Sprachenlernen im Tandem - Lingyan Qian - E-Book

Sprachenlernen im Tandem E-Book

Lingyan Qian

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Beschreibung

Diese empirische Untersuchung beschäftigt sich mit Lernprozessen beim Sprachenlernen im Tandem, einer Lehr- und Lernkonstellation, die sich zunehmender Beliebtheit erfreut. Anhand authentischer Daten werden die Organisation der Tandemgespräche sowie die Lehr- und Lernpotenziale der Tandeminteraktion für das Deutschlernen chinesischer Studierender beschrieben. Die plastische Darstellung und Tiefenanalyse der Vielfalt von Tandeminteraktionen, ihrer Schwierigkeiten, Probleme und Potenziale verdeutlicht eine im Alltagsverständnis allzu oft idealisierte Vorstellung von der "Natürlichkeit" des Lernens im Tandem, die sich in dieser Untersuchung nicht bestätigen lässt. Am Ende des Bandes werden konkrete Anforderungen an Tandemlehrende formuliert sowie Empfehlungen für die Verbesserung und Verfeinerung der Methodik ausgesprochen.

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Seitenzahl: 566

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Lingyan Qian

Sprachenlernen im Tandem

Eine empirische Untersuchung über den Lernprozess im chinesisch-deutschen Tandem

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

 

 

© 2017 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen www.francke.de • [email protected]

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

 

ePub-ISBN 978-3-8233-0018-2

Inhalt

DanksagungEinleitung1 Lehr- und Lernpotenziale von Interaktionen1.1 Zum Begriff Interaktion1.1.1 Interaktion und Zweitspracherwerb1.1.2 Tandem: eine besondere Interaktionsform für Zweitspracherwerb1.2 Zusammenfassung2 Untersuchungsmethode2.1 Konversationsanalytischer Ansatz2.1.1 Grundprinzipien der Konversationsanalyse2.1.2 Konversationsanalyse in der Linguistik2.1.3 Konversationsanalyse und Kommunikation mit nicht kompetenten Sprechern2.2 Zu den Daten2.2.1 Datenerhebung2.2.2 Zu den Probanden2.2.3 Die Aufbereitung der Daten3 Tandemgespräch: eine besondere kommunikative Gattung3.1 Das Konzept: kommunikative Gattung3.1.1 Die Struktur kommunikativer Gattungen3.1.2 Forschung kommunikativer Gattungen3.2 Alltägliche Gespräche3.3 Unterrichtsinteraktion3.4 Das Tandemgespräch als kommunikative Gattung3.4.1 Der Wechsel vom Alltagsgespräch zur Lehr-Lern-Sequenz3.4.2 Der Wechsel von der Lehr-Lern-Sequenz zum Alltagsgespräch3.5 Lehr-Lern-Sequenzen im Tandem vs. Unterrichtsinteraktionen3.6 Tandem als eine besondere kommunikative Gattung3.7 Zusammenfassung4 Erzählkompetenzen und Erzähldefizite der chinesischen Lerner im Tandem4.1 Zum Begriff Erzählen4.1.1 Die Struktur konversationeller Erzählungen4.2 Die Stellung der Erzählfähigkeit im Spracherwerb4.2.1 Erwerb der Erzählfähigkeit in der Muttersprache4.2.2 Erwerb der Erzählfähigkeit in der Fremdsprache4.3 Modell zur Analyse konversationeller Erzählungen im Tandem4.4 Analyse konversationeller Erzählungen am Beispiel einer Erzählung unter Deutschen4.5 Analyse konversationeller Erzählungen im Tandem4.5.1 Erzählanfänge4.5.2 Dramatisieren (Redewiedergabe)4.5.3 Detaillierung4.5.4 Erzählbeendigungen4.6 Zusammenfassung5 Scaffolding5.1 Das Scaffolding-Konzept5.1.1 Bedeutung des Scaffoldings für Lehren und Lernen5.1.2 Scaffolding in der Erstspracherwerbsforschung5.1.3 Scaffolding in der Zweitspracherwerbsforschung5.2 Scaffolding in Tandeminteraktionen5.2.1 Typen von Scaffolding5.2.2 Versuchtes Scaffolding5.2.3 Kontext für potenzielles Scaffolding5.3 Formen der Scaffolding-Verfahren5.3.1 Fragen5.3.2 Imperativ5.3.3 Explikation5.3.4 Affektive Mittel5.3.5 Übernahme5.3.6 Wiedergabe5.4 Zu Aktivitäten der chinesischen Lerner bei der konstruktiven Dialoghilfe im Tandem5.4.1 Ratifizieren5.4.2 Schweigen5.4.3 Missverstehen5.5 Anpassung des Muttersprachlers an den Sprachstand des Lerners5.6 Zusammenfassung6 Schlussbetrachtungen6.1 Das Sprachenlernen im Tandem: zwischen Fiktionalität und Realität6.2 Ausblick: Supervision für das Sprachenlernen im TandemLiteratur

Danksagung

Ich möchte mich bei all jenen Menschen bedanken, die mich während der Entstehung der vorliegenden Arbeit unterstützt haben.

Mein besonderer Dank gilt meiner Doktormutter, Prof. Dr. Helga Kotthoff, die mich mit vielen konstruktiven Gesprächen, produktiven Hinweisen und kritischen Rückmeldungen unterstützte, eigene Gedankengänge zu entwickeln.

Für die Übernahme des Zweitgutachtens und die anregenden Diskussionen möchte ich mich herzlich bei Prof. Dr. Katharina Brizić bedanken.

Den Probanden, die an dieser Untersuchung teilgenommen haben, möchte ich herzlich danken. Ihr Vertrauen und Einverständnis haben die Datenerhebung ermöglicht.

Insbesondere danke ich Ulrike Ackermann, die bei der Aufbereitung der Daten eine Unterstützung geleistet hat.

Meine dankbare Anerkennung gilt in besonderer Weise auch Robert Stimpel für die geduldige Korrektur des Manuskripts und die wertvollen Diskussionen.

Einleitung

Das Tandem-Konzept erlebt seit den 1980er Jahren eine Hochkonjunktur im deutschsprachigen Raum. Beim Lernen im Tandem arbeiten in der Regel zwei Personen mit unterschiedlichen Muttersprachen zusammen, um voneinander zu lernen und gemeinsam fortzuschreiten. Jeder Partner bringt Kenntnisse und Fähigkeiten in seiner Sprache und Kultur ein, die der andere erwerben will. Auf diese Weise profitiert jeder von den Erfahrungen und der Unterstützung des Partners.

Im Rahmen des Lehrens und Lernens fremder Sprachen enthält das Lernen im Tandem zwei Ebenen, das Sprachenlernen und das interkulturelle Lernen. Mit der Globalisierung entstehen immer mehr Begegnungssituationen zwischen Menschen aus verschiedenen Ländern mit unterschiedlichen Sprachen. Die Entwicklung der weltweiten Mobilität und der zunehmende internationale Austausch stellen Anforderungen an Menschen, sprachliche Kompetenz und Kommunikationsfähigkeit im interulturellen Kontext zu erwerben. Vor diesem Hintergrund steht die Frage im Mittelpunkt: Wie kann man den Fremdspracherwerb und die Entwicklung der interkulturellen Kompetenz fördern. Neben dem institutionellen Fremdsprachenunterricht stellt das Tandem eine besondere Alternative für den Spracherwerb und die Vermittlung des kulturellen Wissens dar. Das Tandemfieber an deutschen Hochschulen ist seit Jahren deutlich spürbar, von institutionell organisierten Tandemkursen, Einzeltandemvermittlungen bis zu selbstinitiierten Tandeminteraktionen. Das Tandem-Konzept ist weit verbreitet und den meisten Sprachenlernenden bekannt.

In der vorliegenden Studie geht es um die sprachliche Ebene im chinesisch-deutschen Tandem. Die Arbeit beschreibt die Organisation der Tandemgespräche sowie die Lehr- und Lernpotenziale der Tandeminteraktion für das Deutschlernen der chinesischen Studierenden. In der wissenschaftlichen Literatur zum Fremdsprachenlernen im Tandem ist immer wieder die Rede davon, dass die Interagierenden partnerschaftlich die sprachlichen Defizite des Lerners bearbeiten, indem die muttersprachlichen Tandempartner z.B. die lernerseitigen Äußerungen korrigieren, neue Vokabulare einbringen oder auf grammatische Probleme hinweisen. Außerdem geht die Tandemforschung häufig davon aus, dass die Lerner im nicht-institutionellen Kontext Sprechhemmungen abbauen und dadurch freier sprechen können. In der Interaktion mit den muttersprachlichen Gesprächspartnern erwerben die Lerner nicht nur Kenntnisse auf der Ebene der sprachlichen Form, sondern auch auf der Ebene der Struktur der Diskurse und der Kommunikationsfähigkeit im Umgang mit den Fremden. Alle diese positiven Aspekte zeigen, dass das Tandem-Konzept für das Sprachenlernen fördernd sein könnte.

Wie sehen aber die Möglichkeiten und die Grenzen des Sprachenlernens im Tandem genau aus? Was geschieht, wenn zwei Tandempartner zum Zweck des Sprachenlernens miteinander kommunizieren? Welche Vorteile bringt diese besondere Lehr-Lern-Form? Welche Schwierigkeiten haben die Interagierenden im realen Gesprächsablauf? Ein Blick in die Tandempraxis zeigt, dass die Zusammenarbeit der Interagierenden häufig nicht problemlos ist. Relevante sprachliche Fehler bleiben unkommentiert. Gesprächsthemen zu finden, fällt den Interagierenden schwer. Die Initiativen der sprachlichen Behandlung zeichnen sich durch Spontaneität und Beliebigkeit aus. Konkrete Lernziele finden sich nicht. Ferner ist auffällig, dass manche Tandempaare oft nach kurzer Zeit abbrechen, entweder aufgrund von Problemen, die auf der menschlichen Ebene entstehen oder auch wegen des Motivationsmangels der Teilnehmer.

In der bisherigen relativ jungen Tandemforschung gibt es leider wenige Studien, die einen wirklich detaillierten und aufschlussreichen Einblick in den praktizierten Lernprozess geben. Hier bedarf es empirischer Untersuchungen anhand authentischer Daten. Vor diesem Hintergrund fiel die Entscheidung für die vorliegende Forschung: In einer empirischen Studie wurden drei chinesisch-deutsche Tandempaare in Deutschland ein halbes Jahr wissenschaftlich begleitet. Neben ca. 35-stündigen Audioaufnahmen ihrer authentischen Tandemgespräche wurden Abschlussinterviews mit den chinesischen Probanden durchgeführt. Durch teilnehmende Beobachtung, die in der sozialwissenschaftlichen Feldforschung häufig verwendet wird, konnte ich einen genauen Blick in den Interaktionsverlauf gewinnen.

Im Mittelpunkt der Untersuchung steht jedoch die Frage nach den realen Abläufen und Strukturen der Tandemgespräche zur Einschätzung der Möglichkeiten und Grenzen des Sprachenlernens in der Praxis. Es geht darum, wie sich der Lernprozess im Einzeltandem beobachten, beschreiben und analysieren lässt. Dafür ist es notwendig, eine Unterschungsmethode zu verwenden, mit der man die stattfindenden Gespräche zwischen den Interagierenden rekonstruieren und damit die dynamische Interaktion detailliert analysieren kann. Ein konversationsanalytisches Vorgehen, das anhand authentischer und natürlicher Daten der Analyse der Interaktionsabläufe zugrunde liegt, ist für dieses Untersuchungsziel geeignet.

Die Arbeit ist in sechs Kapitel gegliedert. Diese werde ich hier einführend vorstellen. In Kapitel 1 erfolgt ein Überblick über die Lehr- und Lernpotenziale der Interaktion. Hierzu zählen ein historischer Rückblick auf die Entstehung und Entwicklung der interaktionsorientierten Zweitspracherwerbsforschung und der damit verbundenen Frage nach der Bedeutung der Interaktion im gesteuerten und ungesteuerten Kontext. Neben wichtigen theoretischen Prinzipien wird auch eine Darstellung der wichtigsten Forschungsarbeiten der letzten 30 Jahren gegeben, um möglichst viele aufschlussreiche Perspektiven in diesem Bereich zu gewinnen. Aufgrund dessen wird Tandem als eine besondere Interaktionsform für den Zweitspracherwerb beschrieben. Anhand einschlägiger Arbeiten der jungen Tandemforschung wird auf relevante Elemente in diesem Konzept eingegangen. Dieses Kapitel dient dazu, eine Vorstellung des allgemeinen Lehr-Lern-Kontextes, in den der Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Arbeit eingebettet ist, zu vermitteln.

Kapitel 2 ist der Beschreibung der Untersuchungsmethode gewidmet. Zuerst erfolgt eine allgemeine Darlegung der Konversationsanalyse. Im Anschluss daran wird das Vorgehen gezielt im Hinblick auf die Untersuchung der Kommunikation mit nicht-kompetenten Sprechern erläutert. Mit ausgewählten Studien wird die Bedeutung der konversationsanalytischen Methode für die Forschung des Sprachenlernens in Interaktion diskutiert und detailliert dargestellt. Dabei geht es vor allem darum, welche Fragen man mit dieser Methode beantworten und inwieweit man dadurch eine aufschlussreiche Einschätzung zu Möglichkeiten und Grenzen des Sprachenlernens in Interaktion ziehen kann. Neben der Erörterung der forschungsrelevanten methodologischen Fragen geht es in diesem Kapitel um eine transparente Darstellung der Daten.

Kapitel 3 bis Kapitel 5 enthält die empirische Untersuchung, die den Kern der vorliegenden Arbeit bildet. Die Beschreibung des Tandemgesprächs als eine besondere kommunikative Gattung wird in Kapitel 3 vorgenommen. Der erste Analyseteil untersucht – ausgehend von der sprachwissenschaftlichen Gattungstheorie – den Wechsel vom Alltagsgespräch zur Lehr-Lern-Sequenz. Im nächsten Schritt erfolgt die Analyse des Wechsels von der Lehr-Lern-Sequenz zum Alltagsgespräch. Das zielt darauf ab, ein allgemeines Bild über die Interaktionsabläufe im Tandem für das Sprachenlernen zu gewinnen. Dabei ist festzustellen, dass das Tandemgespräch sich durch den ständigen Wechsel zwischen dem alltäglichen Gespräch und der Lehr-Lern-Aktivität auszeichnet.

In Kapitel 4 wird auf das konversationelle Erzählen fokusiert, um die Interaktionssequenzen im chinesisch-deutschen Tandem in meinem Korpus detailliert zu analysieren. Anhand der einschlägigen Theorien in der bisherigen Erzählforschung und meiner empirischen Daten wird zunächst ein Modell zur Analyse konversationeller Erzählungen der chinesischen Lerner im Tandem entwickelt. Anschließend erfolgt die Sequenzanalyse der relevanten Ebenen bezüglich der Erzählstruktur, nämlich Erzählanfang, Dramatisieren (Redewiedergabe), Detaillierung und Erzählbeendigung. Dabei wird aufgezeigt, wie die chinesischen Lerner ihre Erzählungen aufbauen. Sowohl Kompetenzen als auch Defizite bzw. spezifische lernersprachliche Gestaltungen im Tandem werden dadurch ausführlich veranschaulicht.

In Kapitel 5 wird der analytische Fokus im Anschluss an die Untersuchung der Erzählkompetenzen und Erzähldefizite der chinesischen Lerner um eine weitere Ebene erweitert und die Rolle der muttersprachlichen Tandempartner gezielt betrachtet. In Anlehnung an das sogenannte Scaffolding-Konzept werden die Verhaltensweisen der Muttersprachler bei der lernerseitigen Durchführung der Erzählungen untersucht. Es wird einerseits gezeigt, wie sie die chinesischen Lerner unterstützen, mit ihnen zusammen die Erzählungen aufbauen und welche Verfahren sie dabei einsetzen. Andererseits werden auch die in der Untersuchung verdeutlichten Defizite der muttersprachlichen Gesprächspartner erläutert. Neben der zentralen Rolle der Muttersprachler beim Scaffolding sind die lernerseitigen Aktivitäten ebenfalls wichtig. Schlussendlich basiert eine konversationelle Erzählung auf partnerschaftlicher Zusammenarbeit. In Anbetracht der Bedeutung der gegenseitigen Kooperation für das Gelingen der muttersprachlichen Scaffolding-Verfahren werden die Aktivitäten der chinesischen Lerner dabei diskutiert. Daher ergibt die Analyse der Scaffolding-Verfahren wichtige Einblicke in die Möglichkeiten und Grenzen des Sprachenlernens im Tandem.

Kapitel 6 beinhaltet abschließend eine Zusammenfassung der erarbeiteten Ergebnisse. Es wird auf die Potenziale und Probleme beim Sprachenlernen im Tandem, wie sie die konversationsanalytische Untersuchung aufweist, eingegangen. Hier wird die Situation der Tandempraxis anhand meiner empirischen Daten sowie der teilnehmenden Beobachtung zusammengefasst und zur Beantwortung der gestellten Forschungsfragen herangezogen. Davon ausgehend erfolgt der Vorschlag von Supervision für das Sprachenlernen im Tandem, die zur Förderung des Lernens im Tandem in Zukunft ausgebaut werden sollte.

1Lehr- und Lernpotenziale von Interaktionen

1.1Zum Begriff Interaktion

Interaktion ist laut Fremdwörterbuch (Duden Band 5, 4. Auflage 1982, S. 350f.) als aufeinander bezogenes Handeln zweier oder mehrerer Personen zu verstehen. Das heißt, dass die daran Beteiligten auf den anderen reagieren und einander beeinflussen. Nach Kotthoff (2012: 1) bezieht sich die Interaktion nicht nur auf Sprechen und Hören, sondern auch auf Lesen und Schreiben, z.B. bei elektronischen Kommunikationsformen wie „e-mail“ oder „chat“. Jedoch stellt das Gespräch die hauptsächliche Erscheinungsform von Interaktion dar.

Edmondson und House (2003: 242) unterscheiden „verdeckte“ Interaktion von „offener“ Interaktion. Mit „verdeckter“ Interaktion ist ein kognitiver Verarbeitungsprozess bei sprachlichen Handlungen wie Lesen oder Schreiben gemeint. Beim Lesen ereignet sich zum Beispiel die Interaktion zwischen einem Text und einer Person. Der sich daraus ergebende kognitive Verarbeitungsprozess ist nicht zugänglich. Unter „offener“ Interaktion werden gemeinhin Interaktionen wie zum Beispiel Unterrichtsinteraktionen, die direkt beobachtet werden können, verstanden.

In den sprachwissenschaftlichen Untersuchungen wurden in den letzten 30 Jahren hauptsächlich die beobachtbaren Abläufe der offenen Interaktion in die Forschung einbezogen, während die mit Kognition verbundene verdeckte Interaktion aufgrund ihrer schweren Zugänglichkeit weniger berücksichtigt wurde.

1.1.1Interaktion und Zweitspracherwerb

Unter Zweitspracherwerb versteht man den Prozess, bei dem ein Mensch sich neben der ersten Sprache eine zweite oder weitere Sprache aneignet. Dieser Prozess kann in der späten Kindheit, in der Jugend oder im Erwachsenenalter geschehen, wenn die Erstsprache erworben wurde. Je nachdem unter welchen Bedingungen eine neue Sprache erlernt wird, unterscheidet man zwischen den Begriffen Zweitsprache und Fremdsprache. Mit Zweitsprache wird in der Regel die Sprache bezeichnet, die zum alltäglichen Gebrauch lebensnotwendig ist. Die Sprecher leben z.B. in einem Kontext, wo vorwiegend diese Sprache gesprochen wird. Um an den sozialen, akademischen, politischen und wirtschaftlichen Aktivitäten teilzunehmen, sollten sie diese Sprache beherrschen. Im Gegensatz dazu ist unter Fremdsprache die Sprache zu verstehen, die man normalerweise im Kontext der eigenen Kultur lernt. Das heißt, die Lerner haben oft wenige Gelegenheiten oder Bedürfnisse, sich an den Aktivitäten in der fremdsprachlichen Gesellschaft zu beteiligen. Da der Fokus der vorliegenden Arbeit in der Rolle der Interaktion für das allgemeine Lernen einer neuen Sprache liegt, werden die beiden Begriffe (Zweitsprache und Fremdsprache) hier nicht extra differenziert. Das heißt, das Wort „Zweitsprache“ wird, wie in der Forschung üblich, für jede Sprache gebraucht, die nicht die erste Sprache des Lerners ist.

Die Forschung zum Zweitspracherwerb begann in den späten 1960er Jahren und zeichnete sich von Anfang an durch ihre Interdisziplinarität aus. Sie umfasste nämlich Didaktik, Linguistik, Kinderspracherwerb und Psychologie gleichermaßen (Huebner, 1998). Bis Ende des zwanzigsten Jahrhunderts ist dieses Forschungsgebiet eine eigenständige Disziplin geworden.

Einen Überblick über die Zweitspracherwerbsforschung bieten Ortega (2009) und Saville-Troike (2012). Ortega (2009) führt aus, wie universale, individuelle und soziale Faktoren den Erwerb der Zweitsprache von verschiedenen Menschen in unterschiedlichen Lernsituationen beeinflussen. Ebenfalls davon ausgehend, dass man nur aus multi- und interdisziplinären Perspektiven ein umfassendes Bild über die Aneignung der Zweitsprache bekommen kann, stellt Saville-Troike (2012) verschiedene Forschungen zu diesem Thema aus den Bereichen der Sprachwissenschaft, Psychologie und Soziologie vor. Ein weiterer Fokus von Saville-Troike (2012) liegt darin, dass man sich beim Zweitspracherwerb nicht nur die Sprache, sondern auch die Kompetenz in der Zweitsprache aneignen sollte. Diese Kompetenz lässt sich ihrer Meinung nach auch aus mehreren Blickwinkeln definieren, z.B. sprachliche Kompetenz, kommunikative Kompetenz und Kompetenz für die Teihnahme an Aktivitäten wie Sprechen, Hören, Schreiben und Lesen.

Dabei richtet sich der Blick in der linguistischen Zweitspracherwerbsforschung seit den 1980er Jahren auf die Wirkungen der Interaktion beim Erlernen der Zweitsprache. Es ist die Gruppe um Long (u.a. Chaudron, Doherty, Pica, Young), die die Input-Hypothese (u.a. Ferguson 1975, Chaudron 1977, Hatch 1974, Larsen-Freemann 1976, Krashen 1982, 1985) zur Interaktions-Hypothese weiterentwickelt hat. Während in der Input-Hypothese der Verständlichkeit der zielsprachlichen Äußerungen eine besondere Bedeutung für den Spracherwerb zugeschrieben wird, weist Long (1983) darauf hin, dass der Input durch Modifikationen der interaktionalen Struktur der Konversation verständlich wird. Die Bedeutung der Interaktion für den Zweitspracherwerb wird dadurch betont.

In der Interaktions-Hypothese lautet die allgemeine Auffassung, dass der Spracherwerb durch zweiseitige Interaktion erfolgreicher als durch einseitige stattfindet. Nach zahlreichen empirischen Untersuchungen über die Wirkung von Interaktion auf den Zweitspracherwerb ergibt sich die folgende Bilanz:

Interaktion bietet einen Kontext, in dem die Lerner mit dem Input der Zielsprache konfrontiert werden und damit versuchen, sie zu verstehen (Krashen 1982).

Interaktion bietet einen Kontext, in dem die Lerner gezwungen werden, in der zu lernenden Zielsprache zu kommunizieren und ihren Output in der Zielsprache verständlich und angemessen zu gestalten (Gass 2003, Swain 1995, 2005).

Interaktion bietet den Lernern die Möglichkeit zur Bedeutungsaushandlung („negotiation of meaning“) zum Zweck der gegenseitigen Verständigung (Gass 2003).

Das Feedback, das die Lerner in Interaktion bei Formulierungsschwierigkeiten oder Verständnisproblemen von ihren Interaktionspartnern bekommen, spielt eine bedeutende Rolle für den Zweitspracherwerb (Mackey 2006).

Möglichkeiten zum zielsprachlichen Output können die Beherrschung der erworbenen zielsprachlichen Kenntnisse und das flüssige Sprechen in der Zielsprache fördern (de Bot 1996, Swain 1995, 2005).

Während einerseits die positiven Wirkungen von Interaktion auf den Zweitspracherwerb entweder theoretisch oder empirisch verdeutlicht werden, gibt es andererseits auch kritische Meinungen dazu. Kommunikative Interaktion in der Zielsprache ist zwar wichtig für den Spracherwerb, aber effizientes Sprachenlernen erfolgt nach Edmondson und House (2003: 244) nicht mittels Interaktion allein. Ellis (2003) wirft der Interaktions-Hypothese vor, ein statisches Bild von Fremdspracherwerb zu zeichnen, bei dem letztendlich Interaktion auf einzelne, quantifizierbare Merkmale reduziert, der reziproke Charakter von Gesprächen aber negiert wird.

Hinsichtlich der Wirkung von Interaktion auf den Zweitspracherwerb bilden sich einige Forschungsfelder in den linguistischen Untersuchungen heraus. Im Vordergrund steht in der Regel die Forschung über gesteuerten oder ungesteuerten Spracherwerb in Interaktionen. In den folgenden Darlegungen wird ein Überblick über den Forschungsstand auf dem Gebiet des Zweitspracherwerbs in Interaktionen auf zwei Ebenen (gesteuerter und ungesteuerter Zweitspracherwerb) gegeben.

1.1.1.1Gesteuerter Zweitspracherwerb in Interaktionen

Gesteuerter Zweitspracherwerb bezeichnet das Lernen einer Sprache, das unter der Anleitung von Lehrpersonen in Sprachkursen oder Institutionen wie Schule, Hochschule oder Universität durchgeführt wird. Er ist in der Regel ein bewusstes und systematisches Lernen.

Die Zweitspracherwerbsforschung versteht es unter gesteuertem Spracherwerb hauptsächlich Unterrichtsinteraktionen. Zweitsprachunterrichtliche Interaktionen sind etwas Besonderes, weil die Fremdsprache gleichzeitig Unterrichtsmedium und Unterrichtsgegenstand ist (House 2000: 111). Im Zweitsprachunterricht steht vor allem die Vermittlung der sprachlichen Form im Mittelpunkt. Gleichwohl werden aber die pragmatisch-kulturellen Angemessenheiten der zielsprachlichen Äußerungen thematisiert. Unterrichtsinteraktionen in einer ganzen Klasse oder einer Gruppe bieten Gelegenheiten für unterschiedliche Lehr- und Lernziele wie Input und Output der Zielsprache, Feedback oder Beteiligungen der Lerner an der zielsprachlichen Kommunikation. Auf dem Gebiet von Unterrichtsinteraktionen richtet sich der Blick der sprachwissenschaftlichen Forschungen sowohl auf Lehrer-Lerner-Interaktionen als auch auf Lerner-Lerner-Interaktionen.

1.1.1.1.1Lehrer-Lerner-Interaktionen im Fremdsprachenunterricht

Die Untersuchung der Sprache von Lehrpersonen in Unterrichtsinteraktionen ist seit Ende der 1980er Jahre zu einem zentralen Forschungsgegenstand des Bereichs des L2 classroom research geworden (Kostrzewa 2009: 29). Krashen (1985) bezeichnet den Begriff als „teacher talk“, der spezifisch von Seiten der Lerner ausgeht.

Sprachwissenschaftliche Forscher belegen durch empirische Untersuchungen, dass das Kommunikationsverhalten von Lehrpersonen erstens ein durch „Hyperaktivität“ (Klippert 2000: 11) geprägtes Verhalten ist und die sprachliche Beteiligung der Lerner dadurch reduziert wird (Becker-Mrotzek/Vogt 2001: 86). Zweitens sind nach Hatch (1978) die Fragen der Lehrpersonen in Unterrichtsinteraktionen wenig authentisch. Sie dienen lediglich dazu, die Grammatik der Zielsprache zu vermitteln und/oder zu üben. Dies behindert die angestrebte Entwicklung der kommunikativen Fertigkeiten in der Zielsprache auf Seiten der Lerner. Angesichts dieser Probleme schlagen Chaudron (1988) und Klein (1987) vor, verständlichen, wohl strukturierten Input, verbunden mit einer redundanten Verwendung von Wortmaterial und Strukturen, als Sprache von Lehrpersonen in Unterrichtsinteraktionen einzusetzen.

Linguistische Forschungen durch mikroanalytische Verfahren wie Konversationsanalysen oder Interaktionsanalysen finden ferner heraus, dass das verbale Verhalten von Lehrpersonen in Zweitsprachenunterricht Wirkungen auf die Beteiligung der Lerner an der zielsprachlichen Interaktion im Unterricht sowie auf den Spracherwerb ausübt. Anhand der Daten von acht Lehrpersonen im Fremdsprachenunterricht weist Walsch (2002) darauf hin, dass die Beteiligung der Lerner an den zielsprachlichen Interaktionen erhöht wird, wenn die Lehrpersonen ihre dominierenden verbalen Verhaltensweisen reduzieren. Als Beispiele nennt er direkte Korrektur, adäquate Verwendungen der authentischen Äußerungen, ausreichende Wartezeit für Reaktion, Reformulierung der Äußerungen der Lerner und Angebot des Feedbacks (Walsch 2002). Antón (1999) zeigt Diskursstrategien, die ein französicher Dozent in einer Hochschule benutzt, um den Lernern beim Durchführen einer Grammatikaufgabe zu helfen. Zu seinen Strategien gehören: durch Fragen den Lernern auf grammatische Formen aufmerksam machen, die Lerner zur Reflexion über Schwierigkeiten sowie zur Suche nach Lösungen motivieren, Feedback sowie Korrektur anbieten, durch verbale und non-verbale Verhalten die Lerner zur Selbstkorrektur ermutigen und beim Wechsel des Sprechers (turn-taking) flexibel sein.

Während spracherwerbfördernde Potenziale von Lehrer-Lerner-Interaktionen im Fremdsprachenunterricht in empirischen Untersuchungen aufgezeigt werden, lenkt Hall (1998) den Blick auf negative Effekte vieler Interaktionen zwischen dem Lehrer und den Lernern. Seine empirische Studie verdeutlicht, dass die Lehrperson den Lernern keine gleichberechtigten Gelegenheiten für ihre Beteiligung an der zielsprachlichen Interaktion bietet. In seinen Daten wird einer der Lerner bevorzugt, während die anderen oft nicht berücksichtigt werden. Das gleiche Problem zeigt auch Mori (2004) in seiner Forschung auf.

Forschungen über Lehrer-Lerner-Interaktionen sind ferner von dem Konzept „Scaffolding“ geprägt. Unter „Scaffolding“ ist die Unterstützung durch Lehrpersonen zu verstehen. Bruner (1987) ist der erste, der dieses Konzept in seiner Studie zum Spracherwerb von Kindern entwickelt hat. Damit wird die Rolle von Interaktionsprozessen für den Spracherwerb verdeutlicht. Nach Bruner (1987) bietet der Erwachsene dem Kind innerhalb einer Interaktion sprachlich eingebettete Handlungsmodelle an, in denen der sprachliche Zuwachs des Kindes stattfindet. In der Lehrer-Lerner-Interaktion liegt die Aufgabe der Lehrperson, die zielsprachlich kompetent ist, darin, Hilfe anzubieten und ein sprachliches Gerüst für die Lerner aufzubauen, um den Spracherwerb zu fördern.

1.1.1.1.2Lerner-Lerner-Interaktionen im Fremdsprachenunterricht

Fremdsprachenunterricht wird nicht nur von Lehrer-Lerner-Interaktionen geprägt, sondern auch von den Lernern untereinander. Eine wichtige Methode, mit der die Beteiligungsmöglichkeiten der Lerner an der unterrichtlichen Interaktion erhöht werden können, ist daher eine Lerner-Lerner-Interaktion. Forschungen darüber zeigen unterschiedliche Ergebnisse in Bezug auf den Spracherwerb.

Tognini (2008) zeigt in seiner Studie, dass im schulischen Fremdsprachenunterricht Lerner-Lerner-Interaktionen wie Musterdialoge und Rollenspiele üblich sind. Solche Interaktionen gelten als eine Form von Übungen. Die zielsprachlichen Kenntnisse werden in Form von Chunks auswendig gelernt und dadurch internalisiert (Myles et al. 1998).

Neben Verwendungen zielsprachlicher Formen sind in aufgabenbezogenen Lerner-Lerner-Interaktionen im Fremdsprachenunterricht Bedeutungsaushandlungen (negotiation of meaning) zu finden, die durch klärende Nachfragen, Reformulierungen oder Bestätigungen durchgeführt werden (Gass et al. 2005). Foster und Ohta (2005) bezweifeln in ihrer qualitativen Analyse jedoch die Wirkung von Bedeutungsaushandlungen in Lerner-Lerner-Interaktionen auf den Spracherwerb. Nach ihrer Studie gibt es zwar in aufgabenbezogenen Lerner-Lerner-Interaktionen eine Menge von Aushandlungen. Sie dienen aber in erster Linie nicht dazu, einen verständlichen Input zu gestalten und damit Informationen auszutauschen, sondern eher dazu, ein Gespräch aufzubauen und fortzusetzen.

Während die Wirkung von Bedeutungsaushandlungen in Lerner-Lerner-Interaktionen in Frage gestellt wird, werden die sich daraus ergebenden Feedbacks von manchen Forschern betont. Adam (2007) diskutiert z.B. in ihrer Studie, ob Feedbacks den Zweitspracherwerb fördern. In ihrer quantitativen Untersuchung hat sie herausgefunden, dass Feedbacks in Lerner-Lerner-Interaktionen und in Lehrer-Lerner-Interaktionen den Zweitspracherwerb gleichermaßen vorantreiben.

Einerseits hebt Adam (2007) die Potenziale von Lerner-Lerner-Interaktion für den Zweitspracherwerb hervor. Andererseits bringen einige Forscher aber neue Herausforderungen ans Licht. Zhao und Bitcheners (2007) Forschung verdeutlicht Herausforderungen in Lerner-Lerner-Interaktion im Vergleich zu Lehrer-Lerner-Interaktion. In Lerner-Lerner-Interaktion gibt es Möglichkeiten wie Aufnahme unkorrekter oder fehlender Feedbacks. Außer von sprachlichen Faktoren hängt die spracherwerbfördernde Wirkung von Lerner-Lerner-Interaktionen auch von anderen Faktoren (wie dem Sprachniveau oder dem Alter der Lerner) ab. McDonough’s (2004) Untersuchung über Gruppeninteraktionen in einem Fremdsprachenunterricht, in dem Englisch als Fremdsprache unterrichtet wird, zeigt, dass nur die Lerner, die sich häufig mit Feedbacks beschäftigen und ihren Output modifizieren, von den Gruppeninteraktionen zwischen Lernern profitieren.

1.1.1.1.3Gesprochene Sprache im DaF-Unterricht

Die Praxis des Fremdsprachen- und DaF-Unterrichts erweist sich seit langem als schriftlich orientiert. Mit der kommunikativen Wende in der Fremdsprachenforschung und -didaktik richtet sich der Schwerpunkt auf die Vermittlung der alltagssprachlichen Kompetenzen bzw. der Mündlichkeit. Denn gesprochene Sprache ist ein „unverzichtbarer Bestandteil der Kompetenz in der Fremdsprache“ (Fiehler 2012: 25). Hinsichtlich der mündlichen, situationsbezogenen Kompetenzen weist Günthner (2011) darauf hin, dass

in der spätmodernen Gesellschaft gerade die Fähigkeit, sich auf diverse kommunikative Situationen einzulassen und mit unterschiedlichen Menschen in vielfältigen kommunikativen Zusammenhängen und Gattungen auf unterschiedliche Weise interagieren zu können, eine wesentliche Voraussetzung bildet, um persönlich und sozial erfolgreich zu sein. (Günthner 2011: 28)

Zur Didaktik der gesprochenen Sprache im Fremdsprachenunterricht entstanden in den letzten Jahren im wissenschaftlichen Bereich verschiedene Debatten. Während Götze (2003) und Helbig/Buscha (2001) beispielsweise die Meinung vertreten, dass es im DaF-Unterricht um die Vermittlung der Standardsprache auch in der geschriebenen Form geht, plädieren Günthner (2000a, 2011), Thurmair (2002), Kilian (2005), Moraldo/Missaglia (2013) dafür, dass der Erwerb der gesprochenen Sprache durch Unterricht erfolgen sollte. Denn, so Moraldo/Missaglia (2013):

Ein natürliches Sprachbewusstsein lässt sich nur entwickeln, wenn im Grammatikunterricht die Rezeption und Produktion von geschriebener und gesprochener Sprache vermittelt und damit die Grundlage für die Wahrnehmung sprachlicher Auffälligkeiten überhaupt erst geschaffen wird. (Moraldo/Missaglia 2013: 10).

Die Frage, die im didaktischen Kontext der gesprochenen Sprache erörtert wird, lautet dann: Was und wie soll gelehrt werden? Fiehler (2012: 25) benennt z.B. Rezeptionspartikeln (wie hm, ja), spezifisch mündliche syntaktische Konstruktionen, Verschleifungen und Signale des Sprecherwechsels als Elemente der Mündlichkeit, die im Fremdsprachenunterricht systematisch unterrichtet werden können. Günthner/Wegner/Weidner (2013) gehen von einer Vernetzung der Gesprochene-Sprache-Forschung mit der Fremdsprachenvermittlung aus. In der Forschung der gesprochenen Sprache entstehen in den letzten zwei Jahrzehnten zahlreiche Ergebnisse zu unterschiedlichen Phänomenen, wie Formen und Funktionen der Vor-Vorfeldbesetzung (Auer 1997), syntaktische Anordnungen im Nachfeld (Köpcke/Noack 2008), wobei (Günthner 2000b, 2002), weil (Gaumann 1983, Wegener 1999), dass (Freywald 2008), obwohl (Günthner 1999, 2002, Moraldo 2012), Phrasemen (Simon 2012). Nach Günthner/Wegner/Weidner (2013) können die Gesprochene-Sprache-Forschung und die Fremdsprachenvermittlung durch Vernetzung voneinander profitieren. Einerseits könnten die Erkenntnisse der Gesprochene-Sprache-Forschung systematisch im DaF-Unterricht zur Verfügung gestellt werden. Demgegenüber könnte die Fremdsprachenvermittlung auf die wenig erforschten Elemente der Mündlichkeit hindeuten, die in der alltäglichen Praxis der Fremdsprache auffallen.

Konkret widmen sich gegenwärtig mehrere wissenschaftliche Untersuchungen der Didaktisierung der gesprochenen Sprache. Bachmann-Stein (2013) befasst sich z.B. mit Lehrwerkdialogen im DaF-Unterricht. Ihres Erachtens haben Dialoge im Lehrwerk „einen besonderen Stellenwert“ (Bachmann-Stein 2013: 40), weil sie für die Lerner als eine Simulation der realen Kommunikation außerhalb des Fremdsprachenunterrichts gelten. Mit solchen authentischen Gesprächen kann die Kompetenz der mündlichen Kommunikation der Lerner gefördert werden. Eine weitere methodisch-didaktische Anregung ist außerdem bei Reeg (2012) zu finden. Die Autorin setzt sich mit dem Nutzen zeitgenössischer Theatertexte im DaF-Unterricht auseinander. Ihr Anliegen ist, die Analyse gesprochensprachlicher Phänomene in den Theatertexten mit einer dramapädagogischen Bearbeitung zu verbinden. Damit bekommen die Lerner nicht nur wertvolle Einsichten der relevanten Merkmale der gesprochenen Sprache, sondern auch Erfahrungen bezüglich der mündlichen Äußerungen in spielerischer Form. Darüber hinaus stellt Patermann (2012) ein Lernkonzept in Form von Talkshows vor, um mündliche Kommunikationskompetenz und soziale Fähigkeiten der Lerner zu fördern. Nach Patermann (2012) lässt sich das für muttersprachliche Lernende konzipierte Modell zur Förderung der fachübergreifenden Gesprächsfähigkeit in den DaF-Unterricht integrieren. Konkret geht es um „Schulstunde als Talkshow“ der Internetplattform „Planet Schule“. Sie versteht sich als eine Lernplattform, die verschiedene Lehr- und Lernmaterialien für nahezu alle Unterrichtsfächer bietet, damit der jeweilige Unterricht kreativ und interaktiv gestaltet werden kann. Mithilfe von Beispielen führt die Autorin vor, dass man anhand der aktuellen mediengestützten Materialien der Plattform den DaF-Unterricht als eine Talkshow durchführen kann. Dabei übernimmt die Lehrperson die Rolle des Moderators, während die Lerner ihre Pro- und Contra-Argumente formulieren. Die mündliche Sprechfähigkeit der DaF-Lerner wird auf diese Weise lernerzentriert und handlungsorientiert gefördert.

Neben methodisch-didaktischen Anregungen nimmt das Material einen wichtigen Platz bei der Didaktisierung der gesprochenen Sprache im DaF-Unterricht ein. Während Lehrwerkdialoge (Bachmann-Stein 2013), Theatertexte (Reeg 2012) und deutsche schulische Materialien in Internetplattformen (Patermann 2012) als mögliche Lehr- und Lernmaterialien zur Förderung der Mündlichkeit der DaF-Lerner thematisiert werden, entwickelt das DAAD Projekt „Gesprochenes Deutsch für die Auslandsgermanistik“ (2010 bis 2012) unter der Leitung von Prof. Dr. Susanne Günthner an der Universität Münster eine Datenbank für die Materialien der Didaktisierung der gesprochenen Sprache. Das Ziel des Projekts liegt darin, authentische Kommunikationssituationen deutscher Muttersprachler für den DaF-Unterricht im Ausland bereitzustellen. Die Materialien in der Datenbank bestehen aus Audiodateien und Transkripten. Sie dienen als Basis für die Unterrichtsentwürfe und regen zur kreativen Gestaltung für die Vermittlung der gesprochenen Sprache an. Die genaue Verwendung dieser authentischen Materialien erläutert Imo (2012) in seinem Aufsatz. Seines Erachtens kann man im DaF-Unterricht mit diesen Gesprächsdaten auf drei Ebenen umgehen. Erstens ist es möglich, den Lernern die mündlichen Kommunikationstechniken (wie Sprecherwechsel, Reparaturen, Gesprächsbeendigung) zu vermitteln. Zweitens geht es um die syntaktischen Strukturen. Dabei macht die Lehrperson die Lerner nicht nur auf typische Strukturen der gesprochenen Sprache aufmerksam. Sie erklärt außerdem die typische Syntax der deutschen Sprache besser, wenn solche Strukturen in authentische Gespräche eingebettet sind. Auf der dritten Ebene handelt es sich um lexikalische Phänomene, die man mit situationsbezogenen sowie regionalen Kontexten verknüpfen kann.

1.1.1.2Ungesteuerter Zweitspracherwerb in Interaktionen

Während beim gesteuerten Zweitspracherwerb die zu erlernende Sprache von Lehrpersonen im Unterricht didaktisch aufbereitet vermittelt wird, erwerben die Lerner die Zielsprache beim ungesteuerten Zweitspracherwerb in natürlicher Umgebung. Genauer gesagt ist mit „ungesteuert“ der Erwerb außerhalb des Unterrichts, also vor allem durch die alltägliche Kommunikation mit Sprechern der zu lernenden Sprache gemeint (Klein/Dimroth 2003: 127).

Im Vergleich zu sprachwissenschaftlichen Forschungen im Bereich des gesteuerten Zweitspracherwerbs liegen bisher wenige Untersuchungen über den ungesteuerten Zweitspracherwerb vor. Klein/Dimroth (2003: 8) weisen darauf hin, dass die Untersuchung des ungesteuerten Spracherwerbs Erwachsener erhebliche empirische und methodische Probleme aufwirft. Zum einen braucht man einen langen Zeitraum für die Datenerhebung. Für eine wissenschaftliche Untersuchung sollte man das sprachliche Verhalten der Probanden in der Regel lange Zeit vorfolgen und aufzeichnen. Dies führt jedoch zu einem ethischen Problem. Es ist daher kein Wunder, dass es aufgrund der schwierigen Datenlage bisher wenige umfassende wissenschaftliche Aussagen über den ungesteuerten Zweitspracherwerb erwachsener Lerner gibt.

1.1.1.2.1Ungesteuerter Zweitspracherwerb des Kindes

In linguistischen Forschungen über den ungesteuerten Zweitspracherwerb des Kindes wird häufig der Zusammenhang zwischen dem Spracherwerb und den sozialen und gesellschaftlichen Bedingungen betont. Mehrere Untersuchungen zeigen, dass bestimmte gesellschaftliche Rahmenbedingungen den Zweitspracherwerb des Kindes nachhaltig beeinflussen.

Auf der Basis einer linguistischen Analyse des Sprachstandes von 47 sieben- bis achtjährigen türkischen Migrantenkindern findet Röhr-Sendlmeier (1985) heraus, dass ein häufiger Kontakt zur deutschen Sprache signifikant für den Erwerb der deutschen Sprache ist. Dieser Kontakt geschieht auf zwei Ebenen. Erstens geht es um direkte Begegnungen der Migrantenkinder mit deutschsprachigen Kindern auf dem Spielplatz oder mit anderen Muttersprachlern im Alltag. Zweitens sind indirekte Kontakte durch ihre Eltern gemeint. Die türkischen Eltern, die selber Kontakte zu Deutschen haben, sind in der Lage, den Erwerb der deutschen Sprache ihrer Kinder zu fördern.

Zwar wird der Zusammenhang zwischen dem Zweitspracherwerb und den Sozialisationsbedingungen in der Forschung oft thematisiert. Allerdings gibt es noch keine wissenschaftlich umfassende Untersuchung mit mikroanalytischen Verfahren wie Interaktionsanalyse oder Konversationsanalyse.

In diesem Zusammenhang ist es erwähnenswert, dass im Bereich des ungesteuerten Erstspracherwerbs des Kindes relativ viele Studien vorliegen. Nach Bruner (1977) beginnt der Spracherwerb direkt nach der Geburt im ersten interaktiven Austausch zwischen Mutter und Kind. Bruner (1987) ist der Auffassung, dass die Eltern für die sprachliche Interaktion mit Kindern ein LASS (Language Acquisition Support System) haben. Die Sprache, die die Eltern in Interaktionen mit Kindern verwenden, ist zum Beispiel ein Aspekt von LASS. Sie zeichnet sich durch kurze und wenig komplexe Sätze, ein langsames Sprechtempo, höhere Tonlagen, einen geringen Abstraktheitsgrad usw. aus. Von Beginn an ist die sprachliche Interaktion auf die Entwicklung der sprachlichen Kompetenz von Kindern zugeschnitten. Das Scaffolding, also die elterliche Unterstützung, die dem lernenden Kind angeboten wird, prägt ebenfalls die Eltern-Kind-Interaktionen beim Erstspracherwerb (Hausendorf/Quasthoff 1996, Becker 2011, Hauser 2005).

Aus den oben genannten Forschungsperspektiven lässt sich bereits ableiten, dass zielsprachliche Interaktionen mit Muttersprachlern oder kompetenten Erwachsenen, die die zu erlernende Sprache beherrschen, eine wichtige Rolle für den Zweitspracherwerb des Kindes spielt, obwohl bisher keine wissenschaftlich systematische Untersuchung über den Zweitspracherwerb des Kindes in Interaktion zu finden ist.

1.1.1.2.2Ungesteuerter Zweitspracherwerb der erwachsenen Lerner

Sprachwissenschaftliche Untersuchungen über ungesteuerte Interaktionen zwischen erwachsenen Lernern und Muttersprachlern der Zielsprache beschäftigen sich in den letzten Jahrzehnten vor allem mit der Sprache, die die Muttersprachler in Interaktion mit Lernern verwenden.

Der von Ferguson (1975) geprägte Begriff „foreigner talk“ versteht sich als ein simplifiziertes Register mit einfacher Syntax, langsamer Aussprache, Wiederholungen und Feedback. Roche (1989) gibt in seiner Studie einen detaillierten Einblick in die Struktur und Variation im Deutschen gegenüber Ausländern. Anhand transkribierter Daten untersucht er die Äußerungen von Muttersprachlern im Gespräch mit Nichtmuttersprachlern hinsichtlich ihrer Äußerungsstruktur, personalen Referenz, Temporalität, lokalen Referenz, Skopusstrukturierungen und lexikalisch-semantischen Simplifizierungen systemtisch. Er stellt fest, dass die Abweichung der Xenolekte der Bezugssprache von unterschiedlichen Faktoren beeinflusst wird. Zu den Hauptfaktoren gehören die sprachlichen Fertigkeiten des Gesprächspartners, die kommunikativen Bedürfnisse, inhaltliche und thematische Relevanz und der ökonomische Kompromiss zwischen den Mitteln zum Erreichen des Ziels und den Mitteln zum Vermeiden kommunikativer Schwierigkeiten (Roche 1989: 177–179). Ähnliche Merkmale von „foreigner talk“ sind auch in Hinnenkamps (1982) Untersuchung von Sprechweisen gegenüber Ausländern am Beispiel des Deutschen und des Türkischen zu finden.

Solche Untersuchungen zeigen die sprachlichen Anpassungen, die die Muttersprachler in Interaktion mit Lernern benutzen, um sich verständlich zu machen und sie damit in die Interaktion einzubeziehen. Das zeigt sich nach Kotthoff (2012: 4) schon als eine Art von Zuschnitt auf den Lerner. Die Lerner werden dadurch also von den Muttersprachlern unterstützt.

Untersuchungen zu Verfahren und Strategien in Kommunikationen zwischen Muttersprachlern und Nichtmuttersprachlern werden im Bielefelder Forschungsprojekt „Kontaktsituation“ durchgeführt (Dausendschön-Gay 1987). Anhand von 70 aufgezeichneten und kommentierten Gesprächen zwischen Muttersprachlern und Nichtmuttersprachlern mit ihren jeweiligen unterschiedlichen Kompetenzen in der Sprache des anderen finden Forscher mit gesprächsanalytischen oder ethnomethodologischen konversationsanalytischen Verfahren heraus, dass in solchen authentischen Kommunikationssituationen häufig Lehrsequenzen vorkommen wie Erklärungsverfahren (Sader-Jin 1987) oder Wortsuchprozesse (Dausendschön-Gay 1987), die als Nebensequenzen zur Verständigungssicherung in der Kommunikation gelten. Solche Interaktionen dienen zwar nicht explizit dem Zweck des Spracherwerbs, aber Beobachtungen sukzessiv im Gespräch verlaufender Worterwerbsaktivitäten nach Dausendschön-Gay (1987: 77) bieten jedoch die Möglichkeit, die Funktion von Interventionen und die Abfolge von Aktivitäten der Interaktanten als wichtige Teile eines systematisch ablaufenden Erwerbsprozesses zu interpretieren.

1.1.2Tandem: eine besondere Interaktionsform für Zweitspracherwerb

Als Tandem bezeichnet man gewöhnlich ein Fahrrad, das mittels zwei hintereinander liegender Sättel und Tretlager gleichzeitig zwei Personen in Bewegung setzen kann. Überträgt man die Grundidee der gegenseitigen Unterstützung beim gemeinsamen Voranschreiten auf das Fremdsprachenlernen, geht es um die Begegnung zweier Menschen verschiedener Sprachen und Kulturen, die sich wechselseitig ihre Sprache beibringen. Dabei ist die Muttersprache des einen die Zielsprache des anderen. Jeder übt seine Fremdsprache und hilft dem Tandempartner beim Erlernen der Sprache, die für ihn Muttersprache ist. Das Lernen im Tandem stellt eine Sonderform des Sprachenlehrens und -lernens dar.

Nach Brammerts/Hedderich (1998: 253) zeichnet sich diese Lernform durch zwei Merkmale aus, nämlich das „Gegenseitigkeitsprinzip“ und das „Lernerautonomieprinzip“. Unter dem „Gegenseitigkeitsprinzip“ versteht man, dass die Tandempartner im selben Maße zur gemeinsamen Arbeit beitragen und von der Zusammenarbeit profitieren. Das setzt voraus, dass beide Sprachen benutzt werden müssen und für beide Sprachen gleich viel Zeit bleibt. Die Tandempartner setzen sich im gleichen Maße füreinander ein. Mit dem „Lernerautonomieprinzip“ meint man, dass jeder im Tandem für sein Lernen verantwortlich ist. Jeder der Tandempartner bestimmt in seinem Teil der Tandemarbeit Lernziele und Methoden selbst.

1.1.2.1Geschichte des Begriffs

Die Tandemgeschichte ist auf die deutsch-französischen Jugendbegegnungen in den 1960er Jahren zurückzuführen. Seit 1968 veranstaltete das Deutsch-Französische Jugendwerk (DFJW) binationale Sprachprogramme für die Jugendlichen aus den beiden Ländern. Anders als zuvor wurde der Unterricht nun sowohl am Vormittag als auch am Nachmittag zweisprachig durchgeführt. Diese neue Unterrichtsidee war so erfolgreich, dass sie 1970 durch das DFJW immer bekannter wurde. In demselben Jahr beauftragte das DFJW die neu gegründete „Arbeitsgruppe Angewandte Linguistik Französisch“ (AALF), ein eigenes Sprachprogramm mit der Tandemidee zu entwickeln.

In Kenntnis der zahlreichen deutsch-französischen Ansätze übertrugen Klaus Liebe-Harkort und Nükhet Cimilli das Modell auf die Arbeit mit Immigranten im deutsch-türkischen Bereich. 1973 folgten deutsch-türkische Tandemkurse zwischen türkischen Migranten und deutschen Sozialarbeitern unter der Trägerschaft der „Volkshochschule München“ und des „anatolischen Solidaritätsvereins“. Ähnliche Kurse wurden auch im „Türkischen Volkshaus“ in Frankfurt a.M. (Faust/Schneider-Gürkan 1984) organisiert.

Angeregt durch einen Aufsatz von Liebe-Harkort entwickelte Jürgen Wolff 1979 in Madrid Tandempartnereinzelvermittlungen für das Sprachenpaar Spanisch-Deutsch (vgl. Wolff 1982). 1982 entstand in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut in Madrid ein Tandemkursprogramm, das dann durch „Centro Cultural Hispano-Alemán TANDEM“, Vorläuferin der heutigen „Escuela Internacional TANDEM Madrid“, fortgeführt wurde. Die Einzelvermittlung wurde später zur Grundlage für das TANDEM-Netz.

Mitte der 1980er erlebte die Tandem-Idee durch Jürgen Wolff vom Centro Intercultural Tandem in San Sebastian sowie die Gründung kleiner „Alternativsprachschulen“ eine schnelle Verbereitung. Das Tandem-Netz umfasste Mitglieder in zahlreichen Ländern.

Ende der 1980er Jahre fanden Tandemkongresse (Fribourg/Schweiz 1989, Berlin 1990, Bozen 1991, Donostia/San Sebastian 1992, Freiburg i. Br. 1994, Madrid 1997) statt, die dem Erfahrungsaustausch, der Entwicklung neuer Projekte sowie der Reflexion der Tandamarbeit dienen sollten. 1993 wurde die Stiftung TANDEM-Fundazioa gegründet, mit dem Ziel Forschungen im Bereich Tandem voranzutreiben, Aus- und Fortbildung für die Organisation der Tandemkurse anzubieten und Tandem-Materialien zu erstellen. Seit dem Jahr 2011 veranstaltet diese Stiftung in Zusammenarbeit mit der Universität Lüneburg und der pädagogischen Hochschule Freiburg Tandem-Tagungen (Lüneburg 2011, Freiburg 2012, Lüneburg 2013, Freiburg 2014, Lüneburg 2016 ).

Ebenfalls in den 1980er Jahren fand das Konzept seinen Platz an Hochschulen. In Deutschland gründete Helmut Brammerts das erste Sprachtandem (deutsch-spanisch) an der Ruhr Universität Bochum (Brammerts et al. 1986). Im deutsch-französischen Bereich ging die Entwicklung des Konzepts aufgrund einer Reihe didaktisch-methodischer Grundlagenarbeit weiter, z.B. an den Universitäten Mainz-Dijon (DFJW1992), Berlin-St. Etienne seit 1987/88 (Zamzow 1991) sowie Frankfurt/Oder-Reims (Bahr/Grouet-Duval 1995). Gleichzeitig begannen Hochschulen mit der Tandempartnereinzelvermittlung. In Deutschland war die Universität Bielefeld eine der ersten, die eine Einzeltandemvermittlung einführte und Tandemseminare mit begleitender Forschung veranstaltete (Ehnert 1987). In der Schweiz vermittelte die Universität Fribourg 1982/83 Tandempartner und bot später Tandemkurse an (Müller et al. 1990, Gick/Müller 1992). Heute gibt es nahezu an jeder Universität ein Tandemprogramm.

1.1.2.2Formen des Sprachenlernens im Tandem

Was das Lernen im Tandem angeht, unterscheidet man in der Regel „Kurstandem“ von „Einzeltandem“. Unter „Kurstandem“ versteht man eine Lernergruppe unterschiedlicher Muttersprache (z.B. spanischlernende Deutsche und deutschlernende Spanier), die gemeinsam einen Kurs für das Fremdsprachenlernen besuchen. Nach Herfurth (1993: 22) wird dieser Lernkontext als „Begegnungssituation“ bezeichnet. Ein solcher Kurs liegt häufig im institutionellen Rahmen (wie Sprachschule, Sprachlehrinstitut, Schüleraustausch, Ferienprogramm) und wird von einem Kursleiter organisiert. Mit didaktischen Planungen werden die Kurse durchgeführt. Tandemkurse können entweder in intensiver (täglich mehrere Stunden an hintereinander liegenden Tagen) oder extensiver Form (ein Mal pro Woche über einen längeren Zeitraum hinweg) ablaufen. Je nach der didaktischen Konzeption können die Kursmodelle sehr unterschiedlich sein.

Im Gegensatz zu Kurstandem ist Einzeltandem eine Lehr-Lern-Form, die sich durch eine Vermittlungseinrichtung oder durch Anzeigen (z.B. an schwarzen Bretten, in Tageszeitungen, in Sozialnetzwerken, im Internet) bildet. Zwei Lerner unterschiedlicher Sprachen treffen sich in ihrer Freizeit und helfen sich gegenseitig beim Erlernen der Sprache, die für den einen die Muttersprache ist. Anders als das Kurstandem zeichnet das Einzeltandem sich dadurch aus, dass es nicht im institutionellen Rahmen stattfindet und keiner didaktischen Konzeption von außen unterliegt. Die Tandempartner bestimmen selbst, wo und wann sie sich treffen, was und wie lernen sie. Müller (1988: 28) und Ehnert (1987: 81) nennen diese Lernkontexte „freie Tandems“. Brammerts (1993: 122) und Brammerts/Hedderich (1998: 251) sprechen dabei von „autonomen Tandems“. Die meisten Einrichtungen der Einzeltandemvermittlung sind häufig in Sprachschulen oder Sprachlehrinstituten im universitären Bereich angesiedelt. Zugleich bieten sie Beratungen bzw. Coachings für das Lernen im Tandem an.

Außerdem ist das Internet ein Medium, mit dem die Lerner in Form des Einzeltandems kommunizieren. Dabei kann man den Kontakt via E-Mail, Messenger, Skype oder auch soziale „Netzwerke“ organisieren. Im deutschen Hochschulbereich findet man zuweilen Angebote der eTandem-Vermittlung, welche Lerner weltweit zusammen bringen. Im Zentrum für Fremdsprachenausbildung (ZFA) an der Ruhr-Universität Bochum gibt es z.B. den eTandem-Service für alle Sprachen der Welt. Während die Ruhr-Universität Bochum eher Einzeltandems via Internet organisiert, bietet das Sprachenzentrum der Universität Münster eTandem-Kurse an.

1.1.2.3Tandemforschung

In der wissenschaftlichen Literatur zum Fremdsprachenlernen im Tandem geht die Forschung häufig von zwei Aspekten aus. Einerseits ist immer wieder die Rede davon, dass die Interagierenden die sprachlichen Probleme im Tandem bearbeiten können und damit den Fremdspracherwerb fördern. Andererseits geht man davon aus, dass auch gerade die Vermittlung kultureller Wissensbestände gut möglich sei. Denn die Interagierenden fungieren als Experten ihrer jeweiligen Alltagskultur und Lebenswelt. Im Folgenden gebe ich einen Überblick über die bisherigen sprachwissenschaftlichen Tandemforschungen.

1.1.2.3.1Das Sprachenlernen im Tandem

In der Zweitspracherwerbsforschung wird das Sprachenlernen im Tandem wegen seiner besonderen Eigenschaften oft als eine Interaktionsform betrachtet, die zwischen dem gesteuerten und ungesteuerten Zweitspracherwerb durch Interaktion liegt. Zumal es Charakterzüge des ungesteuerten natürlichen Spracherwerbs zeigt, da die Lerner direkte Kontakte mit Muttersprachlern der Zielsprache haben und daher einen authentischen sprachlichen Input bekommen. Gleichwohl weist es Merkmale des gesteuerten Spracherwerbs auf, weil die Tandem-Interaktion in einem Lehr-Lern-Kontext stattfindet und Lehr-Lern-Aktivitäten darin eingebettet sind. Herfurth (1993) beschreibt dies so:

wie aus den bisherigen Ausführungen unschwer ersichtlich, ist eine nach dem Tandemprinzip ausgestaltete Begegnungssituation weder eindeutig eine Form natürlichen Spracherwerbs, noch eindeutig eine Form unterrichtlich organisierten Sprachenlernens, sondern liegt zwischen diesen beiden Polen. (Herfurth 1993: 28)

Schmelter (2004) benutzt in seiner Studie zum Tandem den Begriff „selbstgesteuertes Fremdsprachenlernen“. Dabei wird die Selbstverantwortung der Lerner für den gesamten Lernprozess wie z.B. die Lernziele, die Lernhandlungen und die Evaluation unterstrichen.

Forschungen über das Sprachenlernen im Tandem behandeln das Thema hauptsächlich unter Aspekten der Didaktik und des Spracherwerbs.

Herfurth (1993) beschäftigt sich mit der Form des Kurstandems. Konkret bezeichnet er diesen Lehr-Lern-Kontext als Begegnungssituation. Anhand von Interviews mit Kursleitern und Lernern, Fragebogen und (teilnehmenden) Beobachtungen vergleicht er Kurskonzeptionen von vier unterschiedlichen Tandemintensivkursen in den Universitäten Bochum-Oviedo, CIC Tandem San Sebastian, SIT Tübingen, TU Berlin-Ecole des Mines (Saint-Etienne) und arbeitet die didaktischen Handlungs- und Planungsdimensionen für das Fremdsprachenlernen im Tandem heraus. Herfurth geht anhand seiner Daten einerseits auf die sprachlichen Ebenen wie Sprachenwahl und Sprachenverteilung, Bedeutungsklärung und Korrekturen ein. Andererseits werden soziale und interkulturelle Aspekte wie Aufgabenstellungen, Vorgaben an Materialien, die Ausgestaltung der Kursleiterrolle und die Zuweisung von Lehrer-Lerner-Rollen an die Teilnehmer analysiert. Mit seinen Daten stellt er exemplarisch ein Konzept von didaktischen Leitlinien vor.

In Herfurths Studie wird ersichtlich, dass die beobachteten Kurstandem-Interaktionen in sehr unterschiedlicher Weise ablaufen. Sowohl spezifische als auch nicht spezifische Faktoren sind dabei zu beobachten. Zu Konstanten derartiger Lehr-Lern-Kontexte gehören „die Orientierung an einem Produkt, an einem Thema oder an Aufgabenstellungen, die Vorgabe bzw. freie Wahl der Sprache, Vorgaben an Materialien, für Formen der Bedeutungsklärung und Korrekturen, die Ausgestaltung der Kursleiterrolle und die Zuweisung von Lehrer-Lerner-Rollen an die Teilnehmer“ (Herfurth 1993: 225). Zugleich belegt er aber auch, dass der Sprachlernprozess nicht nur aufgrund dieser Konstanten der Kurstandemkonzeption umgesetzt wird. Es liegt an den Teilnehmern, wie sie mit ihren Gesprächspartnern gemeinsam die Tandeminteraktion verwirklichen. Dabei spielen mehrere Variablen (wie Intensität, Zeitpunkt, Form von Sprachwahl bzw. Sprachwechsel, Bedeutungsklärungen und Korrekturen) eine bedeutende Rolle. Nach Herfurth (1993: 226) kommt es bei der Gestaltung der Kurstandem-Interaktion einerseits auf die Einstellungen der Interaktanten bezüglich des Kommunikationsrahmens, andererseits auf eine gegenseitige Rollenzuschreibung der Gesprächspartner an. Das offene didaktische Konzept lässt einheitliche Didaktisierung nicht zu.

Schließlich macht Herfurth (1993: 228) anhand seiner Untersuchungsergebnisse didaktische Vorschläge auf vier Ebenen,

Interaktionsrahmen. Man soll viele unterschiedliche Kontexte für den Spracherwerb schaffen, um den Lernern möglichst vielfältige Interaktionsstrukturen modellhaft zur Verfügung zu stellen.

Gesprächsorganisation und didaktische Vereinbarung. Es ist wichtig, den Lernern zu vermitteln, wie sie ihre Gespräche organisieren können. Dabei handelt es sich um eine didaktische Vereinbarung z.B. über Sprachenwechsel, Intensität und Form von Bedeutungsklärungen und Korrekturen.

Vermittlung spezifischer kommunikativer Strategien und Verfahren. Um mögliche Verständnisprobleme in der Tandeminteraktion zu lösen und die Kommunikation zu erleichtern, brauchen die Gesprächspartner bestimmte Strategien, wie z.B. Einleitung der Korrekturen bzw. Reparaturen, Gliederungssignale und Auslösung der Missverständnisse.

Sensibilisierung für Prozesse exolingualer Kommunikation. Dafür wird vorgeschlagen, authentische Dokumente exolingualer Kommunikation zu analysieren und bewusst metalinguistische Reflexion zu initiieren.

Rost-Roth (1995) untersucht anhand von Aufnahmen von Tandem-Gesprächen und Tagebuchaufzeichnungen deutsch-italienische Einzeltandems. Das Ziel ihrer Untersuchung liegt darin herauszufinden, wie das Lernpotenzial im Tandem aussieht. Ausgehend von Kommunikationsstörungen (Ausdruck- und Verständnisschwierigkeiten), die wegen unterschiedlicher sprachlicher Kompetenzen der Interagierenden im Tandem entstehen, untersucht sie, wie die Spracherwerbspotenziale sich in Tandem-Interaktionen manifestieren und von den Beteiligten benutzt werden.

Aus dem Korpus von Rost-Roth ist zu erkennen, dass die Tandempartner unterschiedliche Verfahren bei Behandlungen der kommunikativen Störungen benutzen, wie Erklärungen der Wortbedeutungen, Aushilfen bei Wortsuchen und Korrekturen. Nach Rost-Roth zeigen die Muttersprachler im Tandem eine in jeder Hinsicht große Kooperationsbereitschaft. Nichtmuttersprachler lassen die Muttersprachler entweder explizit oder durch Signale wie Pausen, Zögern, Dehnungen wissen, dass ihnen der muttersprachliche Tandempartner beim Formulieren helfen soll. Für Rost-Roth ist es eine Besonderheit der Tandem-Interaktionen, dass die Korrekturverfahren, die in der Regel als gesichtsbedrohend empfunden werden, im Tandem aber als ein für den Spracherwerb positiver Prozess benutzt werden. Die Lehr-Lern-Situation im Tandem gestattet dem Nichtmuttersprachler, angstfrei fehlerhafte Formulierungen zu produzieren und dem Muttersprachler das Korrigieren, ohne dass er befürchten müsste, unhöflich zu sein.

Dabei werden die Behandlungsverfahren für die Kommunikationsstörungen besonders aufgrund des sprachlichen Systems (Lexik, Morphologie, Syntax, Phonetik) analysiert. Die Nebensequenzen, in denen die Tandempartner die sprachlichen Probleme mit verschiedenen Verfahren behandeln, sind jedoch nur lokal. Globale Aktivitäten, wie Hilfen der Muttersprachler beim Aufbau der Diskursstruktur durch z.B. Elizitierungen, Nachfragen, werden nicht einbezogen, schon gar nicht eine Kombination von lokalen und globalen Aktivitätstypen.

Während Herfurth (1993) und Rost-Roth (1995) Interaktionen im Kurstandem thematisieren, setzt sich Apfelbaum (1993) anhand von transkribierten Aufnahmen mit drei deutsch-französischen freien Einzeltandems, die an der Universität Aix-en-Provence vermittelt wurden, auseinander. In ihrer empirischen Studie geht es um drei Aspekte, nämlich Typen von Erzählungen im Tandem, Rollen der Muttersprachler beim Zustandbringen des Diskusmusters und Sprachlernaktivitäten innerhalb der Erzählungen der Nichtmuttersprachler.

Apfelbaum beschreibt in ihrer Studie hauptsächlich produktionsorientierte Verfahren. Sie unterscheidet „Selbsthilfe“ von „Fremdhilfe“. Unter „Selbsthilfe“ sind produktionsunterstützende Verfahren, mit denen die Lerner ihre eigenen Formulierungsschwierigkeiten in der Fremdsprache bearbeiten, zu verstehen. Mit „Fremdhilfe“ meint man produktionsunterstützende Verfahren, mit denen ein Element der Äußerung der Lerner von muttersprachlichen Tandempartnern bearbeitet wird.

Eine Besonderheit ihrer Studie liegt darin, dass sie nicht nur lokale Aktivitäten der Verständigungssicherung im Tandem, sondern auch globalstrukturelle Durchführung von Diskurseinheiten untersucht. Dabei thematisiert sie besonders die Rollen der muttersprachlichen Tandempartner. In Anlehnung an Quasthoffs Studie zur Erzählstruktur (1987) untersucht Apfelbaum vor allem drei Ebenen der Erzählstruktur:

Verfahren der muttersprachlichen Elizitierung einzelner Strukturteile

Bearbeitung von Problemmanifestationen bei der Durchführung der Erzählstruktur

Beteiligung der Muttersprachler an der Evaluation.

Aus der Untersuchung ergibt sich, dass erstens die muttersprachlichen Tandempartner in ihrem Korpus an der Erledigung aller für die Produktion narrativer Texte konstitutiven konversationellen Strukturteile beteiligt sind. Zweitens gibt es Abweichungen zwischen den Nichtmuttersprachlern und Muttersprachlern. Während die Nichtmuttersprachler bei der Bearbeitung von Problemmanifestationen häufig von sprachlichen Problemen ausgehen, sehen die Muttersprachler sie eher als semisprachliche oder enzyklopädische Probleme. Solche Problemmanifestationen können zwar von dem Muttersprachler in der Sprache des Tandempartners beseitigt werden, aber der Lerneffekt in diesen Nebensequenzen ist fraglich. Drittens wird das Erzählen nach Apfelbaum nicht von den Nebensequenzen über sprachliche Probleme beeinträchtigt, selbst wenn sie lang sind. Viertens ist die Zuhörerbeteiligung bei der Evaluation vom Sprachniveau des nichtmuttersprachlichen Erzählers abhängig. Je höher das Niveau des Erzählers in der Zielsprache, desto später setzen die ausgeprägten Formen von Partizipation des Muttersprachlers an der Evaluation ein.

Bei globalen Aktivitäten im Erzählen beschreibt Apfelbaum jedoch nur die produktionsunterstützenden Verfahren, mit denen die Muttersprachler den nichtmuttersprachlichen Erzählern bei Formulierungsschwierigkeiten in Bezug auf den Aufbau der Erzählstruktur helfen. Die muttersprachlichen Zuhörer fungieren allerdings beim Erzählen ihrer Partner als Laienlehrpersonen. Aktivitäten, die die Erzähler nicht unterstützen oder das Lernpotenzial im Tandem nicht fördern können, bleiben jedoch unerforscht. Es lohnt sich aber, die unprofessionellen Aktivitäten der Zuhörer als Laienlehrpersonen im Tandem zu untersuchen, wenn man das Lernpotenzial in Tandem-Interaktion fördern möchte. Denn das Verhalten der Zuhörer spielt beim Sprachenlernen des Erzählers eine wichtige Rolle.

1.1.2.3.2Das interkulturelle Lernen im Tandem

Neben der Forschung von Tandem-Interaktionen aus linguistischer Perspektive wird die Dimension des interkulturellen Handelns und Lernens auch häufig debattiert.

Die bisher systematischste Untersuchung des interkulturellen Lernens im Tandem liegt von Bechtel (2003) vor. Bechtels Untersuchung basiert auf umfangreichen empirischen Interaktionsdaten von Studierenden in Tandemkursen. In seinem Korpus geht es um einen „extensiven, universitären, deutsch-französischen Tandemkurs“, an dem deutsche Studierende der Romanistik (Französisch) und französische Studierende der Germanistik teilnahmen (Bechtel 2003: 13). Mit diskursanalytischer Methode untersucht er die Möglichkeiten und Grenzen des interkulturellen Lernens im Tandem. Anhand von sieben Fallbeispielen werden Prozesse interkulturellen Lernens beim Sprachenlernen im Tandem beschrieben und analysiert. Dabei stützt er sich auf einen möglichst umfassenden Kulturbegriff, den er von Bredella und Christ (1995) übernimmt und der die Gleichwertigkeit der Kulturen unterstreicht (Bechtel 2003: 51). Mit seinem Perspektivenmodell, das er aufgrund des Modells von Kramsch (Bechtel 1993: 208) für die Beschreibung des interkulturellen Lernens im Tandem entwickelt hat, führt Bechtel seine empirische Untersuchung anhand transkribierter Daten aus.

Aufgrund seiner empirischen Untersuchung weist Bechtel darauf hin, dass das Lernen der interkulturellen Dimension im Tandem sowohl positive als auch negative Seiten hat. Einerseits ist mit dem interkulturellen Lernen im Tandem damit zu rechnen, dass es erstens vielfältige Möglichkeiten beinhaltet, unterschiedliche Perspektiven in die Lehr-Lern-Situation Tandem einzubringen (Bechtel 2003: 365). Zweitens werden bei Kulturvergleichen nicht nur kulturelle Unterschiede, sondern auch Gemeinsamkeiten in der Interaktion von Angesicht zu Angesicht wahrgenommen (Bechtel 2003: 366). Drittens bietet die Tandemarbeit ein Anwendungs- und Erprobungsfeld für interkulturelles Lernen (Bechtel 2003: 367).

Allerdings gibt es nach Bechtel auch Grenzen der Tandemarbeit in Bezug auf das interkulturelle Lernen. Erstens ist die Tandem-Interaktion ein individueller Prozess, der auf einer persönlichen Sympathie fußt. Die Grenze wird erreicht, wenn die Tandempartner nicht bereit sind, etwas von sich preiszugeben (Bechtel 2003: 368). Zweitens stellt sich die Frage, inwieweit die von den Tandempartnern gegebenen Antworten in Bezug auf kulturelle, insbesondere landskundliche Informationen richtig, repräsentativ und vollständig sind (Bechtel 2003: 367). In direkter Interaktion mit dem muttersprachlichen Tandempartner bekommt der Lerner zwar „authentische, aktuelle, lebensnahe Auskünfte über die fremde Kultur“ (Bechtel 2003: 369). Aber diese Informationen über die Zielkultur wird von der Subjektivität des Muttersprachlers geprägt und kann die „Komplexität und Heterogenität der fremden Kultur“ (Bechtel 2003: 369) nicht gut reflektieren. Drittens geht es beim interkulturellen Lernen auch darum, die interkulturelle Handlungskompetenz der Lerner zu fördern. Sie sollten befähigt werden, sich der geistigen Prozesse, die beim interkulturellen Lernen eine Rolle spielen (Wahrnehmung, Kulturvergleich, Perspektivenübernahmen), bewusst zu werden und sie in Zukunft angemessen anzuwenden. Die Tandempartner als Laienlehrpersonen sind aber überfordert, solche Prozesse bewusst zu machen.

Anhand von Gesprächsausschnitten analysiert Qian (2013) Kulturreflexion im Sprachlerntandem zwischen deutschen und chinesischen Lernern. Sie zeigt dabei auf, wie die Erwartungen an die Erklärung kultureller Phänomene seitens der deutschen Muttersprachler und der chinesischen Lerner auseinandergehen. Die Ergebnisse der empirischen Untersuchung verdeutlichen, wie die muttersprachlichen Tandempartner die kulturellen Vorstellungen der chinesischen Lerner bagatellisieren und eigene Praktiken entgegenhalten, ohne diese näher zu thematisieren. Mögliche Gründe dafür könnten sein:

Die Gründe liegen einerseits vermutlich darin, dass die fremde Kultur für die Ausländer interessant ist (wie z.B. die folkloristischen Elemente), für die Einheimischen hingegen normal. Andererseits verlangt es fachliches Wissen, um spezifische kulturelle Fragen beantworten zu können. Das können nicht alle deutschen Studierenden leisten. (Qian 2013: 71)

1.1.2.3.3Beratungen und Begleitungen

Ein weiteres Gebiet der Tandemforschung, das sich in den letzten Jahren schnell entwickelt hat, behandelt Beratungen und Begleitungen für Tandem-Interaktionen. Darunter sind Anleitungen bei der Reflexion eigenen Handelns im Tandem zu verstehen. Dabei werden Leitfaden und Materialien für das Lernen entwickelt. In der Praxis stehen verschiedene Beratungsangebote an unterschiedlichen Hochschulen zu Verfügung.

Holstein/Oomen-Welke (2006) stellten aufgrund der Fachliteratur sowie langjährigen eigenen Erfahrungen mit dem Freiburger Tandem-Büro der Pädagogischen Hochschule, aus der Tandem-Vermittlung der Universität Gießen und bei der Fundazioa Tandem einen ausführlichen und umfangreichen Leitfaden für das Sprachenlernen im Tandem zusammen. Darin werden theoretische Prinzipien und praktische Tipps für den Ablauf der Tandemarbeit vorgestellt. In dem von Baguette et al. (2001) herausgegebenen Buch wird ein Leitfaden speziell für die schulischen Tandem-Interaktionen beschrieben. Das Sammelwerk von Brammerts/Little (1996) gibt einen Überblick über das Sprachenlernen im Tandem im Internet. Eine wissenschaftliche Untersuchung, die das Sprachenlernen im Tandem aus der Perspektive von Beratungen und Begleitungen umfassend und systematisch erforscht, liegt in Schmelters (2004) Studie vor. Schmelter untersucht die Tandemarbeit anhand empirischer Daten. Sein Korpus besteht aus Eingangs-und Abschlussinterviews (als Beratungsgesprächen), Beobachtungen der Tandemsitzungen, Kommentierungen der Lerner zu den Sitzungen und Tagebüchern. Während Beratungsangebote im Tandembereich geschätzt werden, weist Schmelter in seiner Studie aber auf verschiedene problematische Aspekte der Beratungen für die Tandemarbeit hin.

Eine grundsätzliche Problematik für Beratungsangebote liegt nach Schmelter darin, dass die Lerner den Bedarf nicht erkennen, Beratungsgespräche für Tandem zu nutzen (Schmelter 2004: 343). Oft wissen sie nicht, dass die vorhandenen Situationen mehr Möglichkeiten für das Lernpotenzial bieten können, als ihnen momentan bewusst ist. Zweitens stellt sich dann die Frage, ob der Beratungsbesuch zur Verpflichtung werden sollte (Schmelter 2004: 344). Das würde einerseits gegen das autonome Lernprinzip des Tandems stehen. Andererseits würde die Motivation zum Lernen nicht ausreichend geweckt. Drittens geht es um das Verhalten und die Rolle der Berater. Inwieweit dürfen die Berater in das selbstgesteuerte Lernen im Tandem eingreifen, ohne den eigentlichen Charakter der Tandem-Interaktion aufzuheben (Schmelter 2004: 344) ?

Es würde sich lohnen, solche Problematiken zu untersuchen. Das wäre nicht nur für die Verbesserung der Beratungsangebote nützlich, sondern auch für einen besseren Einblick in das subjektive Empfinden der Lerner. Nach Schmelter (2004: 329) fehlen bislang systematisch erhobene empirische Befunde zu der Frage, welcher Lerner aus welchen Gründen und mit welchen Zielen die Beratung in didaktischen Umfeldern zum selbstgesteuerten Lernen aufsucht.

Das Problem, dass die Tandempartner das Lernpotenzial in dieser Situation ungenügend kennen, unterstreicht auch Brammerts (2006). Seiner Beobachtung zufolge wissen die Lerner nicht, über ihre eigenen „Lernziele und Lernwege“ (Brammerts 2006: 6) zu entscheiden. Denn, so schreibt er:

Sie verstehen den Partner als persönlichen fremdsprachigen Kommunikationspartner, verlassen sich darauf, dass man durch Kommunikation mit einem native speaker immer etwas lernt, und behalten in der Regel auch Recht damit. (Brammerts 2006: 6)

Ausgehend davon, die Chancen in diesem besonderen Lehr-Lern-Kontext zu erhöhen, schlägt Brammerts (2006) vor, den Tandemlernern Unterstützungen zu bieten, damit sie die Möglichkeiten zum Erreichen ihrer Ziele optimal nutzen können. Brammerts (2006: 6–8) benennt folgende Maßnahmen auf verschiedenen Ebenen, die als Hilfestellung für das Tandemlernen angeboten werden:

Bereitstellung von Informationen (Erklärungen, Anleitungen, Grundregeln, Tipps)

Anregungen für die Tandemarbeit

Anregungen zur Reflexion für den einzelnen Lerner

Anregungen zur Reflexion innerhalb der Tandempaare

gelenkte Reflexion in Gruppen

Paarberatung

individuelle Beratung.

Reinecke (2013) stellt ihre Erfahrungen von und mit Studierenden in der Tandemberatung vor. In ihrem Aufsatz betont sie die grundsätzliche Problematik, dass die Angebote der Tandemberatung nicht von den Lernern genügend genutzt werden. Dazu schreibt sie wie folgt:

Während sich dabei einerseits sehr positive Tendenzen abzeichnen – das Tandem wird von den Studierenden gut angenommen und engagiert durchgeführt – weisen die bisher erhaltenen Ergebnisse und Rückmeldungen aber auch auf ein nicht untypisches Problem von Beratungsangeboten hin: Sie werden von Betroffenen theoretisch für sinnvoll erachtet, aber nicht unbedingt genutzt. (Reinecke 2013: 77–78)

In Anlehnung an die oben genannten Untersützungsformate von Brammerts (2006: 6–8) weist sie anhand ihrer Erfahrungen darauf hin, dass man bei der Tandemberatung „Lernstrategientraining“ von „Autonomieförderung“ (Reinecke 2013: 81) unterscheiden soll. Denn es ist in der Praxis zu beweisen, dass die Vermittlung des strategischen Wissens (wie Bedeutungserklärungen, Korrekturen, Gliederungssignale) relativ problemlos ist. Aber die Förderung der Autonomie im Tandem soll sich nicht auf die Vermittlung der technischen Aspekte beschränken.

Angesichts dieser Tatsache schlägt die Autorin vor, die beiden unterschiedlichen Begleitangebote für das Tandemlernen – „Lernstrategientraining“ und „Autonomieförderung“ – institutionell-personell voneinander zu trennen. Ihrer Meinung nach könnte die Strategienvermittlung die Aufgabe der Lehrenden sein, während die Angebote zur Autonomieförderung durch eine Einrichtung (wie Tandembüro) durchgeführt würde (Reinecke 2013: 101). Das Ziel dieser Umstrukturierung soll darin liegen, das Potenzial des Strategientrainings und der Lernerautonomie im Tandemlernen zu verbessern.

1.2Zusammenfassung

Ein Überblick über den bisherigen Forschungstand im Bereich von Interaktion und Zweitspracherwerb verdeutlicht, dass Interaktionen verschiedene Lehr- und Lernpotenziale für den Zweitspracherwerb bieten. Während die Aktivitäten der Lerner ohne Zweifel im Mittelpunkt stehen, werden aber die Rollen der kompetenten Interaktionspartner sowohl im gesteuerten als auch im ungesteuerten Zweitsprachwerb betont. Im gesteuerten Zweitspracherwerb werden die Ziele der Interaktionen, die Beteiligung der Lerner, der Ablauf der Interaktionen und der Erwerbsprozess von Lehrpersonen bestimmt. Im ungesteuerten Zweitspracherwerb gibt es zwar keine Lehrpersonen im didaktischen Sinne, jedoch stellen die Gesprächsparter (in den meisten Forschungen Muttersprachler) Laienlehrpersonen dar. Ihr sprachliches Verhalten und ihre Strategien üben einen Einfluss auf den stattfindenden Erwerbsprozess für die Lerner in der Interaktion aus.

Als eine besondere Interaktionsform für Fremdsprachenlernen erlangt das Tandem-Konzept in den letzten Jahren zunehmend wissenschaftliches Interesse. Die Darstellung der jungen Tandemforschung zeigt, dass diese Lehr- und Lernform aus unterschiedlichen Perspektiven untersucht wird. Während das Fremdsprachenlernen schon immer einen wichtigen Platz in der Forschung einnimmt, wird das interkulturelle Lernen im Tandem vermehrt thematisiert. Eine Tendenz sehen wir ebenfalls im Forschungsbereich der Beratungen und der Begleitungen des Tandemlernens.

Im Hinblick auf die Daten bzw. die Methode der bisherigen Forschung ist zu beobachten, dass sie vorwiegend durch quantitative und qualitative Methoden (Interviews, Umfragen, teilnehmende Beobachtungen, Tagebuchaufzeichnungen), geprägt ist (wie Herfurth 1993, Schmelter 2004, Brammerts 2006, Reinecke 2013). Wenige interaktionsorientierte Untersuchungen basieren auf empirischen Gesprächsdaten (Apfelbaum 1993, Rost-Roth 1995, Bechtel 2003) und folgen sprachwissenschaftlichen Ansätzen. Eine systematische Untersuchung des interkulturellen Lernens im Tandem leistet Bechtels Studie (2003) mit einer diskursanalytischen Methode. In der Forschung über das Fremdsprachenlernen gelten Apfelbaum und Rost-Roth als die ersten, die die Gesprächsabläufe in Tandeminteraktion mit konversationsanalytischer Methode untersuchen. Die beiden sprachwissenschaftlichen Forschungen ermöglichen einen Blick in die konkrete Interaktion im Tandem.

Die konversationsanalytische Methode erhellt die Tandeminteraktion genauer und konkreter. Herfurth (1993: 225) weist ebenfalls darauf hin, dass „weitere Aufschlüsse zur Einschätzung des Spracherwerbs in Begegnungssituationen sich durch eine konversationsanalytische Untersuchung von Sequenzen realer Gesprächsabläufe der Begegnungen ergeben“ sollten. Die vorliegende Arbeit versteht sich als eine konversationsanalytische Untersuchung zum Fremdsprachenlernen im Tandem. Im folgenden Kapitel werde ich die Forschungsmethode und die Konversationsanalye vorstellen.

2Untersuchungsmethode

2.1Konversationsanalytischer Ansatz

Mit der Konversationsanalyse bezeichnet man einen Forschungsansatz, der sich mit der Analyse natürlicher Gesprächsdaten befasst. Nach Bergmann (2001) setzt sich die Konversationsanalyse mit „der Untersuchung von sozialer Interaktion als einem fortwährenden Prozess der Hervorbringung und Absicherung sinnhafter sozialer Ordnung“ (Bergmann 2001: 919) auseinander.

Der Ursprung der Konversationsanalyse ist auf die amerikanische ethnomethodologische Soziologie in den 1960er zurückzuführen. Die von Harold Garfinkel (1967) begründete Ethnomethodologie versteht sich als ein „Forschungsprogramm, das sich mit den Methoden der Konstitution sozialer Wirklichkeit und sozialer Ordnung im Alltagshandeln der Gesellschaftsmitglieder befasst“ (Streeck 1987: 672). Im Hinblick auf die soziale Ordnung sind für die Ethnomethodologie interaktive Hervorbringungen statt vorgegebener Normen entscheidend. Das heißt, die soziale Wirklichkeit wird nicht ex ante festgelegt, sondern durch die Gesellschaftsmitglieder in ihrem Handlungsverlauf hergestellt. Das Hauptinteresse der Ethnomethodologie besteht in der Genese der Wirklichkeitsproduktion und der alltäglichen Sinnerzeugung.

Die Entwicklung des ethnomethodologischen Forschungsprogramms zur Konversationsanalyse ist Harvey Sacks zu verdanken. Während Garfinkel soziale Handlungen mittels vielfältiger Beobachtungsverfahren untersucht, führt Sacks als einer der ersten Wissenschaftler die Tonaufzeichnung für systematische Forschungen der sozialen und sprachlichen Ordnung ein. Zusammen mit Emanuel Schegloff und Gail Jefferson leistet er einen wichtigen Beitrag zur Entstehung und Weiterentwicklung der Konversationsanalyse. Ihr Interesse richtet sich vorwiegend auf allgemeine Mechanismen, die Interaktionen in der Gesellschaft erzeugen. Ausgehend von dem Ausspruch „There is order at all points“ (Sacks 1984: 22), weist Sacks darauf hin, dass jedes Detail der Interaktion ein Untersuchungsobjekt sein kann. Anhand solcher Details lassen sich die formalen Methoden und Verfahren entdecken, die die Beteiligten zur Abwicklung alltäglicher kommunikativer Handlungen verwenden. Die Konstitution der sozialen Ordnung durch die Handlungen der Gesellschaftsmitglieder ist dadurch zu erkennen. Wie kommunizieren die Menschen? Wie werden Ge