Identität im Angebot - Paul Kavaliro - E-Book

Identität im Angebot E-Book

Paul Kavaliro

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Beschreibung

Jannis ist ein Technik-Enthusiast. Aber ist er auch ein Mörder? Sein Leben nimmt eine Kehrtwende, als er verdächtigt wird, einen Kollegen ermordet zu haben. Und die Polizei legt eine erdrückende Last von Beweisen auf den Tisch. Dabei ist er unschuldig! Oder? Ist er Opfer eines abgekarteten Spiels? Will ihn jemand zu einer anderen Person mit einer dunklen Seite abstempeln oder gar seine Identität kapern? Und das in Zeiten, in denen ein einfacher Ausweis nicht reicht, um zu zeigen, wer man ist. Heute ist man ein Eintrag in einer Datenbank mit all dem verknüpften Wissen über die Person, die Arbeit, die Gesundheit. Wenn dort etwas nicht passt, dann gerät das moderne Leben schnell aus den Fugen. Ein Spiel um Vergangenheit und Zukunft kommt in Gang – mit einigen Überraschungen.

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Seitenzahl: 328

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Identität im Angebot

Paul Kavaliro

Buchbeschreibung

Jannis ist ein Technik-Enthusiast. Aber ist er auch ein Mörder? Sein Leben nimmt eine Kehrtwende, als er verdächtigt wird, einen Kollegen ermordet zu haben. Und die Polizei legt eine erdrückende Last von Beweisen auf den Tisch. Dabei ist er unschuldig! Oder?

Ist er Opfer eines abgekarteten Spiels? Will ihn jemand zu einer anderen Person mit einer dunklen Seite abstempeln oder gar seine Identität kapern? Und das in Zeiten, in denen ein einfacher Ausweis nicht reicht, um zu zeigen, wer man ist. Heute ist man ein Eintrag in einer Datenbank mit all dem verknüpften Wissen über die Person, die Arbeit, die Gesundheit. Wenn dort etwas nicht passt, dann gerät das moderne Leben schnell aus den Fugen.

Ein Spiel um Vergangenheit und Zukunft kommt in Gang – mit einigen Überraschungen.

Über den Autor

Paul Kavaliro schreibt Bücher für Kinder (Spuk für Anfänger) und Erwachsene (Final Logout, Die zwei Seiten des Ichs, Wenn die Raben südwärts ziehen, Die Klick-Demokratie, Herrscher der Gedanken, Digitaler Erstschlag), auch als Ratgeber (Heimwerken macht sexy).

Beim Literaturwettbewerb Goldenes Kleeblatt gegen Gewalt 2024 erhielt er den 2. Preis.

Identität im Angebot

Geschichten aus der Zukunft 7
Paul Kavaliro

paul-kavaliro.com

Impressum

Texte und Umschlag:

© Copyright Alf Ritter Alle Rechte vorbehalten

Bilder:

Hello Cdd20 auf Pixabay

Suzy Hazelwood auf Pexels

Verlag:

Alf Ritter

Weidenstraße 10A

D-85253 Erdweg

E-Mail:

[email protected]

URL:

paul-kavaliro.com

Druck:

epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin,

www.neopubli.de

Erstveröffentlichung:

6. Dezember 2025

Ein neuer Tag

24. Juli, Dienstag

Jannis ist spät dran. Er muss ins Büro, am besten schnell. Eilig erledigt er die letzten Handgriffe zu Hause, räumt den Frühstückstisch auf. In seinem Single-Haushalt herrscht Ordnung! Zumindest meistens.

Aus dem Arbeitszimmer holt er den Büro-Laptop und verstaut ihn in seinem leichten Rucksack. Gestern hat er abends lange gesessen und am neuen Datenbankschema gefeilt. Das wird er heute der Chefin vorstellen – Solveig Hansen, mit der er einen Termin hat.

Doch nicht nur der Tatendrang und die innere Unruhe treiben ihn zeitig aus seiner Wohnung. Er muss in der Firma etwas schaffen, bevor es draußen zu heiß wird. Dann wird es die Energieverbrauchs-freundlich gedrosselte Klimaanlage nicht mehr hinkriegen, die Büroräume kühl zu halten. Die wie ein Tonnengewicht drückende Hitze bremst dann regelmäßig die Denkprozesse aus.

Es ist heiß in der Stadt – der Klimawandel lässt grüßen. Es gibt Kollegen, die starten schon 6 Uhr in der Frühe. Dann hält man es aus. Mitten in der Nacht wie diese Frühmorgen-Ameisen zu arbeiten, das ist Jannis zu viel. Aber immer noch im zeitigen Pulk einzutreffen verheißt Produktivität und erste Arbeitsergebnisse, bevor man den Handfächer für eine kühle Brise auspacken muss, denn Ventilatoren und andere Energiefresser sind zu Recht verpönt.

Beim Blick in den Spiegel denkt er sich öfter, dass ihm im Sommer ein kürzerer Haarschnitt Erleichterung verschaffen könnte. Aber deswegen seine rote Haarpracht stutzen? Das kommt ihm wie eine Selbstaufgabe vor. Er steht zu dem, was er ist und wie er aussieht.

Außerdem: Jammern gilt nicht. Wenn es hier in Berlin schon so heiß ist, was sollen dann die Menschen in Dubrovnik oder Tunis sagen?

Egal, er muss los. Der Tag heute kann nur besser als der gestrige werden. Jannis hat sich – nicht zum ersten Mal – mit dem Kollegen Ruben Kraus in die Haare gekriegt. Und das unter den scheuen, sorgenvollen Blicken der anderen Mitarbeiter.

Ruben nervt! Immer diese Richtungsdebatten. Da kann Jannis nicht klein beigeben, muss dagegenhalten. Als innovative Firma der Informationstechnologie steht Hansen Data Security vor einer Weggabelung: Bewahrt sie die Selbstständigkeit oder erliegt sie der Verlockung des Anschlusses an einen der großen internationalen Player? Traut sie sich das Risiko des souveränen aufrechten Ganges zu oder begibt sie sich in einen sicheren Hafen? Und wird sie in diesem dann nicht nur versenkt, nachdem sich der neue Boss erfolgreich die Produktideen einverleibt hat? Wählt sie Selbstbestimmung oder tanzt sie nach der Pfeife anderer? Heißt es „Made in Europe“ oder „Made in Germany“ oder wird sie zur US-amerikanischen oder chinesischen Dependance im Herzen von Europa?

Wobei: Jannis ist mitnichten an nationalistischem Getöse gelegen. Wie sollte er auch? Sein Vorname ist nicht gerade urdeutsch, sondern aus dem Faible der Eltern für Griechenland geboren, was sie oft besucht haben. Er ist grundsätzlich offen für den Austausch und die Kooperation mit anderen. Doch eine vornehmere Art der Selbstaufgabe, so wie Kraus sie propagiert, ist nicht seine Sache.

Er möchte als Befürworter der europäischen digitalen Souveränität eine Trendumkehr bewirken. Sein Ziel ist es, dass es Produkte und Technik gibt, die hier entstehen, die wachsen und gedeihen, und die nicht von woanders her gesteuert werden.

Ruben sagt dann immer, dass Jannis endlich aufwachen solle und dass man sich besser rechtzeitig Verbündete sucht, bevor man aus dem Markt gedrängt wird. Der Kollege ist kein heißblütiger Kämpfer. In seiner Brust schlägt das Herz eines Verwalters, eines biederen obendrein.

Bestimmt ist der neuerliche Disput mit ihm gestern bis zur Chefin gedrungen. Sie selbst hält sich bislang bedeckt, in welche Richtung sie die Weiche stellen will. Ihr Pokerface lässt keinen Trend erkennen. Auch ist sie nicht gerade ein Anhänger eines offenen Streits unter Mitarbeitern. Jannis wird einen Teil der Redezeit mit ihr heute darauf verwenden müssen, den Diskurs mit Kraus von gestern zu übertünchen und sich in ein besseres Licht zu stellen.

Jannis kramt in seinen Hosentaschen: Hat er die Zugangskarten fürs Büro und für die abendliche Rückkehr ins traute Heim dabei? Ja, gut. Los gehts. Mit einem Schwung wirft er den Rucksack mit dem Laptop darin auf seinen Rücken.

Eine kleine Gestalt schält sich aus dem Halbdunkel des Arbeitszimmers mit der heruntergelassenen Jalousie. Die Katze Marlies kennt Jannis‘ Morgenroutine. Und sie weiß, dass er immer ihr Futter nachfüllt. Daran herrscht kein Mangel und sie nimmt ein paar Happen. Aber genauso ist klar: Will sie raus an die frische Luft, dann jetzt. Sonst ist der Zug abgefahren.

Selbst wenn außer ihr kein Stubentiger der Welt eine Ahnung davon hat, was Überstunden sind – Marlies kennt sich damit aus, weil Jannis ihnen frönt, spät nach Hause kommt und dort oft sogar eine Abendschicht dranhängt. Wenigstens hat sie dann Gesellschaft.

Doch in der Wohnung möchte sie dennoch nicht den ganzen Tag ausharren. Jannis schmilzt im Angesicht der bittenden Katzenaugen dahin, öffnet erst die Wohnungstür zum Flur und dann die Eingangstür des Mehrparteienhauses, in dem er wohnt.

Marlies genügt ein kleiner Spalt und schon ist sie draußen. Sie wird sich ein schattiges Plätzchen unter einem der Sträucher hinter dem Haus suchen. Jannis macht sich keine Sorgen um sie. Die Katze hat ihren eigenen Kopf und trifft ihre Entscheidungen, meistens gute. Schließlich ist sie noch nie weggelaufen, seitdem er sie vor Jahren aus dem Tierheim geholt hat. Als Dank ist Futterbereitstellung und Fürsorge morgens das Erste, womit er den Tag beginnt und abends das Letzte, mit dem er ihn beschließt.

Alles eingepackt? Ja. Katze aufgeräumt? Ja.

Jannis stößt die Haustür ganz auf, bereit für einen frischen Tag und gute Taten. Doch zwei Personen stehen ihm im Weg, eine Frau und ein Mann.

„Verzeihung“, spricht ihn die Dame an, „wir suchen Herrn Jannis Thomsen.“

„Ja?“, gibt sich Jannis zu erkennen. „Und wer sind Sie, wenn ich fragen darf?“

„Wir sind von der Polizei.“

Die Tat

Die Polizei? Hier? Bei ihm? Die Gedanken rattern in Jannis‘ Kopf. Was kann der Grund sein? Liegt mal wieder eine Beschwerde über Marlies vor?

Von denen hat es schon einige gegeben: „He, Sie! Bringen Sie Ihrer Katze gefälligst Manieren bei!“, hat der eine oder andere Nachbar geschimpft. Der Rest der Wutrede offenbart dann, dass Marlies eine Schwäche für frisch aufgelockerte Blumenbeete hat. Der Ärger ist verständlich, genauso ist es aber auch die Lust der Katze, ihre Verdauungsendprodukte dort zu verscharren, wo sie wenig Kraft einsetzen muss. Typischer Konflikt.

Aber deswegen gleich die Polizei holen?

Für die hat er keine Zeit. Er muss los. Und Moment mal: Sind das überhaupt Polizisten?

Offensichtlich sind sie es, denn gezückte Ausweise blitzen in Jannis‘ Augen und lassen sie weit aufreißen. Die Frau ist etwas älter als Jannis und der Mann ist noch höher auf der Altersleiter emporgeklettert. Sie wirken authentisch. Doch heutzutage weiß man nie. Da kann irgendwer vor der Tür stehen.

„So viel Zeit muss sein“, bemüht sich Jannis um Fassung und zückt sein Mobiltelefon. Er startet eine App, die er selber entwickelt hat: den Ausweis-Check. Diese kleine Anwendung ermöglicht eine robuste Überprüfung von Personalausweisen auf Echtheit. Er hat sie für das Produktportfolio der Firma programmiert. Hansen Data Security die hat sie der Polizei für den Einsatz im Dienst angepriesen, wenn es Bürger zu überprüfen gilt. Die hat jedoch leider abgelehnt. „Wir haben da unsere eigenen Methoden“, hat es geheißen.

Die App liegt im Store für die gängigen Smartphoneplattformen bereit und die breite Masse der Bürger kann sich ihrer bedienen. Dazu besteht Anlass, denn der Enkeltrick oder andere Spielarten halten sich hartnäckig – jemand gibt sich für einen nahen Verwandten aus und versucht mit diesem Pfand, etwas zu ergaunern.

Dabei ist die Identität ein Schatz, den jeder Bürger hegt. Und die Echtheit der Person zweifelsarm oder besser noch zweifelsfrei nachzuweisen ist eine Grundfeste im Umgang der Bürger mit dem Staat und zunehmend auch untereinander – bei kleinen Käufen oder bei anderen Gelegenheiten.

So wie zum Beispiel beim unverhofften Treffen mit der Polizei. Zwei kurze Gegenüberstellungen mit Jannis‘ Mobiltelefonkamera, ohne lokale Speicherung von Fotos versteht sich, sowie ein paar ausgeklügelte Merkmalserkennungen später sind die Ausweise als echt akzeptiert.

Dennoch lässt es Jannis’ Nervosität nicht zu, dass er sich die Namen der beiden polizeilichen Besucher auf Anhieb merkt, die sie ihm in abgehackter Beamtenansprache entgegenwerfen. „Frau Leonie Wille?“, fragt er, um sich zu versichern.

„Wilke“, korrigiert ihn die Frau.

„Und mein Name ist Boldt, Ansgar Boldt“, sagt der Mann. „Können wir reinkommen?“, fragt er mit Nachdruck in die Akustik des hellhörigen Hausflurs hinein. Eine Etage höher klappt schon eine Tür. Wissbegierige Nachbarn gibt es hier zuhauf. Und die Polizei steht nicht alle Tage auf der Matte. Da schalten die Mitbewohner schnell ihre Sensoren ein auf der Suche nach etwas Aufregung, die vom Alltag ablenkt.

„Aber ich habe eigentlich keine Zeit“, beteuert Jannis trotz des Zugzwangs der Treppenhausszenerie.

„Es ist wichtig“, sagt die Frau ungerührt und wendet ihr Gesicht kurz zur Straße. Sie ist offensichtlich die Ranghöhere von den beiden Besuchern und hat hier den Hut auf.

Jannis erkennt in ihrer Blickrichtung einen geparkten Streifenwagen. Hinter dem leicht getönten Autoglas sitzen zwei Beamte in Uniform. Einer von ihnen steigt nun demonstrativ aus.

„Na gut“, gibt Jannis nach. Er bittet die Abordnung der beiden Polizisten in Zivil herein.

Wilke nickt dem Uniformierten draußen noch schnell zu, bevor sie durch die Tür tritt. Der setzt sich daraufhin zurück in das Auto. Die Staatsmacht ist bereit, ihre Krallen zu zeigen, fährt sie aber auch zügig wieder ein. Schließlich ist das hier eine ruhige Berliner Gegend, insbesondere was die Verbrechensstatistik anbelangt. Und dieser Thomsen wirkt nicht arg konfliktbereit.

Aber aufmerksam ist er schon. Er spürt förmlich die suchenden Blicke der beiden auf Neugier getrimmten Beamten, als er sie in seine Wohnung hereinführt.

Eilig rafft er ein paar vom Vortag herumliegende Klamotten zusammen, die seinen ordentlichen Haushalt von einem sehr ordentlichen trennen.

Die beiden Polizisten wiederum peilen schnell, dass das hier eine Single-Bleibe ist, wenn auch eine gediegene. Dort steht der Fressnapf der Katze. Von einem Partner oder eine Partnerin fehlt jedoch jede Spur – keine Bilder an der Wand von gemeinsamen Urlauben oder sonstige Anzeichen.

Jannis ist stolz auf sein Domizil. Er hat es selber bezahlt und ist schon beinahe fertig damit. Eine Eigentumswohnung in den Dreißigerjahren des eigenen Lebens: Das schaffen nicht viele angesichts der konstant hohen Preise in der Stadt.

Sicher kriegen das die Polizisten heraus, sollten sie seine Finanzen durchleuchten. Die sind solide, so wie sein ganzes Leben das ist. Na gut, die monatlichen Raten haben ihn lange gedrückt. Er hat auf einiges verzichtet. Aber wenn es mit der Arbeit, der Karriereleiter und dem Einkommen so weitergeht, dann gelangt er in absehbarer Zeit ans Ziel und schließt die Finanzierung mit einer vollständigen Rückzahlung ab. Und damit das weiter stetig und wie ein gut laufendes Uhrwerk vorangeht, müsste er jetzt eigentlich auf dem Weg ins Büro sein.

Doch er ist hier gefangen, weil die Polizei bei ihm Einlass begehrt hat und mit ernster Miene auf seinem aufgeräumten Sofa sitzt. „Was führt Sie zu mir?“, fragt Jannis und geht in Gedanken seine Parkvergehen durch, wenn er sich gelegentlich ein Auto für den persönlichen Transport geliehen hat. Für Abstecher in Regionen mit nur lockerem öffentlichen Verkehrsnetz rund um die Stadt herum tut er das manchmal. Und kein Fahrer ist stets ein Engel, auch Jannis ist das nicht.

Während Wilkes Blicke noch schweifen, beantwortet Boldt die Frage nach dem Begehr: „Unser tägliches Brot: ein Verbrechen.“

Hart wie Stockschläge prallen die Worte auf Jannis ein.

„Was für eins?“, fragt er automatisch, während sein Blutdruck nach oben geht.

„Wir haben einen Toten gefunden. Mutmaßlicher Mord. Abgepasst im Anschluss an den abendlichen Gang ins Fitnessstudio.“

„Oh.“

„Und Sie kennen den Toten vermutlich“, sagt Wilke dazu.

„Wirklich?“

„Davon gehen wir aus. Es ist Ruben Kraus.“

Nach den Worten wie Stockschlägen folgt ein Hammerschlag. „Ruben?“ Jetzt spürt Jannis schon den eigenen Pulsschlag, ohne ihn mit der Hand fühlen zu müssen.

„Sie kennen ihn also recht gut?“

„Ja, natürlich. Das ist, äh – das war – ein Kollege.“ Jannis steht auf und holt sich ein Glas Wasser. Er bietet den Gästen ebenfalls eins an, entschuldigt sich reflexartig für sein Versäumnis als Gastgeber.

Sie lehnen jedoch ab. Es ist ihm recht. Dann hat er weniger Abwasch wegzuräumen. Seine Gedanken machen eine Vollbremsung. Warum denkt er in diesem Moment an solch profane Dinge? Ruben Kraus – der Nervige – ist tot!

„Und Sie befragen jetzt alle Kollegen?“, fragt Jannis und setzt sich zurück auf seinen Stuhl. Ein Hoffnungsschimmer streichelt sein Gemüt, dass es sich hier nur um Routine handelt und heute alle zu spät ins Büro kommen, sogar die akkurate Solveig Hansen.

„Nein, vorerst nur Sie. Der Rest folgt dann“, antwortet Wilke und teilt damit den nächsten Hammerschlag aus.

„Warum ich?“

„Sie wurden am Tatort gesehen.“

„Ich??“

„Ja, Sie.“ Die Frau nickt ihrem Begleiter zu. Der zückt sein Mobiltelefon. Er sucht kurz und spielt dann ein Überwachungsvideo ab. Die Szene ist dunkel. Klar, es ist am Abend aufgenommen. Eine Person ist darauf zu sehen – männliche Statur, mittlere Größe. Sie verlässt den Bereich in eiligen Schritten.

„Wer ist das?“

„Schauen Sie hin!“ Boldt spielt das Video abermals ab.

Jannis beugt sich nah an das Display. Darauf ist sein Gesicht zu sehen! Und andeutungsweise seine roten Haare, in Passagen mit genügend Licht.„Aber, das bin ich nicht!“

„Der Tatort ist gut einsehbar und so haben wir Zeugen gefunden, die aussagen, dass die Person, die den Tatort verlässt, auch der Täter ist.“

„Wir haben elektronische und menschliche Hinweise und sie zeigen alle in Ihre Richtung“, drückt die Frau die Zange noch fester zu, in deren Würgegriff Jannis jetzt festhängt. Bei ihm fällt der Groschen, warum draußen zwei Uniformierte warten. Die beiden Ermittler hier auf seinem Sofa spekulieren auf einen schnellen Erfolg, ein Geständnis, auf eine Überrumpelung durch ihren auf einem lächerlichen, mickrigen Mobiltelefon abgespielten Beweis. Doch das wird nicht passieren.

Boldt hat das Video kurz angehalten und lässt es jetzt weiterlaufen. Man sieht, wie der mutmaßliche Täter etwas in der Not wegwirft, hinein in ein Gebüsch. Danach rennt er los. Andere Personen folgen ihm, vermutlich sind das die besagten Zeugen.

„Aber haben diese Leute, die dort laufen, nicht den Mann da gefangen?“

„Nein. Sie sind keine Helden, haben sie gesagt. Und dass vom Täter eine Gefahr ausgegangen ist. Verständlich“, resümiert Wilke.

„Und Sie sind sich sicher, dass die Person in dem Video der Täter ist?“

„Die Zeugen haben es mit eigenen Augen gesehen und übereinstimmend ausgesagt, dass die fliehende Person zuvor auf das Opfer eingestochen hat. Kraus ist zu Boden gegangen. Er konnte nicht mehr gerettet werden.“

Aha, ein Messer als Tatwaffe. Sonst hätte man Jannis schon längst auf Schmauchspuren untersucht, deren Abwesenheit ihn entlasten würde – kramt er seine drei kriminalistischen Halbkenntnisse zusammen. Er hätte nie gedacht, dass er sie mal braucht. Doch heute ist der Tag.

Boldt packt sein Telefon wieder ein, steht auf und geht zur Küchenzeile.

„Mein Messerblock ist vollständig, wenn Sie das interessiert“, schleudert ihm Jannis entgegen. „Schnüffeln Sie bitte woanders, ja?“

Boldt setzt sich wieder hin.

In Jannis‘ Augen ist das ein Zeichen dafür, dass es keinen Durchsuchungsbefehl gibt.

„Wo waren Sie gestern gegen 22 Uhr?“, setzt Wilke im barschen Verhör-Ton fort.

„Zu Hause, wo sonst?“

„Was haben Sie gemacht?“

„Gearbeitet.“ Er kramt in seinem Rucksack und zieht den Laptop ein Stück heraus. Das Arbeitsgerät gibt ihm ein gutes Gefühl von Legitimität.

„Machen Sie das öfter?“, fragt Boldt.

„Arbeiten? Jeden Tag!“

„Und jeden Abend?“

„Es kommt vor. Öfter.“

„Gibt es jemanden, der das bestätigen kann? Zumindest für gestern Abend?“

„Meine Katze. Sie haben Sie vorhin kurz an der Tür gesehen.“ Dabei lächelt er gequält.

Die Polizisten lächeln nicht zurück.

Jannis erwähnt nicht, dass er gestern Nachrichten mit seiner Freundin Mira ausgetauscht hat. Er will sie nicht in diese Affäre hineinziehen.

Denn die Lage ist ernst. Jannis sieht sich vor seinem geistigen Auge schon in einer Gerichtsverhandlung sitzen und wie er dann Marlies in den Zeugenstand ruft und alle in Lachen ausbrechen.

„Und die Waffe suchen Sie ausgerechnet hier bei mir?“, versucht er die Zweifel an seiner Täterschaft zu nähren.

„Das brauchen wir nicht“, sagt Boldt. „Sie liegt uns vor. Der Täter hat sie in ein Gebüsch geworfen. Das ist mit dem Video belegt.“

„Inklusive DNA-Spuren auf der Waffe“, ergänzt seine Kollegin.

„Umso besser“, entfährt es Jannis. „Meine können es ja nicht sein. Ich war hier, ob Sie die Katze nun für eine unvoreingenommene Zeugin halten oder nicht“, versucht er abermals einen Scherz.

„Dann haben Sie ja nichts gegen einen DNA-Abgleich einzuwenden, nicht wahr?“, kontert die Dame und Jannis‘ kleiner Witz bleibt ihm im Halse stecken.

Er lässt die DNA-Probe zu. Das sind echte Polizisten und zu verlieren hat er nichts. Umso schneller kann er anschließend ins Büro aufbrechen.

Doch seine Gäste machen noch keine Anstalten zu gehen. „Sie hatten gestern einen Streit mit Ruben Kraus?“, fragt Wilke.

„Woher wollen Sie das wissen?“, stammelt Jannis.

„Von Ruben Kraus‘ Lebenspartnerin. Sie meinte, dass es schon eine Weile darum geht, wer in der Firma das Sagen hinter Solveig Hansen hat und auf dem Fahrersitz für die weitere Entwicklung sitzt.“

„Aber Frau Kraus, oder wie auch immer die Dame heißt, war nicht im Büro dabei gestern.“

„Also gab es einen Streit. Punkt“, lässt Boldt die Falle zuschnappen.

„Wir haben diskutiert“, schwächt Jannis den Vorwurf ab.

„Wie dem auch sei. Die Partnerin erwähnte Zeugen dafür. Das lässt sich dann sicher bei unseren Befragungen in der Firma bestätigen“, erklärt Wilke und lächelt dabei tatsächlich, allerdings deutlich süffisant.

Jannis packt die kalte Wut. „Ist jetzt jeder verdächtig, der im Büro den Mund aufmacht?“

„Nicht jeder“, antwortet Boldt. „Nur wenn er gleichzeitig auf einem Überwachungsvideo auftaucht und am Tatort gesehen worden ist.“

„Und dann haben wir ja noch den DNA-Test“, komplettiert Wilke und hält das sorgsam eingepackte Teststäbchen in die Höhe.

„Haben Sie uns noch etwas zu sagen?“, unternimmt sie einen letzten Versuch in Richtung eines schnellen Sieges.

„Nein.“

Damit stehen die Ermittler auf und verlassen mit einem kurzen „Halten Sie sich verfügbar“ die Wohnung. Nach seiner Telefonnummer haben sie gar nicht gefragt. Bestimmt kennen Sie sie schon längst. Die haben ihre Quellen.

Jannis bleibt mit rasendem Puls zurück. Er beneidet Marlies. Die liegt unter irgendeinem Strauch und genießt den Schatten. Und er muss sich stattdessen in den imaginären Verhörscheinwerfern der Polizei winden. Sein Hemd ist durchgeschwitzt, und das am frühen Morgen.

Zur Arbeit wird er mit schwerer Verspätung kommen. Aber eine noch größere Last sind die Verdächtigungen, die wie eine Gerölllawine über ihn und sein Heim hereingebrochen sind. Dieser Tag läuft anders als geplant, um es milde auszudrücken.

Am Ende kann Jannis froh sein, wenn sich später alles als großes Missverständnis herausstellt, sein Leben wieder in geordnete Bahnen zurückkehrt und seine größte Sorge eine gelungene Besprechung mit der Chefin ist. Und wenn das heute nicht als der Tag in seine persönliche Geschichte eingeht, an dem sein Dasein in eine vollkommen andere Richtung abbiegt.

Not-Fall

„Der gibt bald auf“, ist sich Boldt sicher, als die beiden Ermittler auf dem Weg zurück ins Kommissariat im Wagen sitzen.

„Abwarten“, meint Wilke. „Aber: Ja, das sieht nicht so schlecht für uns aus. Wenn er nicht türmt.“

„Wir können ja seine Katze als Pfand behalten, als Kaution auf vier Beinen.“

Wilke zieht die Stirn in Falten.

„War ein Scherz, natürlich“, beschwichtigt Boldt, packt seine Brille aus und vergräbt sich in den neuesten Nachrichten auf seinem Smartphone.

Doch im Kern stimmt ihm Wilke zu: Der Fall sollte am besten schnell abgeschlossen werden, denn ihre Gruppe zusammen mit Boldt, mit Nora Fist und der Beraterin in Technikfragen Merle Beirer hat sich nicht Messerstechereien im Dunkeln auf die Fahnen geschrieben. Die „Neuen Verbrechen“ sind vielmehr ihr Motto. Sie geben ihrer Riege Namen und Bestimmung.

Dieser mutmaßliche Mord von gestern mit dem bedauernswerten Opfer Ruben Kraus, der eine am Boden zerstörte Partnerin zurücklässt, ist jedoch eine Sorte von Tat, die es schon immer gegeben hat, leider. Dort ist keine Spur von Hightech, neuen Rollen oder von hochmoderner Technik getragenen undurchsichtigen Vorgängen zu erkennen, an die sich die Polizei erst gewöhnen muss. Das wären Wilkes Paradefälle. Bei denen übernimmt ihre kleine, aber feine Mannschaft regelmäßig eine Pionierrolle.

Gleichzeitig kann sie sich Untätigkeit nicht leisten, solange die Warteschlange an neuartigen Fällen leer ist. Sich bei der Fallbearbeitung zu zieren kommt nicht gut an. Andere Teams wie das des eifrigen Ermittlerkollegen Kevin Hussmann glänzen durch sichtbaren Einsatz, also muss auch Wilke Fleißpunkte sammeln.

Und die sind bitter nötig, vor allem im Angesicht des schwebenden Verfahrens im Zuge der Nachbereitung ihres vorletzten Falles. Er lief bei der Polizei unter dem Namen „digitaler Erstschlag“. Wilke selbst hat diese Aufarbeitung anonym angestoßen, weil sie sich moralisch dazu verpflichtet fühlt. Ein selbstverständliches Übergehen zur Tagesordnung ist ihr zu billig vorgekommen. Denn: Damals hat man in der Not Verbrecher gegeneinander ausgespielt. Im Ergebnis hat es dann aber Tote gegeben.

Dieser Vorgang bleibt trotz aller Anonymität der Nachuntersuchung an ihrem Namen haften. Und die Polizeiführung ist deshalb unterdessen vorsichtig geworden, Wilke große Fälle zu übergeben. Die könnten sie zu neuen Höhen an Prestige und öffentlicher Aufmerksamkeit führen. Man will später nicht blöd dastehen, wenn man eine bekannte Polizistin im Ergebnis von internen Ermittlungen in die Schranken weisen muss. Eine solche Maßnahme würde in den Augen der Bevölkerung nicht mal eben das Vertrauen in die Sicherheitsorgane stärken.

Auch ihr Chef Heiner Althaus kann diesen Trend des gebremsten Umgangs mit der Kommissarin nicht umkehren. Er hat noch nicht wieder zur alten Durchsetzungsstärke gefunden, nachdem er in Wilkes vorherigem Fall, der unmittelbar nach dem digitalen Erstschlag gefolgt ist, eine Verletzung durch eine vorher unbekannte moderne Terrorwaffe erlitten hat.

So sitzt Wilke eben in diesem Auto mit zwei Streifenpolizisten und mit Boldt und beackert diese Art Not-Fall um den Mord an Kraus, den sonst keiner so recht haben wollte. Sie verfügt über Zeugen, ein Video, das den Hauptverdächtigen belastet, und die Tatwaffe. Die Sache strebt einem absehbaren Ausgang zu. Jeder erwartet Schnelligkeit von ihr. Lorbeeren gibt es hier keine zu ernten.

So geben Wilke und Boldt bei einem Zwischenstopp im Labor brav die DNA-Probe von Jannis Thomsen bei der Kollegin Tanja Greve von der Forensik ab. Sie verspricht ein Ergebnis am gleichen Tag. Das Messer von gestern habe sie schon untersucht. „Ich werde aber gelegentlich noch einen zweiten Blick darauf werfen.“

„Warum?“, fragt Wilke in ihrer Sorge um die verzögerte Verbuchung von Fleißpunkten, sollten sich die Dinge hinziehen.

„Sicher ist sicher“, meint Greve nur. „Ist so ein Gefühl.“

„Na gut“, gibt sich Wilke zufrieden. Drängelei bringt nichts.

Der Rest des Vormittags vergeht mit dem, was selbst in digitalen Zeiten als Papierkram bezeichnet wird: Berichte ausfüllen, Beweise katalogisieren.

Die junge Mitarbeiterin Nora Fist ist schon den Morgen über dran gewesen.

„Wir helfen dir“, sagt Wilke. An Schubladen ist ihr nicht gelegen und dass jemand wie Nora als junge Kollegin einen Gehilfen-Stempel aufgedrückt bekommt.

Wilke schielt nebenbei auf den Nachrichteneingang. Wann meldet sich endlich Tanja Greve? Die Ergebnisse der DNA-Untersuchung können doch nicht so ewig dauern, wenn sie sie für den gleichen Tag versprochen hat!

Die heiß ersehnte Nachricht trifft erst am späten Nachmittag ein.

So etwas wie einen vorsichtigen Mausklick gibt es nicht. Aber das, was Wilke mit dem Gerät vollführt, um die Nachricht zu öffnen, kommt dem sehr nahe. Sofort springt der Text auf ihrem Bildschirm auf. Wilke überfliegt: „Untersucht wurde ... bla bla bla ... Ergebnis: hinreichende Übereinstimmung.“

„Ansgar, Nora!“, ruft sie den beiden Kollegen zu. „Es gibt Arbeit!“

Die Schwelle zu einem ausreichenden Tatverdacht gegenüber Jannis Thomsen ist damit überschritten. Die Ermittler bringen deshalb den Haftbefehl auf den Weg.

„Der kommt dann elektronisch per Nachricht auf unsere Tablets“, sagt Wilke. Sie vertraut auf den Prozess und dessen zeitnahen Ablauf.

In Papierform braucht sie das Dokument nicht. Die Zeiten, in denen man sich als Polizist an den Eingangspforten der Wohnungen von verdächtigen Personen aufgebaut und einen ehrwürdigen legitimierenden Ausdruck in die Höhe gehalten hat, sind lange vorbei.

„Gleich verhaften?“, fragt Fist.

„Wenn wir ihn in sicherer Verwahrung haben, dann hat die Rechnung weniger Variablen“, setzt Wilke zur Beruhigung der Kollegin oben drauf. „Er bekommt keine Zeit, etwas zu vertuschen. Und weitere Taten begehen kann er ebenfalls nicht. Obendrein haben wir stets Zugriff auf den Verdächtigen, können ihn befragen.“

„Oder Druck aufbauen“, sagt Fist. „So eine Inhaftierung ist schon ein Einschnitt“, gibt sie zu bedenken. „Das bleibt, das schüttelt man nicht so einfach ab – gegenüber Familie, Bekannten, Nachbarn und besonders nicht in den Augen der Kollegen.“

„Sehe ich. Aber es bleibt dabei“, antwortet Wilke kalt.

Boldt beordert einen weiteren Polizeiwagen mit hinzu. Er tut das für den Fall, dass die abzuführende Person Widerstand leisten sollte. Sicher ist sicher.

Dieser Thomsen kennt den dualen Auftritt der Ordnungsorgane in Zivil und in Uniform ja bereits von heute früh. Der kleine Konvoi setzt sich in Bewegung.

Natürlich ist eine Verhaftung kein Vergnügen. Aber Wilke ist dennoch gleich aus zwei Gründen froh: Zum einen eröffnet die inzwischen abendliche Stunde die Möglichkeit, dass dieser Thomsen zu Hause ist, und man erspart ihm das Abführen aus dem Büro der Firma, zum anderen strebt der Fall dann schon heute deutlich erkennbar in Richtung Aufklärung. Das ist erleichternd und gut für das Fleißpunktekonto. Eine kleine Sorge, dass alles beinahe zu glatt geht, wischt sie schnell wieder weg.

Boldt ruft von unterwegs noch beim Tierheim an. Die Katze kommt nicht mit in Untersuchungshaft und jemand muss sich um sie kümmern. Und wie lange Thomsen einsitzen wird, kann im Moment keiner sagen. Aber wenn alles glatt läuft, dann kommt er gar nicht erst wieder raus.

Jannis kommt zu Hause an und ruft die Katze herein. Was für ein gebrauchter Tag! Die Nachricht von Kraus‘ Tod hat sich in der Firma schnell herumgesprochen. Gleich am Morgen ist eine Benachrichtigung durch die Behörden hereingekommen.

Hansen hat eine kurze Ansprache gehalten, damit sich die Neuigkeit nicht in Wellen durch die Hallen verbreitet. Hinterher ist sie herumgegangen und hat mit Kollegen gesprochen, um die Gemüter zu beruhigen. Allem Technischen hat sie an diesem Tag die kalte Schulter gezeigt und so ist auch Jannis‘ Meeting mit ihr verschoben worden.

„Ich habe jetzt keine Nerven für so was“, hat sie mit fester Stimme gesagt.

Das ist respektabel. Aber gleichzeitig ist es nachteilig für Jannis, denn er und die verbesserte Datenbank kommen in dieser Zwangspause inhaltlich nicht voran. Er benötigt Abstimmung, Entscheidungen. Doch die Signale haben heute auf „Halt“ gestanden.

Keiner in der Firma hat an diesem Tag lange gearbeitet. Die Mitarbeiter sind nach Hause gestrebt, nur weg vom Büro und der Misere um den Kollegen, die wie ein Blitz eingeschlagen hat.

Jannis hat sich dem Trend angeschlossen. Bei allem Themenstau kann er die unverhoffte Erholungsgelegenheit gebrauchen. Katze Marlies hat sich über die extra Zeit und Aufmerksamkeit gefreut. Jetzt liegt sie satt und zufrieden in ihrem Körbchen.

Was macht Jannis mit dem angebrochenen Abend? Sport draußen? Immer noch zu warm. Kino? Wenn ihn ein Nachbar oder Kollege sieht und von den Verdächtigungen der Polizei Wind bekommen hat, dann ist das ein Rezept für Unliebsamkeit. Nein, das riskiert er besser nicht. Die Wogen glätten, anstatt die See aufzuwühlen, ist das Motto.

Er greift nach der Fernbedienung für den Fernseher. Da läutet es draußen.

Wer kann zu dieser Zeit etwas wollen? Hat es sich Hansen anders überlegt und will die Diskussion nachholen? Aufgeräumt ist die Wohnung ja noch, nachdem am Morgen diese beiden neugierigen Beamten hier gewesen sind.

Ein Blick in das Kamerabild vom Eingang lässt ihn erstarren. Die gleichen Ermittler wie heute früh warten draußen! Und die Uniformierten sitzen nicht lässig im Wagen auf der Straße, sondern stehen mit dabei!

Reflexartig schaut er sich um. Kann er kneifen, einfach nicht aufmachen? Zu spät, über der Küchenzeile brennt Licht, das er gar nicht unbedingt gebraucht hätte. Man kann den Schein vom Eingang aus sehen.

Kann er abhauen? Nein, es gibt keinen zweiten Ausgang. Und warum sollte er das auch? Er ist unschuldig! Doch das scheinen die da draußen anders zu sehen.

Er strafft seine Statur, richtet seine Kleidung und drückt auf den Einlassknopf der Haustür. Gleichzeitig öffnet er seine Wohnungstür zum Treppenhaus. Der Tross tritt wortlos ein, dem hellhörigen Flur eingedenk.

Diese Frau Wille oder Wilke kennt Jannis schon, auch James Boldt, vielmehr Ansgar Boldt. Die unbekannte junge Dame stellt sich als Nora Fist vor. Die Uniformierten bleiben namenlos, genauso wie eine ältere Frau in Zivil mit unklarer Zweckbestimmung. Ist sie eine Psychologin, falls der Besuchte mental zusammenbricht? Das ist nicht aus der Luft gegriffen! Jannis hat weiche Knie in diesem Moment.

Wilke trägt ein Tablet in der Hand und zeigt den Haftbefehl. „Sie stehen unter dringendem Tatverdacht, Herrn Ruben Kraus getötet zu haben. Ihre DNA stimmt mit der auf der Mordwaffe überein.“

Jannis schließt die Tür zum Flur, nachdem diese Prozession des Schreckens bei ihm eingetreten ist und bevor sich die Unterhaltung fortsetzt. Und er erlaubt sich, trotz aller Untertänigkeit aufzumucken: Wie gut sei denn die DNA-Übereinstimmung gewesen? Davon lese man ständig. Und er fragt, ob das Labor Verunreinigungen sicher ausschließen könne. Überall auf der Welt passiere es, dass Dinge nicht richtig behandelt, eingepackt, transportiert, gelagert, hervorgeholt, wieder ausgepackt und untersucht werden. Und das im Angesicht seiner eigenen DNA, die er heute Morgen freundlicherweise und in Vertrauen auf eine fehlerfreie Behandlung der Polizei übergeben habe! Und mit diesem Schicksal sei er gewiss nicht der Erste und bestimmt auch nicht der Letzte!

„Ich sichere eine korrekte Behandlung zu“, beantwortet Wilke den Redeschwall kurz und knackig. Und sie setzt ungerührt dazu: „Abführen!“

Jannis lässt es irritiert geschehen. „Was wird mit Marlies?“, fleht er.

Wie aufs Stichwort tritt aus dem Hintergrund die Dame mit bis hierhin unbekannter Zweckbestimmung hervor, öffnet die Wohnungstür, greift eine im Flur abgestellte Transportbox und pfercht das Tier routiniert ein. Der Vorgang dauert kaum zehn Sekunden und mit einem warmen „Keine Sorge, wir kümmern uns“ ist sie schnell aus der Tür. Sie hält die Qual des Abschieds für beide Seiten kurz.

Jannis fragt nach einem Anwalt.

„Er wird rechtzeitig gestellt“, antwortet Fist.

Sein Redebedürfnis versiegt. Je mehr er Widerstand leistet, umso heftigere nachbarliche Aufmerksamkeit wird diesem ungeheuerlichen Vorgang seiner Verhaftung zuteilwerden. Darauf hat er keinen Bock.

Man setzt ihn auf den Rücksitz des Polizeiautos der Uniformierten. Dann zieht der Konvoi davon.

Nach einer halbstündigen Fahrt schließen sich die schweren Türen der Haftanstalt hinter ihm. Alles, was ihn zu Jannis Thomsen macht, wird ihm abgenommen: die zivile Kleidung, die auf kümmerliche Reste zusammengeschmolzene moderne Brieftasche, vor allem sein Smartphone.

Er ist von diesem Moment an ein Häftling mit einer frisch zugewiesenen Nummer.

Was für ein Albtraum!

Drinnen und draußen

27. Juli, Freitag

Jannis sitzt jetzt schon den vierten Tag hier in Untersuchungshaft, wenn man den Ankunftsdienstag mitrechnet.

Außer dem Umgang mit dem Personal und den Mithäftlingen ist er von der Außenwelt abgeschnitten. Und natürlich sind da noch die Befragungen durch die Ermittler, jeweils im Beisein eines gestellten Anwalts, der außer Formalien und dem gelegentlichen Entgegenhalten von Paragrafennummern nicht viel beiträgt.

Sie haben nacheinander vorbeigeschaut und Details geklärt: Wilke, Boldt, Fist. Diese Merle Beirer war auch einmal mit von der Partie, aber mehr so als Touristin. Durch ausführliche und wohlüberlegte Fragen ist sie jedenfalls nicht aufgefallen. Sie ist als Beraterin vorgestellt worden; wahrscheinlich bucht sie ein paar Stunden ab, um die Kasse aufzubessern.

Vorgestern am Mittwoch hat es gleich drei Befragungen gegeben, gestern dann nur eine und heute ist noch niemand hier gewesen. Ist mittlerweile jeder Grashalm umgedreht und alle außer ihm sind sich im Ergebnis einig, dass er schuldig wie der Teufel ist? Oder sind all die Beweise mit DNA und Zeugenaussage doch nicht die Erste-Klasse-Eintrittskarte wert, mit der er Dienstag Abend hier in diese Anstalt eingezogen ist?

Zu Hause könnte Jannis die freie Zeit besser nutzen, sobald er die Gedanken an die Firma und was er dort alles verpasst abschalten könnte. Aber hier versauert er nur. Er erlebt den Bestrafungseffekt einer Haft sehr deutlich.

Was wird Marlies in der Zwischenzeit machen? Geht es ihr im Tierheim gut? Und was ist mit Mira? Wann kann er ihr das nächste Mal schreiben und was wird sie antworten? Dabei ist es weniger die Frage, ob sie ihm die Leviten liest, sondern wie. Ach die Frauen ...

In diesem Moment wir die Tür seiner Zelle aufgeschlossen und ein Wärter steckt den Kopf herein und zeigt auf Jannis: „Damenbesuch.“

„Kannst du der sagen, dass sie mal ihre Schwester für mich vorbeischickt?“, grölt sein Mithäftling aus der Bettebene über ihm herab.

„So gewinnst du nie das Herz einer Frau“, bringt ihn der Wärter zum Schweigen.

Jannis setzt sich schnell in Bewegung, tritt auf den Flur. Überall ist es besser als in diesem Zimmer, in dem er seine Tage fristet.

Der Wärter führt ihn zu einem der Befragungsräume. Dort sitzt bereits Leonie Wilke an einem Tisch und erwartet den Delinquenten mit verschränkten Armen.

Der Wärter heißt den Häftling, sich ihr gegenüber hinzusetzen.

Der Anwalt fehlt heute. Jannis kann ihn entbehren, glaubt er. Wenn es ernst wird, kann er ihn noch immer bestellen lassen. Dann muss die Kommissarin warten. Es geschieht ihr recht. Auch sie darf ruhig die Strafe vertaner Zeit auskosten.

„Nun“, eröffnet Wilke das Gespräch nach einer frostigen Begrüßung. „Wir haben Ihr sogenanntes Alibi mit Heimarbeit am Dienstagabend überprüft. Und es hat in der Tat Online-Aktivitäten Ihres Benutzereintrags mit den Firmenservern gegeben. Die Kollegin Beirer hat das gecheckt. Und sie hält die Spuren für authentisch, denkt nicht an Skripte und so, die Betriebsamkeit vortäuschen.“

Ach, sie ist doch nicht nur eine Touristin hier in diesem Spiel, freut sich Jannis insgeheim, sagt aber nur: „Ah. Gut.“

„Auch haben wir noch weitere Eisen im Feuer“, fährt Wilke fort.

„Interessant, wen denn?“, erwacht seine Neugier.

„Darüber kann und werde ich Ihnen keine Auskunft geben“, schickt sie einen abermaligen Hauch von Frost über den Tisch.

Jannis erinnert sich dunkel, dass Kraus vor einiger Zeit aufgeregt erzählt hat, dass er eine Zeugenaussage gemacht hat. Vielleicht hat die Wellen geschlagen und jetzt hat sich jemand revanchiert? Und womöglich sieht der damals Belastete Jannis ähnlich, was sich dann auch auf dem Überwachungsvideo so manifestiert?

„Was ich Ihnen aber sagen kann oder vielmehr sagen muss“, setzt Wilke fort, „ist, dass man bei der Staatsanwaltschaft der Meinung ist, dass Ihr Aufenthalt hier überzogen ist und dass es heutzutage andere Möglichkeiten gibt, die Bewegungsfreiheit von Verdächtigen einzugrenzen und sie von einer Flucht und Verdunklung abzuhalten. Sie werden daher mit elektronischer Fußfessel nach Hause geschickt.“

Die Worte kommen Wilke nicht leicht von den Lippen, ist diese menschliche Erleichterung doch keineswegs ihre Idee gewesen. Sie hat vielmehr klargemacht, dass sie einen zügigen Ermittlungserfolg für genauso möglich wie geboten hält. Und beständige Befragungen in der zugegebenermaßen beklemmenden Umgebung einer Haftanstalt bringen so manchen Stein zum Erweichen.

Aber selbst Kollege Boldt ist ihr in die Parade erfahren: „Es geht doch nicht darum, dass es schnell irgendein Ergebnis gibt, sondern dass wir zum richtigen Resultat kommen. Und das hat seine eigene Geschwindigkeit.“

Nora Fist hat in dieser Unterhaltung rumgedruckst, um keinen der beiden Kollegen zu verprellen. Außerdem hat sie bequemlicherweise die polizeiliche Mehrheitsmeinung wiedergegeben: dass sie der Technik vertraut und dass die schon Alarm schlagen wird, sobald sich der Verdächtige auf die Flucht begibt oder versucht, sich ihrer zu entledigen.

Dadurch ist es beim „richtig vor schnell“ geblieben und jetzt sitzt Wilke hier mit Thomsen und überbringt ihm die süße Neuigkeit, dass er unter Vorbehalt rauskommt.

„Darf ich zur Arbeit gehen?“, wittert Jannis Morgenluft.

„Nein, wir müssen dort erst unsere Befragungen abschließen“, stoppt Wilke den aufkeimenden Tatendrang. „Und so lange liegt auch Ihre Heimarbeitsoption auf Eis, klar?“

„Na gut“, willigt Jannis säuerlich ein. Wenigstens ist er dann wieder mit Marlies zusammen und er bekommt sein Smartphone ausgehändigt. Sein Leben erhält seinen Wert zurück.

„Sie dürfen aber raus, in die nähere Umgebung, für kleine Erledigungen. Wir werden Sie im Auge behalten, auch damit Sie keine Dummheiten begehen, also weitere Taten“, sagt sie und nickt dem Wärter zu, der Jannis zurück zur Zelle bringen wird, auf dass er seine Häftlingsgrundausstattung zusammenräumen kann. Und der ihn anschließend zum Portal der Haftanstalt in Richtung Freiheit geleiten wird.

„Das wird nicht die perfekte Ungebundenheit“, warnt Wilke den zukünftigen Häftling Light im Hinausgehen. „Sie kehren nicht in Ihr gewohntes Leben zurück.“ Ja, sie kennt den hellhörigen Flur neben Jannis‘ Wohnung. Auch hat sie selber Nachbarn und besitzt die nötige Fantasie, wie diese einen verdächtigen Mitbewohner beäugen, der scheinbar schwer aus der Reihe getanzt ist und dem die Aura einer Bedrohung anhaftet.

„Immerhin können Sie sich an der frischen Luft bewegen, in einem Radius um das Wohnhaus“, stellt sie abermals in Aussicht. Um gleich darauf wieder die Bremse reinzuhauen: „Aber Sie werden nicht allein sein.“

„So?“

„Es gibt da einige Technikoptionen: Drohnen, mobile Einheiten. Wir werden Augen und Ohren offenhalten.“

Jannis sieht sich in einer bedrückenden Fantasie von einem elektronischen Wespenschwarm mit Kamera und Mikrofon umschwirrt. Das kann ja heiter werden. Diese Kommissarin hier versteht sich auf subtilen Druck.

„Falls Ihnen noch etwas einfällt“, sagt sie und übergibt ihm gönnerhaft eine altmodische Visitenkarte auf Papier mit all ihren Adressen und Rufnummern für alt- und neumodische Kommunikation. „Und damit meine ich nicht, dass Sie kreativ werden und auf verrückte Theorien verfallen sollen. Doch die Wahrheit ist stets interessant für mich. Und wenn Sie noch das eine oder andere Scheibchen davon in petto haben, dann her damit!“ Dabei durchdringt sie ihn mit ihren Augen, als könnte sie daraus Röntgenstrahlen abschießen und sein Innerstes zutage befördern.

„Danke, mache ich“, sagt Jannis brav und sieht zu, dass er Land zwischen sich und diese unheimliche Frau bringt.

„Wo ist die Schwester?“, grölt der Insasse, als der Wärter die Zellentür aufschließt.

„Die willst du gar nicht kennen, glaub mir“, offenbart ihm Jannis in ungewohnter Lockerheit. Die Freiheit vor seinen Augen machts möglich. Schnell rafft er Kleidung und andere Anstaltssachen zusammen. Danach winkt er dem Mitinsassen kurz zum Abschied und schon geht es hin zu den Entlassungsräumlichkeiten.

„Nicht so rennen!“, befiehlt ihm der Wärter, wohl wissend, dass das wenig nützt. Von der Freiheit Beseelte, die keine Angst vor der Rückkehr ins Draußen haben, bremst niemand so leicht.

Zwei Beamte warten schon am Entlassungstresen. Hier hat alles seine Ordnung, die elektronische Ankündigung seiner Freiheit hat es bis hierher geschafft, freut sich Jannis. Er gibt seine Sachen ab. „Die hätten Sie mal zusammenlegen können“, mault einer der Bediensteten, rückt aber dann ohne Federlesen die Zivilklamotten raus, sodass sich Jannis in einer Kabine umziehen kann.

Die andere Beamtin ist schon älter und hält Brieftasche und Telefon bereit, das sie dem bevorstehenden Ex-Häftling aushändigt.