Sprache und Identität - Anke Werani - E-Book

Sprache und Identität E-Book

Anke Werani

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Beschreibung

Auf die Frage "Wer bin ich?" finden Individuen durch Narrationen und Reflexionen Antwortmöglichkeiten. Der offensichtliche Zusammenhang zwischen Sprache und Identität wird in dieser Einführung aus psycholinguistischer Sicht systematisch beleuchtet. Es werden terminologische Aspekte der Phänomene Sprache und Identität erläutert und auch Entwicklungsaspekte sowie neurowissenschaftliche Erkenntnisse einbezogen. Zentrale Fragen sind, wie über Narrationen Identität dargestellt sowie hergestellt wird und wie Identitätsmerkmale in Sprache ausgedrückt werden. Mit den Forschungsaspekten zum Komplex Sprache und Identität in den Bereichen Gender, Mehrsprachigkeit und soziale Medien wird aufgezeigt, wie umfassend und weitreichend diese Thematik ist. Das Buch richtet sich an Studierende und Lehrende in den Bereichen Linguistik, Psychologie, Soziologie, Kommunikationswissenschaften, Pädagogik und Lehramt sowie an alle, die in wissenschaftlichen Kontexten Antworten auf die spannende Frage suchen: "Wie hängen Sprache und Identität zusammen?"

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Anke Werani

Sprache und Identität

Eine Einführung

DOI: https://doi.org/10.24053/9783823394686

 

© 2023 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetztes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich.

 

Internet: www.narr.deeMail: [email protected]

 

ISSN 0941-8105

ISBN 978-3-8233-8468-7 (Print)

ISBN 978-3-8233-0483-8 (ePub)

Inhalt

Vorwort1 Einleitung und Überblick1.1 Zwei Denkimpulse1.2 Ausgangspunkte1.3 Ziel und Aufbau des Buchs1.4 Hinweise zur Lektüre2 Sprachliche Tätigkeit – ein Sprachbegriff2.1 Die Forschungsdisziplin Psycholinguistik2.2 Sprache und Sprechen2.3 Sprachliche Tätigkeit – eine Begriffsbestimmung3 Theoretische Annäherungen an das Konzept Identität3.1 Identität als Kontinuität3.2 Identität als Balanceakt3.3 Identität als Kohärenz3.4 Identität als Bewegung4 Soziale Identität4.1 Ausgangspunkte der sozialen Identität4.2 Sprachliche Stile in Gruppen4.3 Beispiele sprachlicher Aspekte sozialer Identität5 Persönliche Identität5.1 Physische Identität5.2 Psychische Identität5.3 Persönliche Identität und Sprache6 Sprachliche Formen der Identität6.1 Narrationen – erzählen können6.2 Narrative Identität6.3 Das dialogische Selbst6.4 Facetten des Nichterzählens7 Identitätsmerkmale im sprachlichen Ausdruck7.1 Verbaler Ausdruck der Ich-Identität7.2 Extraverbaler Ausdruck der Ich-Identität8 Personennamen – Etiketten der Identität8.1 Das Fundament des Namenhabens8.2 Aspekte zur Vielfalt der Namensgebungen8.3 Zur identitätsstiftenden Funktion von Vornamen8.4 Namensänderung = Identitätsänderung?9 Entwicklungsaspekte von Sprache und Identität9.1 Das Ur-Wir9.2 Die Entdeckung der Sprache und des Selbst9.3 Der Beginn der Individuation von Sprache und Person9.4 Der Übergang zur Autonomie9.5 Die Identitätskrise der Adoleszenz10 Neurowissenschaftliche Grundlagen von Sprache und Identität10.1 Grundlagen für die Betrachtung des Gehirns10.2 Neurowissenschaftliche Aspekte der Sprache10.3 Neurowissenschaftliche Aspekte der Identität11 Geschlecht, Sprache und Identität11.1 Geschlechtsstereotype11.2 Geschlechtsidentität11.3 Transidentität11.4 Ausdruck von Geschlechtsidentität in der Sprache12 Mehrsprachigkeit und Identität12.1 Zur Komplexität von Mehrsprachigkeit12.2 Mehrsprachige Identität13 Sprache, Identität und soziale Medien13.1 Soziale Medien – eine Bestandsaufnahme13.2 Veränderungen der Kommunikation durch soziale Medien13.3 Virtuelle Identität13.4 Ich-Identität in der DigitalitätLiteraturRegister

Vorwort

Das Schreiben dieses Buchs über den psycholinguistischen Themenkomplex Sprache und Identität setzt meine wissenschaftlichen Forschungen zur sprachlichen Tätigkeitsprachliche Tätigkeit im kulturhistorischen Sinne, insbesondere zur Kommunikation und zum inneren Sprechen, konsequent fort (Werani 2014, Anselm/Werani 2017, Werani 2011). Es handelt sich um ein Einführungsbuch, das versucht, verschiedene Perspektiven auf Zusammenhänge von Sprache und Identität zu öffnen und einen Überblick zu schaffen. Zugleich soll es eine Einladung sein, diesen Forschungsbereich noch zu vertiefen, da viele Fortschreibungen und Vertiefungen vorstellbar sind.

Die Prägung meines eigenen Sprechens und Denkens durch VygotskijVygotskij, Lev S.s Arbeiten wird an vielen Stellen dieses Buchs deutlich werden, sodass folgendes Zitat den Charakter eines Mottos bekommt:

Die Sprache, die anfangs Mittel der Kommunikation, Mittel des Verkehrs, Mittel der Organisation des kollektiven Verhaltens ist, wird später zum Hauptmittel des Denkens und aller höheren psychischen Funktionen, zum Hauptmittel des Aufbaus der Persönlichkeit. (Vygotskij 1931/1987, S. 628)

Die sprachliche Tätigkeit nimmt eine Schlüsselrolle im menschlichen Dasein ein. Das für mich Faszinierende ist, dass sie zwischen sozialem Austausch und höheren psychologischen Prozessen vermittelt, dass sie Kommunikations-, Kognitions- und Individuationsräume schafft und dass sie nicht nur dazu dient, andere zu verstehen, sondern vor allem auch dazu, sich selbst zu verstehen. Im Kern bleibt eine soziale Wesenhaftigkeit der sprachlichen Tätigkeit, die sie dialogisch und dynamisch macht. Insofern ist auch die Identitätsbildung unter sprachlicher Beteiligung bewegt und es ist über die gesamte Lebensspanne ein eindrückliches Phänomen, dass die einzige Konstante der Identitätsbildung die stetige Veränderung ist.

Die Beschäftigung mit dem Thema Sprache und Identität führt neben der wissenschaftlichen Auseinandersetzung auch zu ganz persönlichen Fragen, wie die eigene Identität konstruiert ist. Der Blick auf die eigene IdentitätsarbeitIdentitätsarbeit durch die täglichen Narrationen und die Wahrnehmung der sprachlichen Tätigkeit als kraftvolles, gegenstandkonstituierendes Mittel führen zu neuen Perspektiven auf sich selbst. Perspektiven und Perspektivwechsel sind möglich, weil über sprachliche Tätigkeit die BewegungBewegung der Identitätsentwicklung mitgestaltet werden kann, sodass die lebenslange Identitätsbewegung als offene Form mittels sprachlicher Tätigkeit ständig aktualisiert werden kann. Es wird also im ganz persönlichen Sinn deutlich, wie sich die eigene Biografie durch die autobiografischen Narrationen formen lässt. Das BewusstseinBewusstsein über die eigene Identität und die Möglichkeiten des sprachlichen Ausdrucks bleiben in Relation, sodass auch zur Kenntnis genommen werden muss, dass nicht alle Erlebnisse und Erfahrungen sprachlich mitgeteilt werden können oder auch nicht mitgeteilt werden wollen. VygotskijVygotskij, Lev S. beschreibt diese Relation folgendermaßen:

Das BewusstseinBewusstsein spiegelt sich im Wort wider wie die Sonne in einem kleinen Wassertropfen. Das Wort verhält sich zum Bewusstsein wie eine kleine Welt zur großen, wie die lebende Zelle zum Organismus, wie das Atom zum Kosmos. […] Das sinnerfüllte Wort ist der Mikrokosmos des menschlichen Bewusstseins. (Vygotskij 1934/2002, S. 466)

Sprachliche Tätigkeit dient folglich der Spiegelung der Sozialität im Individuum und formt damit das Individuum.

Aus tiefer kulturhistorischer Überzeugung ist das Buch in Sozialität entstanden und spiegelt diese. Ich danke allen herzlich, die sich durch ihre Spiegelungen meiner Tätigkeit an diesem Buch beteiligt haben. Insbesondere jenen, die auch lesend und schreibend ihre Meinungen spiegelten, und Michael Ramsperger danke ich für die geduldige Spiegelung meiner Grafikideen in ein einheitliches Format.

Gewidmet ist dieses Buch meinen beiden Söhnen Niklas und Nepomuk.

 

München, im August 2023     Anke Werani

 

1Einleitung und Überblick

Dieses Kapitel enthält die Einleitung in das Thema Sprache und Identität sowie einen Überblick über den Aufbau des Buchs.

Leitfragen dieses Kapitels sind:

Inwiefern hängen Sprache und Identität zusammen?

Wie bin ich? oder Wer bin ich?

Welche Forschungszugänge gibt es zum Thema Sprache und Identität?

Thema dieses Buchs ist es, Zusammenhänge zwischen Sprache und Identität darzustellen und zu reflektieren. Im Alltagsgebrauch gilt es als selbstverständlich, dass Individuen eine Identität haben. Unter Identität wird gemeinhin eine (vermeintlich) unveränderliche, vollkommene, innere und als Selbst erlebte Einheit eines Individuums verstanden. Ebenso selbstverständlich wird mit einer Identität gelebt, ohne ständig über die eigene Identität nachzudenken. Vielmehr können Bemerkungen und Fragen, die von außen herangetragen werden, wie man ist oder wer man ist, durchaus irritieren und es ist oftmals auch gar nicht einfach, diese Fragen zu beantworten (Zirfas 2010). Mit der Sprache verhält es sich ähnlich, sodass sprechen zu können ebenfalls als selbstverständliche Fähigkeit des Individuums angenommen wird. Individuen sind von Lebensbeginn an in Sprache getaucht und die Aneignung einer Sprache ist ein selbstverständlicher Teil der menschlichen Ontogenese. Außerdem wird ein sprachlicher StilStil in der Regel unbewusst angeeignet und nicht zwangsläufig reflektiert. Das Buch greift die Selbstverständlichkeit in den Auffassungen von Sprache und Identität auf und möchte zur Diskussion anregen. Es wird gezeigt werden, dass nicht alles so selbstverständlich ist, wie es vielleicht auf den ersten Blick scheinen mag, insbesondere wenn der Stellenwert der Sprache bei der Herausbildung von Identität analysiert wird. Zunächst werden Sie in diesem Kapitel mit zwei Denkimpulsen zum Einstieg in das Thema Sprache und Identität ganz persönlich angesprochen. Dann wird auf grundlegende Aspekte der Terminologie eingegangen. Anschließend wird ein Überblick über den Aufbau des Buchs erfolgen und es werden ein paar Hinweise zur Lektüre des Buchs gegeben.

1.1Zwei Denkimpulse

Bevor Sie weiterlesen, möchte ich Sie bitten, sich auf zwei Denkimpulse einzulassen und sich ein wenig Zeit dafür zu nehmen:

Suchen Sie ein Babyfoto von sich heraus und überlegen Sie, wie Sie als Baby waren. Woher wissen Sie, dass das auf dem Bild Sie sind? Woher wissen Sie, wie Sie als Baby waren? Hatten Sie als Baby schon eine Identität?

Erzählen Sie sich selbst, wer Sie in fünf Jahren sein werden, und notieren Sie einige Stichpunkte, wie Sie sich in fünf Jahren vorstellen. Wenn Sie das gemacht haben, überlegen Sie noch einmal, wer Sie in fünf Jahren sein werden. Gibt es noch eine weitere Möglichkeit, wie es werden könnte?

Bei Denkimpuls 1 – das Babyfoto – ist es so, dass Sie sich selbst nur erkennen, weil Bezugspersonen Ihnen diese Narration mitgegeben haben und bestätigen, dass Sie es tatsächlich sind auf dem Bild. Auch die Frage nach der Lebenswelt als Baby kann nur durch andere beantwortet werden, d. h., die Frage Wie bin ich als Baby gewesen? kann folglich ohne die Narrationen anderer selbst nicht beantwortet werden. Sie selbst können sich also voraussetzungslos auf dem Bild nicht erkennen und es ist offensichtlich, dass Identität durch Narrationen anderer konstruiert wird. Die Narration anderer wird damit ein wesentlicher Faktor für diese erste Identitätsbildung, und es kann ein erster Zusammenhang zwischen Identität und Sprache festgestellt werden. Es wird an diesem Beispiel auch deutlich, dass Identität von außen durch andere Individuen zugeschrieben wird. Identität bildet sich folglich dadurch, wie andere Individuen einen wahrnehmen und beschreiben. Diese Aspekte fließen in die Identitätsbildung mit ein.

Bei Denkimpuls 2 – die eigenen Narrationen – wird Ihnen vermutlich gelungen sein, sich zwei zukünftige Szenarien auszudenken und sich diese zu erzählen. Ihre Identität kann folglich von Ihnen selbst hergestellt werden, sogar in verschiedenen Varianten. Kraus (2000), auf den dieser Denkimpuls zurückgeht, hat sich mit dem erzählten Selbst auseinandergesetzt. Beim erzählten Selbst geht es einerseits darum, sich selbst in der Gegenwart als mehr oder weniger kohärent erlebtes Individuum zu erzählen, und andererseits darum, sich in die Zukunft entwerfen zu können. Mit autobiografischen Narrationen zu unterschiedlichen Themenbereichen wird ein Patchwork der eigenen Identität entwickelt und Identitätsbildung wird dadurch ein unabschließbares Projekt. Dazu kommt, dass Sie sich vielleicht gefragt haben, welche Facette Ihrer Identität im Kontext dieses Buchs interessant und relevant sein könnte: Ihre Familiensituation? Ihr Beruf? Ihr Geschlecht samt sexueller Orientierung? Ihre Religion? Ihre Persönlichkeitsmerkmale? Solche Fragen machen deutlich, dass Identität zwar von innen heraus narrativ konstruiert wird, jedoch die Identitätskonstruktion auch den Blick der anderen einbezieht, indem passende Identitätsfacetten ausgewählt und präsentiert werden.

Beide Denkimpulse zeigen, dass Narrationen eine Schlüsselrolle bei der Darstellung und Herstellung von Identität spielen. Narrationen bilden Facetten der Identität sprachlich ab, wobei die Veränderbarkeit der Identität durch die jeweilige Narration zu betonen ist. Auch wenn Identität über Selbstnarrationen erzeugt wird, spielt der Einfluss von außen in Form von Spiegelungen durch andere eine wichtige Rolle. ZirfasZirfas, Jörg (2010, S. 12) fasst diese Aspekte folgendermaßen zusammen:

Wer sich die Frage nach der Identität stellt, wird feststellen, dass sein Selbstbild der Veränderung und Entwicklung unterliegt, dass es immer auch anders sein könnte, und dass es einen Unterschied macht, ob ich mich selbst im Spiegel oder aus dem Blickwinkel der anderen betrachte.

Veränderung und Entwicklung haben mit Aushandlungsprozessen zu tun. Aushandlungsprozesse können explizit und implizit gestaltet sein, d. h., sie können bewusst und unbewusst ablaufen. Auch bei der Betrachtung von sprachlichen Aushandlungsprozessen der Identität zwischen Selbstbild und Fremdbild können bewusste und unbewusste Prozesse beschrieben werden. Ein Teil der IdentitätsarbeitIdentitätsarbeit wird folglich als bewusster Prozess betrachtet, der Aufmerksamkeit und Reflexion erfordert. Zu einer expliziten AushandlungAushandlung von Identität kommt es beispielsweise dann, wenn sogenannte Krisen eintreten, und die Fragen Wie bin ich? und Wer bin ich? neu ausgehandelt werden müssen (Marcia 1980). Zu den unbewussten oder impliziten Aushandlungsprozessen zählt beispielsweise die Bildung von Stereotypen, denn bei einem ersten Eindruck von einer Person werden auch unbewusst und unreflektiert persönliche Merkmale und Eigenschaften zugeschrieben, es werden Gruppenzugehörigkeiten und soziale Rollen mitassoziiert, ebenso wie politische und moralische Werte.

Identitätsbildung hängt mit Narrationen zusammen, denn mit Narrationen besteht die Möglichkeit, verschiedene Facetten der eigenen Identität darzustellen und herzustellen. Zu den Narrationen zählen gleichermaßen Zuschreibungen von außen und von innen. Die AushandlungAushandlungsprozesse dieser Zuschreibungen haben bewusste und unbewusste Anteile.

1.2Ausgangspunkte

Der Forschungsbereich Sprache und Identität ist interdisziplinär verortet, weshalb es zum Teil zu sich überschneidenden Begriffen kommt und die Terminologie somit nicht eindeutig ist. Allein der Begriff Identität ist in seiner Etymologie vieldeutig (Mumm 2018), sodass zunächst einmal formale Definitionen, wie a = a, ausgeschlossen werden und von einer sozialwissenschaftlichen Definition ausgegangen wird.

Der sozialwissenschaftliche Ausgangspunkt des Identitätsbegriffs beinhaltet, dass es sich bei Identität um einen intersubjektiven und dynamischen Prozess handelt. IntersubjektivitätIntersubjektivität impliziert, dass Identität gewissermaßen über einen Spiegel erzeugt wird (Lacan 1949/1991). Zu unterscheiden ist ein Spiegel, in den selbst geblickt wird, um sich zu erkennen, und ein Spiegel der anderen, die in der sozialen Gemeinschaft die Identität jedes Einzelnen kommentieren. Identität hat demnach sowohl etwas mit persönlichen Kompetenzen zu tun, Identität mit sich selbst auszuhandeln, als auch mit sozialen Kontexten, Identität mit anderen auszuhandeln (Zirfas 2010). Bei allen Fragen zur Begrifflichkeit kann als Grundannahme der Identitätsbildung gelten, dass Individuen ein grundsätzliches Interesse daran haben, sich selbst als eine Einheit zu erleben (Breger 2013). Diese Annahme hat sich in den Sozialwissenschaften bis heute gehalten.

Identität ist aus sozialwissenschaftlicher Perspektive ein intersubjektives, dynamisches Konstrukt, das Aspekte des Selbst- und Fremdbilds integriert.

Unter chronologischen Gesichtspunkten kann der Identitätsbegriff ab dem 20. Jahrhundert in Auffassungen der ModerneModerne und der PostmodernePostmoderne unterteilt werden (s. Kapitel 3). Zur Moderne zählen Ansätze, die aus der Psychoanalyse stammen und sich mit Fragen auseinandersetzen, was das Ich ist (Freud 1923/2005) oder wie sich SelbstkonzepteSelbstkonzepte entwickeln (Lacan 1949/1991). Ausgehend vom Begriff der RolleRolle (Mead 1934/1968) beginnt bereits in der Moderne die Auseinandersetzung darüber, wie sich persönliche und soziale Anteile der Identität in Einklang bringen lassen (Erikson 1973, Goffman 1967, Krappmann 1971, Habermas 1973). Die neuere Debatte, die mit Postmoderne betitelt wird, betrachtet Identität als Pluralität und fragt nach der Integration verschiedenster Facetten der eigenen Identität (Zirfas 2010). Dies wird aus spezifischen Blickwinkeln gemacht, sodass Gender Studies oder auch Cultural Studies zur Identitätsforschung beitragen. Den Übergang zu dieser Wende von der Moderne zur PostmodernePostmoderne markieren Überlegungen von Foucault, der sich mit Normierung oder Normalisierungsprozessen der Identität auseinandergesetzt hat, oder auch Derrida, der die Alterität in der Identitätsbildung noch stärker in den Blick nimmt (Zirfas 2010).

Eine chronologische Perspektive auf Identität unterscheidet moderne und postmodernePostmoderneAnsätze der Identitätsforschung.

Terminologisch finden sich im Bereich der Identitätsforschung Begriffe, die einerseits voneinander abzugrenzen sind und andererseits in manchen Fällen auch synonym verwendet werden. Die Verwendung all dieser im Folgenden genannten Begriffe ist mit den Bezügen zur jeweiligen Literatur unumgänglich. Die folgende Ordnung dient der Orientierung.

Zentral ist der Begriff der Ich-Identität, der zunächst auf die psychoanalytische Betrachtung von EriksonErikson, Erik H. (1973) zurückgeht, der unter Ich-Identität den Zuwachs an Persönlichkeitsreife versteht und damit die Entstehung von Kontinuität und Kohärenz betont. Kontinuität bezieht sich auf das zeitliche Erleben der eigenen Identität und Kohärenz auf verschiedene Rollen- und Selbstbilder, die zu einer gesamten Identität integriert werden (s. Kapitel 3). GoffmanGoffman, Erving (1967) hat den Begriff der Ich-Identität in die amerikanische Sozialpsychologie übernommen und ihn dahingehend ausgeweitet, dass persönliche und soziale Faktoren gleichermaßen berücksichtigt werden, wenn Identitätskonzepte ausgearbeitet werden. Von Habermas (1973) wurde diese Auffassung dann vor allem im deutschsprachigen Raum rezipiert. Der Begriff der Ich-Identität spannt damit eine soziologische und eine psychologische Dimension auf.

In der soziologischen DimensionDimensionsoziologische ist in den Sozialwissenschaften, vor allem der Soziologie, der Begriff Identität gebräuchlich. Es findet sich hier auch der Begriff soziale Identität, da insbesondere die sozialen Voraussetzungen für die Identitätsbildung von Interesse sind.

In der psychologischen DimensionDimensionpsychologische wird der Begriff persönliche Identität benützt, der auch soziologisch geprägt ist. Betont werden körperliche Aspekte der physischen Identität und die psychische Identität, die sich inhaltlich mit dem in der Psychologie verwendeten Begriff Persönlichkeit oder auch Selbstbildung überschneidet. Diese Begriffe sind vor allem in der Sozialpsychologie und der narrativen Psychologie zu finden. Der Begriff Ich wird ebenfalls in der Persönlichkeitsforschung und bei psychoanalytischen Ansätzen verwendet.

Terminologisch umfasst Identität im Sinne der Ich-Identität eine soziologische und eine psychologische Dimension.

Bei der Betrachtung von Sprache kann ebenfalls die Unterscheidung in eine psychologische und eine soziologische DimensionDimensionsoziologische getroffen werden. Durch die Institutionalisierung der Bereiche Psycholinguistik und Soziolinguistik in den 1950er-Jahren kam es zu einer getrennten Erforschung der psychologischen und der soziologischen Dimension von Sprache. In der (europäischen) PsycholinguistikPsycholinguistikeuropäische wird Sprache dem Individuum zurechnet und das Interesse an dem individuellen Sprachschatz ist ungebrochen (Knobloch 2003). Die SoziolinguistikSoziolinguistik befasst sich mit der Sprache als einem gesellschaftlich geprägten und auf die Gesellschaft rückwirkenden Phänomen (Ammon et al. 2004, XVIII). Auch der Versuch von Fasold (1984, 1990), einerseits von einer Soziolinguistik der Gesellschaft und andererseits einer SoziolinguistikSoziolinguistik der Sprache zu sprechen, erhält die Trennung der soziologischen und der psychologischen DimensionDimensionpsychologische aufrecht.

Diese Trennung ist durchaus erstaunlich, denn die Forschungsgeschichte der PsycholinguistikPsycholinguistikeuropäische und der Soziolinguistik weist auch Parallelen auf (Knobloch 2003, Dittmar 2004). Steinthal wird beispielsweise als Gründungsfigur sowohl für die PsycholinguistikPsycholinguistikeuropäische als auch für die SoziolinguistikSoziolinguistik herangezogen. Für die Psycholinguistik ist vor allem die Psychologisierung der Humboldt’schen Sprachauffassung zentral, während sich die Soziolinguistik auf Steinthals Auffassung beruft, dass Sprache der „gesamte Inbegriff des Sprachmaterials eines Volkes“ ist (Steinthal 1855, S. 138). Nach der institutionellen Gründung haben beide Disziplinen verschiedene Phasen durchlebt. Neben der grundsätzlichen methodischen Auseinandersetzung in beiden Disziplinen, zwischen naturwissenschaftlich formalen Theorien und kultur- und sozialwissenschaftlichen Konzepten, ist eine terminologische Problematik entstanden. Dies betrifft sowohl die Elterndisziplinen Psychologie und Linguistik als auch Soziologie/Sozialpsychologie und Linguistik.

Die kulturhistorische PsycholinguistikPsycholinguistikkulturhistorische, die ihren Ausgangspunkt im kulturhistorischen Ansatzkulturhistorischer Ansatz der 1930er-Jahre nimmt, legt einen Sprachbegriff zugrunde, der die soziologische und die psychologische DimensionDimensionsoziologischeDimensionpsychologischeals stets verbunden auffasst. Als eine Prämisse kann formuliert werden, dass das sprechende Individuum nur in Sozialität vorkommt, sodass es sich bei aller sprachlicher Tätigkeitsprachliche Tätigkeit sowohl um ein psychologisches als auch ein soziologisches Phänomen handelt. Der kulturhistorisch fundierte Sprachbegriff, der den Terminus sprachliche Tätigkeit verwendet, wird als Ausgangspunkt in Kapitel 2 eingeführt.

Die Zuordnung der Begriffe im Themengebiet Sprache und Identität erfolgt anhand der Unterteilung in eine soziologische und eine psychologische Dimension. Einen zusammenfassenden Überblick gibt Abbildung 1.

Abbildung 1:

Terminologie unter Berücksichtigung einer soziologischen und psychologischen DimensionDimensionsoziologischeDimensionpsychologische

Es gibt einige sprachliche Idiome im alltäglichen Gebrauch, die mit dem Selbst bzw. der Identität zu tun haben, wie zum Beispiel:

sich selbst treu bleiben,

sich selbst nicht wiedererkennen,

unter falscher Flagge segeln,

sich mit fremden Federn schmücken.

Überlegen Sie, was diese Idiome bedeuten, und überlegen Sie weitere Idiome, die auf das Selbst bzw. die Identität hinweisen.

1.3Ziel und Aufbau des Buchs

Ziel dieses Buchs ist es, die dynamischen Zusammenhänge zwischen Sprache und Identität im Sinne der kulturhistorischen PsycholinguistikPsycholinguistikeuropäische zu untersuchen. Hierfür erfolgen u. a. Spezifizierungen, sodass von sprachlicher Tätigkeit und Ich-Identität gesprochen wird. Mit dem Begriff der sprachlichen Tätigkeit wird in der kulturhistorischen Psycholinguistik ebenso wie mit dem Begriff der Ich-Identität eine soziologische und eine psychologische Dimension der Betrachtung des Forschungsgegenstands aufgespannt (s. Abbildung 1). Die Untersuchung der Verwobenheit von sprachlicher Tätigkeit und Ich-Identität hat im Sinne der kulturhistorischen PsycholinguistikPsycholinguistikkulturhistorische also stets zwei Dimensionen:

Die soziologische DimensionDimensionsoziologische rückt die interpsychischen Aspekte zwischen den Individuen in den Mittelpunkt. Es handelt sich um die erste Funktion sprachlicher Tätigkeit, die vor allem die kommunikative Funktion der Sprache zur Regelung des sozialen Verkehrs untersucht. Im sprachlichen Ausdruck der Ich-Identität werden interpsychische sprachliche Interaktionen betrachtet.

Die psychologische DimensionDimensionpsychologische beleuchtet die intrapsychischen Aspekte, d. h. die höheren psychologischen (kognitiven) Funktionen, mittels derer das auf das Individuum selbst gerichtete Sprechen zum Mittel des Denkens wird. Die Formung von Ich-Identität erfolgt mittels intrapsychischer sprachlicher Attribuierungen auch in Form von Erwartungen und Bewertungen von anderen.

Angenommen wird ferner, dass sich die Ich-Identität einerseits in der sprachlichen Tätigkeit ausdrückt und andererseits die sprachliche Tätigkeit an der Formung der Ich-Identität beteiligt ist. Die Formungen der Ich-Identität und der sprachlichen Tätigkeit sind gewissermaßen dynamische Prozesse zwischen den Aktanten. Ein besonderes Augenmerk richtet sich auf die Verknüpfung von inter- und intraindividuellen Aushandlungsprozessen, die den Zusammenhang von sprachlicher Tätigkeit und Ich-Identität als BewegungBewegung konstituieren.

Aus der Perspektive der kulturhistorischen PsycholinguistikPsycholinguistikkulturhistorische werden sprachliche Tätigkeit und Ich-Identität aus psychologischer und soziologischer Sicht betrachtet.

Der Aufbau des Buchs umfasst vier thematische Überordnungen (Abbildung 2):

Sprache. Zunächst wird ein Sprachbegriff aus Perspektive der kulturhistorischen PsycholinguistikPsycholinguistikkulturhistorische dargelegt, der sowohl soziologische als auch psychologische Aspekte der sprachlichen Tätigkeit verbindet (Kapitel 2). Des Weiteren werden sprachliche Formen der Identität thematisiert, indem über die Identitätsdarstellung und -herstellung durch Erzählungen diskutiert wird (Kapitel 6). Wie sich Ich-Identität im sprachlichen Ausdruck zeigt, wird anhand verbaler und extraverbaler sprachlicher Mittel erörtert (Kapitel 7).

Identität. Verschiedene Konzepte von Identitätsauffassungen werden referiert und es wird versucht, das Konstrukt Identität fassbar zu machen. Aus kulturhistorischer Sicht wird Ich-Identität als Bewegung im Sinne einer offenen Form aufgefasst (Kapitel 3). Zentrale Identitätskonzepte sind die soziale Identität, die vor allem die Identitätsstiftung in Gruppen thematisiert (Kapitel 4), und die persönliche Identität, die das Individuum auffordert, eine einzigartige Individualität zu entwickeln (Kapitel 5).

Entwicklung. Personennamen dienen der IdentifizierungIdentifizierung von Individuen und damit steht das Namenhaben am Anfang aller Entwicklung (Kapitel 8). Es wird gezeigt, wie eng verzahnt die sprachliche Entwicklung und die Entfaltung der Ich-Identität sind (Kapitel 9) und wie deutlich sich diese Verzahnung auch in neurowissenschaftlichen Befunden zeigt (Kapitel 10).

Forschungsaspekte. Der Zusammenhang von Sprache und Identität wird anhand einzelner Forschungsbereiche illustriert. Ausgewählt wurde ein Blick auf die Geschlechtsidentität (Kapitel 11), die Identitätsbildung bei Mehrsprachigkeit (Kapitel 12) und die Veränderung von Identitätsbildungsprozessen durch soziale Medien (Kapitel 13).

Die Ausarbeitung dynamischer Zusammenhänge zwischen Sprache und Identität, als Ziel dieses Buches, erfolgt anhand der thematischen Überordnungen Sprache, Identität, Entwicklung und Forschungsaspekte.

Abbildung 2:

Übersicht über die thematische Ordnung der Buchkapitel

1.4Hinweise zur Lektüre

Das Buch ist von der Kapitelgliederung für die Bearbeitung in einem Seminar innerhalb eines Semesters gedacht, es kann jedoch selbstverständlich auch im Selbststudium bearbeitet werden. Es wurde versucht, einen gut zu lesenden Text zu erstellen, indem zum Teil sehr komplexe Sachverhalte verständlich dargestellt werden. Die Verwendung der einzelnen Kapitel pro Sitzung kann durch die Auswahl einzelner Autor:innen oder Themenschwerpunkte vertieft werden.

Als Klammer jedes Kapitels werden am Anfang Leitfragen des Kapitels genannt, die am Ende jedes Kapitels pointiert zusammengefasst werden.

Leitfragen am Kapitelanfang

Zusammenfassung am Kapitelende

Zur Gliederung und Auflockerung der Kapitel werden Merkboxen eingesetzt, um wichtige Aspekte einzelner Kapitelabschnitte zu kennzeichnen. Zudem wurden Infoboxen eingefügt, die einzelne Themen exkursartig erläutern. Kurzbiografien wurden verwendet, um wichtige Persönlichkeiten zu den Themenschwerpunkten kennenzulernen.

Merkbox

Infobox

Kurzbiografie

Da es sich um ein Studienbuch handelt, gibt es auch Aufgaben zu bewältigen. Es handelt sich einerseits um Nachdenkaufgaben, die sachorientiert sind und in denen Inhalte reflektiert werden sollen. Andererseits gibt es auch Fragen, die die persönliche Selbstreflexion anregen sollen, da es sich beim Thema Sprache und Identität selbstredend auch um ein ganz persönliches Thema handelt.

Nachdenkaufgabe

Selbstreflexion

Das jeweilige Kapitel abschließend, finden sich an den Kapitelenden Literaturangaben zur Vertiefung sowie Filmvorschläge, die sich eignen, um über einen künstlerischen Zugang eine Diskussion anzustoßen.

Literaturempfehlung

Filmempfehlung

Inwiefern hängen Sprache und Identität zusammen?

Mit dem Leitgedanken von Humboldt (1820/1994, S. 20) „Der Mensch ist nur Mensch durch Sprache“ ist der Zusammenhang von Sprache und Identität offensichtlich. Im Zentrum steht die Frage, wie über Narrationen Identität dargestellt und auch hergestellt wird und wie Identitätsmerkmale in Sprache ausgedrückt werden. Narrationen stellen folglich eine zentrale Verbindung zwischen Sprache und Identität dar.

Wie bin ich? oder Wer bin ich?

Auf diese Fragen finden Individuen durch Narrationen und Reflexionen eine Antwort. Die Frage Wie bin ich? reflektiert vor allem psychologische Aspekte, die Frage Wer bin ich? bezieht soziologische Aspekte mit ein.

Welche Forschungszugänge gibt es zum Thema Sprache und Identität?

Die Forschungszugänge sind vielfältig, weshalb der Forschungsgegenstand interdisziplinär ist. In diesem Buch wird die Sicht der kulturhistorischen PsycholinguistikPsycholinguistikkulturhistorische gewählt, um systematisch den Zusammenhang zwischen Sprache und Identität zu betrachten. Maßgeblich beteiligt sind die soziologische und psychologische Dimension.

Gümüşay, Kübra (2021). Sprache und Sein. München: btb.

Kresic, Marijana (2006). Sprache, Sprechen und Identität. München: Iudicium.

 

Master Cheng in Pohjanjoki. Mika Kaurismäki (Regie, 2019), Finnland und China. Mit großer Erzählkunst wird in diesem Film eine Geschichte darüber entfaltet, wie ein chinesischer Koch in Finnland ein neues Leben beginnt. Diese Culture-Clash-Komödie erzählt Identität in Lebensbiografien, die vielschichtig zum Nachdenken über Sprache und Identität anregen.

2Sprachliche Tätigkeitsprachliche Tätigkeit – ein Sprachbegriff

In diesem Kapitel wird dargelegt, was im Zusammenhang von Sprache und Identität unter Sprache verstanden wird. Mit dem Begriff sprachliche Tätigkeit wird der Sprachbegriff der kulturhistorischen Psycholinguistik entfaltet.

Leitfragen dieses Kapitels sind:

Was ist unter Psycholinguistik zu verstehen?

Was ist der Forschungsgegenstand der kulturhistorischen Psycholinguistik?

Inwiefern ist ein Sprachbegriff aus der Perspektive der kulturhistorischen Psycholinguistik hilfreich für die Betrachtung von Sprache und Identität?

Grundsätzlich wird das Phänomen Sprache in unterschiedlichen Disziplinen betrachtet, wie der Sprachphilosophie, Linguistik, Literaturwissenschaft, Psychologie, Neurologie, Soziologie, Kommunikationswissenschaft, Informatik und Neurobiologie (Trabant 2009). Sprache kann im Sinne eines Forschungsgegenstands als Objekt aufgefasst und in einem naturwissenschaftlichen Sinn betrachtet werden. In vielen Bereichen der Linguistik geht es darum, Elemente und Strukturen einer Sprache zu beschreiben (Hoffmann 2019). So ist es beispielsweise in der strukturalistischen Tradition üblich, Sprache auf verschiedenen Ebenen – Phonetik, Phonologie, Morphologie, Syntax, Semantik und Pragmatik – zu betrachten und darzustellen (Dipper et al. 2018). Auch in der Psychologie bekommt die Sprache – wenn sie überhaupt betrachtet wird – einen objekthaften Charakter zugeschrieben, sodass sie in der Regel als Begleiterscheinung kognitiver Prozesse erachtet und ihr vor allem eine Transportfunktion zugeschrieben wird (Messing/Werani 2011). In der Neurobiologie besteht das Interesse an Sprache maßgeblich darin, die neuronale Basis von Sprachverstehens- und Sprachproduktionsprozessen herauszufinden, oder allgemeiner gesprochen darin, verstehen zu wollen, wie das Gehirn Sprache und Sprechen generiert (Friederici 2012). Die Objekthaftigkeit von Sprache wird auch in vielen Kommunikationstheorien verfolgt, indem davon ausgegangen wird, dass Sprache ein Mittel ist, um Informationen auszutauschen (Röhner/Schütz 2020).

In diesem Kapitel wird der kulturhistorisch fundierte psycholinguistische Sprachbegriff sprachliche Tätigkeit herausgearbeitet und positioniert. Sprachliche Tätigkeit fokussiert die Subjektseitigkeit der Sprache und betont damit stärker die individuellen Sinngehalte in Form von Interpretationen und Introspektionen. Dieser Sprachbegriff ist konsequent vom sprechenden Individuum aus gedacht und stellt die Funktionen der Sprache in den Vordergrund der Betrachtung. Um diesen subjektseitigen Sprachbegriff deutlich zu machen, ist zunächst ein Blick auf die geschichtliche Entwicklung und die damit verbundene traditionelle Debatte in der Psycholinguistik notwendig. Daran anschließend wird auf die Phänomene Sprache und Sprechen eingegangen. Abschließend wird eine Begriffsbestimmung der sprachlichen Tätigkeit dargelegt.

2.1Die Forschungsdisziplin PsycholinguistikPsycholinguistikeuropäische

Die Psycholinguistik ist – wenn die institutionelle Gründung in den 1950er-Jahren datiert wird – eine noch relativ junge Forschungsdisziplin, die allerdings aufgrund verschiedenster Einflüsse eine enorm bewegte Entstehungsgeschichte aufweist (Knobloch 1994, 2003). Im Spannungsfeld zwischen Psychologie und Linguistik galt und gilt es, einen psycholinguistischen Sprachbegriff zu konkretisieren und dabei die Polarität der Elterndisziplinen zu überwinden. Im Folgenden wird die Geschichte der PsycholinguistikPsycholinguistikeuropäische nachgezeichnet, indem das Augenmerk auf unterschiedliche Betonungen der im Wort Psycholinguistik zusammengesetzten Nomen gelegt wird. So kann Psycholinguistik als Psycholinguistik, mit Betonung psychologischer Einflüsse, oder als Psycholinguistik, mit der Betonung linguistischer Einflüsse, gelesen werden (Abbildung 3).

Abbildung 3:

Strömungen in der PsycholinguistikPsycholinguistikeuropäische

Heymann Steinthal (1823–1899) wird als Begründer der SprachpsychologieSprachpsychologie angesehen, da er sich mit der Psychologisierung der Sprachauffassung Humboldts (1767–1835) beschäftigte, d. h., er versuchte, sprachphilosophische Überlegungen auf psychologische Prozesse zu übertragen. Diese Idee entfachte um 1900 eine Debatte über die Bedeutung der Psychologie für die Sprachauffassung (und andersherum) und die behandelten Themen umfassten die Erforschung sprachlicher Assoziationen (Thumb/Marbe 1901), Versprecher (Meringer/Mayer 1895), den Spracherwerb (Stern/Stern 1907), das Sprach- und Redeverstehen (Bühler 1907) und auch den Zusammenhang von Sprechen und Denken (Vygotskij 1934/2002). Aufgrund dieser Vielfalt sprachpsychologischer Themen sprach Bühler (1927) sogar von einer Krisenpolyphonie und es können aus heutiger Sicht in diese Zeit psycholinguistische Ansätze hineininterpretiert werden. Die Besonderheit dieser Zeit liegt folglich darin, dass das Interesse an Sprache in den 1920/30er-Jahren nicht rein linguistisch motiviert war, sondern ebenso sprachpsychologische Betrachtungen einschloss. Außerdem fand das soziale Eingebundensein im Rahmen der psychologischen Aspekte ebenfalls theoriebildend Berücksichtigung, etwa handlungstheoretische Aspekte in Sprachprozessen (Wegener 1885), Strömungen der Völkerpsychologie (Wundt 1904) und die Grundlegung des Zweiersystems bei der Betrachtung von Sprache bei Bühler (1934/1999). Insbesondere durch die Völkerpsychologie wurde die psychologische Perspektive bereits zu diesem Zeitpunkt um eine soziologische Perspektive bereichert, in welcher Sprache nicht nur an das Individuum gebunden betrachtet wurde, sondern soziale und kulturelle Kontexte ebenfalls Beachtung fanden. Betont wurde bei diesen sprachpsychologischen Fragestellungen vor allem die Funktionalität von Sprache, beispielsweise bei der Betrachtung der Funktion des Zeichens im Organonmodell (Bühler 1934/1999), der Darlegung ihrer Steuerungsfunktion für höhere psychologische Prozesse (Vygotskij 1934/2002) und der Ausbildung der Identität (Mead 1934/1968).

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lag es im Interesse der SprachpsychologieSprachpsychologie, sprachwissenschaftliche, psychologische und soziologische Aspekte in Zusammenhang zu bringen.

Durch den Zweiten Weltkrieg und die vorausgehenden antiintellektualistischen Strömungen kam es wissenschaftsgeschichtlich zur Zerstörung wissenschaftlicher Traditionen und die sprachpsychologische Forschungsrichtung kam nahezu zum Erliegen. Sie wurde in der Folge nur bedingt aufgegriffen. Emigration oder Tod vieler Kolleg:innen führten zu einem abrupten Abbrechen einer regen Forschungsdiskussion (Ehlich/Meng 2004).

1953/54 wurde die PsycholinguistikPsycholinguistikeuropäische in den USA in einem interdisziplinären Kontext von Psycholog:innen, Linguist:innen, Informations- und Kommunikationswissenschaftler:innen, Mediziner:innen und Anthropolog:innen gegründet (Osgood/Sebeok 1954). Es kam damit zur Institutionalisierung der Psycholinguistik und aus der Interdisziplinarität heraus sollte ein umfangreicheres Verständnis für sprachliche Vorgänge resultieren. Vernachlässigt wurden bei diesem Gründungsakt (ost- und west-)europäische Traditionslinien wie zum Beispiel Goldstein, Bühler und VygotskijVygotskij, Lev S., sodass es zu keiner Fortsetzung dieser Tradition kam. Vielmehr gerieten die Forschungsergebnisse der 1920/30er-Jahren in Vergessenheit und die vielfältigen Perspektiven auf Sprache gingen verloren (Ehlich/Meng 2004, Knobloch 2003). Das Hauptaugenmerk der neuen Disziplin PsycholinguistikPsycholinguistikeuropäische lag zunächst darauf, die lerntheoretischen Konzeptionen der Psychologie (vor allem noch behavioristisch geprägt) mit den linguistischen Konzeptionen (vor allem strukturalistisch geprägt) zu verbinden und zudem informationstheoretische Konzeptionen (vor allem in den Anfängen mathematisch und computertechnologisch orientiert) zu berücksichtigen. Diese Auffassung hat ihren Niederschlag auch in der Definition des Forschungsgegenstands der Psycholinguistik: Bei Osgood/Sebeok (1954) stehen vor allem Prozesse der Kodierung und Dekodierung von Nachrichten im Mittelpunkt, die zwischen Kommunikationsteilnehmer:innen vermittelt werden. Diese systematische und formalisierte Orientierung an Sprache vernachlässigt den Blick auf das sprechende Individuum.

Die 1953/54 institutionell in den USA gegründete PsycholinguistikPsycholinguistikeuropäische interessierte sich für die systematische und formalisierte Verwendung von Sprache.

Unmittelbar nach der Gründung in den 1950er-Jahren wurde die PsycholinguistikPsycholinguistikeuropäische Teilgebiet der Linguistik (nicht der Psychologie), sodass nun vor allem linguistische Ansätze Einfluss auf die Entwicklung der Psycholinguistik nahmen. Die vorherrschende strukturalistische Sprachauffassung von de Saussure (1916/2001), dass es sich bei Sprache um ein präzis erfassbares, formal exakt darstellbares relationales System von formalen Elementen handelt, war präsent und beeinflusste auch die Ausrichtung der psycholinguistischen Forschung. Dazu kam, dass Chomsky (1957) mit einer schockartig eingeleiteten Abkehr vom behavioristischen Paradigma versuchte, die Realität der (theoretischen) linguistischen Strukturen in mentale Strukturen zu übersetzen. Die beginnende kognitive Ausrichtung psycholinguistischer Forschung bezeichnet KnoblochKnobloch, Clemens (2003, S. 23) auch als „Flucht in den Kopf“, da soziologische Aspekte der Sprache völlig in den Hintergrund rückten. Dadurch war die Psycholinguistik lange Zeit (lediglich) damit befasst, die psychologische Relevanz grammatischer Theorien zu prüfen (Knobloch 1994, Hörmann 1981). So kam es, dass die Psycholinguistik bis in die 1970er-Jahre regelrecht zur Hilfswissenschaft der Linguistik degradiert wurde (Hörmann 1981) und tatsächlich von einer Psycholinguistik gesprochen werden kann. Der Fokus des psycholinguistischen Interesses im Rahmen der linguistischen Tradition liegt folglich auf der Erforschung der competence, die ein einzelner sprechender Mensch innehat. Sprache ist das Objekt dieser Betrachtung und dient dem Transport von Informationen, was durch die Etablierung der Transportmetapher deutlich wird. Damit wird die nachrichtentechnisch ausgerichtete Auffassung von Informations- bzw. Zeichenübertragung betont, die sich bis heute fortsetzt (Rickheit/Herrmann/Deutsch 2003). Diese aktuell als europäische Psycholinguistik bezeichnete Schule findet ihre Fortsetzung und Weiterentwicklung vor allem im Max-Planck-Institut für PsycholinguistikPsycholinguistikeuropäische in Nijmegen (Knobloch 2003, Cutler 2005).

Die linguistisch orientierte PsycholinguistikPsycholinguistikeuropäische nähert sich der Sprache als System und sucht psychologische Relevanz in grammatischen Theorien.

Lev S. VygotskijVygotskij, Lev S. (1896–1934)

Vygotskij wurde in Orša (Weißrussland) geboren und starb mit 37 Jahren in Moskau an Tuberkulose. Er studierte in Moskau und war vielfältig interessiert an Kunst- und Literaturwissenschaften, Soziologie, Psychologie, Philosophie und Linguistik. Er hinterließ ca. 250 Schriften, die zunächst per Dekret verboten waren und daher erst sehr viel später (ab den 1980er-Jahren) Verbreitung fanden. Bis heute ist die Aufarbeitung von Vygotskijs Werk noch nicht abgeschlossen. Insbesondere durch die Übersetzung des Gesamtwerks ins Englische öffnete sich international eine intensive Auseinandersetzung mit seinem Werk (Vygotskij 1987–1999). Vygotskij gilt als Begründer des sogenannten kulturhistorischen Ansatzeskulturhistorischer Ansatz, aus welchem sich auch die Tätigkeitstheorie entwickelt hat. Die idealistische Ausrichtung seiner Theorie erschwerte die Verbreitung in der damaligen UdSSR. Für die Psycholinguistik ist zentral, dass er sich intensiv mit der Funktion von Sprache für höhere psychologische Prozesse auseinandersetzte. Seine Erkenntnisse hierzu sind vor allem in der Monografie Denken und Sprechen zusammengeführt (Keiler 2015).

Die Formulierung einer kulturhistorischen PsycholinguistikPsycholinguistikeuropäische basiert auf der sprachpsychologischen Tradition der 1920/30er-Jahre und bezieht vor allem die Forschungstradition des kulturhistorischen Ansatzeskulturhistorischer Ansatz nach VygotskijVygotskij, Lev S. (1934/2002) mit ein (Bertau/Werani 2011). Dieser Entwicklung wird zugeschrieben, dass sie von Anfang an komplexer ist, da allgemein-psychologische Auffassungen von Psyche, Bewusstsein, Persönlichkeit und TätigkeitTätigkeit mit Sprache verknüpft werden (Helbig 1988, A. A. Leont’ev 1975, Holzkamp 1983, 1993). Zudem werden auch Forscher:innen berücksichtigt, die nach dem Zweiten Weltkrieg die Traditionslinie der psychologischen Annäherung an psycholinguistische Fragestellung fortgesetzt haben (Hörmann 1970, 1976; Knobloch 1994, 2003). Hörmann (1970) verwendet die Bezeichnung Psycholinguistik synonym zu SprachpsychologieSprachpsychologie und betont, dass es nicht um eine wissenschaftliche Beschreibung der Sprache geht, sondern um die Betrachtung der Prozesse der Sprachbenutzung, d. h., die Funktionen der Sprache und der Sprachgebrauch stehen im Vordergrund (Hörmann 1970). Die kulturhistorische PsycholinguistikPsycholinguistikkulturhistorische befasst sich mit einer subjektseitigen Betrachtung der sprachlichen Tätigkeit und bezieht sowohl soziologische als auch psychologische Aspekte mit ein (Bertau/Werani 2011, Bertau 2011, Werani 2011).

Die kulturhistorische PsycholinguistikPsycholinguistikkulturhistorische befasst sich mit der subjektseitigen Betrachtung der sprachlichen Tätigkeit, die sowohl psychologische Aspekte als auch soziale Kontexte berücksichtigt.

Prüfen Sie Ihren Sprachbegriff. Welcher Sprachbegriff war Ihnen bisher geläufig? Ist für Sie eher eine Psycholinguistik oder eine Psycholinguistik plausibel? Wo positionieren Sie Ihren Sprachbegriff und wie begründen Sie ihn?

2.2Sprache und Sprechen

Unabhängig von der bewegten Geschichte der Psycholinguistik bleiben sprachliche Phänomene ihr zentraler Forschungsgegenstand. KnoblochKnobloch, Clemens (2003) betont die Doppelexistenz sprachlicher Phänomene. Es gibt seiner Auffassung nach gleichzeitig eine äußere, linguistische Realität, der sich der Sprecher annähert, und eine innere, linguistische Realität, also ein im Sprecher angeeigneter Vorrat an geteilten sprachlichen Mustern und Einheiten. Diese Unterscheidung beruht auf der Tradition, die sich bereits in der Trennung von langue und parole bei Saussure (1916/2001) findet. Auch Bühler (1934/1999) geht davon aus, dass das Produkt des Sprecherereignisses zwei Gesichter hat: einerseits ein subjektentbundenes, welches die an linguistischen Phänomenen interessierte Forschung anschaut, und andererseits ein subjektbezogenes, das vor allem die psychologische Forschung betrachtet. Chomsky (1957) unterscheidet zwischen Kompetenz und Performanz: Der Kompetenz wird die allgemeine Sprachfähigkeit zugeschrieben und der Performanz die Sprachverwendung. Allen diesen Betrachtungen von sprachlichen Phänomenen liegt folglich eine Differenzierung von Sprache und Sprechen zugrunde.

Sprache ist ein abstraktes Werkzeug an Zeichen und kann als System aufgefasst werden. Es wird angenommen, dass sie exakt beschreibbar ist und damit formal eindeutig repräsentiert werden kann. Es handelt sich um ein abstrahiertes Phänomen, das in den meisten Fällen unabhängig von Situation und Kontext ist. Die Untersuchung eines Systems impliziert ein abstrahiertes linguistisches Produkt, das Zentrum einer systematischen Analyse ist. Die Unterscheidung von Einzelsprachen wie Deutsch, Englisch, Spanisch oder Isländisch wäre ein Beispiel für das Verständnis von Sprache.

Sprechen ist der Gebrauch von sprachlichen Zeichen in jeweiligen kulturellen Kontexten und stellt einen Prozess dar. Es handelt sich also um je einzigartige Momente, in welchen sich ein Individuum aktiv an ein anderes Individuum in einem je spezifischen Kontext richtet.

Der Zusammenhang zwischen Sprache und Sprechen besteht darin, dass aus den immer wieder erlebten sprachlichen Tätigkeiten Gestalten erfasst und diese zu Typen und Mustern verallgemeinert werden können, d. h., Sprache entsteht damit aus den Mustern sich wiederholender sprachlicher Tätigkeit (Werani/Messing 2014). Im Sprechen bleiben die sozialen, bewertenden, affektiven Qualitäten beibehalten. Diese sind wiederum auch Bedingung für das Verstehen (vgl. Sinn bei Hörmann 1976). Überspitzt formuliert bedeutet dies, gegenseitiges Verstehen resultiert aus dem Sprechen, nicht aus der Sprache (Messing/Werani 2009).

Beim Sprechen handelt es sich um sich wiederholende Muster sprachlicher Tätigkeit, die generalisiert werden und prozesshaft als Zeichensystem kondensieren. Das System Sprache wird folglich abgeleitet aus empirischen Daten – dem Sprechen – und kann dann als Objekt betrachtet werden.

Ausgangspunkt aller Betrachtung ist die reiche sprachliche Tätigkeit, die kulturelle, soziale, bewertende und emotionale Qualitäten beinhaltet. Diese dynamische Prozesshaftigkeit des Sprechens muss vom Individuum ausgehend nachvollzogen, analysiert und beschrieben werden (Schürmann 2008). In diesem Sinne müssen Sprache und Sprechen – System und Prozess – zusammen und eng gefasst werden. Sprache kann nicht wie ein abstraktes und idealisiertes System als Ausgangspunkt angenommen werden, sondern es sind die Prozesse, aus denen das System abgeleitet wird. Daher ist es überaus problematisch, ein abstraktes System Sprache wieder auf den Sprecher zu projizieren, denn dem Sprecher kann aus linguistischer Sicht nicht etwas zugesprochen werden, „was als Ganzes nur die Sprachgemeinschaft besitzt“ (Knobloch 2003, S. 24). KnoblochKnobloch, Clemens kommt zu dem Schluss, dass sich Sprache nicht primär im Kopf befindet, sondern sich vielmehr der Kopf in einem extern realisierten Medium Sprache zeigt. Die Sprache kann somit nicht einem Einzelnen zugeschrieben werden, sondern ist das Produkt einer Sprechergemeinschaft (Knobloch 2003), in welcher sie ihre Funktionen im Sinne eines Gebrauchs erfüllt. Kurz gesagt handelt es sich bei Sprache um ein in einer Sprachgemeinschaft durch Sprechen realisiertes Medium, um mit anderen kooperieren zu können (Messing/Werani 2009).

Die PsycholinguistikPsycholinguistikkulturhistorische hat damit die Aufgabe, einen Sprachbegriff zu definieren, der beide Aspekte – Sprache und Sprechen – berücksichtigt. Wesentlich für die kulturhistorische Psycholinguistik ist deshalb, Sprache und Sprechen einerseits zu differenzieren und andererseits gleichzeitig in einem holistischen Sprachmodell durch den Begriff sprachliche Tätigkeit in Beziehung zu setzen (Abbildung 4).

Abbildung 4:

Sprachliche Tätigkeitsprachliche Tätigkeit umfasst Sprache und Sprechen

In der kulturhistorischen PsycholinguistikPsycholinguistik´kulturhistorische wird ein Sprachbegriff zugrunde gelegt, der mit sprachlicher Tätigkeit bezeichnet wird. Sprachliche Tätigkeit umfasst Sprache und Sprechen als eng zusammengehörenden Komplex.

2.3Sprachliche Tätigkeit – eine Begriffsbestimmung

Die kulturhistorische PsycholinguistikPsycholinguistikkulturhistorische versteht sich in der Tradition des kulturhistorischen Ansatzkulturhistorischer Ansatzes und ihr Forschungsgegenstand ist die sprachliche Tätigkeit des Individuums (s. Infobox). Die Betrachtung der sprachlichen Tätigkeit und damit die Grundlegung des in diesem Buch verwendeten Sprachbegriffs (Abbildung 5) erfolgt anhand ihrer soziologischen und psychologischen DimensionDimensionpsychologischeDimensionsoziologische (Jakubinskij 1923/2004, Vygotskij 1934/2002, Friedrich 1993).

Der kulturhistorische Ansatzkulturhistorischer Ansatz

Der kulturhistorische Ansatz wurde in den 1920/30er-Jahren von einer Gruppe russischer Psychologen entwickelt. Als Kern dieser Gruppe gelten Lev S. VygotskijVygotskij, Lev S., Alexander R. Lurija und Aleksej N. Leont’evLeont’ev, Aleksej N., die in unterschiedlichen Konstellationen Forschungsgruppen bildeten. Sie werden oftmals auch als Troika bezeichnet. Gemeinsam erarbeiteten sie sich zahlreiche psychologische Themenbereiche wie zum Beispiel zur Sprache, zum Gedächtnis, zur Aufmerksamkeit und auch zur Motorik. In ihrem Interesse lagen auch westliche, idealistische psychologische Ansätze. Ihr Ziel war es, eine kulturelle Psychologie zu entwerfen, als deren Fokus die Erforschung des Übergangs von sozialen zu individuellen Verhaltensweisen angesehen wird, d. h., der kulturhistorische Ansatz setzt sich zentral damit auseinander, wie psychische Funktionen in ursprünglich sozialen Funktionen zu finden sind. Der in den 1930er-Jahren einsetzende Stalinismus und damit verbundene Pädologie-Dekrete führten dazu, dass vor allem psychologisch-pädagogische Wissenschaften marginalisiert wurden. Viele kulturhistorisch arbeitende Psychologen wurden entlassen. Leont’evLeont’ev, Aleksej N. war in den 1930er-Jahren gezwungen, nach seiner Arbeit über die Entwicklung des Gedächtnisses seine Stellung in Moskau aufzugeben. Auch VygotskijVygotskij, Lev S. erlebte Anfeindungen und sein 1934 erschienenes Werk Denken und Sprechen wurde bereits 1936 per Dekret verboten, d. h., auch der Name Vygotskijs wurde zunehmend getilgt. Nach seinem frühen Tod ist es Lurija und Leont’ev zu verdanken, dass es zu einer Neuauflage kam. Aus dem kulturhistorischen Ansatz entwickelte sich dann unter Federführung Leont’evs die Tätigkeitstheorie. Die Rezeptionsgeschichte ist – da politische Vorbehalte mitschwangen – zögerlich und sehr unterschiedlich verlaufen, sodass die Rezeption und Weiterentwicklung des kulturhistorischen Ansatzes weiterhin anhält. Der kulturhistorische Ansatz findet sich in vielen Forschungs- und Anwendungsfeldern, so in den Bereichen Spracherwerb, Sprachtheorie und Sprachpsychologie/Psycholinguistik, Entwicklungspsychologie, Arbeitspsychologie und Pädagogik (Keiler 2015, Werani 2011).

Abbildung 5:

Dimensionen der sprachlichen Tätigkeitsprachliche Tätigkeit

Die soziologische DimensionDimensionsoziologische sprachlicher Tätigkeit

Begonnen wird die Darlegung des Sprachbegriffs der kulturhistorischen PsycholinguistikPsycholinguistikkulturhistorische mit der soziologischen Dimension, die eng mit dem Begriff der SozialitätSozialität verknüpft ist. Ausgangspunkt ist die Annahme, dass das menschliche Dasein grundlegend nur in Sozialität vorkommt, damit kulturell und sprachlich geprägt ist und folglich alle menschliche TätigkeitTätigkeit gesellschaftlich gebunden ist. Alles menschliche Zusammenleben findet im Rahmen von Sprache und Kultur statt. Jede Kultur hat eigene Werte und Normen (Frey 2016). Insbesondere mittels Sprache werden die Werte einer Kultur tradiert und über die sprachliche Tätigkeit werden diese Werte benennbar und reflektierbar. Es entsteht also ein Wechselspiel, in dem die Gesellschaft mit ihren kulturellen Werten zunächst das Individuum prägt, dann jedoch auch das Individuum mit seinen ausgebildeten Werten auf die Gesellschaft einwirkt. Werte einer Kultur werden folglich auch ausgehandelt (Anselm, im Druck). Deutlich wird bereits hier, dass das Individuelle und die Gewordenheit von Individuen ein sozialer Prozess bleibt. Das Individuelle wird von den jeweiligen kulturellen Gegebenheiten geformt, d. h., einzelne Gewohnheiten, Werte und Lebensbedingungen spezifizieren die jeweilige Kultur. Die gesellschaftliche Prägung bezieht sich dabei nicht nur auf sprachliche Tätigkeitsprachliche Tätigkeit, sondern auf den Gesamtstrom der Tätigkeit.

Alle Erfahrungen, Wahrnehmungen und sprachlichen Wertungen eines Individuums sind kulturell und sprachlich geprägt und formen eine grundsätzliche Perspektive auf die Welt, d. h., Individuen betrachten die Welt aus ihrer jeweiligen Sprache und Kultur heraus.

Menschliche Tätigkeit ist in der kulturhistorischen Tradition die grundlegende Form der Wechselbeziehungen zwischen Individuen und auch zwischen dem Individuum und der Welt (s. Infobox). Die Tätigkeit schließt die jeweilige Kultur mit ein und formt damit von Anfang an das menschliche BewusstseinBewusstsein auf intensive und subtile Weise, ein Aspekt, der auch bei Hall (1981) zu finden ist. Da sich alle komplexen Tätigkeiten, so auch zu sprechen, zu denken und zu handeln, aus der SozialitätSozialität heraus entwickeln, wird über die Tätigkeit innerhalb der Struktur des gesellschaftlichen Lebens die Grundstruktur der menschlichen Psyche bestimmt. Die Betrachtung konkreter Formen der Tätigkeit eines Individuums führen folglich zu seinen psychischen Prozessen (Budilova 1967). Die sprachliche Tätigkeit ist eine besondere Form der Tätigkeit, die das Bewusstsein eines Individuums ermöglicht (Rubinštejn 1977).

TätigkeitTätigkeit

Sprachliche Tätigkeit beinhaltet den Tätigkeitsbegriff, der ein Schlüsselbegriff der kulturhistorischen Tradition ist und folgende Aspekte umfasst:

Jeder Tätigkeit liegen ein Motiv und ein Ziel sowie damit ein Bedürfnis zugrunde, das erfüllt werden soll. Tätigkeiten haben somit einen zielgerichteten Charakter. Tätigkeiten ohne Motiv gibt es nicht, denn eine nicht motivierte Tätigkeit ist keine Tätigkeit.

Tätigkeiten sind strukturiert und bestehen aus Handlungen und konkreten Operationen. Mit den Handlungen werden untergeordnete Ziele verfolgt und die Operationen dienen der Umsetzung der Ziele.

Etappen, die zur Zielerreichung durchlaufen werden, sind Orientierung und Planung, Vollzug und Realisierung sowie Kontrolle der Zielerreichung.

In ein Beispiel übertragen handelt es sich um eine Tätigkeit, einen Vortrag zu halten. Zu den Handlungen gehören dann, Rahmenbedingungen einzuschätzen, wie das Publikum zu imaginieren und eine Argumentationsfolge zusammenzustellen. Zur Ebene der Operationen zählen die Ausarbeitung der Argumente durch Literaturrecherche, das Zusammentragen von Beispielen und das Zusammenstellen der PowerPoint-Präsentation.

Mit der sprachlichen Tätigkeitsprachliche Tätigkeit werden grundsätzlich Motive, Ziele und Bedürfnisse kommuniziert, somit ist sie ein Spezialfall der TätigkeitTätigkeit (Leont’ev/Leont’ev/Judin 1984). Der Fokus liegt auf der Prozesshaftigkeit, die im Fall der sprachlichen Tätigkeit durch eine dynamische sprachliche Wechselwirkung zwischen Individuen gekennzeichnet ist und auch intrapsychische Prozesse einbezieht. Neben der kommunikativen und der kognitiven Funktion der sprachlichen Tätigkeit wird aus beidem interagierend die Persönlichkeit hervorgebracht (Leont’ev A.N. 1977/2012). Das Individuum wird als ein sozialer Mikrokosmos betrachtet und die wechselwirkenden Prozesse der (sprachlichen) Tätigkeit zwischen Individuen führen dazu, dass Persönlichkeit als Bewegung konstituiert wird.

Alle menschliche Tätigkeit kommt ursprünglich nur in SozialitätSozialität vor, d. h., auch sprachliche Tätigkeit ist gesellschaftlich gebunden.

Die Betrachtung der Tätigkeit lenkt den Blick auf die IntersubjektivitätIntersubjektivität und damit wird auch die sprachliche Tätigkeit zwischen Individuen fokussiert. Jedes Individuum gehört durch seine Sozialisationsbedingungen (Herkunft, kulturelle Umwelt, Sprache, Erziehung und Bildung) zu einer bestimmten Gemeinschaft und damit auch zu einer bestimmten Sprachgemeinschaft. Sprechende Individuen werden folglich nicht isoliert betrachtet, sondern in interaktiven Zusammenhängen, d. h., die Untersuchung sprachlicher Tätigkeit umfasst immer mindestens zwei Beteiligte, wie es im Grundmodell in Abbildung 5 auch dargestellt ist. Sprachliche Tätigkeit vollzieht sich damit immer in einem soziokulturellen Kontext. In der IntersubjektivitätIntersubjektivität erhält die sprachliche Tätigkeit ihre erste Funktion: Sprachliche Tätigkeit dient der Kommunikation zwischen Individuen und damit der Regelung des sozialen Verkehrs (Vygotskij 1934/2002). In der Kommunikation werden mit der sprachlichen Tätigkeit Motive, Ziele und Bedürfnisse des Individuums vermittelt, sodass es sich dabei stets um einen gerichteten, adressierten und aktiven Prozess handelt. Die IntersubjektivitätIntersubjektivität ist die Voraussetzung dafür, dass sich psychologische Funktionen ausbilden können. Dazu zählt auch die Ausbildung des menschlichen Bewusstseins und der Persönlichkeit bzw. Ich-Identität.

Die Betonung der SozialitätSozialität findet sich aktuell im Bereich der Intersubjektivitätsforschung, welche sich genau damit auseinandersetzt, was zwischen Individuen entsteht (Fuchs/De Jaegher 2009).

Die erste Funktion sprachlicher Tätigkeit ist die Kommunikation. d. h., über die sprachliche Tätigkeit werden Motive, Ziele und Bedürfnisse zwischen Individuen ausgehandelt. Die erste Funktion zeigt sich intersubjektiv in der soziologischen DimensionDimensionsoziologische.

Es gibt Berichte über sogenannte Wolfskinder, die unter unglücklichen Umständen ohne Sprache aufwachsen. Inwiefern ist Ihnen ein Nicht-in-Sprache-Sein vorstellbar? Welche Konsequenzen hat es, ohne Sprache zu sein, für die beschriebenen soziologischen und psychologischen Dimensionen sprachlicher Tätigkeit?

Die soziologische DimensionDimensionsoziologische des kulturhistorischen Sprachbegriffs befasst sich mit dem Eingebundensein menschlicher Tätigkeit in Kultur und Sprache. Die intersubjektive Betrachtung der sprachlichen Tätigkeit führt zur ersten Funktion der sprachlichen Tätigkeit, der Kommunikation.

Die psychologische DimensionDimensionpsychologische sprachlicher Tätigkeit

Die psychologische Dimension sprachlicher Tätigkeit ist an die KörperlichkeitKörperKörperlichkeitdes Individuums gebunden, d. h., Individuen werden als psychophysischpsychophysische Einheiten angesehen. Die Verbundenheit von Körper und Geist zu einer psychophysischen Einheit steht im Gegensatz zu Descartes’ Auffassung, die die Trennung von Körper und Geist betont (s. Infobox). VygotskijVygotskij, Lev S. leitet die psychophysische Einheit des Individuums aus der natürlichen (biologischen) und der kulturellen Linie ab, die zu einem sehr frühen Zeitpunkt der Ontogenese miteinander verschmelzen (s. Kapitel 9). Das heißt, jedes Individuum bringt eine biologische Disposition mit, die im Laufe der Entwicklung kulturell geformt wird. Dem kulturhistorischen Sprachbegriff liegt damit ein Menschenbild zugrunde, das den gesellschaftlichen Menschen ganzheitlich in den Mittelpunkt der Forschung rückt. Die Aneignung des Sprechens ist folglich nicht allein ein psychischer Vorgang, sondern ebenso ein körperlicher.

Der Schatten eines abendländischen Menschenbildes

Bis heute hält die Diskussion an, wie Sprechen, Denken und Handeln sowie die Ausbildung der Identität zusammenhängen. Diese Diskussion hat eine lange Geschichte und schlussendlich ist das heutige Menschenbild in unserer abendländischen Kultur nach wie vor von der Auffassung Descartes’ (1596–1650) geprägt, der davon ausging, dass Körper und Geist ebenso wie Verstand und Gefühl getrennte Entitäten sind. Zudem vertrat er eine hierarchische Anordnung dieser Entitäten, d. h., beispielsweise der Verstand war Gefühlen übergeordnet. Er prägte den Satz: Ich denke, also bin ich. Diese Unterordnung, insbesondere der EmotionEmotionen, gibt es in den Kognitionswissenschaften bis heute, indem Emotionen in der Regel als Störfaktoren aufgefasst werden, die wissenschaftlich nicht präzise definierbar sind. Seit der emotiven Wende in den 1990er-Jahren wird intensiver auf eine engere Verknüpfung der Entitäten Geist und Körper hingewiesen (Oatley/Johnson-Laird 1987) und es beginnt die EmbodimentEmbodiment-Forschung, die den Körper stärker in den Mittelpunkt rückt. In Bezug auf Descartes ist es DamasioDamasio, Antonio R. (2006), der die Einheit von Körper und Geist betont. Seine geradezu gegensätzliche These zu Descartes lautet: Die Vernunft hängt davon ab, körperlich Gefühle zu empfinden. Der Trend einer integrativen Auffassung von Sprechen, Denken, Fühlen und Handeln zeichnet sich daran anknüpfend in der neurowissenschaftlichen Forschung immer häufiger ab (Roth/Heinz/Walter 2020, Roth 2009, Gehde/Emrich 2007, Zimmer 1999).

In der aktuellen Forschung ist ein Body-Turn zu beobachten, der eine Thematisierung der Körperlichkeit in verschiedenen Disziplinen mit sich bringt (z. B. Philosophie, Psychologie, Soziologie) und teilweise an den psychophysischpsychophysischen Ansätzen von Rubinštejn (1977) oder Hebb (1949) anknüpft. In der sogenannten EmbodimentEmbodiment-Bewegung wird davon ausgegangen, dass die Psyche immer in einen Körper eingebettet ist (Glenberg 2010, Tschacher/Storch 2012, Storch, Cantieni, Hüther und Tschacher 2017). Für die Betrachtung sprachlicher Tätigkeitsprachliche Tätigkeitparaverbale Aspekte ist es unerlässlich, körperliche Aspekte mit einzubeziehen, was u. a. durch die Berücksichtigung paraverbaler und nonverbaler Aspektesprachliche Tätigkeitnonverbale Aspekte deutlich wird.

Zur KörperlichkeitKörperKörperlichkeit kann auch die emotionale Gebundenheit aller TätigkeitTätigkeit gezählt werden. Auch hier war eine emotionale Wende in der Forschung nötig, um auf die Relevanz der EmotionEmotionen im menschlichen Dasein deutlicher hinzuweisen (Schwarz-Friesel 2008), da diese in der sprach- und kognitionswissenschaftlichen Forschung insgesamt lange vernachlässigt wurden. Im kulturhistorischen Ansatzkulturhistorischer Ansatz wird angenommen, dass Emotionen über die biologische Disposition verankert sind (Vygotskij 1996), was im Bereich der Emotionsentwicklung auch gezeigt wurde (Holodynski 2004, 2014, Holodynski/Oerter 2008). Die Ausarbeitung der Verknüpfung von Emotionen und sprachlichen Prozessen ist dagegen noch in den Anfängen (Fossa/Madrigal Pérez/Muñoz Marcotti 2020). Einen Fokus auf diesen Zusammenhang zwischen sprachlichen und emotionalen Prozessen zu legen, hat deshalb auch für das Thema Sprache und Identität eine hohe Relevanz, da in der Persönlichkeitsbildung oft von IdentitätsgefühlIdentitätsgefühl oder Selbstgefühl die Rede ist.

Die Betrachtung des Individuums als psychophysischpsychophysische Einheit schließt die Körperlichkeit und die EmotionEmotionen mit ein. Sprachliche Tätigkeit ist als psychophysischer Vorgang im Sozialen emotional eingebettet.

Eine Besonderheit der sprachlichen Tätigkeit ist, dass sie intersubjektiv nach außen an andere und auch nach innen an den Sprechenden selbst gerichtet werden kann. Durch die Richtung der sprachlichen Tätigkeit nach innen, also intrasubjektiv, entfaltet sich die psychologische DimensionDimensionpsychologische. Das Sprechen für andere wird zum Sprechen für mich und nach innen gerichtet zum Hauptmittel aller höheren psychologischen Funktionen. Es handelt sich dann um einen sprachlich verinnerlichten intrapsychischen Prozess. Diese zweite Funktion der sprachlichen Tätigkeit fasst VygotskijVygotskij, Lev S.Vygotskij, Lev S. (1931/1987) folgendermaßen zusammen:

Die Sprache, die anfangs Mittel der Kommunikation, Mittel des Verkehrs, Mittel der Organisation des kollektiven Verhaltens ist, wird später zum Hauptmittel des Denkens und aller höheren psychischen Funktionen, zum Hauptmittel des Aufbaus der Persönlichkeit. (Vygotskij 1931/1987, S. 628)

Die zweite Funktion sprachlicher Tätigkeit ist die Vermittlung und Verflechtung sprachlicher Tätigkeit mit höheren psychologischen Funktionen. Sie zeigt sich in der psychologischen DimensionDimensionpsychologische.

Trotz dieses intrapsychischen Blicks geht VygotskijVygotskij, Lev S. (1931/1987) davon aus, dass die SozialitätSozialität grundlegend ist und – damit verbunden – die sprachliche Tätigkeit für kommunikative und höhere psychische Funktionen vermittelnd ist. Er ist überzeugt, dass alle psychischen Prozesse zunächst soziale Prozesse waren, d. h., jede höhere Verhaltensform und damit alle höheren psychologischen Funktionen haben sich aus kollektiven, sozialen Verhaltensformen entwickelt. VygotskijVygotskij, Lev S. schreibt dazu:

[…] daß die Beziehungen zwischen den höheren psychischen Funktionen einmal reale Beziehungen zwischen Menschen waren. Die kollektiven, sozialen Verhaltensweisen werden im Entwicklungsprozeß zu Verfahren für die individuelle Anpassung, zu Verhaltens- und Denkformen der Persönlichkeit. (Vygotskij 1931/1987, S. 626)

Der Ursprung der Entfaltung der psychologischen DimensionDimensionpsychologische liegt damit in den äußeren Prozessen. Daher ist Kommunikation als ein Teil der Sozialisation für die Ausbildung psychischer Prozesse mitverantwortlich. Das gemeinsame Tun und die begleitende Verwendung von Sprache bilden neben kommunikativen auch psychische Fertigkeiten aus, wie Planungs-, Regulations- und Reflexionsprozesse. Faszinierend ist, dass gerade das Sprechen als ein hervorragendes, wenn nicht sogar einzigartiges Mittel gilt, bewusste und willkürliche psychische Funktionen auszuführen (Hildebrand-Nilshon 2004). Die Wahrnehmung von sich selbst und die Möglichkeit zur Reflexion mittels sprachlicher Tätigkeit ermöglicht das menschliche BewusstseinBewusstsein. Das Bewusstsein wird also einerseits auf soziokulturelle Aspekte bezogen betrachtet und andererseits auf psychologische Aspekte des Individuums selbst bezogen, die sprachliche, kognitive, körperliche und affektive Merkmale umfassen.

Jede psychische Funktion erscheint zweimal: zunächst in der soziologischen Dimension – interpsychisch, zwischenleiblich, zwischensprachlich, kollektiv – und dann in der psychologischen DimensionDimensionpsychologische – intrapsychisch, innerleiblich, innersprachlich, individuell. Das heißt, auch wenn psychische Funktionen in der Regel dem Individuum zugeschrieben werden, bleiben sie bis zu einem gewissen Grad sozial.

Sprachliche Tätigkeitsprachliche Tätigkeit als Schnittstelle

Sprachliche Tätigkeit umfasst eine soziologische und psychologische Dimension und für BachtinBachtin, Michail (1979) stellt sie einen Schnittpunkt zwischen Innen- und Außenwelt dar, d. h., sprachliche Zeichen konstituieren die Psyche und vermitteln damit zwischen dem biologischen Organismus und der sozialen Außenwelt. Der sprachlichen Tätigkeit kommt folglich die Rolle der Vermittlung zwischen soziologischer und psychologischer DimensionDimensionpsychologische zu. Diese Auffassung ist das Besondere an der kulturhistorischen PsycholinguistikPsycholinguistikkulturhistorische. In der soziologischen DimensionDimensionsoziologische sind Zeichen zunächst das Mittel, um auf andere einzuwirken (erste Funktion der Sprache). In der psychologischen Dimension werden die Zeichen zum Mittel, um auf sich selbst einwirken zu können (zweite Funktion der Sprache). Der Übergang von interpsychischen (äußeren) zu intrapsychischen (inneren) Prozessen, also die Verinnerlichung von Zeichen, wird mit Interiorisierung bezeichnet. Interiorisierung ist eine dynamische Wechselwirkung zwischen äußerer und innerer Tätigkeit, sodass die Interiorisierung wichtig ist, damit über die erste Funktion die zweite Funktion der Sprache initiiert werden kann. Die zweite Funktion der Sprache, die für die Ausbildung höherer psychologischer Funktionen verantwortlich ist, bezieht auch die Ich-Identität mit ein. Der Begriff der Ich-Identität impliziert ebenfalls die Beteiligung von sozialen und psychischen Aspekten an der Ausbildung von Identität. Es bleibt hier festzuhalten, dass das Individuum samt der Ich-Identität in der kulturhistorischen Tradition ein soziales Wesen bleibt; es wird als sozialer Mikrokosmos betrachtet (Vygotskij 1931/1987).

Die sprachliche Tätigkeit als Schnittstelle zwischen außen und innen hat verschiedenen Erscheinungsmöglichkeiten, sodass die sprachliche Tätigkeit äußeres Sprechen, inneres Sprechen und schriftliches Sprechen umfasst. Äußeres Sprechen ist die ursprüngliche Form, schriftliches Sprechen zählt bereits zu den Kulturtechniken. Das innere Sprechen ist die reichhaltigste, häufigste und intimste Form der sprachlichen Tätigkeit und für eine Fülle an Funktionen verantwortlich, so für die Stabilisierung von Gedanken im Wort, die Selbstregulation und Reflexion (Werani 2011). Über Narrationen werden Außenwelt und Innenwelt verbunden, sie stellen den Kern der sprachlichen Tätigkeit als Schnittstelle dar (Kapitel 6). Aspekte, die kennzeichnend für diese Schnittstelle sprachlicher Tätigkeit sind, sind die Vermittlung von Ausdruck und Eindruck, Sprechen und Denken sowie Individuum und Weltsicht.

Sprachliche Tätigkeitsprachliche Tätigkeit vermittelt zwischen Ausdruck und Eindruck, indem in den Narrationen Innerlichkeit zum Ausdruck gebracht wird und über Narrationen Eindrücke von anderen wahrgenommen werden.

Die Rede ist Ausdrucksmittel, zugleich aber auch Mittel der Einwirkung. Die Einwirkung auf den anderen ist in der menschlichen Sprache eine ihrer ursprünglichsten und wichtigsten Funktionen. Der Mensch spricht, um zu wirken, wenn auch nicht unmittelbar auf das Verhalten, so doch auf das Denken und die Gefühle, auf das Bewusstsein anderer Menschen. (Rubinštein 1977, S. 514)

Ausdruck und Eindruck erfolgen wechselseitig zwischen Sprechenden, sodass die Narrationen als gegenseitige Aushandlungsprozesse entstehen. VygotskijVygotskij, Lev S. (1931/1987) ist überzeugt, dass sich Individuen über die Prozesse der wechselseitigen AushandlungAushandlung sowohl mit anderen als auch mit sich selbst verständigen. Sprachliche Tätigkeit trägt damit im Ausdruck und Eindruck zur Selbstbildung bei.

Sprachliche Tätigkeit vermittelt zwischen Sprechen und Denken und die kleinste gemeinsame Einheit von Sprechen und Denken ist die Wortbedeutung (Vygotskij 1934/2002). Das Wort trägt einen Begriff, der die Bedeutung des Wortes enthält. Bei der sprachlichen Tätigkeit werden mit Wörtern Bedeutungen herausgegriffen, die Gedanken ins Sprechen überführen, d. h., Gedanke und Wortbedeutung sind nicht identisch, sondern Bedeutungen vermitteln den Gedanken auf dem Weg zum sprachlichen Ausdruck. Wörter verweisen als Träger von Begriffen auf komplexere Strukturen, d. h., mit dem Sprechen werden wesentlich komplexere Strukturen transportiert als einzelne Wortformen vermuten lassen. Komplex sind diese Strukturen, weil neben den denotativen Inhalten, also allgemeingültigen Definitionen, auch Konnotationen transportiert werden, die die subjektiven Erfahrungswelten mitbringen. Begriffe sind daher bis zu einem gewissen Grad immer individuell, lediglich die Wortform ist interindividuell dieselbe. Hierin liegt u. a. die Ursache für Missverständnisse, da dieselbe Wortform nicht zwangsläufig dieselbe Bedeutung trägt.

Sprachliche Tätigkeit vermittelt zwischen Individuum und Weltsicht, weil die Gestaltung des Verhältnisses von Ich und Welt nur durch die Vermittlung von Sprache möglich ist (Humboldt 1830–35/1995). Im Rahmen des sprachlichen Relativitätsprinzips wird davon ausgegangen, dass die gleichen physikalischen Sachverhalte nicht zu einem gleichen Weltbild führen. Es gibt viele Bilder der Welt, die durch sprachliche Tätigkeit mitgestaltet werden. Je nach Sprache und Sprachgemeinschaft werden unterschiedliche Weltsichten erworben, denn die Weltsicht stellt jeweils eine individuelle Interpretation des Individuums dar (Werlen 2002). Dieser Aspekt betont die Dynamik und Prozesshaftigkeit sprachlicher Tätigkeit in der Dar- und Herstellung von Weltsichten. Damit wird betont, dass alle Wahrnehmung des Individuums einem subjektiven Filter unterliegt, sodass es keine Wahrnehmungen außerhalb dieses Filters gibt. Dieser Filter beinhaltet von Anfang an Stereotype entsprechend der kulturellen Werte der jeweiligen SozialitätSozialität. Diese Aspekte prägen die Identität des Individuums und verschaffen ihm im Laufe der Jahre eine Art biografischen Rucksack, das autobiografische Gedächtnis. Dieser sprichwörtliche Rucksack prägt die gesamte Identität maßgeblich und er besteht aus subjektiven Realitäten, die auch sprachlich geprägt werden. Sprachliche Tätigkeitsprachliche Tätigkeit ist von Anfang an durch die SozialitätSozialität gegeben und sie ist an der Ausbildung subjektiver Realitäten beteiligt. Die Betrachtung von sprachlicher Tätigkeit an dieser Schnittstelle zwischen innen und außen zeigt unweigerlich die Wirkmächtigkeit von sprachlicher Tätigkeit auf, die sich nicht nur in der Kommunikation, sondern auch in der Ausbildung höherer psychologischer Funktionen zeigt.

Sprachliche Tätigkeit vermittelt als Schnittstelle zwischen innen und außen und verbindet Ausdruck und Eindruck, Sprechen und Denken sowie Individuum und Weltsicht.

Welche sprachlichen Besonderheiten beobachten Sie bei sich selbst? Inwiefern wird durch Ihre Sprache Ihre Identität ausgedrückt?

Was ist unter Psycholinguistik zu verstehen?

Um zu verstehen, was die Disziplin Psycholinguistik umfasst, ist es notwendig, ihre bewegte Entstehungsgeschichte zur Kenntnis zu nehmen. Während in den 1920/30er-Jahren psychologische Aspekte und die Funktionen von Sprache betont wurden, sind es seit der institutionellen Gründung in den 1950er-Jahren eher formal linguistische Interessen, die verfolgt werden. Da es keinen allgemeingültigen Sprachbegriff gibt, ist es wichtig, die verschiedenen Positionierungen zum Sprachbegriff zu beachten, denn Sprache kann objektseitig und subjektseitig betrachtet werden. Bei der objektseitigen Betrachtung wird Sprache als Objekt von außen betrachtet und beschrieben. Hierbei spielen vor allem strukturelle Aspekte eine Rolle. Bei der subjektseitigen Betrachtung wird versucht, Sprache von innen, aus dem sprechenden Individuum heraus, zu erfassen. In der kulturhistorischen Psycholinguistik werden Form und Funktion sprachlicher Tätigkeit vom Individuum ausgehend untersucht.

Was ist der Forschungsgegenstand der kulturhistorischen Psycholinguistik?

Der Forschungsgegenstand der kulturhistorischen Psycholinguistik ist die sprachliche Tätigkeit. Sprachliche Tätigkeit kennzeichnet, dass Sprache und Sprechen als eng zusammengehörender Komplex definiert werden und dass sie gleichermaßen in einer soziologischen und einer psychologischen Dimension betrachtet werden muss. Ausgangspunkt ist dabei das sprechende Individuum, wobei das Hauptaugenmerk auf der Betrachtung von Prozessen der sprachlichen Tätigkeit und ihren Funktionen liegt.

Inwiefern ist ein Sprachbegriff aus der Perspektive der kulturhistorischen Psycholinguistik hilfreich für die Betrachtung von Sprache und Identität?

Sprachliche Tätigkeit und Ich-Identität haben ihre Entsprechung darin, dass beide Phänomene sowohl soziologisch als auch psychologisch betrachtet werden. In der soziologischen Dimension steht die kommunikative Funktion im Vordergrund, sodass es um Aushandlungsprozesse des Individuums mit seiner Umwelt geht, und in zweiter Funktion kommen der sprachlichen Tätigkeit höhere psychologische Funktionen zu, mittels derer das auf uns selbst gerichtete Sprechen Mittel des Denkens wird (psychologische Dimension). Zu den Aushandlungsprozessen mittels sprachlicher Tätigkeit zählt auch die Identitätsbildung, d. h., bei aller Selbstverständigung wird ein Ich über das Du erzeugt. Gemeinsames Sprechen umfasst sprachliche, emotionale, kognitive und soziale Aspekte, die das Individuum in der Totale seiner Ich-Identität zum Ausdruck bringt. Bei der sprachlichen AushandlungAushandlung