Spinnenbeute - Jennifer Estep - E-Book

Spinnenbeute E-Book

Jennifer Estep

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Beschreibung

Als ehemalige Auftragskillerin hat »die Spinne« Gin Blanco einiges an Erfahrung im Töten vorzuweisen. Doch diesmal ist ihr Ziel ist niemand Geringeres als Feuerelementar Mab Monroe - die Frau, die einst Gins Familie umbrachte. Dass dieser Mord kein Spaziergang wird, scheint klar. Denn Mab ist nicht nur mächtig, sondern auch skrupellos. Um Gin niederzustrecken, hetzt Mab nicht nur ihr eine Armee Kopfgeldjäger auf den Hals, sondern auch ihrer kleinen Schwester Bria. Gin ist entschlossen, Mabs Treiben ein für allemal ein Ende zu setzen. Nur zu welchem Preis?

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Für meine Mom, meine Grandma und Andre – für alles. Und für all meine Leser dort draußen. Das ist für euch.

Übersetzung aus dem Amerikanischen von Vanessa Lamatsch

ISBN 978-3-492-97114-0 September 2016 © 2011 Jennifer Estep Titel der amerikanischen Originalausgabe: »Spider’s Revenge«, Pocket Books, New York Deutschsprachige Ausgabe: © Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2016 Covergestaltung: Zero Werbeagentur Covermotiv: FinePic®, München und Giovan Battista D‘Achille / Trevillion Images Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Wir weisen darauf hin, dass sich der Piper Verlag nicht die Inhalte Dritter zu eigen macht.

Danksagung

Wieder einmal möchte ich allen Leuten von Herzen danken, die dabei geholfen haben, meine Worte in ein Buch zu verwandeln.

Ein Dank an meine supertolle Agentin, Annelise Robey, und meine wundervollen Lektorinnen Megan McKeever und Lauren McKenna für all ihre hilfreichen Ratschläge, ihre Unterstützung und ihren Zuspruch.

Ich danke Tony Maura dafür, dass er wieder einmal ein fantastisches Cover entworfen hat.

Und schließlich ein dickes Dankeschön an alle Leser. Es gibt so viele tolle Bücher dort draußen, und das Wissen, dass die Leute sich ausgerechnet für meine Romane entscheiden, erfüllt mich immer wieder mit Demut. Ich bin froh, dass ihr Gin und ihre Abenteuer genießt und weiß euch mehr zu schätzen, als ihr euch vorstellen könnt.

Viel Spaß beim Lesen!

1

Profikillern fällt es schwer, alte Gewohnheiten abzulegen – und ich hatte vor, noch vor Ende der Nacht jemanden zu ermorden.

Das tat ich eben. Ich, Gin Blanco. Die Profikillerin, die unter dem Namen »Die Spinne« in Ashland berüchtigt war. Ich tötete Leute. Und ich war sehr, sehr gut in meinem Job.

Heute hatte ich mir das gefährlichste Ziel von allen ausgesucht: Mab Monroe, die Feuermagierin, die meine Familie umgebracht hatte, als ich gerade mal dreizehn Jahre alt gewesen war.

Ich hatte den heutigen Tag wochenlang geplant. Wo ich es machen wollte, wie ich die Security überwinden könnte, welche Waffe ich verwenden müsste, wie ich danach entkommen würde. Heute, in dieser eisigen Nacht, würde ich meinen tödlichen Plan in die Tat umsetzen.

Ich war seit Stunden auf der Jagd. Seit drei Stunden, um genau zu sein. Jede Einzelne davon hatte ich im eisigen Februarfrost verbracht, unter anderem damit beschäftigt, langsam an der Fassade eines fünfzehnstöckigen Gebäudes hinaufzuklettern. Harter Graupel war auf mich herabgeprasselt, während ich versucht hatte, nicht vom pfeifenden Wind über die Dachkante geweht zu werden. Ich hatte es bei Aufträgen schon gemütlicher gehabt, doch das hier ließ sich nicht vermeiden.

Zu dumm, dass Mab genau wusste, dass ich es auf sie abgesehen hatte.

Oh, ich hatte nie damit gerechnet, dass es leicht werden würde, sie zu erledigen. Doch die massiven Sicherheitsmaßnahmen zu umgehen – erst in dem verschneiten Wald um Mabs Herrenhaus herum, dann am Haus selbst –, hatte sich als etwas problematischer entpuppt, als ich erwartet hatte. Auf dem gesamten Gelände wimmelte es nur so von Riesen, die die Feuermagierin als ihre persönlichen Bodyguards beschäftigte. Ganz abgesehen von scheußlichen Landminen und anderen Fallen, die wie unsichtbare Spinnennetze zwischen den Bäumen hingen. Natürlich hätte ich die Riesen einfach erledigen können, hätte auf meinem Weg einen nach dem anderen töten können. Aber das hätte dafür gesorgt, dass Alarm ausgelöst und die Sicherheitsmaßnahmen noch mal verschärft werden würden.

Also hatte ich mich stattdessen für die stille, nicht tödliche Herangehensweise entschieden – zumindest für den Moment. Es hatte mich eine Stunde gekostet, mir meinen Weg durch den Wald zu bahnen, und eine weitere, nah genug an das Herrenhaus heranzukommen, um über eine Treppe auf einen Balkon im ersten Stock zu schleichen und mich auf das Dach zu stemmen, das darüber hinausragte. Danach war es leichter geworden. Auf den Dächern des weitläufigen Hauses waren weder Bewegungsmelder installiert noch Riesen postiert. Ab dem ersten Stock machten sich nur wenige Leute diese Mühe, da die meisten Menschen entweder nicht mutig oder nicht verrückt genug waren, um höher zu klettern – besonders nicht in einer verschneiten Nacht wie dieser.

Ich war weder besonders mutig noch verrückt, aber ich war absolut entschlossen, Mab Monroe zu töten.

Eine starke Böe traf das Herrenhaus, pfiff mir um die Ohren und wirbelte noch mehr gefrorenen Schnee von den Dachfirsten auf mich herab. Die kleinen Eiskristalle piksten in meine Haut, bevor sie über den Rand des Daches geweht wurden und in der unheimlichen silbernen Dunkelheit der Nacht verschwanden.

Ich stöhnte bei ihrem Aufkommen auf meine Haut leise. Als Elementar hätte ich meine Steinmagie einsetzen können, um mich zu schützen. Ich hätte meine Macht anzapfen können, um meine Haut so hart werden zu lassen wie Stein, sodass die Eiskristalle von meinem Körper abgeprallt wären wie Kugeln von Superman. Doch Elementare konnten spüren, wenn andere Magiewirkende ihre Macht einsetzten, und ich wollte Mab keinen Hinweis auf meine Anwesenheit geben.

Zumindest nicht, bevor ich sie umgebracht hatte.

Ich hatte mich bis in den fünften Stock vorgearbeitet. Laut den Plänen des Herrenhauses befand sich hier ein besonders großes Speisezimmer. Und laut den Gerüchten, die mein Ziehbruder Finnegan Lane von seinen verschiedensten Quellen gehört hatte, gab Mab heute eine schicke Dinnerparty. Finn hatte nicht herausfinden können, weswegen die Party stattfand – und auch nicht, wer eingeladen war. Doch das spielte eigentlich auch keine große Rolle. Mab würde heute Nacht sterben, und mir war vollkommen egal, wer sich mit ihr im Raum aufhielt.

Ich befand mich jetzt seit fast einer Stunde in Position vor dem Fenster des Speisesaals. Ich lag auf einem kleinen Vordach, das sich davor erstreckte, bevor es in Richtung des weit entfernten Bodens abfiel. Der wirbelnde Schnee und die gräulichen Schatten in Verbindung mit den Lichtern im Haus machten mich für jeden, der vielleicht aus dem Fenster sah, quasi unsichtbar.

Doch das Schlimmste an dieser Nacht waren nicht die Wachen, die Kälte, der Schnee oder selbst meine eisige, gefährliche Kletterpartie – das Schlimmste war, dass ich den Steinen um mich herum lauschen musste.

Mit der Zeit ziehen Gefühle, Handlungen und Empfindungen von Leuten in ihre Umgebung ein, besonders in den Stein um sie herum. Als Steinelementar konnte ich diese Vibrationen hören, egal, welche Form das Element auch annahm. Von den losen Kieseln auf dem Boden über die Ziegel eines Gebäudes bis hin zum Marmor einer Statue: Das Geräusch, das Murmeln, das Flüstern im Stein verrät mir, was an einer bestimmten Stelle geschehen ist und welche Leute sich dort aufgehalten haben. Und sie verraten mir, welche schrecklichen, bösartigen, verdrehten Dinge diese Leute getan haben – oder wer vielleicht auf mich wartet, um mir mit einem Mordanschlag zuvorzukommen.

Feuer, Hitze, Schmerz, Tod. Davon sprachen die Steine von Mabs Herrenhaus, unterlegt von dem verschlagenen, selbstgefälligen und hochmütigen Flüstern von Macht und Geld – Dinge, die die Feuermagierin im Überfluss besaß. Doch das schlimmste Geräusch – der Klang, der dafür sorgte, dass ich die Zähne zusammenbeißen musste – war ein besessenes, wahnsinniges Kichern, das permanent durch den Stein hallte. Eine Welle nach der anderen brandete im Inneren der Mauern auf, als wäre der Stein irgendwie gefoltert worden, bis er genauso zerstört, verbrannt und tot war wie Mabs zahllose Opfer.

Nachdem ich eine Minute lang auf das irre, jaulende Kichern der Steine gehört hatte, verdrängte ich das schreckliche Geräusch aus meinen Gedanken und konzentrierte mich stattdessen auf wichtigere Dinge, zum Beispiel darauf, meine Waffen zu kontrollieren. Wie immer trug ich fünf Steinsilber-Messer am Körper – eines in jedem Ärmel, eines im hinteren Hosenbund und zwei weitere in meinen Stiefeln. Die Klingen waren bei den meisten Einsätzen die Waffen meiner Wahl, weil sie scharf, stark und fast unzerbrechlich waren. So wie ich.

Doch Mab war ein Feuerelementar, was bedeutete, dass sie Feuer schaffen, kontrollieren und manipulieren konnte, genau wie ich den Stein. Und Mab war nicht einfach nur irgendein Feuerelementar – den Gerüchten zufolge besaß sie mehr reine Magie, mehr pure Macht als jeder andere Elementar, der in den letzten fünfhundert Jahren geboren worden war. Sie hätte mich mühelos mit ihrer Kraft bei lebendigem Leib verbrennen können, bevor ich nahe genug an sie herankam, um auch nur darüber nachzudenken, ihr eines meiner Steinsilber-Messer in ihr brennendes schwarzes Herz zu rammen.

Also hatte ich mich entschieden, klug an die Sache heranzugehen und so viel Abstand zwischen uns zu wahren wie nur möglich. Nur für den Fall, dass die Sache heute Abend nicht genauso lief, wie ich es mir vorgestellt hatte. Also hatte ich noch eine andere Waffe dabei: eine Armbrust. Sie sah aus wie eine gewöhnliche Armbrust – schwer, solide, tödlich –, doch sie war zusätzlich mit einem Zielfernrohr ausgestattet. Und sie war bereits mit einem fünfzehn Zentimeter langen und mit Widerhaken besetzten Bolzen geladen. Da der Bolzen aus Steinsilber war, einem besonders widerstandsfähigen magischen Metall, würde dieses Projektil alles durchschlagen, womit es in Kontakt kam – ob nun Glas, Stein, Fleisch oder Knochen.

Die Armbrust lag auf dem Fensterbrett auf, der Bolzen zeigte in den Raum. Ich befand mich schon seit über einer Viertelstunde in Schussposition. Alles, was ich tun musste, um den tödlichen Bolzen auf den Weg zu schicken, war, den Abzug zu drücken.

Da war es ja gut, dass die Gäste des Abendessens bald ankamen.

Die schwarzen Samtvorhänge waren zurückgezogen, sodass es mir möglich war, den gesamten Speisesaal zu überblicken. Die meisten Leute machten sich oberhalb des zweiten Stocks nicht die Mühe, die Vorhänge zu schließen. Es war sehr, sehr nachlässig von Mabs Bodyguards, dieses kleine Detail übersehen zu haben.

Ich war bereits einmal in Mabs Herrenhaus gewesen, als ich vor ein paar Monaten eine andere Zielperson verfolgt hatte. Der Speisesaal war genauso verschwenderisch eingerichtet wie das restliche Gebäude. Er war gute dreißig Meter lang, mit einer hohen Decke. Ein kompliziertes Muster aus goldenen und silbernen Intarsien glitzerte dort oben und mehrere funkelnde Lüster hingen über dem schweren Ebenholztisch. Die Kristalle glitzerten wie polierte Tautropfen. Der Tisch war mit vier Dutzend teuren Porzellantellern und erlesenem Silberbesteck gedeckt. Champagner und andere kostspielige Getränke standen in silbernen Kühlern auf dem Tisch verteilt, sodass jeder Gast mühelos den Alkohol erreichen konnte.

Seit zehn Minuten bewegten sich Riesen in Smokings durch den Raum, um Teller, Servietten, Getränke und alles andere aufzutragen, was vielleicht gebraucht werden könnte. Mein Blick glitt zu einem Büfetttisch, der am anderen Ende des Raumes aufgestellt worden war. Mab und ihre Gäste würden sich heute Abend unter anderem an Hummer erfreuen.

Schließlich öffnete einer der Riesen die breite Doppeltür am Ende des Raums, verbeugte sich leicht und winkte die Gäste in den Saal. Zeit für die Party, in mehr als einer Hinsicht.

Die meisten Gäste betraten den Raum allein, doch ich entdeckte auch mehrere Paare und kleinere Gruppen. Männer und Frauen. Alt, jung, dick, dünn. Schwarz, weiß, hispanisch. Zwerge, Riesen, Vampire. Die Gästeliste war vielfältiger, als ich erwartet hatte. Gewöhnlich ähnelten sich Mabs Geschäftspartner alle – Männer mittleren Alters mit kranken Begierden und mehr Geld als gesundem Menschenverstand.

Doch diese Leute waren anders. Oh, sie sahen alle aus, wie ich es erwartet hatte – fein herausgeputzt in Smokings und Abendkleidern, mit teurem Schmuck, perfektem Make-up und aufwändigen Frisuren. Doch sie benahmen sich nicht, wie ich es erwartet hatte. Sie verteilten sich nicht im Raum, sie stürzten sich nicht auf den Alkohol und das Essen, und – was am auffälligsten war – sie unterhielten sich nicht miteinander. Stattdessen blieben die Singles, Paare und selbst die Gruppen für sich, wobei sie peinlich darauf achteten, Abstand zu den anderen zu halten.

Seltsam. Wirklich sehr seltsam.

Durch mein Zielfernrohr musterte ich ein Gesicht nach dem anderen, um herauszufinden, wen Mab zu ihrer Party eingeladen hatte und warum sie sich so ungewöhnlich benahmen. Mir war vielleicht egal, wie diese Leute hießen oder wie viel Geld sie besaßen. Aber ich wollte auf jeden Fall wissen, ob sich jemand von ihnen als harter Kerl betrachtete, der eine Bedrohung für mich darstellen könnte. Nicht, dass ich plante, lange zu verweilen, nachdem ich Mab ausgeschaltet hatte. Doch Vorsicht konnte nie schaden. Fletcher Lane, der alte Mann, der mein Mentor gewesen war, hatte mir das beigebracht, zusammen mit vielen anderen tödlichen Dingen.

Trotz der Smokings, Abendkleider und glitzernden Schmuckstücke strahlte jeder Einzelne im Raum, ob Mann oder Frau, eine angespannte, raubtierartige Wachsamkeit aus. Sie musterten sich gegenseitig mit harten Blicken, als konkurrierten sie alle um denselben Preis und wären zu allem bereit, um ihn zu gewinnen. Ein paar von ihnen beäugten tatsächlich das Besteck, als dächten sie darüber nach, nach den Messern, Löffeln und Gabeln zu greifen, um das Service ein wenig auszudünnen, noch bevor die Show richtig angefangen hatte.

Ich runzelte die Stirn. Mab machte Geschäfte mit den verschiedensten widerwärtigen Charakteren, doch etwas an den Leuten in diesem Speisesaal störte mich. Vielleicht die Tatsache, dass sie mich alle an … mich selbst erinnerten. Gin Blanco. Die Spinne.

Doch bevor ich darüber nachdenken konnte, öffnete sich die Doppeltür erneut, und Mab Monroe betrat den Raum.

Die Feuermagierin schlenderte durch die angespannten Anwesenden hindurch, bis sie die Mitte des Raums erreicht hatte. Alle drehten sich, um sie anzustarren, und die wenigen Gespräche verstummten, als hätte jemand mitten im Lied ein Radio ausgeschaltet. Wie ihre Gäste auch war Mab für den Abend herausgeputzt, in einem langen meergrünen Kleid, das ihre bleiche Haut betonte. Die kupferroten Haare trug sie in einer komplizierten Hochsteckfrisur. Zwei sorgfältig arrangierte Strähnen schmiegten sich an ihr Gesicht wie Rinnsale aus Blut. Doch das Auffälligste an Mab waren ihre Augen – so schwarz wie bodenlose Teiche. Sie schienen jedes verfügbare Licht aus dem Raum zu saugen, statt es zu reflektieren. Selbst die hell erleuchteten Lüster über ihrem Kopf wirkten für einen Moment verdunkelt, als sie unter ihnen hinwegschritt.

Der tiefe V-Ausschnitt von Mabs Kleid gab den Blick frei auf ihr Dekolleté, zusätzlich betont durch die Kette, die sie trug. Ein feingliedriges Band umschloss den Hals der Feuermagierin, daran hing eine goldene Scheibe, in deren Mitte ein Rubin eingelassen war. Mehrere Dutzend wallender goldener Strahlen fassten den Edelstein ein und die in das Gold eingelassenen Diamantsplitter reflektierten das Licht, sodass es aussah, als würden die Strahlen tatsächlich flackern.

Dieses auffällige Medaillon war viel mehr als nur ein Schmuckstück – es war eine Rune. Eine Sonne. Das Symbol für Feuer. Mabs persönliche Rune, die nur sie allein verwendete. Runen waren der Weg, wie Elementare und andere Magiebegabte in Ashland ihre Identität preisgaben. Sie identifizierten sich selbst, ihre Familien, ihre Macht, ihre Bündnisse und sogar ihre Geschäfte damit.

Auch ich besaß eine persönliche Rune. Ein kleiner Kreis umgeben von acht dünnen Strahlen. Eine Spinnenrune. Das Symbol für Geduld. Und mein Deckname als Auftragsmörderin. Tatsächlich trug ich sogar mehrere dieser Runen – denn in jede meiner Handflächen war eine Spinnenrune eingebrannt. Mab hatte das getan, in der Nacht, in der sie meine Familie ermordet hatte. Damals hatte mich die Feuermagierin gefoltert, indem sie mit Klebeband ein Steinsilber-Medaillon in Form einer Spinnenrune zwischen meinen Händen befestigt hatte, um das Metall dann mit Magie zu erhitzen, bis es in meine Haut eingeschmolzen war und mich für immer gezeichnet hatte.

Der Anblick von Mab und ihrer glitzernden Sonne am Hals sorgte dafür, dass die Spinnenrunen auf meinen Händen juckten und brannten, wie sie es immer taten, wenn ich mich in der Nähe der Feuermagierin aufhielt. Doch ich rührte mich nicht, rieb mir nicht die Hände, um das unangenehme Gefühl darin zu vertreiben, auch seufzte ich nicht angespannt. Zur Hölle, ich blinzelte nicht einmal.

Mab umzubringen war viel wichtiger als die Erinnerungen, die in mir aufstiegen, oder die Schmerzen, die sie mir verursachten – selbst heute noch, siebzehn Jahre nach dieser Nacht. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um sentimental oder nachlässig zu werden. Nicht, wenn ich endlich die Chance hatte, das Miststück umzubringen und unsere Fehde ein für alle Mal zu beenden.

Im Speisesaal drehte sich Mab einmal um die eigene Achse. Ihre schwarzen Augen glitten über ihre Gäste und schätzten sie ab, genau wie ich es getan hatte.

»Es freut mich zu sehen, dass Sie es alle geschafft haben.«

Die Stimme der Feuermagierin war leise, weich und seidig, doch gleichzeitig auch ein wenig rau. Und trotz ihres sanften Tonfalls hörte man die Macht in Mabs Worten.

Dank Finn und seiner Begabung, so gut wie alles zu beschaffen, hatte ich nach meinem Aufstieg für einen Moment das Fenster geöffnet und eine kleine Wanze unter dem Fensterbrett angebracht. Der Empfänger, der in meinem Ohr steckte, sorgte dafür, dass ich Mab laut und deutlich hören konnte.

»Ich war mir nicht ganz sicher, wie viele von Ihnen so kurzfristig einen Besuch einrichten können«, fuhr Mab fort. »Doch die zahlreiche Beteiligung macht mich sehr glücklich.«

Ich runzelte die Stirn. Beteiligung? Was plante die Feuermagierin und wer waren diese mysteriösen Leute, die sie in ihr Herrenhaus eingeladen hatte? Mich beschlich das Gefühl, dass es sich hier doch nicht um die harmlosen Geschäftsleute handelte, die ich erwartet hatte.

Eine Frau trat vor und löste sich aus der Gruppe. Wie alle anderen trug sie ein Abendkleid, doch das Kleidungsstück war ein wenig zu groß für ihren dünnen, sehnigen Körper. Der Stoff war billig und die minzgrüne Farbe verblasst, als trüge sie das Kleid schon seit Jahren und würde es immer für besondere Gelegenheiten wie diese aus dem Schrank holen. Sie musste mindestens siebzig sein, ihre Haut wies die dunkle nussbraune Färbung von jemandem auf, der sein gesamtes Leben an der frischen Luft verbracht und unter der brennenden Sonne gearbeitet hatte. Die grauen Haare trug sie zu einem strengen Dutt gebunden, der ihr scharfes, kantiges Gesicht betonte, und ihre Augen zeigten ein fahles, ausgewaschenes Blau.

Die Frau gehörte zu denjenigen, die nicht allein gekommen waren. Rechts neben ihr stand ein junges Mädchen von vielleicht sechzehn Jahren. Sie trug einen billiges rosafarbenes Kleid mit Ballerinarock, in dem sie aussah wie eine Debütantin. Das Mädchen war so hell wie die Frau dunkel, und ihre langen braunen Haare wurden von honigblonden Strähnen aufgehellt. Die haselnussfarbenen Augen blickten voller Unschuld aus ihrem schmalen, fast ausgezehrten Gesicht. Das Mädchen sah sich immer wieder um, offensichtlich eingeschüchtert von der opulenten Einrichtung.

»Nun, eigentlich hatten wir kaum eine Wahl, Mab.« Die Stimme der Frau war tief und angenehm, fast freundlich, als spräche sie mit einem Fremden auf der Straße und nicht mit der gefährlichsten Person in Ashland. »Nicht bei der großzügigen Bezahlung, die Sie anbieten. Ich bin fast überrascht, dass nicht noch mehr Leute aufgetaucht sind.«

Die anderen im Raum nickten zustimmend.

Ich kniff die Augen zusammen. Ging es hier um irgendein Geschäft? Oder um etwas anderes … Unheilvolles? Hatte das alles hier vielleicht etwas mit der Spinne zu tun?

Das war durchaus möglich. Vor nicht allzu langer Zeit hatte Mab eine Auftragsmörderin namens Elektra LaFleur angeheuert, um nach Ashland zu kommen, mich aufzuspüren und umzubringen. Natürlich hatte ich stattdessen LaFleur erledigt. Trotzdem wartete ich seit dieser Zeit darauf, dass die Feuermagierin wieder etwas unternahm, um mich aus der Welt zu schaffen. Irgendwie versuchte, die Spinne aufzuspüren. Mab war niemand, der einfach so aufgab, besonders da ich seit Monaten ihre Männer ausschaltete, ihre besten Pläne vereitelte und ihr bei jeder sich bietenden Gelegenheit eine lange Nase drehte.

Doch seit ich LaFleur auf dem alten Bahnhofsgelände von Ashland getötet hatte, war alles ruhig geblieben. Selbst Finn und seine vielen Spione hatten nicht das leiseste Flüstern eines neuerlichen Plans vernommen. Das machte mich nervöser, als wenn Mab all ihre Männer gleichzeitig losgeschickt hätte, um mich endlich zu finden.

Doch ich hatte so ein Gefühl, dass die Ruhe heute Abend enden würde – und zwar mit einem Knall.

»Und Sie sind?«, fragte Mab, während sie ihren Gast von oben herab musterte.

Die andere Frau senkte respektvoll den Kopf, auch wenn sie dabei nicht für einen Moment den Blick von der Feuermagierin abwandte. »Ruth Gentry, zu Ihren Diensten.«

»Ah, ja, Gentry. Nun, ich weiß Ihre Ehrlichkeit zu schätzen«, sagte Mab im selben freundlichen Tonfall wie die ältere Frau. »Sie haben einen herausragenden Ruf, genau wie jeder andere in diesem Raum. Was natürlich der Grund dafür ist, warum ich Sie heute Abend hierhergebeten habe.«

Die Feuermagierin hatte mit ihren Worten meine Neugier angestachelt. Ich wollte herausfinden, wer all diese mysteriösen Leute waren. Meine Neugier erwies sich oft als stärker als ich, doch dieses Mal zwang ich mich dazu, sie zu unterdrücken. Ich war nur aus einem Grund hier – um Mab zu töten. Alles andere konnte warten.

»Ich hoffe, Sie hatten alle eine gute Reise«, sagte Mab zu ihren Gästen. »Wie Sie sehen, werden wir uns heute an verschiedenen Gerichten erfreuen, die mein Koch für uns zubereitet hat …«

Ich blendete die Worte der Feuermagierin aus und löste mein Auge vom Zielfernrohr. Langsam streckte ich die Hand aus, bis meine Finger sich um einen winzigen durchsichtigen, fast unsichtbaren Saugnapf schlossen, der vor mir an der Scheibe klebte. Ich zog daran, und ein kreisrundes Stück Scheibe löste sich aus dem Fensterglas. Heute Nacht hatte ich einen Diamantschneider mitgebracht, versteckt in einer der Taschen meiner Steinsilber-Weste. Ich hatte ihn vor einer Weile eingesetzt, um ein Loch in das Fenster vor mir zu schneiden. Ich wollte Mab auf jeden Fall treffen, daher konnte ich nicht riskieren, dass der Armbrustbolzen von seinem Aufprall auf die Scheibe abgelenkt wurde.

Ich legte das Glas neben mich auf das verschneite Dach. Dann schob ich die Armbrust nach vorn, bis die äußerste Spitze, das Ende des Bolzens, gerade so durch das Loch im Fenster ragte – und direkt auf Mab zeigte.

Einer von Mabs Riesen-Bodyguards, der heute Abend offensichtlich als Kellner eingesetzt wurde, trat neben Mab, als hätte er eine wichtige Nachricht für sie. Die Feuermagierin ignorierte ihn und teilte ihren Gästen mit, dass sie das Geschäftliche nach dem Essen besprechen würden. Zu dumm, dass sie nicht mal mehr die Suppe erleben würde.

Ich wartete ein paar Sekunden um sicherzustellen, dass der Riese nicht vor Mab treten oder anders stören würde, dann rutschte ich noch ein kleines Stück vorwärts und drückte mein Auge wieder an das Zielfernrohr. Die Feuermagierin befand sich nicht weit von mir entfernt – vielleicht fünfzehn Meter. Durch das Objektiv konnte ich ihr Gesicht deutlich erkennen.

Ich zielte auf ihr rechtes Auge, das schwärzer wirkte als Tinte. Ich hatte nur einen Schuss, und den wollte ich nicht auf eine Brustwunde verschwenden, die sie vielleicht umbringen würde – vielleicht aber auch nicht. Mab mochte ja mehr Magie besitzen als jeder andere Elementar in Ashland, doch selbst sie konnte keinen Armbrustbolzen im Auge überleben. Besonders da das Steinsilber-Projektil weiterfliegen würde, bis es aus ihrem Hinterkopf wieder austrat. Den Verlust des halben Hirns überleben wirklich nur die wenigsten.

Trotz all der Leute, die ich über die Jahre ermordet hatte, trotz all des Blutes, das ich vergossen hatte, trotz all der plötzlichen, brutalen Tode, die ich verursacht hatte, zitterte mein Finger ein wenig, als ich ihn auf den Abzug der Armbrust legte. Mein Herz raste und trotz der Kälte rann mir Schweiß über die Stirn. Ich atmete tief durch, um mich und meine Nerven zu beruhigen. Ich versuchte mich in diese kalte, dunkle Trance zu versetzen, in die ich schon so oft verfallen war – und die mich durch so viele finstere Zeiten meines Lebens gebracht hatte.

Denn dies war der einzige Mordanschlag, der wirklich zählte. Für meine ermordete Familie, für meine kleine Schwester Bria, für mich. Er würde nicht alles wiedergutmachen, konnte die schlimmen Zeiten, die ich durchlitten hatte, oder die ebenso schrecklichen Dinge, die ich getan hatte, nicht ungeschehen machen. Doch Mab umzubringen würde dafür sorgen, dass diejenigen, die ich liebte, in Sicherheit waren. Ich hoffte darauf, dass ihr Tod auch mir Frieden bringen würde.

Vor Jahren, als Mab meine Mutter und meine ältere Schwester ermordet hatte, hatte ich sie nicht aufhalten können. Doch jetzt konnte ich sie töten. Alles, was ich je getan hatte – auf der Straße zu leben, Auftragsmörderin zu werden, meine tödlichen Fähigkeiten immer weiter zu perfektionieren –, fand seine Erfüllung in diesem einen Moment, dieser letzten Konfrontation.

Ich atmete aus und drückte den Abzug.

2

Ein kaum hörbares Klicken erklang und der mit Widerhaken besetzte Bolzen schoss auf tödlichem Kollisionskurs mit Mabs Auge durch das Speisezimmer. Zu dumm, dass ich sie verfehlte.

In der letztmöglichen Sekunde, im letztmöglichen Augenblick wurde der Riese, der neben Mab gestanden hatte, des Wartens müde und beugte sich vor, sodass sich sein Kopf von der Größe einer Wassermelone vor ihr Gesicht schob. Der Armbrustbolzen drang in seine linke Schläfe und schoss auf der anderen Seite des Kopfes wieder heraus, verfehlte Mab und traf stattdessen die Wand hinter ihm. Dort blieb das Projektil stecken, zitternd von der Kraft seines gewalttätigen Fluges. Blut und Hirnmasse tropfte vom Schaft des Bolzens herunter wie Wasser.

Für einen Moment blieb ich einfach auf dem verschneiten Dach liegen und verfluchte Fortuna, dieses wankelmütige Miststück, das mich mal wieder in die Pfanne gehauen hatte – und das ausgerechnet heute Nacht. Verdammt und zweimal verdammt. Und noch ein paarmal. Überall um mich herum kicherten die grauen Steine des Herrenhauses vor Wahnsinn, als würde es sie freuen, dass ihre Herrin noch lebte. Dämliches Glück. Dämliche Steine. Dämliches … alles!

Ich hatte danebengeschossen. Ich hatte die Chance gehabt, Mab zu ermorden, und ich hatte danebengeschossen.

Was war ich nur für eine Profikillerin? Mein Mentor und Ziehvater, Fletcher Lane, hätte mir in diesem Moment einen traurigen, vielsagenden Blick aus seinen wässrigen grünen Augen geschenkt und den Kopf geschüttelt, um mir wortlos zu sagen, dass ich es hätte besser wissen müssen. Dass ich noch ein paar Sekunden mehr hätte warten müssen, bis sich der Riese wieder von Mab entfernt hatte. Schließlich war ich die Spinne. Meine Rune war das Symbol für Geduld, das war die Tugend, die meine Karriere, mein verdammtes Leben, ausgemacht hatte. Doch nun hatte ich Fletchers Lehren ignoriert. Ausgerechnet heute Nacht war ich dämlich, ungeduldig und sogar schlampig gewesen, und das kostete mich einiges – vielleicht sogar alles.

Eine halbe Sekunde lang geschah im Speisezimmer gar nichts. Dann kippte der Riese nach vorn um, sodass er auf Mab fiel. Gemeinsam knallten sie auf den Boden. Ich fluchte wieder, denn jetzt gab es keine Chance mehr, die Feuermagierin mit einem weiteren Schuss zu erwischen. Zur Hölle, ich konnte sie nicht einmal sehen, da sie unter dem zwei Meter zehn großen Körper des Riesen begraben war.

Eine weitere Sekunde verging, dann verarbeiteten endlich alle, was passiert war. Dass jemand gerade einen Schuss auf Mab abgegeben hatte – in ihrem eigenen Herrenhaus.

Doch statt zu schreien, wie normale Geschäftsleute es getan hätten, ließ sich die Mehrzahl der Frauen und Männer im Raum auf den Boden fallen. Ein paar griffen nach dem Besteck, das sie vorher schon beäugt hatten. Ihre Hände schlossen sich mit erstaunlicher Vertrautheit um Messer, Löffel und Gabeln. Außerdem fiel mir auf, dass sich Ruth Gentry, die Frau, die mit Mab gesprochen hatte, über das Mädchen geworfen hatte, das sie begleitete, um sie vor möglichen Angriffen zu schützen. Wie aufmerksam von ihr.

All das bemerkte ich, während ich mich bereits vom Acker machte. Ich hatte Mab verfehlt, jetzt musste ich mich mit wichtigeren Dingen beschäftigen: hier zu verschwinden. Meine Hände waren bereits damit beschäftigt, einen weiteren Steinsilber-Bolzen in die Armbrust zu legen, während ich mich gleichzeitig auf die Füße kämpfte.

»Das Fenster!«, sagte jemand im Raum. »Dieser Bolzen kam von draußen.«

»Natürlich kam er von draußen«, erklang Mabs gedämpfte Stimme. Einer ihrer Arme schlug auf den toten Körper des Riesen über ihr ein. »Schnappt sie euch, ihr Narren!«

Die Gesellschaft erstarrte für einen Moment. Erst wechselten sie Blicke, dann glitten ihre Augen zum Fenster. Eine Böe drang durch das Loch, das ich in die Scheibe geschnitten hatte, sodass sich die schweren Samtvorhänge wie die Flügel einer Fledermaus bewegten.

»Jetzt!«, brüllte Mab.

Das war mein Stichwort zum Aufbruch. Fast gleichzeitig sprangen die meisten im Speisezimmer auf die Füße und rannten Richtung Fenster. Es gab ein Gedränge, als sie um die besten Plätze kämpften, während Messer und Gabeln wie Dolche durch die Luft stachen.

Dieses Gerangel schenkte mir weitere kostbare Sekunden, um so schnell wie möglich zu verschwinden. Mit der Armbrust immer noch in der Hand rannte ich über das schneebedeckte Dach. Meine Stiefel fanden auf dem Eis kaum Halt, doch statt gegen den rutschigen Untergrund anzukämpfen, lehnte ich mich vor und nutzte Schwung und Gewicht, um zu beschleunigen. Ich musste aus der Umgebung des Speisezimmers verschwinden und ich würde jeden Vorteil nutzen, den ich kriegen konnte, selbst wenn es nur um ein paar mickrige Zentimeter ging.

Das Dach erstreckte sich vielleicht zehn Meter vor mir, dahinter gähnte die Dunkelheit. Ich zögerte an der Dachkante, wirbelte herum und schoss meine Armbrust in Richtung des Herrenhauses ab. Der Steinsilber-Bolzen, der geformt war wie ein Enterhaken und ein fünfzig Meter dünnes Kletterseil hinter sich herzog, erhob sich gute zwei Stockwerke über meinen Kopf in die Luft, bevor er sich an einer Brüstung verfing.

Ich ließ die Armbrust fallen, löste den Rest des Seils von meinem Gürtel und warf es über die Dachkante. Das dünne schwarze Seilende verschwand in der Dunkelheit unter mir. Ich zog kurz daran, um sicherzustellen, dass der Enterhaken Halt gefunden hatte. Das spielte allerdings keine große Rolle, weil mir sowieso die Zeit für einen weiteren Schuss fehlte. Schon jetzt hörte ich Glas hinter mir zerbrechen, weil die Männer und Frauen aus dem Speisezimmer die Verfolgung aufnahmen.

Also packte ich das Seil, atmete einmal tief durch und trat über die Dachkante.

Der Wind schrie in meinen Ohren, als ich die fünfundzwanzig Meter bis zum Boden nach unten raste. Mir blieb keine Zeit für Vorsicht oder Raffinesse, also ließ ich mich einfach fallen. Ich griff nach meiner Steinmagie, zog die kühle Macht durch meine Adern und schickte sie in meine Hände, um meine Haut dort so zu verhärten, dass das dünne Seil sie mir nicht aufriss, als ich nach unten glitt. Kurz bevor ich auf dem Boden ankam, schickte ich noch mehr von meiner Magie in Arme, Beine, Brust und in den Kopf, um meinen gesamten Körper so hart zu machen wie die Steine des Herrenhauses über mir.

Ich hatte es zu eilig, um meinen Sturz zu verlangsamen, also rammte mein Körper einfach durch den eisigen Schnee in den gefrorenen Boden. Ich grunzte bei dem harten Aufprall, doch dank meiner Steinmagie richtete der Sturzflug keinen dauerhaften Schaden an. Kaum aufgekommen, rollte ich mich mehrmals um meine eigene Achse durch den Schnee, bis ich den Schwung nutzen konnte, um wieder auf die Beine zu kommen.

Ich hatte kaum zwei Schritte gemacht, als ein dünner Schrei erklang, der mit jeder Sekunde lauter wurde. Es war ein hohes Geräusch, wie das Pfeifen eines Zuges. Ich sah gerade rechtzeitig auf, um einen Körper auf mich zurasen zu sehen, sprang aus dem Weg und der Mann knallte dort auf den Boden, wo ich gerade noch gestanden hatte. Anscheinend hatte er das Eis auf dem Vordach unterschätzt und den Preis dafür gezahlt. Das Blut und die Hirnmasse, die sich auf dem Schnee ausbreiteten, erinnerten mich an das pinkfarbene Kleid des jungen Mädchens, das vorhin im Speisesaal gestanden hatte – doch ich schenkte dem Mann kaum mehr als einen kurzen Blick, während ich mich wieder auf die Beine kämpfte.

Denn jetzt war der Moment gekommen, um mein Leben zu rennen.

Es dauerte nicht lange, bis Alarm ausgelöst wurde. Ich hatte die weite weiße Fläche vor dem Haus noch nicht einmal zur Hälfte überquert, als bereits überall im Herrenhaus Lichter angingen. Eines nach dem anderen wurde eingeschaltet, wie Dominos, die nacheinander umfallen, und jede Lampe riss ein Stück aus der Dunkelheit um mich herum. Schritte kratzten und trappelten über die Balkone und Treppen über meinem Kopf, doch ich machte mir mehr Sorgen um das, was ich hinter mir hören konnte. Das knackende Geräusch des gefrorenen Schnees ließ mich an brechende Knochen denken – meine eigenen, wenn ich nicht schnell hier verschwand.

»Alarm! Alarm!«, hallte eine Stimme vom Band.

Die Sirene und die Stimme erklangen noch fünfmal, bevor jemand sie ausschaltete, doch heisere Schreie ersetzten sofort die verzerrte Computerstimme. Die Riesen, die einen Großteil von Mabs Sicherheitspersonal bildeten, waren über meine Anwesenheit informiert worden und hatten sich auf die Jagd gemacht. Ich konnte ihre überraschten, wütenden Rufe genauso deutlich hören wie meine eigenen schnellen Schritte im Schnee.

»Sie ist hier! Die Spinne ist hier!«

»Sie hat versucht, Mab umzubringen!«

»Findet das Miststück! Egal, was es kostet! Diesmal wird sie uns nicht entkommen.«

Ich hatte gehofft, zumindest den Waldrand zu erreichen, bevor Mab mir jeden einzelnen ihrer Riesen auf den Hals hetzte, doch Fortuna war noch nie meine Freundin gewesen.

Trotzdem wurde ich nicht langsamer, nicht für eine Sekunde. Jetzt, wo sie wussten, dass ich hier war, würden die Riesen aus allen Richtungen auf mich zustürmen, um mich zwischen sich einzukesseln. Und wenn sie das taten, wenn sich das Netz um mich schloss, war ich tot. Im Moment war Geschwindigkeit wichtiger als alles andere …

Peng! Peng! Peng! Peng!

Kugeln bohrten sich hinter mir in den Schnee und warfen kalte Eiskristalle auf, die sich in meine Beine und meinen Rücken bohrten. Doch ich hetzte einfach weiter, die Augen unverwandt auf die schneebedeckten Bäume vor mir gerichtet.

Da es die ganze letzte Woche über geschneit hatte und die Gegend um Mabs Herrenhaus genauso eingefroren und in Schnee versunken war wie der Rest von Ashland, hatte ich mich gegen meine übliche schwarze Profikiller-Kleidung entschieden – Stiefel, Hose, Pulli, Weste, Skimaske – und sie gegen hellgraue Klamotten eingetauscht, die es mir erleichterten, mit den sanften Schatten des Winters zu verschmelzen. Doch Bewegung blieb Bewegung, und die Riesen zielten heute Abend auf alles, was größer war als ein Eichhörnchen.

Trotzdem. Wenn sich nicht irgendwo auf dem Gelände ein Scharfschütze von außergewöhnlichem Talent versteckte, machte ich mir keine allzu großen Sorgen, dass die Riesen mich erschießen könnten. Die meisten Leute trafen nicht einmal im hellen Tageslicht, worauf sie zielten. Noch weniger erwischten sie ihr Ziel nachts, wenn Schnee und Schatten die Landschaft in verschiedene Grautöne tauchten. Und selbst wenn es jemandem gelingen sollte mich zu treffen, würde der Schuss keinen echten Schaden anrichten. Ich hielt immer noch meine Steinmagie, verhärtete immer noch meine Haut damit, was bedeutete, dass jede Kugel, die ihren Weg in meine Richtung fand, einfach abprallen würde …

Die Faust tauchte wie aus dem Nichts auf.

Ich hatte gerade den Waldrand erreicht, als ein dicker Arm aus der Dunkelheit schoss und mich die dazugehörige Faust voll im Gesicht traf. Der harte, scharfe Schlag warf mich nach hinten und meine Füße verloren den Halt. Ich stolperte gegen einen Baum, so heftig, dass ein paar mit Eis überzogene Zapfen von den schwankenden Zweigen auf meinen Kopf fielen. Ich sank auf ein Knie. Der Schnee durchnässte meine schwere Cargohose und die vielen Schichten Stoff, die ich daruntertrug.

Doch mehr als die Feuchtigkeit machte mir zu schaffen, dass mich der Angriff vollkommen überrascht hatte. So sehr, dass ich den Halt meiner Steinmagie verlor und meine Haut wieder ihre normale Beschaffenheit – und Empfindlichkeit – zurückerlangte. Was bedeutete, dass mich Kugeln, Fäuste oder andere Gefahren jederzeit verletzen konnten. Und heute Abend war die Auswahl wirklich groß genug.

»Wow. Ich dachte, du wärst schwerer zu erwischen«, knurrte ein Mann, der aus den Schatten zu meiner Linken trat. »Irgendwie enttäuschend, wenn du mich fragst. Du wirst dem Rummel, der um dich gemacht wird, gar nicht gerecht, Spinne.«

Es war einer von Mabs Riesen. Er war über zwei Meter groß und seine breite Gestalt schimmerte hell im winterlichen Mondlicht, da er einen silbernen Skianzug trug. Ich erkannte ihn – auf meinem Weg zum Herrenhaus hatte ich mich an ihm vorbeigeschlichen. Er grinste mich breit an und zeigte dabei goldene Kronen, die fast heller leuchteten als die schneebedeckte Landschaft um mich herum.

Ich blieb, wo ich war – auf einem Knie, als wäre ich noch betäubt von seinem harten Schlag. Das Grinsen des Riesen wurde breiter. Wieder ballte er die Hand zur Faust, dann trat er auf mich zu, bereit, mir den Kopf von den Schultern zu schlagen. Er sah weder, dass mein rechter Arm nach unten fiel, noch das glänzende Metall, das plötzlich in meiner Hand aufblitzte.

Arroganz erledigt jeden.

Sobald er nah genug war, riss ich den Arm hoch und bohrte ihm mein Steinsilber-Messer in die Brust. Ich rammte die Klinge so fest und tief in sein Fleisch, wie ich nur konnte, bevor ich sie wieder zurückzog und noch einmal zustach. Dieser Riese musste sterben – sofort. Ich hörte die anderen Verfolger hinter mir, die sich dem Kiefernwald näherten und damit drohten, mir jede Chance auf Flucht zu versauen.

Der Riese schrie vor Schmerz, womit er allen verriet, wo wir uns befanden, dann fiel er auf die Knie. Er griff nach mir, um mich festzuhalten, bis seine Kumpel auftauchten und seinen Tod bezeugen konnten, doch ich wich seinen rudernden Armen mühelos aus. Gewöhnlich hätte ich ihm noch die Kehle durchgeschnitten, um sicherzugehen, dass er wirklich starb, aber mir fehlte die Zeit …

Peng! Peng! Peng!

Weitere Kugeln sausten in meine Richtung und trafen die Bäume um mich herum. Splitter schossen durch die Luft und der scharfe Geruch von Harz stieg mir in die Nase. Ich sprang über den verwundeten Riesen hinweg und eilte tiefer in den Wald, um dem tödlichen Netz zu entkommen, das sich langsam um mich zusammenzog.

3

Ich rannte durch die Bäume hindurch, sprang über schneebedeckte Stämme, stolperte über vereiste Felsen und schob mich durch gefrorene Büsche voller scharfer Stacheln. Und die ganze Zeit über hielt ich die Luft an und hoffte inständig, dass mein nächster Schritt nicht mein letzter sein würde. Dass meine Stiefel auf dem Eis nicht abrutschen würden, dass ich mir keinen Knöchel brach, dass ich keinen Fehltritt tat, der meinen Tod bedeuten konnte.

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