Sprachliche Bildung - Elvira Topalovic - E-Book

Sprachliche Bildung E-Book

Elvira Topalovic

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Beschreibung

Spracherfahrungen, die Kinder vor der Schule machen, werden in den Bildungsstandards als Ausgangspunkt für die schulische Sprachbildung verstanden - und das gilt auch für die späteren schulbiographischen Übergänge. Zum Professionswissen von Lehrkräften gehört es daher auch, linguistisch, spracherwerbstheoretisch, didaktisch und methodisch fundiert mit folgenden Fragen umgehen zu können: Wie werden Sprachen erworben und wie entwickeln sich Sprachhandlungsfähigkeiten weiter? Wie können die Sprach(en)repertoires von Lernenden modelliert werden? Wie kann eine durchgängige Sprachbildung von der Primar- bis hin zur Oberstufe gestaltet werden? Und schließlich: Wie können die sprachlichen Entwicklungs- und Bildungsprozesse analysiert und beim sprachlichen und fachlichen Lernen in einem adaptiven Unterricht unterstützt werden? Dieser Band vermittelt (angehenden) Lehrkräften Hintergrundwissen und Handlungssicherheit für das Gestalten sprachlicher Bildungsprozesse in Schule und Unterricht.

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Elvira Topalović / Julia Settinieri

Sprachliche Bildung

DOI: https://doi.org/10.24053/9783823392651

 

© 2023 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetztes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich.

 

Internet: www.narr.deeMail: [email protected]

 

ISSN 2566-8293

ISBN 978-3-8233-8265-2 (Print)

ISBN 978-3-8233-0495-1 (ePub)

Inhalt

1  Einleitung2  Sprache(n) erwerben2.1 Erwerbstypen: L1, L2 … – Erstsprache, Zweitsprache …2.2 Statt Semilingualismus: Emergenter Spracherwerb2.3 Spracherwerb: Von Theorien und Lernersprachen2.4 Erwerbssequenzen und Meilensteine2.5 Aufgaben2.6 Weiterführende Literatur3  Sprach(en)repertoires: Mehrsprachig sein3.1 Innere und äußere Mehrsprachigkeit3.2  Konzeptionelle Mündlichkeit/Konzeptionelle Schriftlichkeit3.3 Orat und literat: Spracherwerb als Sprachausbau3.4 BICS und CALP3.5  Alltagssprache – Bildungssprache – Fachsprache3.6  Aufgaben3.7 Weiterführende Literatur4  Durchgängige Sprachbildung4.1 Vertikale und horizontale Dimensionen4.2  Gelingensbedingungen und Qualitätskriterien4.3 Aufgaben4.4 Weiterführende Literatur5  Sprachliches Lernen5.1 In der Zone der nächsten Entwicklung lernen5.2 Sprach(en)bewusstheit entwickeln5.3 Über Sprache(n) sprechen5.4 Mehrsprachig (vor)lesen5.5 Aufgaben5.6 Weiterführende Literatur6  Fachliches Lernen6.1  Scaffolding6.1.1 Makro- und Mikro-Scaffolding6.1.2 Planungsrahmen6.1.3 Unterrichtsphasierung6.2 Unterrichtsmaterialien6.3  Unterrichtsinteraktion6.4 Ausblick6.5 Aufgaben6.6 Weiterführende Literatur7  Sprachentwicklung analysieren7.1 Zielsetzungen und Normen7.2 Sprachdiagnostische Grundverfahren7.2.1 Tests7.2.2 Profilanalysen7.2.3 Sprachdiagnostische Verfahren im Vergleich7.3 Lernersprachenanalyse7.4 Zusammenfassung7.5 Aufgaben7.6 Weiterführende LiteraturLösungshinweise zu den AufgabenKapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7AbkürzungsverzeichnisLiteratur

1 Einleitung

Die Frage, was genau sprachliche Bildung bedeutet, ist nicht leicht zu beantworten. In manchen Einführungen wird sprachliche Bildung von literarischer und medialer Bildung (im weiteren Sinne auch digitaler Bildung) unterschieden. Damit werden die Bereiche Sprache, Literatur und Medien – und die wissenschaftlichen Teildisziplinen Sprachdidaktik, Literaturdidaktik und Mediendidaktik – in ihrer Besonderheit gestärkt (vgl. Frederking/Krommer/Maiwald 2018). Ihre Schnittstellen treten zunächst in den Hintergrund. Zuweilen wird sprachliche Bildung auch mit dem Erwerb von Bildungssprache gleichgesetzt und beide – je nach wissenschaftlicher (Teil-)Disziplin oder Forschungsdiskurs – mit dem Erwerb konzeptioneller Schriftlichkeit, literater Sprachstrukturen, von Cognitive Academic Language Proficiency (= CALP) oder sprachlich-kulturellem Kapital (→ 3). Allen gemeinsam ist, dass sie jeweils sprachliche Ausbauprozesse bzw. Sprachhandlungsfähigkeiten in den Blick nehmen, die in der Schule in besonderem Maße initiiert, begleitet und unterstützt werden sollen. Unabhängig von der gewählten Definition sind zwei Schlagwörter grundlegend: einerseits Sprache und damit ein für die Gattung Mensch spezifisches Kommunikationssystem, das Kinder in kulturellen Rahmungen erwerben, und andererseits Bildung, die in literalen Gesellschaften nicht nur in Familien, sondern auch institutionell in Bildungseinrichtungen erworben wird – von der Kita bis hin zu Berufskolleg oder Universität, letztlich jedoch ein Leben lang. Eine sowohl kultur- als auch – im aktuellen bildungspolitischen Diskurs – kompetenzorientierte Definition von Bildung bieten Kilian/Brouër/Lüttenberg (2016, XI) an:

„Unter Bildung wird Konstruktion, Konstitution und Transfer kulturell geprägten Wissens und Könnens verstanden […]. Dabei umfasst die Begriffsbedeutung sowohl den Prozess als auch das Produkt dieser Wissensformung und -übergabe.“

Was sprachliche Bildung an sprachlich-kommunikativen Fähigkeiten implizieren kann, wird über die sprachlichen Grundfertigkeiten deutlich:

(Zu)hören

Sprechen

Schreiben

Lesen

Erweitert um die Inklusionsperspektive könnten ergänzt werden:

Gebärden

Gebärden verstehen

Unterteilen kann man die sechs Grundfertigkeiten auch in a) rezeptive (verstehende) Sprachfähigkeiten und b) produktive (handelnde) Sprachfähigkeiten. Sie gelten für jede Sprache und finden sich auch in den Bildungsstandards von der Primarstufe bis zur Allgemeinen Hochschulreife. Die Fähigkeit zu bestimmten Sprachhandlungen brauchen Lernende im Unterricht aller Fächer. Hier kommen Sprachhandlungen vor wie: ERZÄHLEN, BESCHREIBEN, ERKLÄREN, ARGUMENTIEREN, ERÖRTERN. Sie erscheinen in Aufgabenstellungen häufig als Handlungsanweisungen (Operatoren).1 Eine Fähigkeit, die sich auf den ersten Blick nicht aus den Grundfertigkeiten ableiten lässt, ist die Sprachbewusstheit bzw. Sprach(en)bewusstheit. Sie ist explizit das Ziel des Lernbereichs „Sprache und Sprachgebrauch untersuchen“ und wird häufig mit Schlagwörtern verbunden wie Sprachreflexion, Sprachaufmerksamkeit oder Language Awareness.

„Sprachbewusstheit zielt darauf ab, das menschliche Sprachvermögen besser zu verstehen, seine Rolle beim Denken, Lernen und im sozialen Leben zu begreifen, sich der Macht und Kontrolle durch Sprache bewusst zu werden und die verwickelten Beziehungen zwischen Sprache und Kultur zu erkennen. Es kommt darauf an, dass Schüler Sprache als einen lebendigen Teil ihres eigenen Menschseins erleben, verstehen und kritisch begleiten und so sich selbst und andere besser verstehen lernen.“ (Steinig/Huneke 2011, 184)

Streng genommen ist sie jedoch – zumal in einem integrativen Deutschunterricht – Ziel aller Lernbereiche des Deutschunterrichts. Sprachbewusstheit ist aber nicht nur im Fach Deutsch, sondern in allen schulischen Fächern von großer Bedeutung. Denn fachliches Lernen ist immer auch sprachliches Lernen. Mehr noch: Sprachfähigkeiten entscheiden mit über den Erwerb fachlicher Fähigkeiten, z. B. im Fach Mathematik (vgl. Prediger et al. 2013). Zu beachten ist, dass auch das Fach Deutsch natürlich ein „Fach“ ist und hier also in besonderer Weise sprachliches und fachliches Lernen zusammenfallen (z. B. bei grammatischer Terminologie oder literarischen Gattungen).

Der Erwerb von Sprache wird häufig mit dem Erwerb und dem Zusammenhang von zwei sprachlichen Bereichen verknüpft: Wortschatz und Grammatik (vgl. z. B. Szagun 2013). Beiden wird nicht selten auch eine besondere Rolle im Deutschunterricht zugewiesen. Gesprochen wird dann von „Wortschatzarbeit“ und „Grammatikarbeit“. Gleichwohl wird ihre Vernetzung gefordert. Da sie „sprachfördernde Funktionen“ haben, sollten sie „nicht zum Selbstzweck unterrichtet werden“ (Oomen-Welke/Kühn 2011, 140). Wir erwerben allerdings nicht nur Sprachsysteme, die rein linguistisch beschrieben werden können (z. B. auf der Ebene der Morphologie, Syntax oder Semantik). Wir wachsen sprachlich auch in eine Welt hinein, ein soziales Umfeld, in dem bestimmte Werte und Normen gelten. Und diese beeinflussen unser Wahrnehmen und Fühlen, unser Denken und Handeln, unsere eigenen Werthaltungen und Einstellungen. Spracherwerb ist also immer auch der Erwerb einer Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft, einer Gemeinschaft, einer Gruppe und damit auch der Erwerb von Kultur und Identität. Oder anders gesagt: Kinder erwerben Sprache über verschiedene (interaktive) Formate, die immer „in eine kulturelle Matrix“ (Bruner 2002, 102) eingebunden sind. Sprache(n) zu erwerben, bedeutet also immer auch, Kultur(en) zu erwerben. In mehrsprachigen Gesellschaften sind die sprachlichen und kulturellen Zugehörigkeiten selbstredend komplex. Zu Mehrsprachigkeit kommt es unter anderem durch das Miteinander von Dialekt, Umgangssprache und Standardsprache, aber auch von Fremd- und Migrationssprachen. In der Migrationspädagogik wird entsprechend vermehrt von „Transnationalem“, von „Mehrfachzugehörigkeiten“, von „Hybridität“ gesprochen (vgl. z. B. Castro Varela/Mecheril 2010, 51ff.). Auch Identitäten sind dann hybrid bzw. fluid zu denken. Sprachliche Bildungsprozesse erfassen im Idealfall die Gesamtheit der sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten, die einem Individuum zur Verfügung stehen, d. h. sein gesamtes Sprach(en)repertoire.

Wir werden die sprachliche Bildung begrifflich weit fassen und auch „ästhetische Zugänge zu sprachlicher Bildung“ (Steinbrenner 2018, 15) thematisieren. Die eingangs formulierte künstliche Trennung von Sprache, Literatur und Medien wird damit wieder aufgehoben. In den Blick genommen werden dann sowohl die Literalität, die Wissen über Schrift(kulturen) und damit über Lese- und Schreibkultur(en) meint, als auch die Literarität – im Sinne von Erfahrungen mit literarischen Stoffen und Motiven. Mit anderen Worten: Literacy. Wird Literacy weiter ausdifferenziert, dann können nach Kümmerling-Meibauer (2012) unterschieden werden:

Verbal Literacy (Sprache)

Visual Literacy (Bilder, Symbole)

Literary Literacy (Literatur)

Media Literacy (Printmedien/AV-Medien)

Erweitert um die Digitalkultur kann auch von 5. Digital Literacy gesprochen werden. Nun kann Literacy gleich in mehreren Sprachen (d. h. multilingual) und mehreren Modi ausgebildet werden, d. h. „with linguistic, visual, audio, gestural and spatials modes of meaning […] in everyday media and cultural practices“ (Cope/Kalantzis 2009, 166) (vgl. Kasten). Entsprechend wird auch von Multiliteracies oder Multiliteralität und Multiliterarität gesprochen.

Multilingual meint die Integration mehrerer Sprachen (lat. lingua ‚Zunge‘).

 

Multimedial meint die Integration mehrerer Medien (analoger/digitaler Speichermedien u. a.), z. B. Buch, Film und Hörbuch.

 

Multicodal meint die Integration mehrerer Codes (Zeichen-/Symbolsysteme), z. B. Gesten und Lautsprache oder (Schrift-)Text und Bild.

 

Multimodal meint die Integration mehrerer Modi (Sinne), z. B. des visuellen (Sehen) und auditiven (Hören) Sinns. Multimodal wird häufig auch als Oberbegriff für multicodal und multimodal gebraucht und umfasst dann mehrere Codes und Modi (zur Abgrenzung u. a. von Multimodalität und Multicodalität vgl. z. B. Weidenmann 2002).

Um die (sub)kulturelle, sozial-situative und diskursiv-interaktionale Geprägtheit sprachlicher Bildungsprozesse, aber auch ihre Mehrdimensionalität, Mehrsprachigkeit und Multimodalität zu verdeutlichen, wollen wir das IALT-Sprachmodell nutzen.2 Es orientiert sich sprachtheoretisch an Martin/Rose (2008) und steht für das sprachliche Konzept von EUCIM-TE (= European Core Curriculum for Mainstreamed Second Language Teacher Education). Im Rahmen dieses multilateralen Comenius-Projekts wurde das European Core Curriculum for Inclusive Academic Language Teaching (= ECC IALT) entwickelt, das sprachliches und fachliches Lernen in Zweitsprachen miteinander verbindet (vgl. EUCIM-TE 2011). Wir haben das IALT-Sprachmodell weiter ausdifferenziert und adaptiert (= AA-IALT-Sprachmodell). Dabei haben wir auch das Fünf-Ebenen-Modell von Rose (2018) mit einbezogen. Die in Klammern gesetzten Pluralformen sollen sowohl die Dynamik als auch die Variabilität (z. B. in der begrifflichen Weite) symbolisieren: So kann der Kulturkontext weiter gefasst werden (z. B. regional, national, gesamtgesellschaftlich), aber auch enger; er bezieht sich dann z. B. auf Schul-, Fach- und Unterrichtskultur(en).

Abb. 1:

Ausdifferenziertes und adaptiertes IALT-Sprachmodell (= AA-IALT-Sprachmodell)

Das AA-IALT-Sprachmodell ist ausdifferenziert, weil es Ansätze verschiedener Wissenschaftsdisziplinen miteinander verbindet. Dazu gehören neben der systemisch-funktionalen Linguistik (SFL) die ethnomethodologische Konversationsanalyse, die Psycholinguistik, die Varietätenlinguistik, die Text- und Gesprächslinguistik, aber auch die Literacy-Forschung und die Mehrsprachigkeitsforschung und -didaktik. Darüber hinaus bezieht das Modell die Multimodalität von Kommunikation mit ein (z. B. Text-Bild-Relationen verstehen; Gestik und Lautsprache gebrauchen). Und es berücksichtigt die Sprach(en)repertoires der Lernenden, die in der Schule weiterentwickelt werden. Das AA-IALT-Sprachmodell ist adaptiert, weil es in Anlehnung an Rose (2018) alle linguistischen bzw. (schrift)sprachlichen Ebenen aufnimmt, bis hin zur Graphematik und Gebärden. Es beschränkt sich also nicht wie das IALT-Modell vor allem auf die Bereiche Grammatik und Wortschatz (vgl. EUCIM-TE 2011, 14; Quehl/Trapp 2015, 24). Und darüber hinaus: Wir sehen das Modell als grundlegend fürjeden sprachlichen Erwerb (Erstspracherwerb, Zweitspracherwerb usw.) und für Sprachbildungsprozesse in allen Schulfächern an. Gemeint sind dann z. B. sowohl naturwissenschaftliche Fächer als auch alle sprachlichen Fächer – ganz im Sinne eines Gesamtsprachencurriculums (vgl. Hufeisen/Topalović 2018). Auf die jeweiligen Ebenen des AA-IALT-Sprachmodells werden wir in den jeweiligen Kapiteln zurückgreifen. Die verschiedenen Perspektiven auf Sprache schließen sich dabei nicht gegenseitig aus, sondern ergänzen sich. Wenn es z. B. um die Unterscheidung von Alltags-, Bildungs- und Fachsprache geht (→ 3.5), thematisieren wir bei den Varietäten den Register-Begriff von Halliday (1985), aber auch die „bildungssprachlichen Praktiken“ nach Morek/Heller (2019).

Die multimodalen Literacy-Erfahrungen, die Kinder vor der Schule in Familie und Kita machen, werden in den Bildungsstandards und Lehrplänen für das Fach Deutsch als „Ansatzpunkte für die weitere systematische Anbahnung bildungssprachlicher Kompetenzen im Sinne einer durchgängigen Sprachbildung“ (NRW-Lehrplan 2021, 11) verstanden. Zum Professionswissen von (angehenden) Lehrkräften gehört entsprechend auch linguistisches, spracherwerbstheoretisches, didaktisches und methodisches Wissen, das in den folgenden Kapiteln dargelegt wird:

Kapitel 2 beschreibt, wie Sprachen erworben und weiterentwickelt werden. Der Schwerpunkt liegt auf theoretischen und empirischen Ergebnissen, die von schulischer Relevanz sind.

Kapitel 3 zeigt, wie die Sprach(en)repertoires der Lernenden modelliert werden können. Es führt Modelle unterschiedlicher Forschungstraditionen zusammen, die die gesamte Bandbreite an mündlichen und schriftlichen Sprach(handlungs)fähigkeiten abzubilden versuchen.

Kapitel 4 ist der durchgängigen Sprachbildung gewidmet. Der kontinuierliche Sprachausbau – insbesondere auch in schulischen Kontexten – wird dabei als Selbstverständlichkeit verstanden, gültig für alle Menschen mit all ihren Sprachen und Sprachvarietäten.

Kapitel 5 zeigt Möglichkeiten, wie Lernende in einem integrativ-inklusiven Deutschunterricht ihre Sprach(en)repertoires für sprachliches und literarischesLernen nutzen können. Ein Schwerpunkt liegt auf der Entwicklung von Sprach(en)bewusstheit.

Kapitel 6 setzt den Fokus auf sprachliches und fachlichesLernen und stellt verschiedene Konzepte und Methoden für sprachbildenden Fachunterricht vor, z. B. Planungsrahmen innerhalb von Scaffolding-Konzepten.

Kapitel 7 beschreibt ausgewählte Verfahren, mit denen Sprachdaten von Lernenden analysiert und Sprachstände informell und standardisiert erhoben werden können.

Wir wollen in allen Kapiteln – wann immer möglich – auf aktuelle empirische Studien zurückgreifen. Sie werden (angehenden) Lehrkräften die nötige Handlungssicherheit geben, wenn es um umfassende sprachliche Bildung in Schule und Unterricht geht – auch im Sinne von Wissen, Können und Einstellungen.

2 Sprache(n) erwerben

Wenn wir sprachliche Bildung begrifflich weit fassen, dann beginnt sie bereits in der Familie, setzt sich im Kindergarten fort und wird ausgehend von den vorschulischen Literacy-Erfahrungen in der Grundschule und später in den weiterführenden Schulen weiter ausgebaut. In der Forschungsliteratur wird in diesem Zusammenhang nicht selten zwischen Erwerben und Lernen unterschieden: Erwerben bezieht sich dann prototypisch auf implizite, Lernen auf explizite, genauer: institutionell angeregte, vermittelte Sprachentwicklungsprozesse, oder anders gesagt: auf ungesteuerten Input (Erwerben) im Gegensatz zum gesteuerten Input (Lernen) (vgl. Hufeisen/Topalović 2018, 18). Die Grenzen erweisen sich trotz einiger Unterschiede – z. B. beim Lesen- und Schreibenlernen im Gegensatz zum Tempuserwerb (ebd.) – allerdings als fließend. Eindrucksvolle Beispiele kommen aus der Literacy- bzw. Schriftspracherwerbsforschung. Diese zeigen, dass Erwerbs- und Lernprozesse sowohl vor der Schule als auch in der Schule ablaufen bzw. initiiert und unterstützt werden können. Wenn Eltern z. B. bewusst bilinguale Kindergärten wählen, um die Zwei- bzw. Mehrsprachigkeit ihrer Kinder institutionell zu fördern, unterliegt der Input – sicherlich auch mit Blick auf seine Qualität und Quantität – einer bewussten ‚Steuerung‘. Allerdings verfügen hier nicht alle Familien über dieselben Ressourcen. Bildungsangebote hängen vor allem von der Bildung der Eltern ab:

„Dies führt zu den bekannten Leistungsunterschieden in den Schulvergleichsuntersuchungen in Abhängigkeit vom Berufsstatus und dem Ausbildungshintergrund der Eltern […].“ (Buhl/Wiescholek 2016, 53)

Oder mit Bourdieu (2012, 69) gesprochen, der mit der (Re)produktion „legitimer Sprachkompetenz“ durch Familie und Bildungssystem auch die Reproduktion der „unterschiedlichen Ausgangslagen“ und damit von Chancenungleichheit in Gesellschaft und Schule erklärt:

„Da die Gesetze der Übertragung des sprachlichen Kapitals ein Sonderfall der Gesetze der legitimen Übertragung von kulturellem Kapital von einer Generation zur nächsten sind, kann man davon ausgehen, dass die Sprachkompetenz, die nach schulischen Kriterien bewertet wird, genau wie andere Formen des kulturellen Kapitals vom Bildungsniveau abhängt, das nach Bildungstiteln und sozialem Lebenslauf gemessen wird.“

Und wenn bei Lernenden innere Regelbildungsprozesse erkennbar sind, weil sie sprachstrukturelles Wissen erwerben, ohne dass dies von Lehrkräften als explizites Lernziel formuliert worden wäre, dann verschwimmt auch hier der Unterschied zum Lernen. Letzteres hebt Primus (2010, 9) mit den folgenden Worten – hier bezogen auf den Schriftspracherwerb – hervor:

„Der Erwerb des Schriftsystems beruht zu einem Großteil auf der impliziten, unbewussten Anwendung von Prinzipien und Problemlösungsstrategien. Er läuft in diesem Sinne eher als unbewusste Entdeckung schriftsprachlicher Prinzipien und Beschränkungen ab und weniger als bewusstes Erlernen orthographischer Regeln. Das bedeutet unter anderem, dass der Erwerbsprozess maßgeblich von den strukturellen Gegebenheiten des Lerngegenstandes geprägt ist.“

Wir wollen in den folgenden Ausführungen einen Schwerpunkt auf jene Aspekte sprachlicher Erwerbsprozesse legen, die mit Blick auf schulische Lehr-Lern-Prozesse, in denen die sprachliche Bildung im Fokus steht, von besonderer Bedeutung sind. Das umfasst unter anderem die kritische Diskussion von Begrifflichkeiten, die einen Einfluss auf Orientierungen, Ein-/Vorstellungen bzw. Überzeugungen von Lehrkräften haben könnten (vgl. dazu auch die deutschdidaktischen Beiträge in Bräuer/Wieser (2015) im Teil „Untersuchung von Vorstellungen und Orientierungen von Lehrenden“). Die von Lipowsky (2006) referierten Metaanalysen zeigen, dass neben dem fachlichen, fachdidaktischen und pädagogischen Wissen die „epistemologischen“ Überzeugungen (sog. beliefs) zu den wirkungsmächtigsten Einflussfaktoren auf erfolgreiche Lernprozesse von Schüler:innen gehören. Sie nehmen „für die Planung, Gestaltung und Wahrnehmung von Unterricht eine wichtige Rolle“ ein (ebd. 54).

2.1Erwerbstypen: L1, L2 … – Erstsprache, Zweitsprache …

Je nach Wissenschaftsdisziplin und -tradition haben sich unterschiedliche Bezeichnungen für Erwerbstypen bzw. für Erwerbsreihenfolgen von Sprachen etabliert. Aus der internationalen englischsprachigen Forschung kommen z. B. L1, L2, L3, 2L1. Sie stehen für languageone, languagetwo, languagethree usw. und damit für die erste, zweite und alle weiteren Sprachen, die erworben werden, bzw. für den doppelten oder bilingualen Erstspracherwerb (2L1) – in diesem Fall werden zwei oder mehr Sprachen simultan erworben. Gebraucht werden auch die sprachsoziologisch grundierten Bezeichnungen Majoritätssprache/Minoritätssprache (engl. majority language/minority language) bzw. Mehrheitssprache/Minderheitssprache (vgl. Tracy/Gawlitzek i.V.).

Vergleichbar ‚neutral‘ sind auch die analogen deutschsprachigen Bezeichnungen Erstsprache, Zweitsprache und Drittsprache (auch Tertiärsprache, z. B. DaFnE für Deutsch als Fremdsprache nach Englisch); die Erstsprache wird ab Geburt bzw. genauer: prä- und postnatal natürlich erworben; die Zweitsprache – in der Definition der deutschsprachigen Forschung – wird sukzessive ab dem 3./4. Lebensjahr oder später z. B. im Erwachsenenalter erworben und hat eine hohe soziokulturelle bzw. kommunikative Relevanz (vgl. Ahrenholz 2017).

Klein (2001) unterscheidet als prototypische Erwerbstypen a) den monolingualen Erstspracherwerb, b) den ungesteuerten Zweitspracherwerb im Erwachsenenalter und c) den traditionellen Fremdspracherwerb in der Schule.

„Nun sind, wie gesagt, diese drei Formen Extremfälle, zwischen denen es zahlreiche Zwischenstufen gibt – etwa den bilingualen Erstspracherwerb (weltweit gesehen vielleicht sogar der häufigere Fall als der monolinguale Erstspracherwerb), den Zweitspracherwerb im Kindesalter, den Fremdspracherwerb im kommunikativ orientierten, vielleicht gar monolingualen Unterricht, usw. usw. Ein weiterer Grenzfall ist der ‚Wiedererwerb‘ einer Sprache, die einmal gelernt worden war, dann aber mehr oder minder vergessen wurde.“ (Klein 2001, 606)

Damit wird auch deutlich, warum einfache Zuschreibungen zu klar abgrenzbaren Erwerbstypen verzerrend sein können – auch mit Blick auf die Variabilität der Sprach(handlungs)fähigkeiten, die Qualität und Quantität des Inputs, die „natürlichen Antriebsfaktoren im Spracherwerb“ (Klein 2001). Und dennoch: Auch in der Deutschdidaktik wird nicht selten von Deutsch als Zweitsprache (DaZ) und Deutsch als Fremdsprache (DaF) im Gegensatz zu Deutsch als Muttersprache (DaM) gesprochen. Für DaM hat sich mittlerweile auch die Bezeichnung Deutsch als Erstsprache (DaE) etabliert. Mit DaF ist prototypisch der institutionelle Fremdspracherwerb außerhalb eines deutschsprachigen Landes gemeint, z. B. in Schulen oder Sprachinstituten. Im Gegensatz zu DaF sind die Bezeichnungen DaM und DaZ nicht unumstritten und werden in den letzten Jahren immer kontroverser diskutiert: Bei DaM wird moniert, dass die „Mutter“ als sprachliches Vorbild betont wird, obwohl an der Sprachentwicklung viel mehr oder auch (nur) andere Menschen (z. B. Väter, Geschwister, Großeltern, Erzieher:innen, Lehrkräfte) beteiligt sind (vgl. Ahrenholz 2017). Bei DaZ wird insbesondere in den letzten Jahren dafür sensibilisiert, dass die Bezeichnung aufgrund der statischen Zuordnung zu zwei distinktenErwerbsgruppen (DaZ vs. DaE) als ausgrenzend oder gar stigmatisierend wahrgenommen werden kann.

„Da der Begriff ‚Deutsch als Zweitsprache‘ als Bezeichnung für den persönlichen Sprachbesitz inferiorisierende Effekte für als DaZ-SprecherInnen geltende Personen nach sich ziehen kann, ist er mit Bedacht zu verwenden. Jenseits didaktischer und methodischer Notwendigkeiten der Verwendung des Begriffs ‚Deutsch als Zweitsprache‘ ist Deutsch, unabhängig davon, ob jemand diese Sprache als Erst- oder Zweitsprache verwendet und in jeglicher Perspektive gleichermaßen wertvoll.“ (Dirim 2015, 300)

Mehr noch: Solch eine Unterscheidung kann eine polarisierende Sichtweise unter Umständen sogar erst virulent machen. Wenn DaZ vermehrt in Kollokation mit „Sprachförderung“ genutzt wird und „Sprachförderung“ mit „besonderem Sprachförderbedarf“ gleichgesetzt wird, dann wird der Erwerbstyp – der zudem eine hohe Varianz aufweist – generalisierend in erster Linie als defizitär konnotiert (vgl. z. B. Becker-Mrotzek/Roth 2017, 17). Er verhindert letztlich auch dynamische sprachlich-kulturelle Zugehörigkeiten und Identitätsbildungen, auch weil Lernende bzw. Jugendliche selbst von ihren Sprach(en)repertoires nicht in Kategorien wie L1, Zweitsprache, DaZ sprechen würden oder aber den wissenschaftlich definierten DaZ-Erwerbstyp sogar als ihre Muttersprache bezeichnen (vgl. z. B. Hufeisen 2017, 507; Ahrenholz 2017, 4). Eine defizitorientierte und zudem auch eher „ausländerpädagogisch“ beeinflusste Sicht belegen Döll/Hägi-Mead/Settinieri (2016) in einer Pilotstudie zur formativen Evaluation des verpflichtenden DaZ-Moduls in allen Lehramtsstudiengängen in Nordrhein-Westfalen. Die Autorinnen warnen zurecht:

„Die DaZ-Biografien zeigen, dass viele Studierende erst durch das DaZ-Modul auf die Themen Migration und DaZ aufmerksam werden. Problematisch wäre, wenn im Zuge dessen problem- und defizitorientierte Sichtweisen auf Migration und Mehrsprachigkeit überhaupt erst konstruiert würden.“ (ebd. 213)

DaZ „mit Bedacht zu verwenden“, wie es Dirim (2015) fordert, hieße unter anderem, dichotomisierende sprachliche Zuschreibungen wie „DaZ-Kinder“, „DaZ-Schüler/innen“, „DaZ-Studierende“ (im Gegensatz zu „DaE-Kindern“ usw.) zu vermeiden – insbesondere dann, wenn sie als geradezu euphemistische Verhüllung für generell ‚ausländische‘ Kinder verstanden werden könnten. Alle Lernenden in ihrer Gesamtheit an sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten wahrzunehmen, d. h. in ihren je individuellen Sprach(en)repertoires, könnte ein möglicher Weg sein (→ 3). Einen Grund mehr, diese verschiedenen Erwerbstypen immer als vereinfachende Modellierungen, die sich aus mehreren eigentlich skalaren Definitionskriterien – wie z.B. „Alter des Erstkontaktes (age of onset)“ oder „Kontaktzeit (length of exposure) in Jahren oder Monaten“ (Dimroth 2019, 30) – zusammensetzen, zu verstehen, liefert die Spracherwerbsforschung auch mit Blick auf die Unterscheidung von DaZ und DaF:

„Eine glasklare Trennung von Zweit- und Fremdsprache ist aber weder möglich noch sinnvoll. Letztlich zählt das Ergebnis, das heißt, das im Kopf repräsentierte System, mehr als der Erwerbsweg.“ (Tracy 2014, 24)

Und dies kann auch für Erst- und Zweitsprachen gelten, nicht zuletzt, weil „sich Sprachen im Kopf der Lernenden nicht trennen lassen“ (Hufeisen 2017, 511), sie also keine „clearly definable languages […] in the mind of an individual“ (Franceschini 2016, 97) sind. Mit anderen Worten: Die allgemeinen Sprach- und Kommunikationsfähigkeiten in den Sprach(en)repertoires der Lernenden zu einem bestimmten Erwerbszeitpunkt zählen als die wohl wichtigste Größe – aus Sicht des Deutschunterrichts, aber auch jedes anderen (Sprach-)Faches.

2.2Statt Semilingualismus: Emergenter Spracherwerb

Ein Terminus, der sich trotz heftiger, berechtigter Kritik geradezu hartnäckig in Forschungsdiskursen und Handreichungen zum bilingualen Spracherwerb bzw. Zweitspracherwerb hält,1 ist „Semilingualismus“ bzw. „Halbsprachigkeit“ – und mit explizitem Bezug auf beide Sprachen „doppelte Halbsprachigkeit“. Dieser Hartnäckigkeit ist es geschuldet, dass wir drei überzeugende Stimmen zu Wort kommen lassen möchten, die eines verdeutlichen können: Es handelt sich bei Semilingualismus um ein weder empirisch noch linguistisch tragfähiges Konstrukt, das forschungshistorisch obsolet geworden ist. Wir beginnen mit dem vielleicht einflussreichsten ‚Multiplikator‘ des „semilingualism“ selbst, dem kanadischen Erziehungspsychologen Jim Cummins, der den Ausdruck im Zusammenhang mit der Schwellenniveau- und Interdependenzhypothese (vgl. z. B. 1982) vertreten hatte. Er berief sich dabei auf die finnische Studie von Skutnabb-Kangas/Toukomaa (1976), die anhand von Schwellen („thresholds“) die „cognitive effects of different types of blingualism“ modellieren wollten; sie unterschieden dabei a) „additive bilingualism“, b) „dominant bilingualism“ und eben c) „semilingualism“ als eine Form von „Halbsprachigkeit“ in beiden Sprachen (hier: Finnisch/Schwedisch) mit entsprechend a) positiven, b) weder positiven noch negativen und c) negativen Auswirkungen auf die kognitive Entwicklung. Cummins (2000, 99ff.) referiert die Genese der Kritik seit den späten 1970er Jahren und kommt zu dem Schluss: