückten Sachen.« Grinsend zeigt er auf das Motorboot der Küstenpolizei, das in unserer Nähe anlegt.

»Das ist nicht Ihr Ernst?« Ich bin schockiert, aber mein Magen macht einen Satz.

Wieder nimmt er meine Hand und zieht mich mit sich. Hinter einem Gebüsch in der Nähe des Ufers kauern wir uns hin. Mit dem Finger auf den Lippen bedeutet er mir, ruhig zu sein.

Er ist verrückt. Ganz und gar verrückt.

Ich halte den Atem an und mustere ihn. Dieses Kribbeln in meinem Magen, diese Aufregung. Ich habe so etwas noch nie getan und dennoch … ist es, als wäre ich endlich ich. Oder nicht? Schon lange habe ich das Gefühl, dass da was anderes in mir ist. Irgendjemand anderes. Und dieser Jemand will etwas ganz Bestimmtes …

Zwei Polizisten gehen an Land, den Weg hinauf, der sich am Wasser entlang zieht, und lassen das Boot einfach unbewacht. Wer ahnt auch schon, dass hier jemand nachts ein Boot stehlen würde.

In geduckter Haltung schleichen wir dort hin; es ist ein einfaches kleines Motorboot ohne viel Schnickschnack. Sicher nicht für große Verfolgungsjagden gedacht. Eigentlich bin ich noch unschlüssig, hadere mit mir.

Ohne dass ich was sage, hebt er mich hoch und setzt mich hinein, folgt mir dann direkt mit einem leichtfüßigen Satz.

In meinen Ohren rauscht es, mein Herz rast wieder, während er den Motor startet und ich ängstlich zum Ufer sehe. Auch wenn die zwei Polizisten zurückgerannt kommen, sind wir schon längst zu weit vom Ufer entfernt, als dass sie uns erkennen oder aufhalten könnten.

Das ist alles so verrückt. Wenn ich nicht sicher wäre, dass ich wach bin, würde ich glauben zu träumen.

Die Wellen brechen am Boot; ich stehe am Heck und sehe aufs Wasser hinaus, genieße den Wind in meinem Haar und die Freiheit, die ich so noch nie gefühlt habe. Der Mond glitzert auf der Oberfläche, schimmert unstet.

An dem normalen Steg können wir nicht halten, sie würden uns festnehmen. Daher hält er einfach irgendwo an einem ungezeichneten Abschnitt des Ufers, das nur von Sträuchern gesäumt ist und hilft mir wieder hinaus. Ein kleines Stück geht es nach oben zu einer Straße. Ich kann im wenigen Licht Schatten von Häusern erkennen.

Als ich festen Boden unter den Füßen habe, schwanke ich und er muss mich an den Armen stützen. Ich sehe zu ihm hinauf und mein Atem stockt abermals, mein Herz beginnt zu rasen. Er ist mir wieder so nah. So sehr, dass ich wieder diesen Duft wahrnehme, nach Regen, frischer Luft.

»Sie sind unglaublich«, flüstert er, doch für mich ist es laut genug. »Wo kommen Sie nur her?«

Wieso höre ich die gleiche Stimme in mir, aber sie duzt mich? »Du bist unglaublich, weißt du das?«

Seine Lippen sind leicht geöffnet. Will er mich etwa … Mir wird heiß. Sehr heiß …

Ruckartig trete ich zurück, löse mich von ihm. Meine Wangen brennen, meine Gedanken sind durcheinander. Und da ist sie wieder, diese dumme Angst.

»Ich … ich muss los …«, stammle ich.

»Hab ich was Falsches gesagt?«, fragt er und streckt die Hand nach mir aus.

»Nein … es ist … Ich muss einfach gehen.«

Ich sehe mich um, habe keine Ahnung, wo ich hin soll, wo ich bin. Aber ich muss gehen.

»Ich bringe Sie nach Hause.«

»Nein, ich finde mich schon zurecht.« Ich gehe ein paar Schritte, er eilt mir nach.

»Seien Sie nicht unvernünftig. Um diese Zeit ist es gefährlich, alleine unterwegs zu sein.«

Auch wenn ich versichere, dass ich seine Begleitung nicht benötige, kann ich ihn nicht abhalten. Und nach einigen Blocks bin ich doch dankbar. Erst recht, als wir die U-Bahn nehmen, denn er weicht nicht von meiner Seite, bleibt dicht bei mir, um keiner der seltsamen Gestalten, die um diese Uhrzeit herumlaufen, eine Gelegenheit zu geben, mich anzurühren. Ich habe wirklich Angst. Das erste Mal für heute. Denn auch wenn wir viele verrückte Dinge getan haben, hatte ich nie echte Angst verspürt. Bis jetzt.

Gerade als wir aus der Bahn steigen und zum Ausgang laufen, bemerke ich zwei Männer hinter uns. Als würde er es spüren, wird er langsamer, schiebt mich an eine Wand und stellt sich vor mich.

»Süßes Täubchen hast du da«, meint einer der beiden, seine Fahne kann ich sogar bis hierher riechen. Seine Zähne sind gelblich, seine Augen glasig. Sicher ist er gerade mal einige Jahre älter als wir, sieht aber heruntergekommen aus.

Der andere grinst mich dümmlich an und es ist, als könne ich seine Gedanken lesen.

»Genau. Aber dieses ‚Täubchen‘ gehört zu mir. Also verzieht euch.« Seine Stimme klingt lockerer, als es seine Haltung ist. »Wir haben noch was vor und ziehen es vor, ungestört zu sein.«

Ich kann nicht verhindern, dass meine Hände zittern.

»Na dann«, der erste Sprecher tritt weiter vor, rülpst ungeniert, »lass uns doch trotzdem daran teilhaben.«

»Kein Interesse, ich teile nicht.«

Sie mustern sich gegenseitig. Für mich kommt der Schlag unerwartet, anscheinend aber nicht für ihn. Er weicht ihm geschickt aus, macht einen Schritt nach vorne und vergräbt seine Hand in dessen Magen. Sofort geht der andere auf ihn los.

Auch wenn ich noch nie einem Kampf beigewohnt habe, erweckt es in mir ein Déjà-vu; ich presse mich dicht gegen die Wand.

Kämpfen … Blut … Schwerter. Nein, kleiner. Ein Dolch …

Dieses Gefühl und die Bilder, die in mir aufkommen, machen mir mehr Angst als der Kampf vor mir. Kopfschmerzen breiten sich aus.

Als beide am Boden liegen, kommt er zu mir zurück und fasst mein Gesicht in seine Hände. »Alles in Ordnung?«

Ich kann nur nicken, meine Stimme versagt mir den Dienst. Denn auch diese Geste von ihm ist mir vertraut …

Mein Kopf will bersten, mir ist schlecht, während meine Beine zittern, als wollten sie mich nicht mehr tragen.

2

~Mia~

Wie ich nach Hause gekommen bin, ist mir ein Rätsel. Ich erlebte es wie in Trance und erwachte erst, als er das Tor zu unserem Anwesen öffnet.

»Das nenne ich mal eine große Bude«, bemerkt er.

»Was?« Verwirrt sehe ich mich um. Als ich das Licht vor der Tür angehen sehe, rutscht mir das Herz ein Stock tiefer. Sofort wende ich mich um und stehe mal wieder viel zu dicht bei ihm. »Sie müssen gehen.«

»Mia Bennett!« Zu spät. Meine Mutter kommt die Auffahrt zu uns herunter geeilt, hinter ihr – Michael. Sie bleibt stehen, als sie den fremden Mann bemerkt. Nicht so Michael. Er stürmt auf mich zu und packt mich unsanft am Handgelenk.

»Was denkst du dir dabei?«, schreit er mich an. »Einfach ohne ein Wort zu verschwinden und erst weit nach Mitternacht nach Hause zu kommen.« Er wirft einen Blick über meine Schulter. »Und dann noch in solch einer Begleitung.«

»Wenn ich mich vorstellen darf?« Mich überrascht seine Höflichkeit in der Stimme, denn als er neben mich tritt, sind seine Schultern gestrafft und sein Blick finster. »Vincent W…«

»Es ist mir völlig egal, wer Sie sind.« Michael wedelt mit seiner freien Hand. »Verschwinden Sie einfach von diesem Grundstück.«

Vincent … dieser Name …

In mir reagiert etwas. Ganz deutlich. Ein Ziehen in meinem Magen, in meinem Herzen.

Eisblaue Augen blitzen auf und er sieht auf mein Handgelenk in Michaels Hand; es schmerzt bereits, so fest hält er mich.

»Ich denke nicht, dass ich gehen sollte, während Sie offensichtlich der Dame wehtun«, meint er und in seiner Stimme schwingt unterschwellig eine Drohung mit.

Michael scheint sie ebenfalls zu bemerken, zieht mich ruckartig hinter sich. Ich sehe meinem Begleiter an, dass er versucht, sich zu beherrschen. Aber Michael wirkt nun ebenfalls bedrohlich, denn er tritt dicht vor ihn und stößt ihn weg.

Der Blonde schmunzelt etwas und kommt wieder auf ihn zu. »Das sollten Sie wirklich nicht tun.«

»Verschwinden Sie! Ich sage es nicht nochmal.«

»Und wenn nicht?«, fragt er amüsiert.

»Dann werde ich die Polizei rufen.«

Jetzt grinst er wirklich und breitet lachend die Arme aus. »Nur zu. Habe ich keine Probleme damit. Dann werde ich ihnen berichten, dass Sie die Dame viel zu grob anfassen und ich nur ihre Sicherheit gewährleisten wollte.«

Dieses Mal lacht auch Michael. »Ich denke, sie werden dem Sohn der Bürgermeisterin nachsehen, wenn er seine Verlobte mal etwas zu hart angepackt hat.«

Vincents Blick trifft mich und ich weiß, dass er zwar nicht sonderlich überrascht ist, denn mein Ring dürfte ihm genug gesagt haben, aber dennoch scheint es ihn irgendwie zu treffen, es nun doch bestätigt zu hören.

»Wenn es Ihre Verlobte ist, dann sollten Sie sie besser behandeln. Sonst läuft Sie ihnen womöglich noch davon.«

Ich widerstehe meinem Impuls, zu ihm zu gehen. Nicht zu guter Letzt dadurch, dass meine Mutter mich nun am selben Handgelenk packt und zum Haus zerrt.

»Jetzt komm schon mit rein und lass das die Männer unter sich klären«, zischt sie.

Immer wieder werfe ich einen Blick zurück und wünschte, ich könnte ihm noch etwas sagen. Daher lege ich alles in meinen Blick, was ich kann, um ihm verständlich zu machen: Es tut mir leid!

Kaum bin ich in meinem Zimmer, schließe ich mich ein. Zwar höre ich Michael kurz darauf vor der Türe oben, aber ich bleibe im Dunkeln sitzen, an die Wand gekauert und weinend.

Was ist hier nur los? Ich bin verwirrt, fühle Dinge, die unmöglich sind. Vor Tagen hatte ich vor vielem Angst, nun nur vor einem: Michael zu heiraten. Nein, die Furcht vor etwas anderem ist noch viel größer: Vincent nie mehr zu sehen. Dabei kenne ich ihn doch überhaupt nicht. Aber wieso sehne ich mich nach ihm? Wieso wirkt er mir vertrauter als Michael nach all den Jahren?

Die Sonne geht auf. Noch ein Tag. In 24 Stunden werde ich für die Trauung fertig gemacht. Ich werde Michaels Frau …

Meine Brust schnürt sich zu, ich bekomme kaum noch Luft. Meine Kehle fühlt sich trockener an als eine Wüste, während meine Hände feucht durch mein Haar streichen.

Michaels Frau …

Ich kann das nicht! Ich will das nicht!

Im Haus ist es noch still, als ich an der Tür lausche. Ob allerdings wirklich noch alle schlafen, da bin ich mir nicht sicher. Vor allem, ob Michael nicht vielleicht die restliche Nacht vor meiner Tür verbracht hat.

Aus dem Fenster sehend, suche ich eine Möglichkeit, ob ich irgendwo hinunter klettern kann. Wenn ich auf das Dach steige und etwas zur Seite, dürfte unter mir das Vordach der Haustür sein. Von dort müsste ich eigentlich leicht hinunter kommen. Zumindest in der Theorie.

Mein Herz rast, meine Hände sind noch immer feucht, als ich auf den Fenstersims steige und hinaus aufs Dach. Mir zittern die Hände, doch langsam arbeite ich mich halb rutschend, halb sitzend zur Seite und über das Vordach. Es ist wirklich nur etwa einen Meter unter mir und dann sind es noch …

Ok doch etwas mehr als drei Meter weiter hinunter.Wie soll ich das schaffen? Seit wann bin ich so verwegen?

Unschlüssig stehe ich auf dem Vordach. Ich sollte mich beeilen, bevor noch einer der Nachbarn mich entdeckt. Doch der Boden ist so verdammt weit weg. Und überhaupt … Bin ich verrückt?

»Also ich weiß ja nicht, was das werden soll, aber zum Springen ist es etwas hoch.«

Mein Kopf ruckt nach links und ich sehe in den Hecken Vincent stehen, der grinsend näherkommt.

»Was machen Sie noch hier?«, versuche ich ihm gedämpft zuzurufen.

Er zuckt mit den Schultern, sieht zu den Blumen und meint: »Die Blumen bewundern.« Lacht dann aber und bleibt unter mir stehen. »Wenn Sie da heute noch raus wollen, sollten Sie sich beeilen. Die ersten Bediensteten wuseln schon durchs Haus.«

Ängstlich sehe ich zu den Fenstern zurück, dann hinunter. Zu meiner Überraschung breitet er die Arme aus. »Springen Sie. Ich fang Sie auf.«

Misstrauisch mustere ich ihn nun doch. »Wieso sollte ich Ihnen vertrauen?«

Er zuckt mit den Schultern. »Wieso nicht?« Dann lächelt er so liebevoll wie in der Nacht. »Aber tun Sie das nicht schon längst?«

Er hat recht, das tue ich. Wieso auch immer. Deswegen schließe ich die Augen, atme tief durch und springe.

Zwar sackt er etwas in die Knie, aber ich berühre nicht einmal den Boden. Als ich die Augen öffne, liege ich in seinen Armen und er sieht mir in die Augen, sehr intensiv, und lächelt. Ein so warmes Lächeln, dass es mir den Atem raubt.

»Sehen Sie? War gar nicht so schwer zu springen, oder? Soviel dazu, dass Sie Angst vor Höhen haben.«

»Die habe ich … heute Nacht … irgendwo verloren«, stammle ich.

Behutsam setzt er mich auf dem Boden ab und wir richten uns auf.

Tja … was jetzt? Ich sehe zurück zum Haus.

»Lust auf ein Frühstück?«, fragt er.

Ich sehe ihn an, lächle und nicke. Sofort fasst er meine Hand, als wäre es das Normalste der Welt und so eilen wir vom Grundstück.

Wir sind in einem kleinen französischen Viertel. Das Frühstück nur ein Milchkaffee und ein Croissant. Beides schmeckt himmlisch. Einfach und köstlich, ohne Prunk und Tand. Wir lachen, reden, als würden wir uns wirklich schon ewig kennen.

»Weißt du, was mir gerade auffällt?«, frage ich, weil es mir wirklich jetzt erst in den Sinn kommt.

Er hebt erst eine Augenbraue, doch als könnte er meine Gedanken lesen, schmunzelt er und meint: »Dass wir uns eigentlich noch gar nicht vorgestellt haben?«

Sein Schmunzeln erwidere ich ebenso mit einem, das sich aber zu einem Grinsen ausweitet. Ich strecke ihm die Hand hin. »Ich bin Mia Bennett.«

Er lacht ebenfalls und nimmt meine Hand »Angenehm. Vincent Wanclear.« Mein Herz bleibt stehen, als er sich vorbeugt und meine linke Hand küsst. Einen Moment sieht er diese an – den Ring habe ich abgelegt. Er sagt nichts dazu, lässt sie aber los.

»Bist du öfter hier?«, fragt er dann.

Ich sehe mich um. »Nein, eigentlich nicht.« Ich sehe ihn an. »Aber ein Freund hat es mir empfohlen.« Dass ich nicht wirklich einen Freund damit meine, sondern ihn, scheint ihm bewusst zu sein, denn ein Schmunzeln zuckt in seinen Mundwinkeln.

»Und?«

»Ja, doch. Es ist sehr hübsch hier und schmeckt gut.«

Er sieht mich von der Seite an, reckt den Hals etwas. »Hört sich ja nicht begeistert an.«

Es ist so merkwürdig, wie offen ich ihm gegenüber bin, was seine Augen und sein Lächeln in mir auslösen. »Mit der richtigen Gesellschaft ist es überall schön. Ich könnte mir vorstellen, jeden Morgen hier mit diesem Freund zu sitzen.«

Wieder fasst er meine Hand, streicht darüber und lächelt nur. Lange sehen wir uns einfach an, reden nichts mehr. Bis er plötzlich nachdenklich wirkt, mich dann vom Stuhl zieht und meint: »Ich muss dir was zeigen.«

Wir laufen einige Blocks weiter, dabei lässt er meine Hand nicht los. Das Gefühl, einfach mit ihm durch die Stadt zu laufen, ohne irgendjemanden, der es stört. Ohne dass jemand auf mich sieht. Frei und ungehemmt. Vor zwei Tagen noch war ich unsicher und ängstlich, was ständig mein anderes Ich unterdrückt hat. Nun bin ich einfach gelöst, frei und … mutig.

Ich habe auch keine Angst, als wir vor einem alten Gebäude stehen, ein Wohnhaus, sicher schon zweihundert Jahre alt. Es ist groß, drei Stockwerke hoch. Nicht so groß wie unseres, aber vermutlich ist er ebenfalls nicht arm.

»Hier wohnst du?«

Er drückt die quietschende Gartentür auf, wir laufen über den kleinen Kiesweg durch den Vorgarten; ein Motorrad steht darin, rechts von mir, sogar ein Helm hängt am Lenker.

»Jap«, sagt er nur knapp. »Es gehört schon lange unserer Familie.«

Als er die Tür aufmacht und ich nur typisch junge Männerschuhe sehe, frage ich: »Lebst du alleine hier?«

Der Schuhschrank an der Seite sieht wenig benutzt aus, an dem Jackenständer hängt nur eine weitere Lederjacke. Er zieht seine aus, hängt sie daran, meine ebenfalls.

»Ja, meistens. Einmal im Jahr lässt sich mein Vater blicken. Er hat zu viel zu tun, ist meist im Ausland.«

Im Flur hängen Bilder, Porträts, ein Mann, schwarze lange Haare und eine junge Frau, ebenfalls dunkle Haare, dann ein einzelnes von ihm. Einige weitere, wieder der gleiche Mann.

»Wenn man das so sieht, könnte man auf die Idee kommen, mein Vater sei ein klein wenig selbstverliebt«, meint er zynisch.

»Aber nur ein kleines bisschen.«

Er lächelt, als er mein Zwinkern sieht, nimmt meine Hand und führt mich zur Treppe.

Ich deute auf ein Bild mit der jungen Frau »Wer ist das?«

»Meine Schwester. Sie begleitet ihn auf allen Reisen.«

Sie sind schwarzhaarig, er hat blonde Haare. Ich sehe aber kein Bild einer weiteren Frau, seiner Mutter, die mit Sicherheit blonde Haare haben müsste. Eine Frage danach verkneife ich mir.

»Wo führst du mich hin?«, frage ich, als wir nicht im ersten Stock verweilen, sondern weiter hinauflaufen. »Willst du mich nun doch noch entführen und unzüchtige Dinge tun?«

»Wer weiß«, gibt er grinsend zurück, zwinkert – Angst habe ich keine. Ich weiß, dass er mir nichts tun wird. Ich weiß es einfach.

In mir wächst das Gefühl, zu Hause zu sein. Auch als wir den zweiten Stock verlassen, ändert es sich nicht. Wir steigen eine einzelne enge Treppe hinauf, die unter jedem Tritt knarzt. Vom Türrahmen nimmt er einen alt wirkenden Schlüssel mit verschlungenem Griff. Mein Kopf ziept, ein Bild flammt in mir auf, ein kleiner Schmerz. Schnell ist es wieder vorbei und ich folge ihm hinein.

Hier oben ist alles alt. Das kleine Fenster besteht aus Buntglas und taucht den Raum in Regenbogenfarben. Eine abgesessene Couch steht direkt davor und erstrahlt in seinem Licht; es sieht angenehm beruhigend aus. Fast hat es etwas Magisches. Als sei dies hier eine andere Welt. Außerdem finden sich hier unzählige Bücher, eine Leseecke, ebenfalls alte Möbel: ein kleiner Sessel und daneben Bücher, auf dem ein Schachbrett steht. Keine Figuren, aber wieder ein Buch, aufgeschlagen.

Behutsam fahre ich darüber – kein Staub, also hat er erst kürzlich hier drin gelesen. Ich schlage kurz das Buch um, damit ich den Titel lesen kann. »Die Wächter der Schatten«, als Autor sind nur Initialen angegeben »R&E«. Ich schlage es wieder auf und lasse es so liegen.

Während er eine kleine Kiste aus einem Regal herausholt, setze ich mich auf die Couch, befühle den abgewetzten Stoff und bekomme wieder dieses Déjà-vu-Gefühl. Es ist angenehm warm, hinterlässt ein merkwürdiges Kribbeln und seltsamerweise Kopfschmerzen.

Vincent setzt sich neben mich, öffnet die Kiste und hält sie mir hin. Vorsichtig nehme ich sie auf meinen Schoß und sehe hinein. Oben liegt ein Stofffetzen, er ist cremefarben und zart, federleicht.

»Angeblich war es ein Stück vom Hochzeitskleid meiner Mutter«, kommentiert er es.

Ich fahre darüber. »Es war sicher wunderschön.« Andächtig lege ich es wieder zurück, nehme ein Schwarz-Weiß-Foto heraus. Eine blonde Frau, mit Sicherheit, und man kann die Ähnlichkeit zu Vincent deutlich sehen.

»Meine Mutter.«

Ich nicke, fahre die Linien ihres Gesichtes nach und sehe ihn dann an. Er sieht aber nur zu dem Bild in meiner Hand; sein Blick, verloren, verletzt, einsam. Doch als er mich ansieht, lächelt er und ein anderer Ausdruck tritt an dessen Stelle.

»Ich glaube, sie würde dich mögen.«

Irritiert frage ich: »Wieso?«

Sein Lächeln wird noch eine Spur wärmer. »Weil ich es tue.« Sanft berührt er meine Wange, mein Atem stockt, mein Herz rast.

Er lässt seine Hand sinken, fasst in die Kiste und holt eine goldene Kette mit einem Anhänger heraus. Er legt den Anhänger in seine Hand – ein kleiner Dolch, der Griff golden wie die Kette, die Klinge aber ist silbern.

Wieder durchfährt ein Blitz meinen Kopf und es ist, als wolle etwas heraus, presse sich gegen eine Wand. Doch ich dränge es weg, ich will das jetzt nicht. Dieser Moment ist einfach viel zu schön.

»Ich möchte …«, beginnt er auf einmal etwas nervös. »Ich möchte, dass du sie trägst.«

»Was?«

Er öffnet die Kette, legt sie mir um den Hals, berührt ihn dabei kurz – seine Hände sind so warm auf meiner Haut. Dann zieht er vorsichtig meine Haare heraus und sieht mich wieder an.

Ich berühre den Anhänger, der auf meiner Brust ruht. »Das kann ich …« Mir fehlen die Worte, doch ich weiß, dass ich dies nicht annehmen darf. Denn auch wenn ich den Ring zurückgelassen habe, habe ich dieses Versprechen gegeben …

Aber nicht ich bin es, die das will. Wieso kann ich mich nicht dagegenstellen?

Sei doch einfach mutig, du selbst zu sein!

Vincent berührt mein Kinn und dreht mein Gesicht zu sich. Wenn mein Herz so weiter macht, erleidet es noch einen Infarkt. Nein, wenn er so weiter macht, mich weiter so ansieht, so voller Wärme … und Liebe? Sein Duft hüllt mich ein, dringt in mich und lässt Gefühle in mir frei, die ich nicht kenne, aber die meine sind, das weiß ich.

Sanft berühren seine Lippen meine; ich kann nicht mehr atmen. Alles dreht sich, nur wir stehen still. So, als musste es so sein, als dürfte es nie anders sein.

Als ich den Kuss erwidere, wird er intensiver. Ich drehe mich ganz zu ihm und ohne Gegenwehr lasse ich mich nach hinten drücken, auf die Couch runter. Wir liegen da, können und wollen beide nicht mehr aufhören. Zu schön sind diese Gefühle. Ich will, dass es niemals endet. Ich will nicht aufhören. Aber ich muss.

»Vincent … nicht …«

Ich lege meine Hände auf seine Brust, übe leichten Druck aus.

Das kann ich doch nicht tun. Das ist zu verrückt. Das ist …

Wir atmen beide die gleiche Luft, seine Stirn liegt an meiner, als er ebenfalls nach Luft ringt.

»Wir dürfen das nicht …«, bringe ich heraus.

Doch er küsst mich wieder und meine Gegenwehr schwindet immer mehr.

Seine Lippen wandern meinen Hals entlang, ich greife in seinen Nacken, in sein Haar. Das Kribbeln ist da, Hitze, Feuer … und mehr als vorher das Déjà-vu. Viel vertrauter, als es sein dürfte. Aber warum? Warum fühlt es sich so an, als sei es richtig? Dabei bin ich versprochen.

Wieso bin ich nicht ihm versprochen, dringt es in mich ein. Er ist es. Er gehört zu mir und ich zu ihm. Oder bilde ich mir das ein?

Er sieht mich an, streicht meine Wange entlang. »Ich gehöre dir. Egal, was geschieht.«

Meine Gegenwehr ist nun wirklich dahin. Sein Duft, seine Augen, seine ganze Nähe …

Ich ziehe seine Lippen an meine, presse mich an ihn und gebe meinen Gefühlen nach, meinem Verlangen. Ich ziehe sein Shirt nach oben, er unterbricht den Kuss und zerrt es selbst über seinen Kopf, es landet irgendwo am Boden. Seine Lippen sind wieder auf meinen, so wie es sein muss. Mit den Knöpfen meiner Bluse hält er sich nicht auf, er reißt sie einfach auf – wieso habe ich auch kein T-Shirt angezogen! Aber eigentlich ist mir in diesem Moment auch das egal.

---ENDE DER LESEPROBE---