Spinnenkuss - Jennifer Estep - E-Book
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Spinnenkuss E-Book

Jennifer Estep

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Beschreibung

Gin Blanco ist eine Auftragsmörderin, bekannt unter dem Namen »Die Spinne«. Geduldig liegt sie auf der Lauer, nähert sich ihren ahnungslosen Opfern und schlägt im richtigen Augenblick zu. Gnadenlos. Doch als sich ihr neuester Auftrag als Falle entpuppt, stürzt Gins Welt ins Chaos. Welcher ihrer unzähligen Feinde kennt ihre wahre Identität? Um ihren Gegner zu enttarnen, muss die Spinne ihr Netz verlassen und die Seite wechseln. Doch das Letzte, was man im Kampf gegen übermächtige Elementarmagie braucht, ist Ablenkung - besonders in Form des sexy Detectivs Donovan Caine ... Die New-York-Times-Bestsellerreihe endlich auf Deutsch!

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Wie immer für meine Mom, für all die Besuche in der Bibliothek. Für meine Grandma, die es hasst, Socken zu tragen. Für André, auch bekannt als Wheezley Blighter, weil ich es ihm versprochen habe. Und für mich, weil ich immer schon ein Buch über Auftragsmörder schreiben wollte.

Übersetzung aus dem Amerikanischen von Vanessa Lamatsch.

ISBN 978-3-492-96328-2 September 2016

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel »Spider’s Bite«, Pocket Books, New York. Deutschsprachige Ausgabe: © Piper Verlag GmbH, München 2012 Covergestaltung: Zero Werbeagentur Covermotiv: FinePic®, München und Inga Helgadóttir/getty images Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck

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Danksagung

Jeder Autor wird bestätigen, dass sein Buch ohne die Hilfe und harte Arbeit vieler, vieler anderer Leute nicht möglich gewesen wäre. Hier nun einige der Menschen, die dabei geholfen haben, Gin Blanco und die Stadt Ashland zum Leben zu erwecken:

Ich danke Kelly Wimmer, weil sie mich ermutigt hat, das Buch zu schreiben, und Annelise Robey, weil sie so begeistert von der Serie war, dass sie meine Agentin wurde.

Ich danke Lauren McKenny für all ihre redaktionellen Ratschläge in den frühen Phasen des Buches und Megan McKeever für ihr scharfes Auge und ihre bereitwilligen Antworten auf meine zahlreichen Fragen.

Ihr alle habt dabei geholfen, das Buch so gut zu machen, wie es nur sein kann, und es war mir ein Vergnügen, mit euch zusammenzuarbeiten.

Und schließlich noch einen großen Dank an all die Leser dort draußen. Ich schreibe Bücher, um euch zu unterhalten, und es ist mir immer eine Ehre.

Viel Spaß beim Lesen!

1

»Ich heiße Gin, und ich töte Menschen.«

Unter normalen Umständen hätte mein Geständnis überraschtes Keuchen ausgelöst. Bleiche Gesichter. Nervöse Schweißausbrüche. Unterdrückte Schreie. Ein, zwei umgeworfene Stühle, weil die Leute zu entkommen versuchten, bevor ich mein Messer in ihrer Brust versenkte – oder in ihrem Rücken. Solange die Verletzung zum Tod führte, war ich nicht besonders wählerisch.

Aber nicht hier.

»Hi, Gin«, antworteten vier Leute unisono, in perfektem Einklang und dumpfer Monotonie.

Innerhalb der von Mauern umschlossenen Räume der Ashland-Klinik sorgte mein Geständnis, so wahr es auch sein mochte, nicht einmal für eine gehobene Augenbraue und noch weniger für markerschütternde Angst und Ehrfurcht. Ich war relativ normal, verglichen mit den Missgeburten und der Magie, die diese Anstalt füllten. Wie Jackson, dem zwei Meter zehn großen Albino-Riesen, der links von mir saß, schlimmer sabberte als ein Bernhardiner und vor sich hin brabbelte wie ein drei Monate altes Baby.

Ein langer Faden durchsichtigen, glänzenden Speichels hing von seinen riesigen Lippen, aber Jackson war zu sehr damit beschäftigt, dem plump tätowierten Gänseblümchen auf seinem Handrücken Unsinn zuzuflüstern, um sich darum zu kümmern. Oder das Naheliegende zu tun und sich den Mund abzuwischen. Ich rückte ein wenig von ihm ab, um nicht in Kontakt mit dem nassen Schleim zu kommen.

Widerlich. Aber Leute wie Jackson waren typisch für die Klinik. Klinik. Die Bezeichnung brachte mich immer zum Lächeln. So ein hygienisches Wort für dieses Drecksloch.

Es war schon schlimm genug, dass ich nun seit fast einer Woche hier festsaß. Aber was mir wirklich auf die Nerven ging, war der ständige Lärm – und dass ich gezwungen war, dem Gebäude zuzuhören. Die Schreie der Verdammten und Geistesgestörten waren, so wie es alle Gefühle und Ereignisse mit der Zeit tun, schon vor langer Zeit in den Granitwänden und Böden der Klinik versickert. Da ich ein Steinelementar war, konnte ich die Vibrationen der Wände und der Decken spüren und das ständige irre Geplapper selbst durch den billigen Teppich und meine weißen Baumwollsocken hindurch wahrnehmen.

Als ich hier angekommen war, hatte ich zunächst versucht, mich den Steinen zuzuwenden, in dem Bemühen, meine eigene Magie zu nutzen, um dem Element ein wenig Trost zu spenden. Oder zumindest um die Schreie genug zu dämpfen, damit ich nachts schlafen konnte. Aber es hatte nichts geholfen. Die Steine waren nicht mehr in der Lage, meiner Magie zu lauschen oder auf sie zu reagieren. Genau wie die armen Seelen, die auf ihnen herumschlurften.

Inzwischen blendete ich die nicht enden wollende Kakofonie aus Geräuschen und Gebrabbel einfach vollständig aus – wie ich es mit so vielen anderen Dingen auch tat.

Eine Frau, die mir im schiefen Kreis aus Plastikstühlen gegenübersaß, beugte sich vor. Sie nahm Blickkontakt zu mir auf. »Gin, das hast du jetzt schon mehrmals behauptet. Wir haben darüber auch bereits gesprochen. Du hältst dich nur für eine Auftragsmörderin. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bist du keine.«

Evelyn Edwards. Die Psychiaterin, die eigentlich alle Verrückten in dieser magischen Irrenanstalt heilen sollte. In ihrem engen schwarzen Kostüm, der elfenbeinfarbenen Bluse und den Schuhen mit niedrigem Absatz strahlte sie Selbstbewusstsein und professionelle Ruhe aus. Eine eckige Brille saß tief auf ihrer spitzen Nase und betonte ihre grünlichen Augen. Ihre Haare waren zu einem kurzen verwuschelten Bob geschnitten. Evelyn war hübsch, aber auf ihrem fahlen Gesicht lag ein hungriger Ausdruck – ein Ausdruck, den ich sofort erkannte. Es war der kalte Blick des raffinierten Jägers.

Und genau deswegen war ich heute hier.

»Ich bin sicherlich keine einfache Auftragsmörderin«, hielt ich dagegen. »Ich bin die Spinne. Sie haben garantiert schon von mir gehört.«

Evelyn verdrehte die Augen und warf einen Blick zu dem großen Wärter, der gleich hinter dem Stuhlkreis stand. Er kicherte kurz, dann hob er den Finger an die Stirn und zeigte einen Vogel.

»Natürlich habe ich schon von der Spinne gehört«, sagte Evelyn betont geduldig. »Jeder hat von ihm gehört. Aber du bist es sicherlich nicht.«

»Sie«, verbesserte ich sofort.

Wieder kicherte der Wärter. Ich zog verstimmt eine Augenbraue hoch. Eigentlich ging der Witz auf seine Kosten, denn er hatte mit diesem Lachen gerade sein Leben verwirkt. Ich wurde nicht gern verspottet, selbst wenn ich die letzten paar Tage damit verbracht hatte, mich als Irre auszugeben.

Um Leute umzubringen, muss ich in ihre Nähe kommen. Muss mich in ihre Welt begeben. Das mögen, was sie mögen. Ihre Gewohnheiten annehmen. So denken wie sie.

Mich für diesen Auftrag in Evelyn Edwards Welt zu begeben, hatte bedeutet, dass ich mich in die Ashland-Klinik einliefern ließ. Für Evelyn und die Wärter, die auf ihre Befehle hörten, war ich nicht mehr als eine weitere Verrückte, die man von der Straße aufgesammelt hatte, in den Wahnsinn getrieben durch Elementarmagie, Drogen oder eine Kombination aus beidem. Ein weiteres armes verlorenes Sorgenkind des Staates, das ihrer Zeit, ihrer Aufmerksamkeit, ihrer Rücksicht oder ihres Mitgefühls im Grunde jedoch nicht wert war.

Ich hatte die letzten paar Tage in der Klinik damit verbracht, Evelyn und die anderen davon zu überzeugen, dass ich genauso verrückt war wie der Rest der brabbelnden Psychos. Hatte mit wirrem Gesichtsausdruck behauptet, dass ich eine Auftragsmörderin sei. Hatte gesabbert und mit den schleimigen Erbsen, die es zum Mittagessen gab, die Wände bemalt. Ich hatte mir sogar während der Bastelstunde Strähnen meiner langen blondierten Haare abgeschnitten, und das alles nur, um die Illusion aufrechtzuerhalten. Die diensthabenden Wärter hatten mir die Schere abgenommen, allerdings erst nachdem ich es geschafft hatte, im Gemeinschaftsraum damit eine Schraube aus einem der Tische zu drehen.

Und genau diese Schraube verwandelte ich kurze Zeit später in eine fünf Zentimeter lange, spitze Waffe. Genau diese Schraube hielt ich nun in der Hand. Und genau diese Schraube würde ich Evelyn in die Kehle rammen. Die Waffe schmiegte sich in meine Handfläche, lag kalt auf meiner vernarbten Haut. Hart. Solide. Beruhigend.

Natürlich brauchte ich eigentlich keine Waffe, um die Irrenärztin zu töten. Ich hätte Evelyn auch mit meiner Steinmagie erledigen können. Hätte nach der elementaren Macht greifen können, die durch meine Adern floss. Hätte die unzähligen Granitsteine nutzen, aus denen die Klinik erbaut war, und dafür sorgen können, dass das gesamte Gebäude über ihrem Kopf zusammenbrach. Meine Steinmagie einzusetzen fiel mir genauso leicht wie das Atmen.

Vielleicht war es verkorkster professioneller Stolz, aber ich setzte meine Elementarmagie nicht zum Töten ein, außer mir blieb absolut keine andere Wahl und es gab definitiv keinen anderen Weg, den Auftrag zu erledigen. Sonst war es einfach zu leicht. Aber noch wichtiger war, dass Magie hierzulande Aufmerksamkeit erregte. Besonders Elementarmagie. Wenn ich anfing, Gebäude über Leuten zum Einstürzen zu bringen oder ihnen den Schädel von herabfallenden Ziegelsteinen einschlagen ließ, würden die Polizei und noch andere, widerwärtigere Charaktere es bemerken – und anfangen, ein ungesundes Interesse an mir zu entwickeln. Ich hatte mir über die Jahre mehr als genug Feinde geschaffen, und ich hatte nur deswegen so lange überlebt, weil ich mich im Schatten hielt. Weil ich vollkommen unbemerkt in Gebäude eindrang und wieder verschwand, genau wie meine achtbeinige Namenspatronin es tat.

Davon abgesehen gab es eine Menge Wege, dafür zu sorgen, dass jemand das Atmen einstellte. Dafür brauchte ich nun wirklich keine Magie.

»Die Spinne.« Evelyn verzog für einen Moment den Mund und erlaubte sich ein amüsiertes Kichern. »Als könnte jemand wie du die Spinne sein. Der gefürchtetste Killer des Südens.«

»Östlich des Mississippi«, korrigierte ich sie erneut. »Und natürlich bin ich die Spinne. Tatsächlich werde ich Sie umbringen, Evelyn. In drei Minuten. Der Countdown läuft.«

Vielleicht lag es an der Art, wie meine grauen Augen sie ruhig anstarrten. Vielleicht lag es auch an dem vollkommen emotionslosen Tonfall meiner Stimme. Aber das Lachen erstarb in ihrer Kehle wie ein kleines Tier in der Falle. Und bald schon würde sie selbst folgen.

Ich stand auf und streckte die Arme über den Kopf, um die Schraube in meiner Hand besser zu greifen. Mein weißes Hemd mit den langen Ärmeln rutschte nach oben, als ich mich reckte, und gab den Blick auf meinen flachen Bauch frei. Der große Wärter starrte auf meinen Schoß und leckte sich die Lippen. Dead man walking.

»Genug von mir«, sagte ich und ließ mich wieder auf den Stuhl fallen. »Lassen Sie uns über Sie reden, Evelyn.«

Sie schüttelte den Kopf. »Gin, du weißt doch, dass das gegen die Regeln verstößt. Therapeuten dürfen nicht mit Patienten über sich selbst sprechen.«

»Warum nicht? Sie stellen mir jetzt schon seit Tagen Fragen. Versuchen, mich dazu zu bringen, über meine Vergangenheit zu reden. Über meine Gefühle zu sprechen. Mich damit abzufinden, dass ich kalt bin, ›emotional distanziert‹, wie Sie sagen. Ich würde es gerne einmal andersherum probieren, wissen Sie. Ich habe gehört, Ricky Jordan gegenüber waren Sie auch immer ganz redselig.«

Sie riss die Augen hinter ihrer Brille auf. »Woher – woher kennst du diesen Namen?«

Ich ignorierte ihre Frage. »Ricky Robert Jordan. Siebzehn Jahre alt. Ein Luftelementar mit einer schweren bipolaren Persönlichkeitsstörung. Soweit ich gehört habe ein netter, aber verwirrter Junge. Sie hätten sich wirklich nicht mit ihm einlassen sollen, Evelyn.«

Die Seelenklempnerin umfasste ihren langen goldenen Kugelschreiber so fest, dass ihre Knöchel knackten. Der Wärter runzelte die Stirn, während er zwischen uns hin- und hersah, als trügen Evelyn und ich ein Tennismatch aus. Jackson und die anderen drei Patienten, die um uns herumsaßen, fuhren einfach damit fort zu sabbern, zu gurgeln und Blödsinn zu murmeln, vollkommen verloren in ihren eigenen verschrobenen Welten.

»Richtigstellung«, fuhr ich fort. »Sie hätten ihn nicht als Ihr Psycho-Spielzeug missbrauchen sollen. Sind Sie in Panik geraten, als ihm klar wurde, dass Sie Ihren Ehemann nie für ihn verlassen würden? Hat er gedroht, seinen Eltern zu erzählen, dass Sie ihn verführt haben, wie Sie es mit allen hübschen jungen Männern machen, die in Ihre Obhut gegeben werden? Haben Sie ihn deswegen mit Halluzinogenen vollgepumpt und zu seiner Familie nach Hause geschickt?«

Evelyn atmete inzwischen stoßweise. Der Puls an ihrem Hals flatterte wie die zerbrechlichen Flügel eines Kolibris.

Ich beugte mich vor und fing ihren panischen Blick ein. »Mommy und Daddy Jordan waren überhaupt nicht begeistert, als Ricky einen Nervenzusammenbruch erlitt und sich in seinem eigenen Kleiderschrank aufhängte, Evelyn. Doch bevor er sich das Leben nahm, hat er Ihnen einen Brief geschrieben, um Sie wissen zu lassen, dass er ohne Sie einfach nicht weiterleben könne.«

Normalerweise hätte ich mich mit dieser Erklärung gar nicht aufgehalten. Was für ein Klischee, dass der Auftragsmörder seine Motive zum Besten gab. Unter normalen Umständen hätte ich mich in die Klinik eingeschlichen, Evelyn umgebracht und wäre verschwunden, bevor irgendwer auch nur bemerkt hätte, dass sie tot war. Aber Evelyn Edwards wissen zu lassen, warum sie starb, war Teil des Auftrags. Und brachte mir eine zusätzliche halbe Million Dollar ein.

»Deswegen bin ich hier, Evelyn. Deswegen werden Sie sterben. Weil Sie den falschen Jungen gefickt haben.«

»Wärter!«, schrie Evelyn.

Das war das letzte Wort, das sie je sagen sollte. Ich machte eine schnelle Bewegung aus dem Handgelenk, und die spitze Schraube sauste durch den Raum und bohrte sich in die Luftröhre der Ärztin. Volltreffer. Evelyns Schrei verwandelte sich in ein pfeifendes Keuchen. Sie rutschte von ihrem Plastikstuhl und knallte auf den Boden. Ihre Hand schloss sich um die Schraube, dann zog sie das Metallstück heraus. Blut spritzte auf den Teppich, wo es ein Muster wie aus einem Rorschachtest bildete. Dumm von ihr. Sie hätte vielleicht eine Minute länger gelebt, wenn sie die Schraube hätte stecken lassen.

Der Wärter fluchte und warf sich nach vorne, doch ich war schneller. Ich machte einen Satz und griff nach dem goldenen Kugelschreiber, den Evelyn auf den Boden hatte fallen lassen, stand auf und rammte ihm den Stift ins Herz.

»Und du«, murmelte ich dem zuckenden und mit den Armen wedelnden Mann ins Ohr, »für dich werde ich nicht mal bezahlt. Aber wenn man bedenkt, dass es dich antörnt, Patientinnen zu vergewaltigen, betrachte ich es als Dienst an der Öffentlichkeit. Ich mache es verdammt noch mal für die Allgemeinheit.«

Ich riss den Stift aus seiner Brust, um dann noch zweimal zuzustoßen. Einmal in seinen Bauch, einmal in die Eier. Das lüsterne Licht in den Augen des Wärters verblasste flackernd, bis es schließlich erstarb. Ich ließ ihn los, und er knallte auf den Boden.

In weniger als dreißig Sekunden war es vorbei. Spiel, Satz und Sieg. Zu einfach. Ich war nicht einmal außer Atem.

Meine grauen Augen huschten zu den anderen vier Leuten im Raum. Jackson sabberte immer noch still vor sich hin. Die anderen beiden Männer starrten zu Boden, als wäre irgendetwas nicht in Ordnung, aber sie könnten einfach nicht herausfinden, was es war. Die vierte Person, eine Frau, kniete bereits auf dem Boden. Sie tauchte ihre Finger in Evelyns dunkles Blut, dann leckte sie es ab, als wäre es der süßeste Honig. Vampire. Sie fraßen wirklich alles.

Das verrückte Murmeln des Granitbodens verstärkte sich, angefeuert durch das frische Blut, das durch den groben Teppich sickerte und den Stein benetzte. Das harte, dissonante Geräusch sorgte dafür, dass ich die Zähne zusammenbiss. Ich war froh, wenn ich diesen Ort und seine Geräusche hinter mir lassen konnte. Weit, weit hinter mir.

Ich riss den Stift aus dem Schritt des Wärters und sammelte meine Schraube ein. Zeugen waren übel, besonders in meinem Job, deswegen dachte ich kurz darüber nach, auch Jackson und die anderen zu töten. Aber ihretwegen war ich nicht hier. Und ich schlachtete auch keine Unschuldigen ab, nicht einmal diese jämmerlichen Seelen, für die es wahrscheinlich besser wäre, tot und damit frei von ihren verbeulten sterblichen Hüllen zu sein.

Also steckte ich meine bluttriefenden Waffen ein und machte mich auf den Weg zur Tür. Bevor ich den Flur betrat, warf ich einen kurzen Blick über meine Schulter zurück auf Evelyn Edwards leblosen Körper. Ihre weit geöffneten Augen und ihr Gesicht zeugten von schockierter Überraschung. Ein Ausdruck, den ich über die Jahre schon sehr oft gesehen hatte. Egal wie böse die Leute waren, egal welche Grausamkeiten sie begingen oder wen sie betrogen: Keiner von ihnen konnte je wirklich glauben, dass der Tod sie holen kam, überbracht von einer Auftragsmörderin wie mir.

Bis es zu spät war.

2

Nach der Ermordung von Evelyn Edwards und dem Wärter kam nun der schwierigere Teil: die Klinik verlassen. Denn auch wenn es nicht mehr als einen vorgetäuschten psychotischen Anfall und ein bisschen Bestechung gebraucht hatte, um hier hineinzugelangen, lagen jetzt doch einige Hindernisse zwischen mir und der Außenwelt. Um genau zu sein zwei Dutzend Wärter, ein paar Sicherheitsleute, verschiedene Schlösser und eine fast vier Meter hohe stacheldrahtbewehrte Mauer.

Ich schlich mich zum Ende des Flurs und spähte in den angrenzenden Gang. Verlassen. Es war nach sieben, und die meisten Patienten befanden sich bereits wieder in ihren gepolsterten Zellen, um die Nacht durchzuschreien. Mit ein bisschen Glück würde man Evelyn und den Wärter nicht vor dem Morgen entdecken, und bis dahin würde ich schon lang verschwunden sein. Aber man sollte sich nie auf sein Glück verlassen, besonders dann nicht, wenn es drauf ankam. Diese Lektion hatte ich vor langer Zeit gelernt, und zwar auf die harte Tour.

Es war ziemlich einfach, in den rechten Flügel der Klinik zu gelangen, indem ich mich an dem grob skizzierten Plan orientierte, den ich während meines kurzen Aufenthaltes im Geiste entworfen hatte und der die zeitlich festgesetzten Runden der Wärter berücksichtigte. Dank eines Stückchen Klebebands, das ich früher am Tag über den Türriegel geklebt hatte, um den Schließmechanismus zu blockieren, stand die Tür zu einem der Vorratsräume der Klinik offen. Ich glitt lautlos hinein. In dem dunklen Raum stapelten sich die Putzvorräte. Wischmopps. Besen. Klopapier. Putzmittel.

Ich ging in die hintere Ecke. Zu meinem Glück waren die Erbauer der Klinik einst zu knausrig gewesen, um die Granitwand an dieser Stelle streichen zu lassen, und so drückte meine Hand auf den rauen, unbehandelten Stein, um zu lauschen. Als Steinelementar verfügte ich über Kraft, Magie und Fähigkeit, dem Element zu lauschen, wo auch immer es sich befand, in welcher Form es auch auftrat. Gleich ob es der Kies unter meinen Füßen, eine Felszunge über meinem Kopf oder eine einfache Wand waren wie die, auf der meine Hand gerade lag, ich konnte die Schwingungen des Steins immer hören. Da menschliche Handlungen und Gefühle mit der Zeit in ihre Umgebung einsickern, besonders in Stein, konnte mir die Aufnahme dieser Schwingungen einiges verraten; vom Temperament der Person, die ein Haus bewohnte, bis dazu, ob darin ein Mord stattgefunden hatte.

Doch die Steinwand unter meinen Händen brabbelte nur das übliche wahnsinnige Zeug. Kein scharfes Gefühl des Alarms, das in mir schrillte. Kein Rasseln oder Scheppern gehetzter Aktivität. Keine plötzlichen Irritationen, die sich durch den Stein ausbreiteten. Die Leichen waren also noch nicht gefunden worden, und meine irren Mitbewohner sabberten wahrscheinlich immer noch vor sich hin. Ausgezeichnet.

Ich kletterte auf das Metallregal, das an der Wand vor mir stand, schob eine lose Platte der Deckenverkleidung zur Seite und tastete nach dem in Plastik verschnürten Bündel Kleidung, das ich in dem Hohlraum versteckt hatte. Ich zog meinen blutbespritzten weißen Pyjama aus und streifte die frische Kleidung über. Nach meiner Einweisung vor einer Woche war ich als erste Amtshandlung in das Patientenlager eingebrochen und hatte mir die Kleidung zurückgeholt, die ich getragen hatte, als die Cops mich hierhergebracht hatten. Zusätzlich zu meinen Jeans, dem langärmligen dunkelblauen Shirt, den Stiefeln und einer blauen Fleecejacke mit Kapuze hatte ich auch ein paar Taschenmesser bei mir gehabt, außerdem eine silberne Uhr, in deren hinterer Abdeckung eine Würgeschlinge versteckt war. Kleine, fadenscheinige Waffen, aber ich hatte schon vor langer Zeit gelernt, mit dem klarzukommen, was gerade zur Hand war.

Nach meinem Einbruch im Lager hatte ich auch dem Aktenraum einen Besuch abgestattet, um meine Akte zu finden, zu zerstören und anschließend jede Erwähnung meiner Aufnahme aus dem Computersystem der Anstalt zu tilgen. Jetzt gab es keinen Hinweis mehr darauf, dass ich diese Klinik je betreten hatte. Mal abgesehen von Evelyn Edwards’ langsam auskühlender Leiche, natürlich.

Ich legte mir die Uhr ums Handgelenk. Ein wenig Mondlicht fiel durch das Fenster auf meine Hand und beleuchtete die weiß hervorstechende Narbe, die meine Handfläche überzog: ein kleiner Kreis mit acht dünnen Linien, die wie Strahlen von einer Sonne davon abgingen. Eine identische Narbe zierte meine andere Hand. Spinnenrunen – das Symbol für Geduld.

Ich öffnete meine rechte Hand und starrte das Symbol an. Im zarten Alter von dreizehn Jahren hatte man mir die Augen verbunden, bevor man mich geschlagen und gefoltert hatte – und gezwungen, ein Stück Steinsilber zu halten, ein Metallmedaillon in Form einer Spinnenrune. Man hatte meine Hände mit Klebeband um die Rune befestigt, die dann von einem Feuerelementar erhitzt worden war. Das magische Metall war geschmolzen und hatte sich mit meinen Handflächen verbunden. Daher stammten die Narben. Damals, vor siebzehn Jahren, waren die Verletzungen rot gewesen, schmerzhaft und hässlich – wie meine Schreie und das Lachen der Hexe, die mich misshandelt hatte. Mit der Zeit waren die Wundmale verblasst. Und jetzt waren es nicht mehr als silbrige Linien, die sich über meine helle Haut zogen. Ich wünschte mir, die Erinnerungen an diese Nacht wären im Laufe der Zeit genauso verblasst.

Das Mondlicht beschien das Steinsilber, das immer noch in meiner Hand steckte, und ließ die Male fast deutlicher hervortreten als tagsüber. Vielleicht kam es mir aber auch immer nur so vor, da ich den Großteil meiner Arbeit nachts verrichtete, wenn dunkle Stimmungen und Gefühle an die Oberfläche traten. Manchmal vergaß ich fast, dass es die Runen in meiner Hand gab bis zu einem solchen Moment, in dem sie sich mir wieder offenbarten.

Und mich an die Nacht erinnerten, in der meine Familie ermordet worden war.

Ich ignorierte die schmerzhaften Erinnerungen und machte mich wieder an die Arbeit. Der Auftrag war erst zur Hälfte erledigt, und ich hatte nicht vor, mich schnappen zu lassen, weil ich aufgrund von Geschehnissen, die ich ohnehin besser längst vergessen hätte, rührselig und unaufmerksam geworden war. Gefühle waren nur etwas für diejenigen, die nicht stark genug waren, sie abzuschalten.

Und schon seit langer Zeit gehörte ich nicht mehr zu den Schwachen.

Ich stopfte den blutüberströmten Pyjama und die leere Plastiktüte in einen der Putzeimer. Dann zog ich eine Dose mit Bleichmittel aus dem Metallregal, öffnete sie und schüttete die Flüssigkeit in den Eimer. Ich umfasste einen der Mopps mit den Ärmeln meiner Jacke und rührte das Ganze ordentlich durch. Aus dieser Kleidung würde niemand mehr DNA gewinnen. Vorausgesetzt, die Polizei machte sich überhaupt die Mühe, danach zu suchen. Morde, besonders durch Stichwaffen, waren nicht gerade untypisch für die Klinik. Deswegen hatte ich mich auch dafür entschieden, die Irrenärztin hier zu erledigen und nicht bei sich zu Hause.

Nachdem das erledigt war, griff ich in meine Jackentasche und zog eine silberne Brille mit leicht getönten ovalen Gläsern heraus und setzte sie mir auf die Nase, um meine grauen Augen zu verbergen. In der anderen Tasche steckte eine Baseballkappe, die meine blondierten Haare verbarg und mein Gesicht in Schatten hüllte. Einfache Tricks funktionierten immer am besten, insbesondere wenn es darum ging, das Aussehen zu verändern. Ein wenig falsche Requisite, ein paar sackartige Klamotten, und schon konnten sich die meisten Menschen nicht daran erinnern, welche Hautfarbe man gehabt, geschweige denn wie man wirklich ausgesehen hatte.

Meine Tarnung war komplett. Ich nahm mir eines der Taschenmesser, öffnete die Tür und trat in den Flur hinaus.

In meiner normalen Kleidung und mit einem breiten freundlichen Südstaatengrinsen auf dem Gesicht verließ ich kurz darauf die Klinik. Niemand schenkte mir auch nur einen zweiten Blick, nicht einmal die sogenannten Sicherheitsleute, die für ihre herausragende Aufmerksamkeit und ihre außergewöhnliche Beobachtungsgabe bezahlt wurden. Fünf Minuten später kritzelte ich am Empfang einen falschen Namen in die Abmeldungsliste. Die Frau hinter der Glasscheibe starrte mich aus funkelnden Augen böse an.

»Die Besuchszeit ist schon seit einer halben Stunde vorbei«, motzte sie mit missbilligend verzogenem Gesicht. Ich hatte vermutlich ihr allabendliches Rendezvous mit einem Liebesroman und einem Schokoriegel unterbrochen.

»Oh, ich weiß, Darling«, flötete ich mit meiner besten Scarlett-O’Hara-Stimme. »Aber ich hatte eine Lieferung für jemanden in der Küche, und Big Bertha meinte, ich kann mir Zeit lassen.«

Das war natürlich eine Lüge. Deshalb zauberte ich einen besorgten Ausdruck auf mein Gesicht, um mein Theater glaubwürdiger zu machen.

»Ich hoffe, das ist okay? Big Bertha hat gesagt, es wäre in Ordnung.«

Die Wärterin wurde bleich. Big Bertha war die runzlige Frau, die die Küche – und so gut wie alles andere in der Klinik – mit eiserner Hand regierte. Niemand wollte sich mit ihr anlegen und riskieren, mit der gusseisernen Bratpfanne geschlagen zu werden, die sie ständig mit sich herumtrug. Besonders nicht für lausige zwölf Mäuse die Stunde.

»Wie auch immer«, blaffte die Wärterin. »Sorgen Sie einfach dafür, dass es nicht noch mal vorkommt.«

Es würde nicht noch mal vorkommen, weil ich nicht beabsichtigte, diesen grauenhaften Ort je wieder zu betreten. Ich ließ mein Lächeln noch strahlender werden. »Kein Problem, Darling. Dafür sorge ich.«

Die Wärterin drückte den Knopf zum Öffnen der Tür, und ich trat nach draußen.

Im Kontrast zu dem penetranten Gestank der Klinik nach Speichel, Urin und Bleichmittel erschien die Nachtluft so sauber, rein und frisch wie in der Sonne getrocknete Bettwäsche. Hätte ich nicht gerade zwei Leute getötet, hätte ich mir vielleicht Zeit gelassen, um das Quaken der Laubfrösche in den Bäumen und die antwortenden Rufe der Eulen in der Ferne zu genießen.

Stattdessen ging ich mit schnellen entschlossenen Schritten zum Haupttor. Das Metall klapperte, als ich mich näherte, und ich winkte dem Wärter in seiner mit Panzerglas gesicherten Kabine fröhlich zu. Er nickte schläfrig, dann wandte er sich wieder dem Sportteil seiner Zeitung zu.

Damit trat ich zurück in die reale Welt. Der Kies vor dem Tor knirschte unter meinen Füßen, und die Steine flüsterten mir ins Ohr, ruhig und gleichmäßig wie die Autos, die tagein, tagaus über die kleinen Kiesel hinwegfuhren. Ein viel glücklicheres Geräusch als das permanente verrückte Schreien des Granits in der Klinik.

Ich fand mich auf einem großen Parkplatz wieder, der von dichten Pinien gesäumt wurde. Die Ausfahrt hinter der gleichmäßigen Asphaltfläche führte auf eine vierspurige Straße, auf der keinerlei Scheinwerfer zu erkennen waren. Nicht überraschend.

Die Ashland-Klinik lag am Rande von Ashland, einer Südstaatenmetropole, die an Tennessee, North Carolina und Virginia grenzte. Die Stadt war nicht ganz so groß wie Atlanta, aber nah dran, und gehörte zu den schönsten Städten des Südens. Ashland breitete sich über die Hügel der Appalachen aus wie ein Hund, der sich im Sommer auf einer kühlen Betonfläche ausstreckt. Die umgebenden Wälder, sanften Hügel und ruhig fließenden Flüsse vermittelten den Eindruck, die Stadt wäre ein friedlicher, ruhiger, unverdorbener Ort …

Eine Sirene heulte auf, zerriss die nächtliche Stille und übertönte jedes andere Geräusch. Wieder eine Illusion zerstört.

»Abriegelung! Abriegelung!«, krächzte jemand über das Kommunikationssystem.

Also hatte man die Leichen gefunden. Ich ging ein wenig schneller, huschte an mehreren Autos vorbei und sah kurz auf die Uhr. Zwanzig Minuten. Sie waren schneller gewesen, als ich erwartet hatte. Heute Abend hatte Fortuna mir nicht zugelächelt. Launisches Miststück.

»Hey, Sie da! Halt!«

Ah, die übliche Aufregung, nachdem der Fuchs den Hühnerstall bereits ausgeräumt hatte. Auch wenn er in diesem Fall eher den tollwütigen Hund getötet hatte, der darin lauerte. Das Tor hatte sich noch nicht ganz geschlossen, und ich konnte hören, wie es anhielt. Eilige Schritte erklangen auf dem Kies hinter mir.

Vielleicht hätte ich mir Sorgen gemacht, wäre ich nicht bereits vom Dunkel des nahegelegenen Walds verschluckt worden.

Gerne wäre ich direkt nach Hause gegangen, um mir den Gestank des Wahnsinns aus den Haaren zu waschen, aber ich musste eine Verabredung zum Abendessen einhalten. Und Fletcher hasste es zu warten, besonders wenn es Geld einzufordern und Überweisungen zu kontrollieren gab. Ich joggte ungefähr anderthalb Kilometer, wobei ich mich zwischen den Pinien hielt, die den Highway flankierten, bevor ich schließlich auf die Hauptstraße trat.

Ein Stück die Straße hinunter erreichte ich ein kleines Café namens Endstation. Es gehörte zu diesen schäbigen, heruntergekommenen Kneipen, die die ganze Nacht offen hatten und drei Tage alten Kuchen und Kaffee servierten. Nach den schimmligen Erbsen und den pürierten Karotten der Klinik schmeckte sogar der abgestandene Erdbeerkuchen mit bröseligem Mürbeteig himmlisch. Ich verschlang ein Stück, während ich darauf wartete, dass mich ein Taxi abholte.

Der Fahrer setzte mich in einem von Ashlands schäbigeren Innenstadtvierteln ab, zehn Blocks von meinem eigentlichen Ziel entfernt. Der von Rissen durchzogene Gehweg wurde von Läden gesäumt, die billigen Alkohol und noch billigere Peepshows anpriesen. Gruppen junger Schwarzer, Weißer und Latinos in sackartigen Klamotten beäugten sich misstrauisch von verschiedenen Ecken des Blocks und bildeten so ein Dreieck potenziellen Ärgers.

An einer Nische in der Wand bettelte ein Luftelementar und versprach, es für jeden regnen zu lassen, der ihm genug Geld für eine Flasche Whisky gab. Ein weiteres trauriges Beispiel dafür, dass auch Elementare nicht immun gegen Probleme wie Obdachlosigkeit, Alkoholismus und Drogensucht waren. Wir hatten alle unsere Schwächen und schweren Zeiten im Leben, selbst diejenigen, die auf Magie zurückgreifen konnten. Ob man auf der Straße landete wie dieser arme Kerl, hing davon ab, welche Entscheidungen man in seinem Leben traf. Ich gab ihm einen Zwanziger und ging weiter.

Nutten wanderten die Straße entlang wie abgekämpfte Soldaten, die von ihrem Zuhälter-General in einen weiteren Einsatz gezwungen worden waren. Die meisten Prostituierten waren Vampire. Ihre gelben Zähne glänzten im Schein der flackernden Straßenlaternen wie trübe Bernsteine. Für manche Vamps war Sex genauso stimulierend wie das Trinken von Blut. Es verschaffte ihnen einen Rausch und versorgte ihren Körper genauso gut wie ein schönes kühles Glas A-Positiv. Deswegen arbeiteten so viele von ihnen als Prostituierte. Außerdem war es das älteste Gewerbe der Welt. Abgesehen von den üblichen lebensbedrohlichen Verletzungen konnten Vamps sehr alt werden – mehrere Hundert Jahre. Es war immer gut, etwas gelernt zu haben, was niemals aus der Mode kommen würde.

Ein paar der Vampire riefen mir etwas zu, aber ein Blick auf die harte Linie meines Mundes sorgte dafür, dass sie davoneilten, um sich einfachere, profitablere Kunden zu suchen.

Ich ging noch zwei Blocks, bevor ich die Brille in einer Mülltonne im Hinterhof eines chinesischen Restaurants versenkte. Der Metallcontainer stank nach Sojasoße und uraltem gebratenem Reis. Die Baseballkappe und die Fleecejacke landeten im Einkaufswagen einer Obdachlosen. Nach dem abgewetzten Zustand ihrer Armeejacke nach zu urteilen, konnte sie die Klamotten brauchen. Sofern sie je weit genug aus ihrem brabbelnden Rausch auftauchte, um überhaupt zu bemerken, dass sie da waren.

Die Gegend wurde mit jedem Block, den ich hinter mich brachte, ein wenig besser und verwandelte sich Schritt für Schritt von drogensüchtigem, vergewaltigendem weißem Abschaum zu einem Viertel arbeitender Proleten, die am Existenzminimum kratzten. Die Schnapsläden und Peepshows wurden von Tattoo-Studios und Leihhäusern verdrängt. Die paar Prostituierten, die diese Straßen als ihr Revier betrachteten, wirkten sauberer und besser ernährt als ihre müden, ausgezehrten Brüder und Schwestern im Süden. Und es waren mehr Menschen darunter.

Sobald ich meine Verkleidung abgestreift hatte, wurde ich langsamer und schlenderte den Rest des Weges, um die frische Herbstluft zu genießen. Ich konnte einfach nicht genug davon bekommen, selbst wenn darin ein Hauch von verbranntem Tabak lag. Mehrere kettenrauchende alte Männer standen auf ihren Türschwellen und kippten sich ein Bier nach dem anderen hinter die Binde, während sich drinnen ihre Frauen beeilten, das Essen auf den Tisch zu bringen, um sich nicht wieder ein Veilchen einzufangen.

Eine halbe Stunde später erreichte ich mein Ziel – das Pork Pit. Das Pit, wie die Einheimischen es nannten, war nicht mehr als eine heruntergekommene Bude, aber es servierte das beste Barbecue in Ashland. Ach, was sag ich, im gesamten Süden. Über der verblassten blauen Markise leuchteten die Umrisse eines Schweins in Neonfarben mit einem Teller voller Essen in der Hand. Ich strich mit den Fingerspitzen über die angeschlagenen Ziegelsteine neben der Eingangstür. Der Stein vibrierte in gedämpfter vollgestopfter Zufriedenheit wie die Mägen und Arterien der Gäste, die hier gegessen hatten.

Das Schild im Schaufenster verkündete »geschlossen«, aber ich schob die Tür auf und betrat das Restaurant. Altmodische, pink und blau gefärbte Plastikbänke reihten sich hinter dem Fenster auf. Ein Tresen mit passenden Stühlen zog sich an der hinteren Wand entlang. Dort konnten die Gäste sitzen und die Köche beobachten, die vor ihnen gegrilltes Rind und Schwein auf Tellern anrichteten. Obwohl das Grillrestaurant schon mindestens seit einer Stunde geschlossen war, hing immer noch der schwere Geruch von verbranntem Fleisch, Rauch und Gewürzen in der Luft, so dicht, als könnte man davon abbeißen. Rosafarbene und blaue Schweineklauenspuren zogen sich in abblätternder Farbe über den Boden bis zu Gästetoiletten für Männer und Frauen.

Ich richtete meinen Blick auf die Registrierkasse, die rechts am Tresen stand. Dort saß ein einzelner Mann und las in Eigentlich hätte es ein herrlicher Sommertag werden können von Wilson Rawls, während er an einer Tasse Malzkaffee nippte. Ein alter Mann Ende der Siebziger, mit feinem weißem Haar, das seine fleckige braune Kopfhaut bedeckte. Vor seiner dünnen Brust hing eine vor Dreck stehende Schürze, die seine blaue Arbeitskleidung bedeckte.

Die Glocke über der Tür bimmelte, als ich eintrat, aber der Mann sah nicht von seinem Taschenbuch auf.

»Du bist spät dran, Gin«, sagte er.

»Tut mir leid. Ich war damit beschäftigt, über meine Gefühle zu reden und Leute umzubringen.«

»Du solltest schon vor einer Stunde hier sein.«

»Himmel, Fletcher, es klingt fast, als hättest du dir Sorgen um mich gemacht.«

Fletcher sah von seinem Buch auf. Seine wässrigen Augen erinnerten an das stumpfe Grün einer Limonadenflasche. »Ich? Sorgen? Sei nicht albern.«

»Niemals.«

Fletcher Lane war mein Mittelsmann. Derjenige, der die Verabredungen mit potenziellen Kunden traf, das Geld entgegennahm und meine Termine regelte. Der Mittler, der sich die Hände schmutzig machte – für ein beträchtliches Honorar. Er hatte mich vor siebzehn Jahren von der Straße geholt und mir alles beigebracht, was ich heute über den Beruf des Auftragsmörders wusste. Das Gute, das Böse, das Hässliche. Er war außerdem einer der wenigen, denen ich vertraute – ein weiterer war sein Sohn, Finnegan, der genauso gierig war wie sein alter Herr und kein Problem damit hatte, das auch zu zeigen.

Fletcher legte sein Buch zur Seite. »Hungrig?«

»Ich habe fast eine Woche lang schimmlige Erbsen von rechts nach links geschoben. Was glaubst du?«

Ich nahm am Tresen Platz, während Fletcher sich dahinter an die Arbeit machte. Zuerst stellte mir der alte Mann ein Glas saure Brombeerlimonade vor die Nase.

Ich probierte und verzog das Gesicht. »Die ist lauwarm.«

»Das Eis ist schon im Tiefkühlschrank. Kühl sie dir doch selbst.«

Ich war nicht nur ein Steinelementar, sondern hatte außerdem die seltene Gabe, ein weiteres Element kontrollieren zu können – Eis, auch wenn meine Magie in diesem Bereich um einiges schwächer ausgeprägt war als bei Gestein. Ich legte meine Hand um das Glas, konzentrierte mich und griff nach der kühlen Macht, die sich tief in mir versteckte. Schneeflockenförmige Eiskristalle breiteten sich von meiner Handfläche und meinen Fingerspitzen aus. Sie glitten das Glas nach oben, krochen über den Rand und sanken in das Getränk darunter. Dann hielt ich meine Hand über die Glasöffnung und griff wieder nach meiner Magie. Ein kaltes silbernes Licht flackerte in meiner Handfläche, ziemlich genau in der Mitte meiner Spinnenrunen-Narbe. Ich konzentrierte mich, und das Eis formte einen eckigen Würfel. Ich ließ ihn in die gelbe Flüssigkeit hineinfallen, formte noch ein paar weitere und wiederholte den Vorgang. Dann probierte ich die Limonade erneut. »Viel besser.«

In diesem Moment servierte mir Fletcher einen riesigen Hamburger. Die Mayonnaise überzog das Fleisch, auf dem sich geräucherter Schweizer Käse, zarte Salatblättchen, eine saftige Tomatenscheibe und dicke rote Zwiebelringe stapelten. Als Nächstes stellte er eine Schale mit würzigen Baked Beans auf den Tresen, gefolgt von einer Schüssel Krautsalat mit Karotten.

Ich stürzte mich auf das Essen und genoss die feine Kombination aus süß und würzig, Salz und Essig auf meiner Zunge. Ich schlang einen Löffel voll warmer Bohnen in mich hinein und konzentrierte mich dann auf die Soße, in der sie lagen, in dem Versuch, die verschiedenen Geschmäcker zu identifizieren.

Das Pork Pit war berühmt für seine Barbecuesoße, die Fletcher unter größter Geheimhaltung ganz hinten im Restaurant zusammenmischte. Die Leute kauften sie flaschenweise. Über die Jahre hatte ich mich immer wieder bemüht, Fletchers geheimes Rezept aufzudecken. Aber egal wie sehr ich mich bemühte, egal wie viele Ladungen ich von dem Zeug selbst anrührte, meine Soße schmeckte nie so wie seine. Fletcher behauptete, dass es eine einzelne geheime Zutat war, die der Soße ihren würzigen Kick verlieh. Aber der ruppige alte Mann wollte mir nicht verraten, was es war oder wie viel davon er verwendete.

»Wirst du mir jemals verraten, was in der Barbecuesoße ist?«, fragte ich.

»Nein«, antwortete er. »Wirst du je aufhören zu versuchen es herauszufinden?«

»Nein.«

»Tja, dann haben wir wohl eine Pattsituation.«

»Dagegen könnte ich etwas unternehmen«, murmelte ich.

Ein amüsiertes Grinsen huschte über Fletchers Gesicht. »Aber dann würdest du das Rezept nie kriegen.«

Ich schüttelte nur den Kopf und konzentrierte mich auf mein Essen. Fletcher griff nach seinem Buch und las noch ein paar Seiten. Er fragte mich nicht nach dem Auftrag. Das hatte er nicht nötig. Er wusste, dass ich nicht zurückgekommen wäre, wenn ich meinen Job nicht erledigt hätte.

Wann immer ich arbeitete, vermisste ich das Essen im Pork Pit. Vermisste den Geruch nach Gewürzen und Fett, der meine Nase erfüllte. Das laute Klappern von Tellern und das fröhliche Kratzen von Besteck. Die Zubereitung der Speisen hinter dem Tresen, das Gemecker über anstrengende Kunden und lächerlich niedrige Trinkgelder. Doch am meisten vermisste ich es, mich spätnachts mit Fletcher zu unterhalten, wenn die Eingangstür verschlossen und alles ruhig war und nur wir beide übrig blieben. Das Pork Pit war für mich mehr als nur ein Restaurant. Es war mein Zuhause – oder zumindest das, was einem Zuhause in den letzten siebzehn Jahren am nächsten gekommen war. Das einzige, das ich jemals haben würde. Das Leben eines Auftragsmörders war nur schwer mit einem kleinen Reihenhaus und Welpen im Garten zu vereinbaren.

»Wie geht’s Finn?«, fragte ich, nachdem ich genug gegessen hatte, um den ersten Hunger zu stillen.

Fletcher zuckte mit den Achseln. »Es geht ihm gut. Er macht seinen Abschluss. Und dann übernimmt er die Kontrolle über das Geld anderer Leute. Mein Sohn, Investmentbanker und Computergenie. Er hätte einen ehrlichen Beruf ergreifen sollen, zum Beispiel als Dieb.«

Ich versteckte mein Grinsen hinter dem Limonadenglas. Finnegan Lanes vorgetäuschte Seriosität hörte nie auf, seinen Vater zu amüsieren. Oder mich.

Ich hatte mir gerade das letzte Stück des überwältigend leckeren Hamburgers in den Mund geschoben, als Fletcher unter den Tresen griff. Er zog eine Aktenmappe heraus und legte sie neben meinen leeren Teller. Seine altersfleckigen braunen Hände blieben einen Moment auf der Mappe liegen, bevor er sie zurückzog.

»Was ist das?«, fragte ich. »Ich habe dir doch gesagt, dass ich nach der Irrenärztin ein bisschen Freizeit will.«

»Du hattest jetzt mehrere Tage Freizeit.« Fletcher nahm einen großen Schluck von seinem Kaffee.

»Unter Freizeit stelle ich mir eigentlich nicht vor, sechs Tage in einem Irrenhaus eingesperrt zu sein.«

Fletcher antwortete nicht. Die Mappe lag wie eine stumme Frage zwischen uns. Ich konnte einfach nicht anders, als wissen zu wollen, welche Geheimnisse sie barg. Wer wen wütend genug gemacht hatte, um meine Aufmerksamkeit zu verdienen. Mein Know-how war nicht gerade billig. Besonders wenn man bedachte, dass Fletchers Mittlergebühr zusätzlich bezahlt werden musste.

»Wer ist die Zielperson?«, fragte ich und ergab mich damit dem Unvermeidlichen.

Verdammte Neugier. Die einzige Emotion, die ich nicht vollkommen unterdrücken konnte, egal wie sehr ich mich bemühte. Es war eine Unart, die ich in all den Jahren von dem alten Mann übernommen hatte. Er war sogar noch wissbegieriger als ich.

Fletcher grinste und öffnete die Mappe. »Die Zielperson heißt Gordon Giles.«

Er schob mir die Unterlagen zu, und ich überflog sie kurz. Gordon Giles. Vierundfünfzig. Finanzchef von Halo Industries. Anders gesagt, ein besserer Buchhalter und Bürohengst. Geschieden. Keine Kinder. Ging gern Fliegenfischen. Besuchte mindestens zweimal die Woche Prostituierte. Ein Luftelementar.

Diese letzte Information war störend. Elementare waren Geschöpfe, die dazu befähigt waren, die vier Elemente zu erschaffen, zu kontrollieren und zu beeinflussen – also Eis, Stein, Luft und Feuer. Manche Leute besaßen auch Begabungen, die Ableger davon waren, wie die Kontrolle über Wasser, Metall oder Elektrizität. Aber man wurde nur dann als echter Elementar angesehen, wenn man eines der vier Hauptelemente beherrschte.

Meine Steinmagie war stark und ließ mich mit diesem Element ungefähr alles anstellen, was mir einfiel, ob ich nun einen Ziegelstein zerbröseln, Beton aufbrechen oder meine eigene Haut so hart wie Stein werden lassen wollte. Mit meiner schwächeren Eismagie konnte ich nicht viel ausrichten, außer Eiswürfel, Eiszapfen und von Zeit zu Zeit ein Messer und andere Kleinigkeiten zu erschaffen. Meine winzigen tierischen Eisskulpturen waren ein regelrechter Partyhit.

Da Gordon Giles ein Luftelementar war, konnte er Luftströmungen kontrollieren, den Wind fühlen und Vibrationen der Luft spüren, wie ich es im Stein konnte. Und er konnte sein Element beeinflussen, genau wie ich. Je nachdem in welcher Richtung seine Talente lagen und wie stark seine Begabung war, konnte Giles zum Beispiel versuchen, mich mit seiner Luftmagie zu ersticken, bevor ich ihn töten konnte. Er konnte Luftblasen in meine Venen pressen. Mich mit dem Wind angreifen. Oder hundert andere widerliche Dinge tun.

Ich musterte das Foto, das an die Unterlagen geheftet war. Gordon Giles’ grau meliertes Haar hing tief genug über seine Stirn, um den oberen Rand seiner Brille zu berühren. Seine Augen hinter den Gläsern sahen wie Pfützen aus blauer Tinte aus. Sein Gesicht erinnerte mich an ein Frettchen – lang und dünn. Zusammengekniffene Lippen. Spitzes Kinn. Eine scharfe, fast dreieckige Nase.

In Gordons Blick lag nervöse Anspannung. Der Blick eines Mannes, der wusste, dass Monster auf den Straßen ihr Unwesen trieben, und der jeden Moment damit rechnete, dass sie ihn angriffen. Nervöse Männer waren oft viel schwieriger zu töten als ahnungslose. Bei ihnen musste ich vorsichtig sein.

»Und was hat Giles angestellt, um meine besondere Form der Aufmerksamkeit zu verdienen?«

»Scheint, als hätte der Finanzchef die Bücher von Halo Industries frisiert«, meinte Fletcher. »Jemand hat es herausgefunden und will sich der Sache annehmen.«

»Schutz?«, fragte ich.

Fletcher zuckte mit den Achseln. »Soweit ich weiß nicht, aber den Gerüchten nach wird Giles nervös und denkt darüber nach, sich der Polizei zu stellen. Als würden die sich die Mühe machen, ihn zu schützen.«

Cops. Ich schnaubte. Was für ein Witz! Die meisten von Ashlands Gesetzeshütern waren korrupter als der durchschnittliche Mafioso. Wenn man sich zum Schutz an die Bullerei wandte, konnte man sich auch gleich aufhängen und dem Zellengenossen damit die Mühe ersparen, das Bettzeug einzusauen.

»Halo Industries«, murmelte ich. »Ist das nicht eine von Mab Monroes Firmen?«

»Sie ist die Hauptaktionärin«, erklärte Fletcher. »Aber als öffentliche Fassade treten Haley James, eine ihrer Marionetten, und deren Schwester Alexis auf. Halo Industries wurde von ihrem Vater Lawrence gegründet. Er und die Schwestern haben die Firma jahrelang im Familienbesitz gehalten, bis Mab entschied, dass sie ein Stück vom Kuchen abhaben wollte und sich reingedrängt hat. Zwei Wochen nachdem Mab den Laden übernommen hat, starb der Vater an einem Herzinfarkt. Das war zumindest die offizielle Version.«

»Und die inoffizielle?«, fragte ich.

Wieder zuckte Fletcher mit den Achseln. »Den Gerüchten zufolge hat der Vater jede Menge Probleme gemacht. Würde mich nicht überraschen, wenn der Herzinfarkt eher ein unglücklicher Unfall war, den Mab eingefädelt hat.«

»Ein Herzinfarkt? Das ist eigentlich nicht ihr Stil«, sagte ich nachdenklich. »Gewöhnlich äschert sie Leute mit ihrer Magie ein, brennt ihre Häuser bis auf die Grundmauern nieder … so was in der Art.«

»Das ist wahr«, stimmte Fletcher zu. »Was wahrscheinlich bedeutet, dass sie den Job an einen ihrer Jungs weitergegeben hat, mit der Anweisung, es nach einem natürlichen Ableben aussehen zu lassen. Auf jeden Fall war Lawrence James am Ende tot.«

Ashland mochte ja eine funktionierende Verwaltung und eine einsatzfähige Polizeitruppe haben, in Wirklichkeit wurde die Stadt jedoch von einer Frau geführt. Mab Monroe. Mab war ein Feuerelementar – stark, mächtig, tödlich. Und als wäre das nicht schon schlimm genug, war sie kein durchschnittlicher Elementar. Mab Monroe hatte mehr Magie, mehr pure Macht als jeder andere Elementar in den letzten fünfhundert Jahren. Zumindest munkelte man das. Wenn man beobachtete, wie jeder, der sich ihr in den Weg stellte, früher oder später auf die eine oder andere Weise starb, neigte ich dazu, diesen Gerüchten Glauben zu schenken.

Hinter einer respektabel vielseitigen Fassade versteckte sich Mabs wahres Imperium. Schutzgelderpressung. Bestechung. Drogen. Entführungen. Mord. Vor nichts davon schreckte Mab auch nur im Geringsten zurück. Sie weidete sich an Blut wie ein Eber an einer Schlammsuhle. Ihre Spione waren überall. In den Polizeirevieren. Im Stadtrat. Im Büro des Bürgermeisters. Cops, Staatsanwälte, Richter und andere von den »Guten« überlebten in dieser Stadt nicht lange, außer sie liefen zur dunklen Seite über – und ließen sich von Mab schmieren.

Wie alle geschickten Geschäftsfrauen versteckte Mab Monroe ihre wahre Natur hinter dem schönen Schein kultivierter Perfektion. Sie spendete Geld an wohltätige Stiftungen, organisierte Benefizveranstaltungen und gab der Gesellschaft etwas zurück. Das ganze Theater war darauf ausgerichtet, eine möglichst große Distanz zwischen ihr und den Scheußlichkeiten zu schaffen, die sie täglich befahl. Mab interessierte sich für das große Ganze, weswegen sie über zwei – wie sollte man sie nennen? – Leutnants verfügte, welche die täglichen Geschäfte führten. Ihr Rechtsanwalt, Jonah McAllister, und Elliot Slater.

McAllister kümmerte sich um die Leute, die Mab mit legalen Mitteln herausforderten. Der aalglatte Rechtsanwalt begrub die leidigen Widersacher unter so viel Papierbergen und Bürokratie, dass die meisten schon allein von den Kosten ihres eigenen juristischen Beistands bankrottgingen. Slater, der zweite im Bunde, behauptete, ein Sicherheitsberater zu sein, aber der Riese war nichts anderes als ein Henker im Maßanzug. Er befehligte Mabs Lakaien und kümmerte sich schnell, brutal und endgültig um jeden, der dem Feuerelementar in die Quere kam – wenn Mab nicht gerade beschloss, sich der Sache selbst anzunehmen.

Für die meisten Leute war Mab Monroe der Inbegriff elementarer Tugend, eine perfekte Verbindung zwischen Macht und Magie. Doch diejenigen von uns, die mit der dunkleren Seite des Lebens zu tun hatten, erkannten Mab als das, was sie wirklich war: skrupellos. Der Feuerelementar hielt Ashland im Würgegriff, hatte seine Finger in jeder nutzbringenden, profitablen oder dem eigenen Vorteil zuträglichen Organisation, doch selbst das schien Miss Monroe einfach nicht zu genügen. Mab strebte immer sehr erfolgreich nach mehr, gerade so, als wären Geld, Macht und Einfluss ein lebensnotwendiges Elixier. Einfach ausgedrückt war sie ein Tyrann, wenn auch mit genug Magie ausgestattet, um jede Drohung wahr zu machen, die sie aussprach, und alles zu kriegen, was sie wollte.

Ich hatte Tyrannen noch nie gemocht.

Mabs Magie hielt glücklicherweise niemanden davon ab, im Stillen gegen sie zu intrigieren. Mehrmals im Jahr erhielt Fletcher Anfragen, ob ich bereit wäre, Mab Monroe auszuschalten. Wir hatten sie über die Jahre jedoch ausgekundschaftet und entschieden, dass ein derartiger Auftrag einer Selbstmordmission zu nahe kam, um sich die Mühe zu machen. Selbst wenn ich es schaffen sollte, ihre vielen Sicherheitsmaßnahmen zu überwinden und ihre hünenhaften Bodyguards zu umgehen, konnte Mab mich immer noch selbst fertigmachen. Sie hatte keine Angst davor, ihre Feuermagie einzusetzen. Dank ihr hatte Mab es überhaupt geschafft, so weit nach oben zu kommen – indem sie jeden umgebracht hatte, der es gewagt hatte, sich ihrem kometenhaften Aufstieg durch die Reihen von Ashlands Unterwelt in den Weg zu stellen.

Trotzdem hatte Fletcher die Akte über die Feuermagierin weitergeführt, ihr Sicherheitssystem und ihre Aktivitäten im Auge behalten und nach Schwachpunkten gesucht. Aus irgendeinem Grund wollte der alte Mann Mab tot sehen. Er hatte nur noch keinen Weg gefunden, seinen Plan in die Tat umzusetzen. Zumindest keinen, der nicht damit endete, dass er mit Glanz und Gloria zusammen mit ihr unterging.

»Du erzählst mir also, dass Gordon Giles dämlich genug war, Geld von einem von Mab Monroes Unternehmen zu veruntreuen?«, fragte ich.

Fletcher hob die Schultern. »Scheint so. Der Klient ist nicht weiter ins Detail gegangen, und ich habe nicht nachgefragt. Wenn du mal ganz nach hinten blätterst, wirst du sehen, dass wir für diesen Auftrag eine zeitliche Begrenzung haben.«

Ich schlug die betreffende Seite auf und las die Informationen. »Sie wollen, dass der Job bis morgen Abend erledigt ist? Du willst, dass ich in weniger als vierundzwanzig Stunden einen Job durchziehe? Das sieht dir gar nicht ähnlich, Fletcher.«

»Schau dir die Summe an.«

Meine Augen glitten auf dem Papier nach unten. Fünf Millionen. Frage gestellt und beantwortet. Fletcher mochte mich ja lieben wie eine Tochter, aber er liebte auch seine fünfzehn Prozent. Und ich stand meinem Anteil auch nicht gerade ablehnend gegenüber.

»Das ist kein schlechter Batzen«, gab ich zu.

»Nicht schlecht? Es ist doppelt so viel wie üblich.« In Fletchers rauer Stimme klang eine Mischung aus Stolz und Vorfreude mit. »Der Klient hat die fünfzigprozentige Vorauszahlung bereits geleistet. Erledige diesen Job, und du kannst dich zur Ruhe setzen.«

Ruhestand. Dieses Thema beschäftigte Fletcher, seitdem ich vor sechs Monaten von einem verbockten Job in St.Augustine mit einem gebrochenen Arm und einer Milzquetschung zurückgekommen war. Der alte Mann sprach immer wieder in träumerischem Tonfall über meinen Ruhestand, als gäbe es eine ganze Welt von Möglichkeiten, die sich auf magische Weise eröffnen würden, sobald ich meine Messer ablegte. In Wirklichkeit wartete nur die einschläfernde Langweile der Realität auf mich.

»Ich bin dreißig, Fletcher. Und ein sehr effizienter, gut bezahlter, begehrter Profi auf meinem Gebiet. Ich bin gut in meinem Job. Das Blut macht mir nichts aus, und die Leute, die ich töte, haben es verdient. Warum sollte ich mich zur Ruhe setzen wollen?«

Und noch wichtiger: Was sollte ich dann mit mir anfangen? Ich hatte sehr spezielle Fähigkeiten, die mir allerdings nicht viele Möglichkeiten im Leben boten.

»Weil das Leben mehr zu bieten hat, als Leute umzubringen und Geld zu zählen, egal wie sehr du das genießt.« Fletchers grüne Augen bohrten sich in meine. »Weil du nicht den Rest deines Lebens nervös über die Schulter schauen sollst. Willst du nicht auch mal im Tageslicht leben, Mädchen?«

Im Tageslicht leben. Fletchers Werbeslogan für ein normales Leben. Vor siebzehn Jahren hatte ich mir nichts mehr gewünscht. Ich hatte darum gebetet, dass die Welt wieder in Ordnung kam, dass die Zeit zurückgedreht wurde, damit ich wieder das sichere behütete Leben leben konnte, das einst das meine gewesen war. Doch ich hatte schon vor langer Zeit aufgehört, an dieses Märchen zu glauben. Etwas zu wollen, was ich einfach nicht haben konnte, verursachte mir nur wehmütige Schmerzen. Dieser goldene Traum, diese sanfte Hoffnung, dieser sentimentale Teil von mir war tot, verbrannt und zu Asche zerfallen – zusammen mit meiner Familie.

Leute wie ich gingen nicht in Ruhestand. Sie machten einfach weiter, bis sie tot waren – was gewöhnlich eher früher geschah als später. Aber ich würde weitermachen, solange ich nur konnte. Selbst wenn es letztendlich ein Verlustgeschäft war.

Doch ich wollte mich nicht mit dem alten Mann streiten. Nicht heute. Ob es mir nun gefiel oder nicht, er war eine der wenigen noch lebenden Personen auf dieser Welt, die ich liebte. Also lenkte ich ihn ab, indem ich mit der Mappe in der Luft herumwedelte.

»Hältst du das wirklich für eine gute Idee? Diesen Auftrag?«

»Für fünf Millionen Dollar in der Tat.«

»Aber uns bleibt bei diesem Job keine Zeit für Vorbereitungen«, widersprach ich. »Keine Zeit zu planen, keine genaue Ausarbeitung von Fluchtwegen, nichts.«

»Komm schon, Gin«, schmeichelte Fletcher. »Es ist ein einfacher Job. So was kannst du im Schlaf. Der Klient hat sogar einen Ort vorgeschlagen, wo du den Angriff starten kannst.«

Ich las ein bisschen weiter. »In der Oper?«

»In der Oper«, wiederholte Fletcher. »Morgen Abend ist da eine Riesenparty. Sie widmen Mab Monroe den neuen Flügel.«

»Noch einen?«, fragte ich. »Gibt es in der Stadt nicht schon genügend Gebäude, die nach ihr benannt sind?«

»Anscheinend nicht. Ich will damit sagen, dass dort eine Menge Leute sein werden. Viele Reporter. Unzählige Gelegenheiten, in der Menge unterzutauchen. Es sollte dir leichtfallen, dich reinzuschleichen, Giles zu erledigen und wieder zu verschwinden. Du bist schließlich die Spinne, weit und breit für Kunstfertigkeit und Talent berühmt.«

Sein bombastischer Tonfall brachte mich dazu, eine Grimasse zu ziehen. Manchmal erinnerte mich Fletcher an einen Zirkusdirektor, der es schaffte, den traurigen Elefanten, die abgehalfterten Pferde und die zweitklassigen Akrobaten mitreißender wirken zu lassen, als sie eigentlich waren.

»Die Spinne war deine Idee, nicht meine. Du bist derjenige, der dachte, ich könnte mehr für meine Dienste verlangen, wenn ich nur einen eingängigen Namen hätte, Zinnsoldat«, sagte ich und nannte den alten Mann damit bei seinem ehemaligen mörderischen Namen.

Fletcher grinste. »Und ich hatte recht damit. Jeder Auftragsmörder hat einen Namen. Deiner klingt dank mir einfach nur besser als andere.«

Ich verschränkte die Arme vor der Brust und starrte ihn böse an.

»Komm schon, Gin. Es ist einfach verdientes Geld. Erledige morgen Abend den Buchhalter, und dann kannst du Urlaub machen«, versprach Fletcher. »Einen echten Urlaub. Irgendwo, wo es warm ist, mit eingeölten Beachboys und Cocktails mit Sonnenschirmchen.«

Ich zog eine Augenbraue hoch. »Was weißt du denn über eingeölte Beachboys?«

»Finnegan hat sie mir gezeigt, als wir letztes Jahr in Key West waren«, meinte Fletcher trocken. »Obwohl unsere Aufmerksamkeit bald von den wunderbaren Damen in Anspruch genommen wurde, die sich oben ohne am Pool sonnten.«

Natürlich.

»Schön«, sagte ich und klappte die Mappe zu. »Ich werde es machen. Aber nur, weil ich dich liebe, obwohl du ein gieriger Bastard bist, der mich viel zu hart rannimmt.«

Fletcher hob seine Kaffeetasse. »Darauf trinke ich.«

3

Ich trank meine Limonade aus, nahm die Mappe, wünschte Fletcher eine gute Nacht und ging nach Hause.

Meine Wohnung befand sich in dem Gebäude auf der anderen Straßenseite, im obersten, vierten Stockwerk, aber ich ging niemals direkt vom Restaurant nach Hause – oder irgendwo anders hin. Ich umrundete drei Blocks und schlich durch zwei kleine Gassen, um sicherzustellen, dass mich niemand verfolgte, bevor ich zurück zum Ausgangspunkt kam und ins Gebäude huschte. Alles war der späten Stunde entsprechend ruhig, bis auf das Quietschen meiner Turnschuhe auf dem Granitboden der Lobby.

Mit dem Aufzug fuhr ich bis in mein Stockwerk. Bevor ich den Schlüssel ins Schloss steckte, drückte ich meine Hand gegen den Stein neben dem Türrahmen. Nichts Besonderes. Nur das normale ruhige Gemurmel des Elements. Ich war nicht oft genug zu Hause, als dass meine Gegenwart in die grauen Ziegelsteine hätte einziehen können. Oder vielleicht legte ich auch einfach keinen Wert darauf, meinen eigenen Schwingungen zu lauschen.

Ich hatte mich für diese bestimmte Wohnung entschieden, weil sie am nächsten zur Treppe lag, einen Zugang zum Dach hatte und außen am Gebäude ein dickes Abflussrohr hinunter auf den Bürgersteig führte. Meine Fluchtwege, zusammen mit noch ein paar anderen. Ich testete sie mindestens einmal im Monat, spielte mögliche Angriffs- und Fluchtszenarien in meinem Kopf durch. Das war mein persönliches Überlebenstraining. Man konnte niemals zu vorsichtig sein, besonders in meinem Beruf, wo selbst der kleinste Fehler schon den Tod bedeuten konnte. Meinen Tod.

Ich schaltete das Licht an. Das vordere Zimmer war eine überdimensionale Wohnküche, von der rechter Hand mein Schlafzimmer und das Bad abgingen, während sich auf der linken Seite ein unbenutztes Zimmer mit eigenem Bad befand. Eine große Couch, ein Zweisitzer, ein paar Sessel, Elektrogeräte. Ein großer Plasmafernseher, neben dem sich CDs und DVDs stapelten. Überall fast einen Meter hohe Türme ausgelesener Bücher. Am Hängeregal in der Küche baumelten mehrere hübsche Kupfertöpfe und Pfannen, während auf dem Tresen ein Messerblock voll teurer Steinsilber-Messer stand.

In dieser Wohnung gab es nichts, was ich nicht jeden Moment zurücklassen konnte. Das war bei all meinen Einsätzen immer eine potenzielle Möglichkeit. Ich war bei der Ausführung meiner Aufträge sehr vorsichtig, und Fletcher wählte unsere Kunden sehr genau aus. Aber trotzdem bestand immer die Gefahr, aufzufliegen, gefoltert oder umgebracht zu werden. Weitere Gründe für Fletchers Wunsch, dass ich diesen Beruf aufgab.

Um den alten Mann zu beruhigen, versuchte ich, neben meinen nächtlichen Aktivitäten ein relativ normales Leben zu führen. Meine wichtigste Scheinidentität war Gin Blanco, eine Aushilfsköchin und Kellnerin im Pork Pit, die seit Urzeiten am Community College von Ashland studierte. Egal ob Architektur, Bildhauerei oder die Rolle der Frau in Fantasy-Romanen: Ich besuchte jeden Kurs, der mich interessierte, egal wie verschroben er wirken mochte.

Am liebsten waren mir die Literatur- und Kochkurse, und ich belegte jedes Semester mindestens ein Seminar aus jeder Disziplin. Kochen war meine Leidenschaft – die einzige echte Passion, die ich neben dem Lesen hatte. Ich genoss den Geruch von karamellisiertem Zucker und scharf angebratenen Gewürzen. Die endlosen Kombinationen aus süß und salzig. Die einfachen und komplexen Formeln, die es einem ermöglichten, einzelne Zutaten in kulinarische Gesamtkunstwerke zu verwandeln. Außerdem verschaffte mir das Kochen eine Ausrede, jede Menge Messer bei mir herumliegen zu lassen. Eine weitere Notwendigkeit meines Jobs.

Als ich sichergestellt hatte, dass alles in Ordnung war, drang ich tiefer in die Wohnung ein. Eigentlich hätte ich ins Bad gehen sollen, mich duschen und dann auf dem Bett zusammenrollen, um die Gordon-Giles-Unterlagen zu studieren und den Mord zu planen, die nötigen Ausrüstungsgegenstände aufzulisten und mir im Kopf meine Flucht zurechtzulegen. Und von den eingeölten Beachboys zu träumen, von denen Fletcher mir versprochen hatte, dass sie in Key West auf mich warteten.

Aber stattdessen blieb ich in der Wohnküche und starrte auf eine Reihe gerahmter Bilder, die auf dem Sims über dem Fernseher standen. Sie stammten aus einem Kunstkurs, den ich gerade abgeschlossen hatte. Insgesamt waren es drei Zeichnungen, alle verschieden, aber mit einem verbindenden Thema.

Ich hatte die Runen meiner toten Familie gezeichnet.

Statt eines allgemeinen Emblems oder eines Familienwappens identifizierten sich Magiewirkende über Runen. Vampire, Riesen, Zwerge, Elementare. Überall, wo man hinsah, waren die geheimen Zeichen. Tätowierungen, Halsketten, Ringe, bedruckte T-Shirts. Selbst Menschen benutzten sie, besonders als Firmenlogos.

Einige der Magiewirkenden rümpften darüber die Nase und erklärten, dass Runen nur von ihresgleichen eingesetzt werden sollten. Die meisten dieser Leute hingen auch kranken Träumen von einer Gesellschaft nach, die von Elementaren und Ähnlichem geführt wurde, statt das momentane Mächtegleichgewicht zwischen den Rassen zu befürworten. Der Grund dafür, dass bis jetzt keine einzelne Rasse die Macht an sich gerissen hatte, war ganz einfach: Schusswaffen schafften einen phantastischen Ausgleich zu all der Magie. Genau wie Messer, Baseballschläger, Kettensägen und Meißel. Magie war toll, aber drei Kugeln in den Hinterkopf reichten aus, um so gut wie jedem das Licht auszuschalten. Also benutzten die Menschen die Runen, die Magiewirkenden äußerten sich verächtlich darüber, und die Stadt machte einfach weiter.

Die von den Menschen benutzten Zeichen hatten ohnehin keinen Einfluss. Nur Elementare konnten Runen mit Magie aufladen, nur sie konnten die Symbole zum Leben erwecken, sodass sie einen bestimmten Zweck erfüllten. Eigentlich war es nur Angeberei, wenn ein Feuerelementar eine Sonnenrune auf ein Stück Holz zeichnete, bevor er ein Lagerfeuer damit entzündete. Besonders deswegen, weil Feuerelementare nur mit den Fingern schnippen mussten, um dasselbe zu erreichen. Aber für einige Dinge waren magische Runen wirklich sehr gut geeignet – als Stolperfallen, Alarmanlagen oder für auf eine bestimmte Zeit programmierte oder verzögerte Magieimpulse. Besonders Letzteres übte eine gewisse Anziehungskraft auf diverse Profikiller aus. Man zeichnete eine explosive Feuerrune auf ein Paket, schickte es an die Zielperson und konnte bereits mit einer Margherita in der Hand in der Karibik sitzen, wenn der arme Idiot das Paket öffnete und mit einem lauten Knall in die Luft flog.

Die meisten Runen hatten aus sich heraus keine Macht, sondern waren nur ein einfacher Weg, seine Abstammung zu verkünden, Bündnisse einzugehen oder Aussagen über das eigene Temperament, Geschäft, den Beruf oder die Hobbys zu machen. Die Rune meines Geschlechts, das der Snows, war eine Schneeflocke – das Symbol für eisige Ruhe. Meine Mutter Eira hatte sich die Rune zu einem Steinsilber-Amulett formen lassen, das sie stets an einer Kette um den Hals getragen hatte. Dann hatte meine Mutter die Tradition fortgeführt und für jeden von uns ein Medaillon anfertigen lassen, mit unterschiedlichen Symbolen, die etwas über unsere jeweiligen Charaktere verrieten.

Die erste gezeichnete Rune auf dem Sims hatte die Form einer Schneeflocke. Ihr folgte das Bild eines gewundenen Efeu-Schösslings, der für Eleganz stand. Das war die Rune an der Kette meiner älteren Schwester Annabella gewesen. Und schließlich gab es noch die Schlüsselblume, die die Schönheit symbolisierte und die meine Mutter meiner jüngeren Schwester Bria gegeben hatte.

Auf dem Sims gab es kein Bild von meiner Rune, die eine Spinne zeigte. Der kleine Kreis umgeben von acht gleichmäßig verteilten Strichen war weder kompliziert noch interessant genug gewesen, um eine Zeichnung für meinen Kurs zu rechtfertigen. Natürlich besaß ich das Medaillon mit der Spinnenrune nicht mehr. Aber wenn ich das verdammte Ding sehen wollte, musste ich nur auf die Narben auf meinen Handflächen schauen.