Sprechstunden für die Seele - Dr. med. Eric Berne - E-Book

Sprechstunden für die Seele E-Book

Dr. med. Eric Berne

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Beschreibung

Dem Autor des Welterfolgs «Spiele der Erwachsenen» geht es hier um jenes ungreifbare, schwer begreifliche Energiesystem, das wir Seele nennen. Kenntnisreich, verständlich und nicht ohne Humor erklärt Dr. Berne, wie Geist und Seele beim psychisch gesunden Menschen arbeiten, welche Krankheiten sie befallen können, worin die Ursachen dieser Krankheiten liegen, wie sie sich auswirken und wie man sie behandelt. Hier findet der Leser Aufklärung und Information, er bekommt gewissenhaft Antwort, er lernt seine eigene psychische Situation verstehen. Berne ist ein Arzt, der sich Zeit nimmt und zu dem man sofort Vertrauen hat, weil er sich nicht hinter einem unverständlichen Medizinerjargon versteckt, sondern offen und klar zu seinem Leser spricht.

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Seitenzahl: 524

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Dr. med. Eric Berne

Sprechstunden für die Seele

Psychiatrie und Psychoanalyse verständlich gemacht

Aus dem Englischen von Wolfram Wagmuth

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

In seinem Buch geht es dem Autor des Welterfolgs «Spiele der Erwachsenen» um jenes ungreifbare, schwer begreifliche Energiesystem, das wir Seele nennen. Kenntnisreich, verständlich und nicht ohne Humor erklärt Dr. Berne, wie Geist und Seele beim psychisch gesunden Menschen arbeiten, welche Krankheiten sie befallen können, worin die Ursachen dieser Krankheiten liegen, wie sie sich auswirken und wie man sie behandelt. Hier findet der Leser Aufklärung und Information, er bekommt gewissenhaft Antwort, er lernt seine eigene psychische Situation verstehen. Berne ist ein Arzt, der sich Zeit nimmt und zu dem man sofort Vertrauen hat, weil er sich nicht hinter einem unverständlichen Medizinerjargon versteckt, sondern offen und klar zu seinem Leser spricht.

Über Dr. med. Eric Berne

Eric Berne wurde 1910 in Montreal/Kanada geboren; studierte an der McGill University/Montreal Medizin und promovierte 1935 mit einer Arbeit über Psychiatrie; von 1941 bis 1943 Psychiater im New York Psychoanalytic Institute; Fachberater für Psychiatrie beim Generalarzt der US-Armee; von 1947 bis 1956 im San Francisco Psychoanalytic Institute (Arbeitsgebiet: Gruppentherapie); korrespondierendes Mitglied der Indian Psychiatric Society; danach Dozent an der University of California Medical School und Direktor des San Francisco Social Psychiatry Seminar. Eric Berne starb 1970.

Inhaltsübersicht

Für meine MutterGeleitwort von A. A. BrillVorwortVorbemerkungEinleitungErster Teil Normale Entwicklung1. Kapitel Grundlagen und Voraussetzungen2. Kapitel Bedürfnisse und Ziele3. Kapitel Die Entwicklung des Individuums4. Kapitel Der Traum und das UnbewußteZweiter Teil Abnorme Entwicklung5. Kapitel Neurosen6. Kapitel Psychosen7. Kapitel Alkohol, Rauschgifte, VerhaltensstörungenDritter Teil Behandlungsmethoden8. Kapitel Psychotherapie9. Kapitel Medikamente und andere Methoden10. Kapitel Praktische FragenRegister

Für meine Mutter

Sara Gordon Berne

Geleitwort

von A.A. Brill

Dieses Buch ist in mehr als einer Hinsicht einzigartig. Sein Autor, ein erfahrener Psychoanalytiker und Psychiater, ist ein eingeschworener Freudianer – und doch habe ich erst mehrere Kapitel lesen müssen, bis ich davon wirklich überzeugt war. Denn im Gegensatz zu anderen Wissenschaftlern, die eifrig für bestimmte Theorien eintreten und sie von vornherein verfechten, verhält sich Dr. Berne so objektiv und unvoreingenommen, daß man zunächst den Eindruck gewinnt, er sei eher ein gründlicher Kritiker als ein leidenschaftlicher Anhänger Sigmund Freuds. Sein Buch beginnt mit einer Art biologischer Übersicht über die allgemeinen Aspekte der geistigen Entwicklung. In dieser gedanklich klaren, von vernebelnden Fachausdrücken freien Einführung werden die normalen Funktionen des Gehirns im Gefühls- und im Handlungsbereich erklärt, ferner die stärksten Triebe und ihre Steuerung in der Kindheit und im Leben des Erwachsenen sowie die Reaktion des gesamten Organismus auf die Umwelt. Dr. Berne hat die Gabe, auch schwerverständliche Prozesse so einfach und fesselnd darzustellen, daß er sogar das Interesse eines von Fachliteratur übersättigten, mit der Psychoanalyse vertrauten Lesers wachzuhalten vermag. Nach der Lektüre einiger Kapitel wird einem schließlich bewußt, wie sehr Dr. Berne daran gelegen ist, in allem, was mit den Funktionen des Geistes zusammenhängt, Freud hervortreten zu lassen.

Bei meinen Bemühungen, den Modus operandi des Autors zu erläutern, wurde mir klar, daß Dr. Berne, was die Psychoanalyse angeht, etwa 40 Jahre jünger ist als ich. Mit anderen Worten, er gehört der Nachkriegsgeneration der Psychoanalytiker an und kann daher Freuds Beitrag zu diesem Gebiet als wesentlichen Bestandteil der gesamten progressiven Entwicklung der Psychiatrie würdigen. Dr. Berne ist sozusagen ein junger Freudianer, der wie die neue Generation der Ägypter «Joseph nicht gekannt hat». Daher konnte er einen neuen Weg beschreiten und die neue Psychologie weniger affektgeladen darlegen, als das bei den älteren Freudianern der Fall gewesen ist. Die psychoanalytischen Theorien waren bereits wohl etabliert, als Dr. Berne sie zu meistern begann; er konnte daher ohne Schwierigkeiten das gesamte Gebiet der Psychoanalyse betrachten – sowohl ihre Ursprünge und Anfänge als auch alle Abweichungen von ihr – und dann ohne Mühe die Spreu vom Weizen sondern. Da ich selbst alles gelesen habe, was inzwischen über Freud und Psychoanalyse geschrieben worden ist, fühle ich mich berechtigt zu sagen, daß es Dr. Berne gelungen ist, seinen Stoff so darzustellen, daß sein Buch nicht nur für den intelligenten Laien, sondern auch für den Psychoanalytiker und für den Arzt interessant und instruktiv ist.

Vorwort

(1967)

Erfreulicherweise kann ich feststellen, daß nach dem vorliegenden Buch in den letzten zwanzig Jahren eine ständige Nachfrage bestanden hat. Ich schrieb es, als ich während des Zweiten Weltkriegs bei der Army Sanitätsoffizier war. Ich hatte damals Abend für Abend die Wahl, mich entweder mit dem Rattern meiner Schreibmaschine zu amüsieren oder aber mit dem Rasseln der Spielautomaten im Offizierskasino – und in den meisten Fällen entschied ich mich für die Schreibmaschine. Ursprünglich erschien dieses Buch unter dem Titel «The Mind in Action». Es erhielt gute, ja sogar enthusiastische Kritiken in den Literaturblättern sowie in den psychiatrischen und psychoanalytischen Fachzeitschriften und wurde in der Folge auch in England veröffentlicht und ins Schwedische, Italienische und Spanische übersetzt. 1957 erschien bei Simon and Schuster die zweite Auflage unter dem Titel «A Layman’s Guide to Psychiatry and Psychoanalysis». Einige Jahre später kam bei der Grove Press eine preiswerte Taschenbuchausgabe unter demselben Titel heraus, so daß zwei konkurrierende Ausgaben gleichzeitig auf dem Büchermarkt waren. In diesen verschiedenen Ausgaben erreichte das Buch eine Gesamtauflage von weit über 250000 Exemplaren.

Während der letzten zehn Jahre haben rapide Fortschritte im Bereich der medikamentösen Therapie und der Gruppentherapie zu radikalen Veränderungen bei der ambulanten und der stationären psychiatrischen Behandlung geführt. Außerdem wurden die Transaktionsanalyse und andere neue psychotherapeutische Methoden nach und nach in Wirkungsbereiche einbezogen, in denen sich die Psychoanalyse als unzureichend erwiesen hat. Da das Interesse an meinem Buch unvermindert anzuhalten scheint, habe ich deshalb im Hinblick auf den Leser die vorliegende, weitgehend überarbeitete Neuauflage vorbereitet.

Nach sorgfältiger Überlegung habe ich mich entschlossen, als Hinweis auf die Bedeutung des Körperlichen den Abschnitt über die physische Typenbildung beizubehalten; dieser Aspekt wird häufig gerade von nicht medizinisch vorgebildeten Therapeuten übersehen, besonders von solchen, die aus dem Bereich der Gesellschaftswissenschaften kommen. Teil I und im wesentlichen auch Teil II behandeln das menschliche Wesen als eine Art «Energiesystem», und dafür ist die Freudsche Theorie der beste Ansatz. Ich bin hier der «exakten» Version von Freud gefolgt, bei der Sexualtrieb und Todestrieb streng voneinander getrennt werden, und habe Eros und Thanatos das gleiche Gewicht beigemessen. Mit Hilfe dieses Verfahrens läßt sich alles wesentlich leichter erklären, und es entspricht mit Sicherheit besser den historischen Vorgängen der letzten dreißig Jahre, die ja auf Grund der Libido-Theorie allein nur schwer verständlich sind, jedoch entschieden deutlicher werden, wenn man Paul Federns Konzeption vom «Todestrieb» hinzuzieht.

Mein Kollege Dr. Claude Steiner, Spezialist für die Behandlung von Alkoholismus, Drogensucht und anderen von ihm als «tragisch» bezeichneten Verhaltensformen, hat bei der Neufassung von Kapitel 7 mitgewirkt, das sich mit diesem Themenkreis befaßt, und ich möchte ihm an dieser Stelle dafür danken.

 

Carmel, Kalifornien

E.B.

Vorbemerkung

Dieses Buch verfolgt das Ziel, das dynamische Wirken des menschlichen Geistes für alle diejenigen verständlich zu machen, die mehr daran interessiert sind, das Wesen des Menschen zu begreifen, als daran, große Worte zu machen oder genormte Definitionen auswendig zu lernen. Ich habe versucht, grundsätzliche Gedanken an Hand praktischer Beispiele zu erläutern; auf diese Weise sollen auch komplizierte Vorgänge so klar und einfach wie möglich dargestellt werden. Ich habe nicht die Absicht, aus dem Leser einen Stammtischpsychiater zu machen, sondern möchte ihm zu besserem Verständnis seiner selbst und anderer Menschen verhelfen.

Jeder Psychiater hat seine eigene, aus der klinischen Praxis abgeleitete Methode, Menschen zu betrachten. Die hier dargelegten Gedanken basieren auf dem, was ich bei meinen Lehrern gelernt habe, besonders bei Dr. Eugen Kahn, dem früheren Professor für Psychiatrie an der Yale School of Medicine, und bei dem verstorbenen Dr. Paul Federn vom New York Psychoanalytic Institute; sie wurden in mehrfacher Hinsicht modifiziert auf Grund eigener Gedanken und Beobachtungen und auf Grund meiner Interpretation der psychiatrischen und psychoanalytischen Literatur. Meine Lehrer haben ihr Bestes für mich getan, aber für meine Ausführungen übernehme ich allein die Verantwortung. Selbstverständlich basiert ein Großteil der hier vorgetragenen Ideen, wie das für die Ideen jedes dynamischen Psychiaters gilt, auf den Arbeiten Sigmund Freuds, aber für die Akzentsetzung und für die Formulierung bin ich allein verantwortlich, und ich betrachte mich in keiner Weise als Sprecher irgendeiner Gruppe oder Schule von Psychiatern oder Psychoanalytikern.

Zum besseren Verständnis folgen hier einige Wortdeutungshinweise. Mit dem Wort «er» bezeichne ich ganz allgemein Menschen beiderlei Geschlechts. Verwende ich das Wort «sie», dann heißt das in der Regel, daß ein bestimmtes Phänomen bei Frauen häufiger anzutreffen ist als bei Männern. «Wir» in einem entsprechenden Kontext bedeutet soviel wie «die Mehrzahl derjenigen Psychiater, vor denen ich die größte Achtung habe». «Ist» in einem Satz mit fachwissenschaftlicher Aussage bedeutet «scheint zu sein – nach Meinung der meisten versierten Psychiater und auf Grund meiner eigenen Erfahrungen mit dem Problem». Der Begriff «Scheint zu sein» bedeutet, «es erscheint mir so – auf Grund zahlreicher Beobachtungen, aber ich bin mir nicht ganz sicher, obwohl meine Meinung von einem oder mehreren der von mir geschätzten Psychiater geteilt wird». Nach gründlicher Überlegung habe ich mich entschlossen, den Begriff «Geisteskrankheit» beizubehalten. Zwar ist er bei einer mündlichen Diskussion entbehrlich, aber beim Schreiben läßt er sich nur schwer durch einen anderen Ausdruck ersetzen. Ebenso habe ich nach einigem Zögern die Begriffe «neurotisch» und «Neurotiker» beibehalten, da es auch in diesem Fall kaum einen Ersatzbegriff gibt, der sich in das Freudsche Schema einfügen ließe.

In den Krankengeschichten spiegeln sich nicht individuelle, sondern typische Fälle wider. Jede Ähnlichkeit mit irgendwelchen lebenden Personen ist zufällig und unbeabsichtigt.

Während viele der Krankengeschichten häufig vorkommende Fälle veranschaulichen, dienen einige als Beispiele für klar umrissene Grundformen von Geisteskrankheiten und psychischen Anomalien, d.h. in ihnen werden pathologische Persönlichkeitstypen beschrieben. In solchen Fällen werden die geschilderten Situationen und Reaktionen dem Leser gelegentlich recht ungewöhnlich vorkommen. Er möge jedoch bedenken, daß zwar die Intensität der Reaktionen bei diesen Personen manchmal in der Tat verblüffend ist, daß aber die verschiedenen Arten ihrer Reaktion keinesfalls ungewöhnlich sind. Die Krankengeschichten dienen dazu, durch Übertreibung Dinge hervorzuheben, denen jeder bis zu einem gewissen Grade auch bei sich selbst und bei seinen Mitmenschen begegnen kann. Ist das nicht auf Anhieb ersichtlich, so stellt es sich doch im Lauf der Zeit immer deutlicher heraus. Das bedeutet, die «Geisteskranken» haben nicht eine andere Triebstruktur als wir, sie drücken nur die Triebe, die allen Menschen gemeinsam sind, anders aus.

Meinen aus Soldaten und Zivilisten bestehenden Zuhörern in Kalifornien, Utah und Washington möchte ich hiermit danken. Mit ihren Fragen, Anmerkungen und Einwänden haben sie mir geholfen, meine Gedanken klar zu formulieren. Besonderen Dank schulde ich den folgenden Personen, die mir Hilfe gewährt haben.

Die Mitarbeiter des Verlages und vor allem Henry Simon haben mich bei der Ausarbeitung des Manuskripts entscheidend unterstützt und mir konstruktive Vorschläge gemacht. Dr. Paul Federn hat mich eingehend beraten, es jedoch ganz mir überlassen, seine Ratschläge zu akzeptieren oder unberücksichtigt zu lassen. Die Verantwortung für den Inhalt des Buches liegt also ausschließlich bei mir. Robert Peel aus Denton, Texas, und Frances Ordway aus Carmel, Kalifornien, haben mir dank ihrer Mitwirkung beim Tippen des Manuskripts viel zeitraubende Arbeit erspart. Viel Verständnis und Unterstützung während der Zeit, als ich unter erschwerten Bedingungen bei der Army an meinem Manuskript arbeiten mußte, fand ich bei den damaligen Majoren Dr. Samuel Cohen aus Philadelphia und Dr. Paul Kramer aus Chicago. Ferner halfen mir während dieser Zeit der damalige Colonel Stuart und Kippy Stuart, Doris Drake, Louise Masters sowie der damalige Captain Dr. George Ambrose. All denen, die das Manuskript gelesen haben oder die mir zugehört haben, als ich es im Haus der Familie Short vorlas, um Anregungen zu erhalten, proste ich mit einem Glas Carmel-Wein zu und danke ihnen für ihre Hilfe und für viele schöne Abende. Ich denke hier an Marie Short, Jake Kenny, John Geisen und seine Frau, Muriel Rukeyser, an Dr. Russell Williams und Frank Lloyd und ihre Frauen, an Sam Colburn, Gretchen Gray, Katie Martin und noch eine ganze Reihe weiterer «Carmeliter».

Einleitung

Ein Psychiater ist ein Arzt, der sich darauf spezialisiert, Menschen zu helfen, zu beraten und zu behandeln, die unter psychischen Störungen, unter gestörten zwischenmenschlichen Beziehungen, unter selbstzerstörerischem Verhalten und in schweren Fällen auch unter anomalen Empfindungen, Überzeugungen und Sinneseindrücken leiden. Er versucht, die dem Denken, Handeln und Empfinden der Menschen zugrunde liegende Motive zu erforschen, und stellt sich daher die Frage: «Warum hat dieser Mensch das Bedürfnis, so zu empfinden, zu denken oder zu handeln, wie er es tut?» Da die körperlichen Vorgänge auf die Emotionen einwirken und die Emotionen ihrerseits durch den Körper zum Ausdruck gebracht werden, muß der Psychiater, ebenso wie jeder andere Arzt, zunächst einmal gute Kenntnisse in der Anatomie und Physiologie besitzen; er muß wissen, wie der Magen, die Blutgefäße, die Drüsen und das Gehirn beschaffen sind und wie sie funktionieren. Er muß außerdem wissen, auf welche Weise bestimmte chemische Stoffe, wie zum Beispiel Alkohol, die Psyche beeinflussen und wie umgekehrt die Psyche auf bestimmte chemische Stoffe des Körpers einwirken kann, vor allem auf diejenigen, die von den Geschlechtsdrüsen, den Nebennierendrüsen, der Schilddrüse und der Hypophyse gebildet werden.

Während er seine Kenntnisse von der Funktionsweise des menschlichen Körpers vertieft, muß der angehende Psychiater ferner ständig beobachten, wie Menschen aus verschiedenen Familien sich in unterschiedlichen Situationen in dem Lande, in dem sie leben, verhalten. Hört er sich die Ungebildeten und die Gebildeten, die Armen und die Reichen an, wenn sie über die Zeugnisse ihrer Kinder sprechen, dann nimmt er die Unterschiede und die Ähnlichkeiten in ihren Einstellungen wahr und stellt sich die Frage, welche Auswirkungen sich daraus für die Schulleistungen ihrer Kinder ergeben.

Hat sich der Psychiater mit den verschiedenen psychischen und physischen Reaktionsweisen gesunder Menschen vertraut gemacht, beginnt er mit der Beobachtung kranker Menschen. Er befaßt sich zum Beispiel mit Menschen, die ein Magengeschwür haben, und versucht herauszufinden, welche Gemeinsamkeiten hinsichtlich ihrer Mägen und ihrer Empfindungen bestehen und ob sich irgendein Zusammenhang zwischen ihren Emotionen und dem Ergebnis der Röntgenuntersuchung nachweisen läßt. Er spricht mit Menschen, die unter anomalen Ängsten leiden, und beobachtet sowohl ihre psychischen als auch ihre physischen Reaktionen, um nach Möglichkeit festzustellen, welche Fehlentwicklung in jedem dieser Bereiche stattgefunden hat.

Der Psychiater trägt dazu bei, künftigen Schwierigkeiten vorzubeugen, indem er sich mit jungen Paaren unterhält, die kurz vor der Eheschließung stehen, und mit Müttern, die Probleme bei der Erziehung ihrer Kinder haben; er kümmert sich um Menschen, die ungewöhnlich traurig oder erregt sind oder anomale Empfindungen und Impulse haben; vor allem ist es die Aufgabe des Psychiaters, sich mit gewissen Zuständen zu befassen, bei denen sowohl bestimmte körperliche Organe als auch die Emotionen beteiligt sind, sowie mit den Folgen übermäßiger Einnahme gewisser Drogen. Er muß daher über alle körperlichen Funktionen gut Bescheid wissen. Um schwere Geisteskrankheiten behandeln zu können, muß er auch wissen, welche Auswirkungen die Elektrizität und verschiedene starke Medikamente auf den menschlichen Körper haben können.

Außerdem wird der Psychiater häufig zu Rate gezogen, damit er feststellt, welche Rolle psychische Ursachen in bestimmten Krankheitsfälen spielen, so zum Beispiel bei Magengeschwüren, hohem Blutdruck, Schilddrüsenentzündung, Herzkrankheiten, Rückenschmerzen, Lähmungserscheinungen, Asthma, Hautkrankheiten und bei anderen Leiden, die oft mit den üblichen medizinischen Methoden nur schwer zu heilen sind. In solchen Fällen muß der Psychiater sehr genau die Funktionen der betreffenden Organe kennen.

Bevor der Psychiater versucht, einem Patienten zu helfen, möchte er gern über dessen Herkunft etwas wissen – über die körperlichen und geistigen Eigenschaften seiner Vorfahren und über die Einflüsse, die in der Zeit seines Heranwachsens eine Rolle gespielt haben. Hat er das alles herausgefunden, dann kann er besser beurteilen, was sein Patient mit auf den Weg bekommen hat und was er durchgemacht hat, bevor er den gegenwärtigen Zustand erreichte. Der Psychiater versucht ferner festzustellen, welche Stärken und Schwächen sein Patient schon bei der Geburt besaß oder sich in der frühen Kindheit aneignete und wie er dann unter den gegebenen Voraussetzungen sein Leben gestaltet hat.

Viele Charakterzüge eines Menschen basieren bis zu einem gewissen Grade auf Vererbung. Die Erbanlagen bestimmen die obere Grenze seiner Fähigkeiten und die Zeit, in der sie sich normalerweise entfalten oder verkümmern. So bestimmen sie zum Beispiel, ob jemand ein bedeutender Musiker oder Mathematiker werden kann (auch das Schachspielen gehört hierher) und in welchem Alter er zu normalen sexuellen Beziehungen in der Lage sein wird. Die Umwelt ist jedoch richtunggebend für das, was er tatsächlich tut. Mit anderen Worten, die Erbanlagen bestimmen die erreichbaren Möglichkeiten, und die Umwelt bedingt, wie weit man sich diesen Möglichkeiten nähert. Zuviel Zeit auf die Frage zu verwenden, was nun im Leben wichtig ist, wäre allerdings ebenso unangebracht, wie wenn man sich die Frage stellte: «Was ist an Erdbeeren mit Schlagsahne wichtiger, die Erdbeeren oder die Schlagsahne? Schwimmen die Erdbeeren in der Sahne, oder umgibt die Sahne die Erdbeeren?»

Es gibt keinen Beweis dafür, daß die Umwelt nicht manche der sogenannten ererbten geistigen Eigenschaften verändern kann. Nahezu jede menschliche Fähigkeit läßt sich durch entsprechendes Training vervollkommnen, und wenn man von einem Menschen sagt, er habe eine bestimmte Unzulänglichkeit «geerbt», so bedeutet das nicht, daß er deshalb verzweifeln oder aufgeben soll. Das Studium der Drüsenfunktionen wird in Zukunft entscheidend zur Veränderung dessen beitragen, was wir jetzt als «ererbt» ansehen, so wie die Psychiatrie heute in zunehmendem Maße an Bedeutung für die Veränderung derjenigen Eigenschaften gewinnt, die wir als umweltbedingt betrachten. Statt ständig danach zu fragen, was auf Erbanlagen und was auf die Umwelt zurückzuführen ist, sollten wir daher eher die Frage stellen: «Welche Eigenschaften lassen sich nach dem derzeitigen Stand der Wissenschaft verändern und welche nicht?»

In diesem Buch wird der Mensch als ein Energiesystem unter all den anderen Energiesystemen im Universum betrachtet – das ist eine der einfachsten Möglichkeiten, die Menschen zu verstehen. Diese Betrachtungsweise ist von Sigmund Freud entwickelt worden. Natürlich gibt es andere Ansätze, von denen einige später beschrieben werden sollen. Wir wollen zu Beginn untersuchen, womit die verschiedenen Menschen ausgestattet sind und was sie mit dem, was sie besitzen, zu erreichen versuchen. Dann wollen wir beobachten, wie sie heranwachsen und sich entwickeln, welche Fehlentwicklungen eintreten können und was man tun kann, wenn die Entwicklung sich als unheilvoll erweist.

Erster Teil Normale Entwicklung

1. Kapitel Grundlagen und Voraussetzungen

1. Kann man Menschen nach ihrer äußeren Erscheinung beurteilen?

Jedermann weiß, daß ein menschliches Wesen, ebenso wie ein Küken, aus einer Eizelle entsteht. Bereits in einem sehr frühen Stadium stellt der menschliche Embryo ein aus drei Schichten, den Keimblättern, bestehendes, röhrenartiges Gebilde dar: aus der inneren Schicht entstehen der Verdauungstrakt und die Atmungsorgane, aus der mittleren die Knochen, Muskeln, Gelenke und Blutgefäße und aus der äußeren die Haut und das Nervensystem.

In der Regel vollzieht sich das Wachstum dieser drei Schichten ziemlich gleichmäßig, so daß der Mensch im allgemeinen eine ausgewogene «Mischung» von Gehirn, Muskulatur und inneren Organen ist. In manchen Eizellen wächst jedoch eine der Schichten rascher als die beiden anderen, und wenn das Kind dann zur Welt kommt, hat es mehr Gedärme als Gehirn oder mehr Gehirn als Muskulatur. Wenn das geschieht, konzentriert sich die Aktivität des Individuums oft hauptsächlich auf die überentwickelte Keimblattschicht.

Man kann also sagen, daß der Mensch zwar im allgemeinen eine ausgewogene «Mischung» ist, daß aber manche Menschen vorwiegend «magenorientiert», manche mehr «muskelorientiert» und manche mehr «gehirnorientiert» sind und daß diesen Eigenschaften auch der Körperbau entspricht. Magenorientierte Menschen sehen dick aus, muskelorientierte breit und gehirnorientierte lang und schmal. Das heißt nicht, daß man den Grad der Klugheit eines Menschen an seiner Körpergröße ablesen kann. Es bedeutet nur, daß jemand, auch ein Mensch von kleinem Wuchs, der eher lang und schmal als breit oder dick wirkt, oft mehr an den Vorgängen in seinem Gehirn interessiert ist als an dem, was er tut oder was er ißt; der entscheidende Faktor ist hier der schlanke Wuchs und nicht die Körpergröße. Dagegen wird jemand, der eher dick als schmal oder breit wirkt, meist mehr an einem guten Steak interessiert sein als an einer guten Idee oder an einem ausgiebigen Spaziergang.

Wissenschaftler benutzen zur Bezeichnung dieser Körperformen griechische Wörter. Einen Menschen, dessen Körpergestalt hauptsächlich auf die innere Keimblattschicht zurückzuführen ist, bezeichnet man als endomorph. Ist der Körperbau vorwiegend durch die mittlere Keimblattschicht bedingt, bezeichnet man ihn als mesomorph, und ist er hauptsächlich durch die äußere Keimblattschicht geprägt, bezeichnet man ihn als ektomorph.

Da sich aus dem inneren Keimblatt des menschlichen Embryos, dem Entoderm, die inneren Bauchorgane bilden, der viszerale Bereich, ist der endomorphe Typus meist magenorientiert; da aus dem mittleren Keimblatt, dem Mesoderm, das Zellgewebe und die Muskulatur des Körpers – griechisch Soma – entstehen, ist der mesomorphe Typus gewöhnlich muskelorientiert, und da sich schließlich aus dem äußeren Keimblatt, dem Ektoderm, das Gehirn – das Zerebralsystem – herausbildet, ist der ektomorphe Typus in der Regel gehirnorientiert. Überträgt man dies ins Lateinische und Griechische, dann haben wir den viszerotonen endomorphen Typ, den somatotonen mesomorphen Typ und den zerebrotonen ektomorphen Typ.

Für einen zerebrotonen Menschen sind Wörter etwas Wunderbares, ein viszerotoner dagegen weiß, daß man eine Speisekarte, in welcher Sprache sie auch gedruckt ist, nicht als Menü verzehren kann, und ein somatotoner Mensch weiß, daß man mit Hilfe eines Lexikons nicht die Spannweite der Brust vergrößern kann. Wir wollen zunächst einmal herauszufinden versuchen, für welche Menschentypen diese Begriffe verwendet werden; dabei erinnern wir uns daran, daß die meisten Menschen mehr oder minder ausgewogene «Mischungen» sind und daß wir uns hier nur mit den Extremen befassen. Sie lassen sich bei Männern besser studieren als bei Frauen.

 

Der viszerotone endomorphe Typ. Gehört ein Mann eindeutig mehr zum dicken als zum breiten oder schmalen Typ, denn ist er in der Regel rundlich und weichlich – mit einem großen Brustkorb und einer noch größeren Bauchpartie. Er will lieber gut essen als gelöst atmen können. In der Regel hat er ein breites Gesicht, einen kurzen, dicken Hals, umfangreiche Oberarme und Oberschenkel und kleine Hände und Füße. Seine Brustpartie ist überentwickelt, und er sieht aus, als sei er ein bißchen aufgeblasen – ähnlich einem Luftballon. Seine Haut ist weich und glatt, und wenn er kahl wird, was bei ihm meist ziemlich früh geschieht, lichtet sich sein Haar zunächst in der Mitte des Kopfes.

Das beste Beispiel für diesen Typ ist der kleinwüchsige, untersetzte, immer umgängliche «Delegierte» mit leicht gerötetem Gesicht und einer Zigarre im Mund, bei dem man stets das Gefühl hat, er stehe kurz vor einem Schlaganfall. Er ist ein guter Delegierter, weil er gern unter Menschen ist und Bankette und Tagungen schätzt; er ist unbekümmert und wirkt ausgleichend, und seine Gedankengänge und Empfindungen sind leicht zu verstehen.

Seine Bauchpartie ist umfangreich, denn in ihr befindet sich ein riesiger Verdauungstrakt. Er liebt es, sich die verschiedensten Dinge einzuverleiben – gutes Essen ebenso wie die Zuneigung und den Beifall anderer Menschen. Mit Menschen, die ihn schätzen, an einem Bankett teilzunehmen, ist eine seiner Lieblingsbeschäftigungen. Es ist wichtig, daß man das Wesen solcher Menschen richtig versteht. Man sollte zum Beispiel nicht den Fehler machen, alles, was sie tun und sagen, für bare Münze zu nehmen. Wenn sie guter Laune sind, nehmen sie sich häufig selbst auf den Arm. In solchen Fällen sollte man höflich lächeln, sich aber davor hüten, in Gelächter auszubrechen, denn später, wenn die gute Laune verflogen ist, ärgern sie sich unter Umständen über diejenigen, die gelacht haben, auch wenn sie durch ihre scherzhaften Bemerkungen selbst dazu herausgefordert haben.

 

Der somatotone mesomorphe Typ. Gehört ein Mann eindeutig mehr zum breiten als zum dicken oder schmalen Typ, dann ist er in der Regel robust gebaut und besitzt eine ausgeprägte Muskulatur. Meist hat er kräftige Unterarme und Beine, und seine Brust- und Bauchpartie sind wohlgeformt und fest – wobei die Brustpartie stärker ausgebildet ist als die Bauchpartie. Ihm ist gelöstes Atmen wichtiger als gutes Essen. Sein Kopf ist kantig und knochig, seine Schultern sind breit, und seine Kinnpartie ist eckig. Seine Haut ist fest, derb und elastisch und nimmt rasch Sonnenbräune an. Sein Haar lichtet sich gewöhnlich zuerst über der Stirn.

Vor allem Tatmenschen gehören zu diesem Typ. Männer dieser Art sind gute Rettungsschwimmer und Pioniere. Sie setzen gern ihre Energie ein. Sie haben ausgeprägte Muskeln und machen gern von ihnen Gebrauch. Sie lieben alle Arten von Kampf und Abenteuer und wollen stets die Oberhand behalten. Sie sind forsch, kennen keine Hemmungen und möchten gern die Menschen und Dinge in ihrer Umgebung beherrschen. Wenn man weiß, was solche Menschen zufriedenstellt, kann man verstehen, warum sie in gewissen Situationen unglücklich sind.

 

Der zerebrotone ektomorphe Typ. Gehört ein Mann eindeutig zum langen, schmalen Typ, dann hat er in der Regel dünne Knochen und flache Muskeln. Er hat oft hängende Schultern, eine flache Bauchpartie und lange Beine. Sein Hals und seine Finger sind lang, sein Gesicht ist länglich eiförmig. Seine Haut ist dünn, trocken und blaß, und er wird nur selten kahl. Oft sieht er nicht nur wie ein zerstreuter Professor aus, sondern ist auch einer.

In der Regel sind Menschen dieser Art zwar nervös und zerfahren, aber sie sind darauf aus, ihre Energie nicht unnötig zu strapazieren, und legen keinen Wert auf gesellschaftlichen Verkehr. Sie ziehen es vor, still und zurückgezogen zu leben und sich aus Schwierigkeiten herauszuhalten. Unannehmlichkeiten beunruhigen sie, und sie gehen ihnen aus dem Weg. Ihre Freunde bringen meist nicht das richtige Verständnis für sie auf. Sie sind nicht nur in ihren Bewegungen fahrig und verkrampft, sondern auch in ihren Empfindungen. Wer Verständnis dafür hat, wie leicht solche Menschen sich ängstigen oder Sorgen machen, kann ihnen oft dabei helfen, mit der zugleich geselligen und aggressiven Welt der endomorphen und mesomorphen Menschen besser zurechtzukommen.

 

In den speziellen Fällen, in denen Menschen eindeutig zu einem der drei genannten Typen gehören, läßt sich also schon von ihrer äußeren Erscheinung her etwas über ihre Persönlichkeit aussagen. Ist der Mensch in einen seiner Kämpfe mit sich selbst oder mit seiner Umwelt verstrickt, dann wird die Art und Weise, wie er den Kampf austrägt, zu einem guten Teil durch den Typ, dem er zugehört, bestimmt. Gehört er zum viszerotonen Typ, dann hat er häufig zu einem Zeitpunkt, da er sich eigentlich seinen Geschäften widmen sollte, das Bedürfnis, zu einer Party zu gehen, auf der er gut essen und trinken kann und sich in angenehmer Gesellschaft befindet; gehört er zum somatotonen Typ, wird er etwas unternehmen wollen, um die Situation zu meistern, selbst wenn das, was er unternimmt, töricht und unüberlegt ist; gehört er dagegen zum zerebrotonen Typ, wird er allein über die Situation nachdenken, während er vielleicht besser daran täte, etwas zu unternehmen oder sich in angenehme Gesellschaft zu begeben und zu versuchen, das Problem zu vergessen.

Da diese Persönlichkeitsmerkmale vom Wachstum der drei Keimblattschichten bei der Entwicklung des Embryos abhängen, läßt sich an ihnen nur schwer etwas ändern. Trotzdem erweist es sich als nützlich, über diese Typen Bescheid zu wissen, denn auf diese Weise hat man zumindest eine Ahnung, was man von seinen Mitmenschen zu erwarten hat, und kann sich auf die verschiedenen Verhaltensweisen einstellen; außerdem wird man sich so der eigenen angeborenen Tendenzen stärker bewußt und lernt, sie besser unter Kontrolle zu halten, damit man bei der Bewältigung von Problemen nicht immer wieder die gleichen Fehler macht. Das System, das sich auf die Entwicklung der drei Keimblattschichten des Embryos stützt, gilt zur Zeit als das geeignetste zur Beurteilung von Menschen nach ihrer allgemeinen äußeren Erscheinung.

2. Woher stammt die Energie des Menschen?

Um irgend etwas auf dieser Welt zu begreifen, muß man sich zwei Fragen stellen. Erstens: Aus welchen Teilen besteht es, und wie sind diese Teile zusammengesetzt? Und zweitens: Woher kommt seine Energie, und wie wird diese Energie in die richtigen Kanäle geleitet? Will man wissen, was ein Automobil ist, muß man zunächst die einzelnen Teile beschreiben und sagen, wo sie angebracht sind; dann muß man begreifen lernen, wie die Energie des Benzins durch einen bestimmten Mechanismus in die Bewegung der rollenden Räder umgewandelt wird. Ähnlich müssen wir vorgehen, wenn wir verstehen wollen, was eine eingefrorene Wasserpumpe ist, ein kaputter Fernsehempfänger, ein dahinsausender Komet, ein rauschender Wasserfall, ein wachsender Baum oder ein verärgerter Mensch. Den Aufbau beziehungsweise die Zusammensetzung bezeichnet man als Struktur, die Arbeitsweise als Funktion. Wollen wir das Universum begreifen, müssen wir sowohl seine Struktur als auch seine Funktionsweise studieren. Das gleiche gilt für ein Atom: wir studieren seine Struktur und seine Funktion. Erst dann können wir ein Schiff steuern und eine atomgetriebene Maschine bauen.

Wir haben gesehen, daß der Mensch seiner Struktur nach aus drei verschiedenen Arten von Zellgewebe besteht und daß die Art und Weise ihrer Zusammensetzung zumindest teilweise seine Aktionen und Reaktionen bestimmt. Wenn wir nun die Drüsen und das Gehirn studieren, werden wir nach und nach eine Vorstellung davon bekommen, wie die Energie des Menschen im Verlauf der Funktionsprozesse gesteuert wird.

Soweit uns bekannt ist, baut sich die Energie des Menschen aus Nahrung und Sauerstoff auf. Zusammen mit der im Körper gespeicherten Nahrungsmenge ist die Menge der eingenommenen Nahrung ausschlaggebend dafür, wieviel Energie ein Mensch mit Hilfe von Sauerstoff freisetzen kann. Durch den Verdauungsprozeß wird die Nahrung in ziemlich einfache Substanzen umgewandelt, die im Körper gespeichert und bei Bedarf durch chemische Umwandlung in Energie umgesetzt werden. Mischt man Essig und Natriumbikarbonat in einem Glas, dann beginnt das Gemisch zu sprühen und produziert Wärme, d.h. Energie. Auf eine kompliziertere Weise produzieren im Körper chemische Stoffe und Sauerstoff Wärme, so daß eine bestimmte Nahrungsmenge auch eine bestimmte Anzahl von Energie-Kalorien erzeugt, die dann dem Körper zur Verfügung stehen. Wie diese Wärme in die vom Körper benötigte Energieart umgewandelt wird, ist noch nicht hinreichend erforscht worden.

Menschliche Energie kennen wir in zwei Formen: körperliche Energie und geistig-seelische Energie – ähnlich kann man bei der Fortbewegung eines Autos feststellen, daß die dazu benötigte Energie teils vom Wagen und teils vom Fahrer stammt.

Die Hormondrüsen üben einen starken Einfluß darauf aus, wie rasch die körperliche Energie verbraucht wird und für welchen Zweck sie eingesetzt wird. Die Schilddrüse fungiert sozusagen als Gashebel und bestimmt, ob ein Mensch mit hoher oder geringer Geschwindigkeit agiert. Läßt sie ihn rascher agieren, als es seiner Nahrungsaufnahme entspricht, dann verbraucht er alle Arten von Reservesubstanzen wie zum Beispiel Fett, um die erforderliche Energie aufzubringen; daher führt eine erhöhte Tätigkeit der Schilddrüse leicht zu einer Gewichtsabnahme. Andererseits kann die Schilddrüse aber auch die Aktionsweise eines Menschen so verlangsamen, daß er mehr Nahrung zu sich nimmt, als er verwerten kann, und der Überschuß in Form von Fett und anderen Substanzen gespeichert wird; daher kann eine zu schwache Tätigkeit der Schilddrüse leicht zu einer Gewichtszunahme führen.

Wenn wir die Schilddrüse mit einem Gashebel vergleichen, so können wir die an den oberen Nierenpolen aufliegenden Nebennierendrüsen mit Raketenzündern vergleichen. Benötigen wir einen zusätzlichen Schub, dann setzen die Nebennierendrüsen plötzlich einen riesigen Energievorrat frei. Das geschieht meist dann, wenn wir kämpfen oder rasch laufen müssen; die Nebennieren sind die Drüsen, die uns aktionsfähig machen, wenn wir zornig sind oder Angst haben. Manchmal sind wir zornig oder ängstlich, ohne daß wir irgend etwas dagegen unternehmen könnten, so daß wir nicht in der Lage sind, die zusätzliche Energie zu verbrauchen. Nun muß aber mit dieser Energie irgend etwas geschehen, und da der normale Ausdrucksweg blockiert ist, wirkt sie sich unter Umständen auf die Herzmuskulatur oder andere innere Organe aus und löst Herzklopfen oder unangenehme Empfindungen aus. Jedenfalls kann sich die zusätzliche Energie nicht einfach in Nichts auflösen; wird sie nicht durch Kämpfen oder rasches Laufen bzw. durch Herzklopfen oder durch Kontraktionen anderer innerer Organe aufgebraucht, dann wird sie, wie wir noch sehen werden, aufgespeichert, bis sie eine direkte oder indirekte Ausdrucksmöglichkeit findet.

Sowohl die Schilddrüse als auch die Nebennieren lösen bei verschiedenen Menschen auch verschiedene Eigenschaften aus. Wenn manche Menschen ständig in Bewegung und andere ständig träge sind, so ist das auf ihre Schilddrüse zurückzuführen. Natürlich gibt es noch andere Gründe für derartige Unterschiede in der Energieleistung, aber wenn wir uns Ruhelosigkeit oder Trägheit erklären wollen, sollten wir stets an die Schilddrüse denken. In gleicher Weise müssen wir, wenn Unterschiede in der Erregbarkeit zur Debatte stehen, immer die Nebenniere in Betracht ziehen. Manche Menschen sind infolge ihrer Nebennieren hochempfindlich, so daß ihr Körper sich häufig in einem Zustand des Aufruhrs befindet, andere dagegen spüren niemals das mit tiefem Zorn oder Entsetzen verbundene Aufwallen animalischer Kraft.

Die Schilddrüse wirkt auf das gesamte Ausmaß der Aktivität des Menschen ein, unabhängig davon, wofür er seine Energie verbraucht. Die Nebennieren setzen zusätzliche Energie frei, um das Individuum dabei zu unterstützen, sich von Dingen, die es bedrohen oder bedrücken, zu befreien; dabei ist es gleich, wie diese Befreiung erfolgt – ob der Mensch davonläuft, ob er die bedrohende Kraft zerstört oder ob er sie veranlaßt, das Feld zu räumen.

Auch die Geschlechtsdrüsen wirken auf die Energieleistung ein; die von ihnen freigesetzte Energie trägt, ähnlich wie bei den Nebennieren, dazu bei, Kraft für besondere Zwecke bereitzuhalten. Man kann sagen, die Nebennieren unterstützen den Selbsterhaltungstrieb, indem sie zusätzliche Kraft für Befreiung oder Zerstörung freisetzen. Die Testikel und Ovarien dagegen unterstützen den Sexualtrieb, indem sie zusätzliches Interesse auf bestimmte konstruktive Tätigkeiten lenken. Ihr erdgebundenes Ziel besteht in der sexuellen Vereinigung, aber ein Teil der von ihnen freigesetzten Energie läßt sich sinnvoll auf jede romantische oder sublime Aktivität im Bereich der persönlichen Zuneigung oder des schöpferischen Tuns übertragen.

Es muß allerdings klargestellt werden, daß wir kein Recht haben, diese Drüsen selbst als Quelle der Energie und des Verlangens nach schöpferischer oder zerstörerischer Tätigkeit zu betrachten; aber in gewissem Sinn tragen sie dazu bei, solchen Wünschen Nachdruck zu verleihen und zusätzliche Energie zu ihrer Verwirklichung freizusetzen. Ältere Menschen, deren Drüsentätigkeit abnimmt, können immer noch schöpferisch tätig sein und zerstören, aber bei ihnen begegnen wir nicht mehr jener leidenschaftlichen Erregung und jener konzentrierten Energie, wie wir sie bei jüngeren Menschen finden.

Auch haben die Drüsen nichts mit der speziellen Anwendung der freigesetzten Energie zu tun. So bewirken zum Beispiel die Nebennierendrüsen eine Stärkung und eine beschleunigte Tätigkeit der Arm- und Beinmuskeln, haben aber keinen Einfluß darauf, ob die Gliedmaßen zum Kampf oder zum Davonlaufen benutzt werden. Die Geschlechtsdrüsen geben dem Menschen ein Gefühl der Stärke und der Ruhelosigkeit und erhöhen die Anziehungskraft anderer Objekte, insbesondere die anderer Menschen, in der Regel solcher des anderen Geschlechts, aber sie üben keinen Einfluß darauf aus, auf welche Weise er engeren Kontakt sucht und für wen er sich entscheidet. Besäße der Mensch nur Drüsen und kein Gehirn, würde er kaum mehr Initiative an den Tag legen als eine Flasche gärenden Weins. Das läßt sich nachweisen, indem man bei einer Katze die äußeren Gehirnteile entfernt. Unter dem Einfluß der Nebennierendrüsen gerät dann die Katze, ohne dazu provoziert zu werden, ständig in Wut und zeigt eine Bereitschaft zur Gewalttätigkeit, aber sie kennt weder das eigentliche Objekt ihrer Wut, noch ist sie imstande, sich mit dem, was sie möglicherweise wirklich bedroht, wirksam auseinanderzusetzen. Sie gerät in Rage, aber sie weiß nicht, wie oder wogegen sie agieren soll. Für jede wirksame Aktion zur Erreichung eines bestimmten Ziels ist das Gehirn eine unerläßliche Voraussetzung.

Ein interessantes Verbindungsglied zwischen diesen Drüsen und dem Gehirn ist die Hypophyse (Hirnanhangsdrüse), eine Art «Hauptdrüse», die die anderen Drüsen steuert. Sie liegt unmittelbar an der Unterseite des Gehirns und ist eng mit ihm verbunden; auf diese Weise kann sie unter Anleitung des unteren, mehr primitiven Gehirnteils in chemischer Form Botschaften an die anderen Drüsen übermitteln.

Die geistig-seelische Energie ist schwerer zu begreifen als die Bewegungsenergie, und über ihren Ursprung ist so gut wie nichts bekannt. Man weiß, daß für geistige Tätigkeit Energie benötigt wird, und es läßt sich auch nachweisen, daß das Gehirn elektrische Wellen aussendet und Sauerstoff benötigt. Das könnte bedeuten, daß sich die geistige Energie nicht allzu stark von der körperlichen Energie unterscheidet; es könnte sich durchaus um die gleiche Art von Energie handeln, die allerdings auf unterschiedliche Weise genutzt wird. Es läßt sich experimentell nachweisen, daß zwischen dem Gehirn und dem Körper, ebenso wie zwischen den einzelnen Teilen des Gehirns, Unterschiede in der elektrischen Spannung bestehen und daß diese Unterschiede sich bei jeder geistig-seelischen Tätigkeit verändern. Daraus ergibt sich, daß jede geistig-seelische Aktivität von Veränderungen der elektrischen Spannung begleitet ist.

Viel geistige Energie wird allein dazu benötigt, nichts zu tun, genauer gesagt, sich davon zurückzuhalten, etwas zu tun. Eine der Hauptfunktionen des Gehirns besteht nämlich darin, die Aktivität des Individuums zu dämpfen und zu verhindern, daß das übrige Nervensystem außer Kontrolle gerät, wie es bei der Katze mit den entfernten Gehirnteilen geschehen ist. Das niedere Nervensystem fest im Griff zu behalten, erfordert ebenso Energie wie der Versuch, unruhige Pferde unter Kontrolle zu halten.

Geistig-seelische Energie benötigt man auch, um bestimmte Ideen und Empfindungen auseinanderzuhalten, damit im Geist Klarheit und Ordnung herrschen. Hätten die verschiedensten Ideen und Eindrücke die Möglichkeit, ungehindert zusammenzuströmen, dann sähe der Geist des Menschen ebenso unordentlich aus wie ein Heuhaufen. Läßt man normalerweise getrennt gehaltene Ideen und Empfindungen zusammenkommen wie etwa beim Erzählen von Witzen oder in peinlichen Situationen, dann wird die vorher zu ihrer Trennung benötigte Energie frei und kann nun für andere Zwecke verwendet werden; sie kann zum Beispiel eine Rolle spielen, wenn es zu dröhnendem Gelächter, zu einem Tränenausbruch oder zu plötzlichem Erröten kommt.

In Situationen, in denen es um gesellschaftliches Prestige geht, wird zum Beispiel das Gefühl des Respekts, das gesellschaftlich «Tieferstehende» oft empfinden, in der Regel mit Hilfe geistig-seelischer Energie scharf getrennt von den Ressentiments, die solche Situationen auslösen. Gelegentlich kommen allerdings die aufgestauten Ressentiments in einer offenen Rebellion zum Ausdruck. In anderen Fällen drückt sich ein Teil solcher Ressentiments in verdeckter Form als Witz oder Scherz aus; die Energie, die bisher dazu benötigt wurde, die Ressentiments unter Kontrolle zu halten, wird nun bei den Zuhörern frei und schafft sich – zusammen mit der Energie der zum Ausdruck gebrachten Ressentiments – in einem Lächeln oder lautem Lachen Luft.

Das läßt sich an Hand des folgenden Witzes illustrieren. Eine Frau stieg in einen Bus und weigerte sich, einen Fahrschein zu lösen. Als der Schaffner darauf bestand, daß sie entweder ihr Fahrgeld entrichten oder aber wieder aussteigen müßte, antwortete sie hochnäsig:

«Sie können mich nicht zwingen, Fahrgeld zu bezahlen. Schließlich bin ich eine der Direktorsfrauen.»

Der Fahrer ließ sich nicht einschüchtern.

Zum Ergötzen der anderen Fahrgäste antwortete er: «Das ist mir egal. Selbst wenn Sie die einzige Frau des Direktors sind, bezahlen müssen Sie trotzdem.»

In diesem Fall machten die mit dem Schaffner sympathisierenden Zuhörer im Geist den gleichen Prozeß der Trotzhaltung und der Befreiung von Ressentiments durch wie der Schaffner. Er selbst benutzte die auf diese Weise frei gewordene Energie zu einer Erwiderung, die Zuhörer benutzten sie zum Lachen. In beiden Fällen kam noch die Energie hinzu, die dadurch frei wurde, daß man die Vorstellungen von «Wohlhabenheit» und «Polygamie» offen in Verbindung brachte. Durch das Aufdecken dieser und anderer verborgener Zusammenhänge wurden sozusagen Energiesammlungen freigegeben, die die verschiedenen Parteien zum Lachen, zum Sprechen oder zum Kritisieren benutzten.

Wir sehen also, daß unsere Energie aus der Nahrung stammt, die wir zu uns nehmen, und aus der Luft, die wir atmen, und daß die Drüsen entscheidend mitbestimmen, wieviel Energie in Zeiten der Ruhe und in Zeiten der Erregung freigesetzt wird, während der menschliche Geist am Ende darüber bestimmt, für welchen genauen Zweck die freigewordene Energie verwendet wird. Will man also das Ausmaß oder die Zielrichtung der Energieleistung eines Menschen ändern, so ergeben sich dafür drei Ansatzpunkte. Die Veränderung der Energieproduktion aus Nahrung und Luft gehört in den Bereich der inneren Medizin; dieses Problem stellt sich in Fällen von Krankheiten der Leber, der Lunge und der Muskeln, in Fällen von Anämie usw. Die Veränderung der Freisetzung von Energie und die verschiedenen Drüsen ist eine komplizierte Sache, bei der Internisten und Psychiater zusammenarbeiten können. Die Steuerung der Energieleistung durch den Geist ist das Problem der Psychiatrie, und mit ihm wollen wir uns in den weiteren Kapiteln dieses Buches befassen.

3. Wozu ist das Gehirn da?

Man hat früher – nicht ganz zutreffend – das Gehirn mit einer Telefonzentrale verglichen, denn in ihm werden die Verbindungen zwischen Ideen hergestellt sowie zwischen den Dingen, die sich ereignen, und unseren Reaktionen darauf. Schon allein in dieser Hinsicht ist das Gehirn weit komplizierter als alles, was der Mensch maschinell herstellen könnte. In einem einzigen Gehirn gibt es mehr mögliche Verbindungen, als es sie in einer Welt-Telefonzentrale geben würde, wenn jeder lebende Mensch einen Telefonanschluß besäße. Außerdem scheint stets ein Teil des Gehirns in der Lage zu sein, im Notfall für einen anderen Teil einzuspringen, und zwar weit müheloser, als das bei jedem von Menschen hergestellten Telefon-Klappenschrank möglich wäre. Heute können wir das Gehirn mit einem Computer vergleichen. Vermutlich arbeiten bestimmte Teile des Gehirns tatsächlich wie ein Computer, aber auch da wiederum ist das Gehirn der betriebssicherste, fortschrittlichste, leistungsfähigste und sich am wirksamsten selbst korrigierende Computer, von dem wir bisher wissen.

Das in zwei Hemisphären unterteilte Gehirn ruht im oberen Teil der Schädelhöhle und hat etwa die Größe einer ausgewachsenen Kokosnuß. Das Rückenmark hat die Form eines dünnen Rohrstocks mit einem oben aufgesetzten Knauf. Das Gehirn umgibt diesen Knauf und ist mit ihm durch Millionen kleiner Nervenstränge verbunden.

Häufig fragen sich die Menschen, einen wie großen Teil seines Gehirns man wirklich benötigt und wieviel man entbehren könnte. Gelegentlich wird das Gehirn vor, während oder nach der Geburt beschädigt; in einem solchen Fall können wir die oben gestellten Fragen beantworten, denn der geschädigte Gehirnteil verflüssigt sich meist nach einem gewissen Zeitraum: die Gehirnsubstanz verschwindet, und an ihre Stelle tritt eine Ansammlung wässeriger Flüssigkeit. Es ist in der Tat erstaunlich, wenn man in solchen Fällen sieht, ein wie großer Teil des Gehirns zerstört werden kann, ohne daß der Betroffene oder seine Freunde merken, daß irgend etwas nicht in Ordnung ist. Ich kenne einen Mann, der in seinem Gehirn mehrere größere Flüssigkeitsansammlungen dieser Art hatte. Von seiner Geburt an war bei ihm nur etwa die Hälfte der Gehirnsubstanz intakt. Trotzdem absolvierte er, offenbar ohne größere Schwierigkeiten, die Mittelschule und war zu der Zeit, als er den Arzt aufsuchte, erfolgreich als Kraftfahrzeugmechaniker tätig. Der einzige Grund, weshalb er sich behandeln lassen wollte, war, daß er plötzlich epileptische Krämpfe hatte. Bis dahin hatten weder er noch seine Angehörigen bemerkt, daß etwas mit ihm nicht stimmte. Erst als er zu einem Facharzt ging, stellte sich heraus, daß bei ihm irgend etwas nicht in Ordnung war. Wegen gewisser kleiner Unregelmäßigkeiten im Sehvermögen und in seiner Muskelstruktur, die ihn bei der Arbeit nie so behindert hatten, daß es ihm aufgefallen wäre, nahm der Neurologe eine spezielle Röntgenuntersuchung vor, bei der dann die «Löcher» in seinem Gehirn entdeckt wurden.

Einige Teile der Gehirns haben spezielle Aufgaben, andere Teile sind dagegen in der Lage, einander zu ersetzen. Verflüssigt sich einer der mit speziellen Aufgaben betrauten Gehirnteile, dann ist der Mensch nicht mehr imstande, die mit diesem Gehirnteil verbundene Funktion auszuüben. Schwindet beispielsweise eine Hälfte des hinteren Gehirnteils, kann der betreffende Mensch die Hälfte der vor ihm befindlichen Objekte nicht mehr wahrnehmen und ist halbseitig blind (allerdings nicht zum Beispiel im rechten Auge, sondern in der rechten Hälfte beider Augen). Verflüssigen sich beide hinteren Gehirnteile, tritt eine nahezu völlige Blindheit ein. In Ausnahmefällen können sogar die Funktionen dieser mit speziellen Aufgaben betrauten Gehirnteile von anderen Gehirnpartien übernommen werden. Ein Schlaganfall ist stets auf die Zerstörung eines Gehirnteils zurückzuführen, der einen bestimmten Muskelbereich steuert. Wird dieser Gehirnteil zerstört, versteifen sich die Muskeln, und das betreffende Individuum ist nicht mehr imstande, sie normal zu steuern. Durch entsprechendes Training assen sich jedoch häufig andere Gehirnteile dazu bringen, diese Funktion zu übernehmen; auf diese Weise gelingt es manchen Menschen nach einem Schlaganfall, die Kontrolle über sich wiederzugewinnen. Bei dem erwähnten Kraftfahrzeugmechaniker hatten die meisten der zerstörten Gehirnteile zufällig keine speziellen Funktionen.

Der Grund dafür, daß man soviel Gehirnsubstanz entbehren kann, ist, daß das Gehirn in der Regel als Ganzes agiert. In dieser wie in vielfacher anderer Hinsicht funktioniert es anders als eine Telefonzentrale oder ein Computer. Würden in Frankreich einige Telefonzentralen zerstört, wäre der Telefondienst dort erheblich beeinträchtigt. Würden einige der Informationsspeicher eines französischen Übersetzungs-Computers zerstört, so würde der Computer ein entsprechendes Maß seiner Übersetzungskapazität einbüßen. Lernt dagegen ein Mensch die französische Sprache, dann läßt sich diese Kenntnis nicht durch Zerstörung eines bestimmten Gehirnteils beeinträchtigen, denn der Mensch lernt die französische Sprache mit seinem gesamten Gehirn, nicht mit einem bestimmten Teil. Es gibt keinen «Höcker» für Fremdsprachen.[*] Man könnte fast sagen, das Fehlen einiger Gehirnteile wirkt sich auf das Wissen, das Denken und andere Aspekte des Geistes nicht stärker aus als der Verlust eines Beins. In Wirklichkeit liegen die Dinge sogar so, daß der Verlust eines Beines häufig mehr geistig-seelische Symptome verursacht als der Verlust eines Teils der Gehirnsubstanz.

Man sollte das Gehirn als einen Bestandteil jenes Energiesystems ansehen, das der Mensch darstellt. Wenn wir es so betrachten, dürfen wir annehmen, daß das Gehirn noch eine weitere Funktion besitzt, die meistens ebenso wichtig ist wie die Funktion, die es als «Telefonzentrae» oder «Computer» ausübt, nämlich Energie zu speichern. Manches spricht dafür, daß das Gehirn tatsächlich diese Funktion erfüllt. Erinnern wir uns noch einmal an die Katze, deren obere Gehirnteile entfernt wurden. Das Tier schien nicht mehr in der Lage, irgendwelche Empfindungen zu speichern, es geriet schon bei der geringsten Provokation in Wut. Es war auch nicht mehr imstande, irgendwelche Erinnerungen an das Geschehen zu speichern oder bestimmte Reaktionen zurückzuhalten, wie zum Beispiel das Bewegen seiner Gliedmaßen, wenn es dazu gereizt wurde. Bei Menschen mit gesundem, vollständigem Gehirn ist die Fähigkeit, geistig-seelische Energie zu speichern, stark entwickelt. Normalerweise können Erwachsene ihre Empfindungen speichern, bis es ihnen angemessener erscheint, sie zum Ausdruck zu bringen; sie können Erinnerungen speichern und sie später abrufen; sie können ihr Bedürfnis, auf bestimmte Reize mit einer Bewegung ihrer Gliedmaßen zu reagieren, speichern, wie sie es tun müssen, wenn sie beim Zahnarzt im Behandlungsstuhl sitzen. In manchem Fällen wird bei der Behandlung bestimmter Geisteskrankheiten der vordere Teil des Gehirns durchschnitten (Leukotomie). Auf Grund der Beobachtungen, die wir dann machen, können wir den Schluß ziehen, daß der Patient seine Empfindungen und Impulse jetzt nicht mehr so gut speichern kann wie vor dem Eingriff. Nach einer solchen Operation handelt der Patient weit impulsiver und gibt seine Empfindungen rascher zu erkennen als vorher.

Viele sonst mysteriös erscheinende Phänomene lassen sich erklären, wenn wir davon ausgehen, daß eine Funktion des Gehirns das Speichern von Energie ist. Unter diesem Gesichtspunkt ist das Gehirn das Organ des Wartens.

Einer der wichtigsten Faktoren für das Verhalten in Familie und Gesellschaft und bei allen zwischenmenschlichen Beziehungen ist die Fähigkeit, ohne innere Schwierigkeiten Energie zu speichern, wenn das Individuum zu der Einsicht gelangt, daß es ratsam ist, abzuwarten, bevor es etwas unternimmt. Trifft unsere Annahme zu, dann ist es das Gehirn, das die von den Drüsen und anderen Quellen freigesetzte Energie bis zum geeigneten Augenblick speichert. So gesehen würde die Speicherkapazität des Gehirns eine wichtige Rolle dabei spielen, die Menschen davon abzuhalten, irgendwelche törichten Dinge zu unternehmen, nur weil sie sich auf Grund innerer Spannungen plötzlich dazu gedrängt fühlen. Man könnte sich sogar vorstellen, daß das Gehirn im Alltagsleben ständig aufgeladen wird, also gleichsam ein lebendiger Akkumulator ist. Ein gutes Beispiel dafür ist der «Fall mit dem Zehn-Dollar-Klaps».

Midas King, Inhaber der Firma Olympic Cannery, gehörte zum viszerotonen Typ. Er war von rundlicher Statur, nervös und leicht reizbar. Während der Hauptsaison herrschte in seiner Konservenfabrik stets eine gespannte Atmosphäre. Alle arbeiteten mit Hochdruck, es gab viele personelle Veränderungen, und häufig kam es zu irgendwelchen, gelegentlich auch schwerwiegenden Pannen. In solchen Zeiten ergaben sich Tag für Tag neue Unannehmlichkeiten für Mr. King, aber in seiner Fabrik versuchte er stets, die Beherrschung zu wahren. Eines Tages begab er sich wegen seines hohen Blutdrucks bei Dr. Treece in psychiatrische Behandlung.

Mrs. King begleitete ihren Mann und berichtete dem Arzt von einem Vorfall, der sich am vorhergehenden Abend ereignet hatte. Als Mr. King von der Fabrik nach Hause kam, hatte er zunächst ganz friedlich gewirkt, aber dann stellte sein dreijähriger Sohn irgend etwas an, und Mr. King strafte ihn unvermittelt mit einem kräftigen Klaps auf den Kopf. Mr. King fand diese Maßnahme gerechtfertigt, aber seine Frau sagte ihm, er sei zu weit gegangen; sie nahm den Kleinen in die Arme, streichelte ihn und versuchte ihn zu besänftigen. Der Anlaß für Mr. Kings Zornausbruch: das Kind hatte eine Dollarnote in Stücke gerissen. Inzwischen bereute Mr. King, daß er das Kind so hart bestraft hatte.

«Ich glaube, ich kann Ihnen sagen, was geschehen ist», sagte Dr. Treece. «Der Junge hat eine Dollarnote zerrissen, aber statt ihn dem Wert des einen Dollars entsprechend zu strafen, haben Sie ihm einen Zehn-Dollar-Klaps gegeben, nicht wahr?»

Mr. King und seine Frau stimmten darin überein, daß diese Schilderung dem Sachverhalt entsprach.

«Das Problem ist nur», sagte der Arzt, «woher stammte die Verärgerung, die den restlichen neun Dollar entspricht?»

«Die hat der Ärmste natürlich aus der Fabrik mit heimgebracht», antwortete Mrs. King.

«Seine Gefühle haben sich in der Fabrik aufgeladen und zu Hause entladen», sagte der Arzt. «Und jetzt, nachdem das schon ein paar Jahre lang so gegangen ist, reicht ein geruhsames Wochenende nicht mehr aus, um seinen Blutdruck wieder so rasch herunterzubringen, wie das früher der Fall war. Wir sollten also versuchen, herauszufinden, wie Ihr Mann es vermeiden kann, sich tagsüber so leicht aufzuregen.» Bei sich dachte der Arzt: Irgend etwas stimmt hier nicht. Obwohl er den Jungen so heftig auf den Kopf geschlagen hat, nennt seine Frau ihn immer noch «der Ärmste». Vor allem muß ich dafür sorgen, daß er den Jungen nicht wieder auf den Kopf schlägt. Was tun? Ein erholsames Wochenende?

Wir müssen hier die Bemerkung einflechten, daß ein Kind, ebenso wie ein Gesetzesbrecher, durch Erfahrung lernt, welche Strafe es für ein bestimmtes Vergehen zu erwarten hat. Eine dieser Erwartung entsprechende Strafe akzeptiert es im allgemeinen ohne Groll. Bekommt es aber eine «Zehn-Dollar-Strafe» für ein «Ein-Dollar-Vergehen», so stauen sich in ihm gewissermaßen für neun Dollar Ressentiments, da auch ein noch unerfahrenes Kind irgendwie spürt, daß es damit zum Sündenbock für irgendwelche Vergehen anderer gemacht wird, und diesen Mangel an Fairness übelnimmt.

Das Beispiel zeigt, wie eminent wichtig die Speicherung von Energie und die Art ihrer Freisetzung ist – nicht nur für ein reibungsloses Funktionieren des Körpers, sondern auch für die zwischenmenschlichen Beziehungen am Arbeitsplatz und in der Familie. Außerdem werden auch Empfindungen, Kenntnisse und Erfahrungen gespeichert, und zwar in Form von Erinnerungen. Bei geistig zurückgebliebenen Menschen ist die Fähigkeit zur Speicherung derartiger Elemente wesentlich schwächer ausgebildet: sie haben daher Mühe, sich an bestimmte Dinge zu erinnern. Es handelt sich dabei um zwei verschiedene Arten der Speicherung. Die Fähigkeit, Kenntnisse zu speichern, hat mit der Fähigkeit, Empfindungen zu speichern, nicht unmittelbar etwas zu tun. Das ist der Grund dafür, daß sich manche «intelligente» Menschen in ihren zwischenmenschlichen Beziehungen falsch verhalten, und teilweise auch der Grund dafür, daß jemand, der etwas schwer von Begriff ist, trotzdem mit seinen Mitmenschen oft gut auskommt. Wir bewundern Menschen wegen ihrer Intelligenz, aber unsere Zuneigung hängt davon ab, wie sie mit ihren Empfindungen umzugehen verstehen. Bei der Entfaltung seiner Persönlichkeit muß sich ein Mensch also entscheiden, ob er die eine oder die andere Seite stärker entwickeln will oder aber beide zugleich. Entwickelt er nur seine Fähigkeit, Erinnerungsvorstellungen zu speichern, dann mag man ihn bewundern, wird ihm aber nicht unbedingt Zuneigung entgegenbringen. Hat ein Mensch nicht nur das Verlangen nach Bewunderung, sondern auch nach Zuneigung, so erweist es sich meist als vorteilhaft, wenn er auch die Fähigkeit entwickelt, seine Empfindungen zu speichern und sie auf angemessene Weise zum Ausdruck zu bringen.

In beiden Fällen handelt es sich um geistig-seelische Phänomene, bei denen das Gehirn wahrscheinlich das am unmittelbarsten beteiligte Organ des Körpers ist. Es ist das Organ des Lernens und des Wartens, das Erinnerungsvorstellungen speichert; es ist ferner das zentrale Organ, das die Verbindung zwischen verschiedenen Ideen herstellt und sich mit den Vorgängen in unserer Umwelt und unseren Reaktionen darauf befaßt.

4. Warum die Menschen so handeln und empfinden, wie sie es tun

Die Handlungen und Empfindungen eines Menschen richten sich nicht nach der Wirklichkeit der Dinge, sondern nach dem geistigen Vorstellungsbild, das er von ihnen hat. Jeder hat bestimmte Vorstellungen von sich selbst, von der Welt und von seinen Mitmenschen, und er verhält sich so, als seien diese Vorstellungsbilder – und nicht etwa die Objekte, die sie repräsentieren – die eigentliche Wirklichkeit.

Einige Vorstellungsbilder haben bei nahezu jedem normalen Menschen das gleiche Schema. Die Mutter ist tugendhaft und gütig, der Vater streng, aber gerecht, der Körper stark und vollkommen. Besteht Grund zu der Annahme, es könnte in irgendeiner Beziehung das Gegenteil der Fall sein, dann wehren sich die Menschen in ihrem tiefsten Innern, daran zu glauben. Sie wollen sich in ihren Empfindungen auch weiterhin nach den allgemeingültigen Vorstellungsbildern richten, ohne Rücksicht darauf, ob diese mit der Wirklichkeit übereinstimmen oder nicht. Wenn sie gezwungen werden, ihre Vorstellungen zu ändern, werden sie traurig und ängstlich und gelegentlich sogar geisteskrank.

So ist zum Beispiel die Vorstellung, die die Menschen von ihrem eigenen Körper haben, nur sehr schwer zu ändern. Verliert ein Mann ein Bein, dann ist es für ihn schwierig, sich damit abzufinden; er muß erst eine Art «Trauerzeit» durchmachen, in der es ihm gelingt, die Vorstellung von seinem Körper zu ändern und der neuen Situation anzupassen. Aber selbst dann behält er tief in seinem Innern das alte Vorstellungsbild von sich bei. Noch Jahre nach dem Verlust des Beins sieht er sich im Traum zuweilen als unversehrten Mann, und gelegentlich stolpert er, weil er einen Augenblick lang seinen körperlichen Zustand vergessen hat. Solche Vorkommnisse zeigen, daß ihm in seiner «Trauerzeit» die Umstellung nicht vollständig gelungen ist.

Auch die Vorstellungsbilder, die die Menschen von ihren Eltern haben, sind nur schwer zu ändern. Gelegentlich erscheint im Traum der schwächliche Vater als starker Mann, die trunksüchtige Mutter als makellose Frau oder der verstorbene Elternteil als lebendes Wesen. Ein Vorstellungsbild zu ändern, wenn sich dies als nötig erweist, bedeutet ein hartes Stück Arbeit, und das ist einer der Gründe, warum die Menschen es so ungern tun. Stirbt ein Mensch, der einem nahesteht, dann kostet die sich in der «Trauerzeit» vollziehende Bemühung, das bisherige Vorstellungsbild der neuen Situation anzupassen, viel Kraft und führt zu Erschöpfung und zu Gewichtsverlust. Jemand, der sich in einer solchen «Trauerzeit» befindet, ist morgens beim Aufstehen oft abgespannter als beim Schlafengehen, und er hat das Gefühl, als habe er die ganze Nacht hart gearbeitet. Der Grund dafür ist, daß er tatsächlich nachts hart gearbeitet hat – an der Änderung seines geistigen Vorstellungsbildes.

Es gibt noch andere, infolge besonderer Umstände nur bestimmten Individuen eigene Vorstellungen, die sich ebenfalls schwer ändern lassen. «Das Phantom im Schlafzimmer», das geistige Vorstellungsbild, das ein wiederverheirateter Mann von seiner ersten Frau hat, kann sich nachteilig auf die Beziehungen zu seiner zweiten Frau auswirken; «die Mutter mit der Hand an der Türklinke» ist ein Vorstellungsbild, das eine Frau psychisch belasten kann, selbst wenn sie weit entfernt von ihrem Elternhaus lebt: sie hat ständig das Gefühl, als würde alles, was sie tut, von ihrer abwesenden oder verstorbenen Mutter kritisiert, so als lauschte diese immer hinter der Tür. In Wirklichkeit trägt die Tochter das Vorstellungsbild von ihrer Mutter in Gedanken mit sich herum, und in diesem Sinn lauscht die Mutter tatsächlich hinter der Tür.

Die Geschichte von Nana Curtsan ist ein gutes Beispiel für eine andere Art von individuellen Vorstellungsbildern, die das Verhalten auch dann noch beeinflussen können, wenn sich die entsprechenden Voraussetzungen geändert haben. Bis zum tragischen Tod ihres Vaters war Nana ein ziemlich pummeliges Mädchen. Da ihre Mutter nicht mehr lebte und ihr Vater ein Trinker war, hatte sie ein starkes Verlangen nach Zuneigung und war bereit, dafür alles zu tun. Die Folge war, daß sie bald in einen schlechten Ruf kam, das bereitete ihr zwar Kummer, aber sie war nicht imstande, ihr starkes Verlangen nach männlicher Gesellschaft unter Kontrolle zu halten, und da sie eine unansehnliche Figur hatte, mußte sie bis zum Äußersten gehen.

Nach dem Tod ihres Vaters verlor sie stark an Gewicht, und aus dem ursprünglichen Fettpolster schälte sich ihre wahre Figur heraus, etwa so, wie eine schlanke, anmutige Frauenstatue aus einem unförmigen Steinblock entsteht. Zwei ihrer alten Freunde, der Bankierssohn Ralph Metis und Josiah Tally, der Kassierer der Bank, waren von ihrer neuerblühten Schönheit so hingerissen, daß sie ernsthaft erwogen, Nana trotz ihres schlechten Rufes zu heiraten.

Unglücklicherweise war Nana jedoch außerstande, ihr Vorstellungsbild von sich selbst zu ändern. Zwar bestätigte ihr der Spiegel, was die Freunde ihr vorschwärmten, aber sie betrachtete sich weiterhin als körperlich unattraktives Mädchen, das bis zum Äußersten gehen mußte, um in den Genuß der ersehnten Zärtlichkeiten zu gelangen. Sie konnte sich nicht entschließen, ihr Verhalten zu ändern, und das Ergebnis war, daß die entsetzten Eltern von Ralph und Josiah erfolgreich intervenierten und Nana die Chancen für eine gute Partie verlor.

Nana, die nicht aufhören konnte, sich stets als «reizlose Dryade» zu betrachten, ist mit ihrer Geschichte das genaue Gegenteil vieler Frauen, die sich trotz fortgeschrittenen Alters noch als die «bezaubernde Sylphide» sehen, die sie in ihrer Jugend einmal gewesen sein mögen und die entsprechend agieren, was manchmal zu erschütternden Ergebnissen führt und manchmal – bei etwas Glück – zu charmantem Erfolg.

Derartige geistige Vorstellungen, die unser Verhalten bestimmen, sind in hohem Maße mit Gefühlen befrachtet. Wenn wir sagen, daß wir jemanden lieben, dann meinen wir damit, daß die Vorstellung, die wir von ihm haben, in hohem Maße mit konstruktiven, zärtlichen und hochherzigen Empfindungen befrachtet ist. Sagen wir dagegen, wir hassen einen Menschen, dann meinen wir damit, daß die Vorstellung, die wir von ihm haben, mit destruktiven, zornigen und engherzigen Empfindungen befrachtet ist. Wie der betreffende Mensch in Wirklichkeit ist oder welchen Eindruck er auf andere Menschen macht und was diese für ihn empfinden, das alles spielt dabei nur indirekt eine Rolle. Wir verlieren nicht unsere Liebe zu Pangyne und verlieben uns in Galatea, sondern wir verlieren unsere Liebe zu unserem Vorstellungsbild von Pangyne und verlieben uns in unser Vorstellungsbild von Galatea. Galatea tut nichts weiter dazu, als daß sie es uns leichtmacht, uns ein liebenswertes Bild von ihr zu formen. Wenn wir gerade Sehnsucht haben, uns zu verlieben, kommen wir Galatea insofern entgegen, als wir alles Liebenswerte an ihr in unserem Vorstellungsbild hervorheben und alle nachteiligen Eigenschaften unbeachtet lassen. Es ist daher leichter, sich nach einer Enttäuschung erneut zu verlieben, als es beim erstenmal war, denn wenn das geistige Vorstellungsbild der ersten Liebe in uns zerbricht, bleibt ein Vakuum zurück, zusammen mit einer Fracht von Empfindungen, die dringend nach einem Ersatz suchen. Getrieben von einer Art horror vacui, romantisieren wir unsere Vorstellung von der nächsten Frau, zu der wir uns hingezogen fühlen, so daß sie rasch die Lücke ausfüllen kann.

Zwar hängen wir an unseren Vorstellungsbildern und ändern sie nur widerwillig, aber im Lauf der Zeit macht sich bei uns eine Tendenz bemerkbar, sie im Verhältnis zur Wirklichkeit stark zu romantisieren. Ältere Menschen sehen in der manchmal recht zwiespältigen Vergangenheit immer «die guten alten Zeiten», und manche Menschen sehnen sich aus der Ferne nach Hause zurück und sind enttäuscht, wenn sie dann wirklich zurückkehren. Die meisten Menschen freuen sich, wenn sie nach langer Zeit alte Freunde oder auch alte Feinde wiedersehen, da sie durch Retuschen inzwischen das Negative in ihrem Vorstellungsbild von ihnen abgeschwächt und das Positive verstärkt haben.

Hektor Meads und seine Familie sind gute Beispiele für die Neigung der Menschen, ihre Vorstellungsbilder von Personen und Dingen, von denen sie getrennt sind, mit fortschreitender Zeit zu romantisieren. Hektor war das einzige Kind von Archie Meads, dem Eigentümer der Olympia-Garagen. Ganz ohne eigenes Zutun wurde Hektor als Regierungsangestellter der Vereinigten Staaten nach Europa und einige Zeit darauf in ein kleines Land in Asien geschickt. Als er von dort nach einjährigem Aufenthalt in die Vereinigten Staaten zurückkehrte, war er ruhelos, nervös und reizbar und konnte sich zu Hause nicht wieder einleben. Er nörgelte ständig herum und gebärdete sich so merkwürdig, daß seine Mutter, eine ohnehin schon nervöse Frau, bald vor Kummer nicht mehr ein noch aus wußte.