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Sputnik E-Book

Christian Berkel

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Beschreibung

»Es gibt Menschen, die sind geborene Geschichtenerzähler. Christian Berkel ist so einer.« emotion »Ich schloss die Augen. Minutenlang schlug mein Herz bis zum Hals. Ich lebte in einem Schloss in Frankreich, es gab vorzügliche Speisen, ein Pierrot deckte den Tisch und räumte ihn wieder ab. Ich hatte zwei Brüder gewonnen, dazu sechs Hunde in einem verwilderten Park.« Mitreißend und berührend erzählt Christian Berkel den Roman seiner Kindheit und Jugend: eine Geschichte über die Zerrissenheit, den Aufbruch und das Abnabeln – und nebenbei eine Hommage an die Literatur, die Freundschaft und die Liebe.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Sputnik

Christian Berkel, 1957 in West-Berlin geboren, ist einer der bekanntesten deutschen Schauspieler. Er war an zahlreichen europäischen Filmproduktionen sowie an Hollywood-Blockbustern beteiligt und wurde u.a. mit dem Bambi, der Goldenen Kamera und dem Deutschen Fernsehpreis ausgezeichnet. Sein Debütroman Der Apfelbaum sowie der Nachfolger Ada wurden von Kritikern und Lesern gleichermaßen gefeiert.

Über die Spuren eines Lebens und die Frage, wer wir wirklich sindAm 4. Oktober 1957 erreichen die ersten Satelliten die Erdumlaufbahn. Kurz darauf erblickt in West-Berlin Sputnik das Licht der Welt. Er wächst auf zwischen den Geschichten von Sala, der geliebten Mutter, die der Wirklichkeit ihre eigenen Bilder entgegenhält, und den Büchern des Vaters Otto. Schon früh wird ihm die Welt zur Bühne, alle scheinen eine Rolle zu spielen, und wie sonst sollte man das Leben begreifen? Als Jugendlicher dann die Flucht nach Paris: in die Welt der Literatur und zu Annie, die ihn Begehren, Liebe und Eifersucht lehrt. Und die Rückkehr nach Deutschland: mitten hinein in die vom Aufbruch geprägte Theaterwelt der Siebzigerjahre. Eine wilde Zeit des Experimentierens bricht an, bis Sputnik zu ahnen beginnt, wer er ist, oder zumindest, wer er sein könnte.

Christian Berkel

Sputnik

Roman

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de

Dieses Buch ist ein Roman, wenn auch einige seiner Charaktere erkennbare Vor- und Urbilder in der Realität haben, von denen das eine oder andere biografsche Detail übernommen wurde. Dennoch sind es Kunstfguren. Ihre Beschreibungen sind ebenso wie das Handlungsgefecht, das sie bilden, und die Ereignisse und Situationen, die sich dabei ergeben, fktiv.

© 2025 Ullstein Buchverlage GmbH, Friedrichstraße 126, 10117 BerlinAlle Rechte vorbehalten.

Das Zitat von Richard Schechner stammt aus seinem Text »Environmental Theater«, New York/London 1994 (1973). Deutsch von Susanne Winnacker. 

Der Abdruck aus: »Seelen mit Methode. Schauspieltheorien vom Barock bis zum postdramatischen Theater.«, herausgegeben von Jens Roselt, erscheint mit freundlicher Genehmigung durch den Alexander Verlag Berlin, © 2005.

Umschlaggestaltung: BÜRO JORGE SCHMIDT, MünchenCoverfoto: © Jim RaketeAutorenfoto: © Gerald von ForisWir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.E-Book Konvertierung powered by pepyrus

ISBN: 978-3-8437-3582-7

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Inhalt

Titelei

Das Buch

Titelseite

Impressum

 

Ich habe als Kind …

I Sputnik versucht, seine Erinnerung zu erfinden

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II Sputnik versucht, ein anderer zu werden

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III Sputnik beginnt ein doppeltes Leben

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Anhang

Danksagung

Quellenverzeichnis

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Widmung

Für Andrea, Moritz und Bruno

Motto

Sich in das ganze Sein und Wesen eines anderen hineindenken zu können, war oft sein Wunsch – wenn er so auf der Straße zuweilen dicht neben einem ganz fremden Menschen herging –, so wurde ihm der Gedanke der Fremdheit dieses Menschen, der gänzlichen Unbewusstheit des einen von den Namen und Schicksalen des andern, so lebhaft, dass er sich so dicht es der Wohlstand erlaubte, an einen solchen Menschen andrängte, um auf einen Augenblick in seine Atmosphäre zu kommen, und zu versuchen, ob er die Scheidewand nicht durchdringen könnte, welche die Erinnerungen und Gedanken dieses fremden Menschen von den seinigen trennte.

Karl Philipp Moritz, Anton Reiser

Es herrscht das Absurde, und die Liebe errettet davor.

Albert Camus, Tagebücher 1935–1951

Ich habe als Kind …

Ich habe als Kind nie gefroren oder Hunger gelitten. Bis auf die üblichen Krankheiten war ich gesund und widerstandsfähig. Die Schule fand ich langweilig, aber man hat mich nicht gequält oder mehr unterdrückt als andere. Meine Mutter kümmerte sich um mich. Mein Vater bot mir Orientierung. In meinen ersten acht Lebensjahren sind wir dreimal umgezogen. Die Häuser lagen nicht weit voneinander entfernt. Sie wurden von Mal zu Mal kleiner, doch das störte mich nicht. Es gab Freunde auf der anderen Seite der Straße, des Zauns oder um die Ecke. Meine Eltern führten ein reges Gesellschaftsleben. Man hörte klassische Musik, ging ins Theater, in die Oper, ins Konzert. Im Wohnzimmer stand ein gut sortiertes Bücherregal. Mit 50 Jahren begann mein Vater, die drei Kritiken von Immanuel Kant durchzuarbeiten. Meine Mutter war überdurchschnittlich kunstsinnig. Jeden Morgen spielte sie mir zum Aufwachen Theaterplatten vor. Die Sommerferien verbrachten wir am Meer. Ich hatte keinen Grund zu klagen. Es ging mir bedeutend besser als den meisten Kindern auf dieser Welt. Und doch stimmte etwas nicht. Ich war nicht unglücklich. Etwas einsam vielleicht, aber auch das war nicht schlimm, ich war gerne allein. Was auch immer fehlen mochte, ich konnte es weder beschreiben noch in anderer Weise ausdrücken, nicht einmal, dass mir etwas fehlte. Dieses Gefühl stellte sich erst Jahre später ein. Und doch glaubte ich eines Tages, dass dieses Leben für mich nicht mehr lebenswert sei. Bis heute weiß ich nicht, warum, aber vielleicht begann ich so erst zu ahnen, dass, wenn ich meine Existenz auf eigenen Wunsch beenden konnte, es mir ebenso freistand, zu leben.

Der erste blinde Fleck war die Zeit vor meiner Geburt. Die frühesten Erinnerungen stammen nicht von mir selbst. Es sind Erzählungen meiner Mutter. Sie traf eine Auswahl, die ich übernahm. Die Zeit vor meiner Geburt ist die erste Geschichte meines Lebens, die mir niemand erzählt hat. Alles, was ich darüber gehört und gelesen habe, deutet darauf hin, dass in dieser Zeit bereits ein prägender Austausch zwischen Mutter und Kind stattfindet. Als ich in den späten Fünfzigerjahren geboren wurde, interessierte sich die Forschung kaum dafür. Ein paar tausend Jahre früher war man schon weiter gewesen. Es gab Darstellungen der Nabelschnur, die ahnen ließen, dass dieses verbindende Element weit mehr als das Überleben des Fötus sicherte. Später hatte man versucht herauszufinden, was den Menschen ausmachte, was ihn überhaupt zum Menschen werden ließ. Friedrich II. hatte befohlen, Säuglinge in die Obhut erfahrener Ammen zu geben. Es sollte ihnen an nichts fehlen – nur mit ihnen sprechen durften die Ammen nicht. Nach wenigen Monaten waren die Säuglinge tot.

Die ersten Worte meiner Mutter hörte ich lange vor meiner Geburt. Ihre Hoffnungen, Ängste, Erwartungen, ihre Enttäuschungen, ihre Sorgen waren der Raum, in dem ich begann, mich schwerelos zu orientieren. Als ich älter wurde, erklärte man mir, Erinnerungen, auch die meiner Mutter, seien unzuverlässig. Trotzdem wurde die aus ihren Wörtern gezimmerte Welt der Ort, an dem ich mich meiner Existenz vergewisserte, durch Deutung entstand Wirklichkeit.

Als ich begann, über diese Dinge nachzudenken, lebte meine Mutter nicht mehr. Ich konnte sie nicht mehr befragen. Hätte es etwas geändert? Ihre weit zurückliegenden Erinnerungen, wären kaum zuverlässiger gewesen als ihre erfundenen Geschichten. Die Wirklichkeit wurde vor meinem inneren Auge zu einem rissigen Bild voller Unschärfen, als gäbe es ein unwahres, ein echtes oder falsches Leben, als wäre die Wirklichkeit etwas anderes als Spiel.

Meine Mutter. Diese zwei Wörter beschreiben mein Schicksal, wo ich geboren wurde, in welcher Zeit, welcher Familienroman darauf wartete, mich als neue Figur aufzunehmen, die seiner Geschichte eine weitere Wendung hinzufügen würde. Zwei Wörter, mehr nicht. Sie bildeten mein Erfahrungsmuster, wurden zu meiner Matrix, aus der ich mit der Geburt verstoßen wurde, in eine neue, fremde Welt. Zwei Wörter. Sie wurden mein Himmel und meine Hölle.

Am 4. Oktober 1957 wurde Sputnik1 als erster sowjetischer Satellit in die Erdumlaufbahn geschossen. Unter dem Begriff Sputnikschock ging dieser Vorgang in die Geschichte ein. Wenige Wochen später wollte eine Hebamme meinem Vater sein neugeborenes Kind überreichen. Skeptisch betrachtete er das Bündel, dann schüttelte er den Kopf. Das sei nicht sein Sohn. Er forderte die Hebamme auf, noch einmal ihre Unterlagen zu prüfen, und siehe da, man hatte mich tatsächlich verwechselt. Mit den Worten »Viel Glück mit Ihrem Sputnik« wurde der Umtausch besiegelt.

Niemand, erzählte meine Mutter später, habe die Geburtsunterlagen je zu Gesicht bekommen. So blieb die Frage, ob ich nun ich oder vielleicht doch ein anderer war, in der Schwebe.

Hin und wieder schleicht sich ein unbekanntes Wesen, ein Dibbuk, in meine Tagträume, manchmal unbeachtet, unberechenbar immer. Im jüdischen Glauben verkörpern Dibbuks die bösen Geister der Vergangenheit, tote Seelen, die sich von ihrer irdischen Existenz nicht trennen können. Mitunter stürzen sie uns ins Unglück, aber wenn es gelingt, sie anzuschauen, öffnen sie ihre geheimen Türen. Mein Dibbuk heißt Sputnik, und dies ist seine Geschichte.

I Sputnik versucht, seine Erinnerung zu erfinden

1

Mein geheimes Leben begann im Jahr 1957, als ein Spermatozoon meines Vaters eine Eizelle meiner Mutter traf. Bis ich begriff, dass ich eine Bauchdecke über dem Kopf hatte, dass ich zu jemandem gehörte, einem Wesen, das mich aus sich selbst heraus ernährte, befand ich mich bereits im Modus Vivendi. Ich glaube, dass sich mit den Geschichten aus den neun Monaten unserer Entstehungszeit ganze Bibliotheken füllen ließen, würden wir sie nicht im Geborenwerden vergessen. Und doch sind sie uns eingeschrieben. Ungelesen tragen wir sie hinaus in die Welt, auf der Suche nach Menschen, die sie entziffern, um in ihren Augen zu erkennen, wer wir sind.

Anfangs war ich nur ein Zellhaufen. Ich schwebte in tropischer Tiefseelandschaft, wo ich Schutz und Nahrung fand, bis ich mithilfe flimmernder Härchen in die Gebärmutter gespült wurde. Dort begann meine erste eigene Arbeit. Aus meinen inneren Zellen bastelte ich mir nach einer kurzen Zwischenstufe ein Embryo. Rasend schnell teilte ich meine äußeren Zellen, um auf der Gebärmutterwand so viel Platz wie möglich einzunehmen. Ich schickte Tausende fingerartige Auswüchse auf die Suche nach Blutzufuhr. Endlich gelangte ich in den Kreislauf meiner Mutter. Ohne dass ich jetzt wirklich erklären könnte, wie es geschah, bauten wir am Ende gemeinsam eine Art Kuchen. Ich weiß nicht, ob meine Schwäche für alles Süße daher rührt, aber eines steht fest: Der Entwurf für mein eigenes Versorgungssystem stammte von mir, es war meine erste Kreation. Danach begann die Zusammenarbeit. Als Erstes mussten wir uns synchronisieren. Der Hormonstatus meiner Mutter passte, die Moleküle an unseren Oberflächen auch. Nach sechs Tagen hatten wir es geschafft, am siebenten Tag war Ruhe. Das war Gesetz.

Inzwischen nennen sie mich Fötus. Mit verschlossenen Augen schwimme ich in der Dunkelheit. Niemand da draußen ahnt, dass ich fühle, was um mich herum geschieht. Sie wissen, dass ich da bin, aber sie wissen nicht, dass ich ihnen zuhöre. Ich erkenne ihren Klang. Eigentlich sind es zwei Klänge, ein höherer und ein tieferer, der von weit her zu kommen scheint. Wenn er sich nähert, verändert sich meine Umgebung, alles gerät in Bewegung, ich schwebe in meinen Wellen, fliege gegen Wände, schlage Purzelbäume im Takt eines schneller, langsamer und wieder schneller klopfenden Tons. Ich versuche, dem Rhythmus zu folgen, strecke dazu meine Arme aus. Ich spüre, dass sie wissen, dass ich da bin. Ich kann keine Töne erzeugen, dafür kommuniziere ich mit Klopfzeichen. Wenn der dunkle Klang sich summend zu mir hinunterbeugt, gibt der helle immer den gleichen Ton von sich, er ist kurz und offen. Ich erkenne ihn schnell und vergesse ihn nicht. Es ist die veränderte Stimme meiner Mutter, wenn sie den Namen meines Vaters spricht. Sind wir allein, wird es ruhiger. Ich schwebe, als wäre ich eins mit ihr. Ich fühle jede Veränderung. Immer kommt etwas Neues hinzu, drängt mit seinen Klängen, seinen Bewegungen und wechselnden Temperaturen zu mir vor. Die Wellen reißen mich aus meiner Ruhe, alles um mich herum gerät in Bewegung, Geräusche stürzen auf mich ein, als bräche etwas über mir zusammen. Ich ducke mich weg, trete um mich, schlage, wenn es aufhören soll. Dann halte ich den Atem an und höre die Stille.

Die dunkle Stimme ist weg. Besser so. Ich mag es lieber, wenn wir unter uns sind. Liegt es an den überschäumenden Lustgefühlen, die mich überfallen, wenn ich die Stimme meiner Mutter höre? Anfangs hielt ich sie für meine eigene. Wessen Stimme sollte es sonst sein? Ich nahm an, das Leben sei in mir, bis ich begriff, dass ich in einem Leben war. Da beschloss ich, erst recht zu schweigen. Einerseits kommen mir in meiner Stille die besten Ideen, andererseits bin ich nicht blöd genug, um mir selbst auf den Leim zu gehen. Ich weiß, dass ich nicht sprechen kann, also versuche ich es gar nicht erst. Dafür ist meine Mutter umso redseliger. An manchen Tagen sprudeln und hüpfen ihre Wörter zu mir herein, an anderen herrscht Funkstille. Um mich abzulenken, konzentriere ich mich auf die ineinanderstürzenden Kaskaden ihrer Verdauungsorgane. Sie erinnern mich an die Kompositionen von Richard Wagner, die sie oft in voller Laustärke mitsingt. Wenn die dunkle Stimme naht, verschwindet meine Mutter. Ich kann nichts dagegen tun. Sie beachtet mich nicht mehr. Dann genieße ich eben den barocken Garten um mich herum, mit seinen Wasserfällen und Muschelgrotten. Die dunklen Alleen habe ich von Anfang an gemieden. Keine Ahnung, wohin sie führen, vielleicht sind es auch nur Sackgassen. Ich mache es mir lieber hier auf der weiten Rasenfläche gemütlich, um meine diversen Organe zu entwerfen. Ob mich irgendjemand erkennen könnte? Körper und Gesicht habe ich schon. Meine Mutter vielleicht? Blödsinn, ihre Bauchdecke ist nicht durchsichtig. Wäre sie es, würde ich mich durchaus überreden lassen, vor der Zeit einen Blick zu riskieren, wir könnten uns aneinander gewöhnen, rein optisch, meine ich. Meiner Mutter würde es die ein oder andere schlaflose Nacht ersparen, und ich wäre vorbereitet. Andererseits wäre diese Abwechslung vielleicht auch störend. Sie könnte mich von meinen Aufgaben ablenken, die Zeit würde erbarmungslos voranschreiten, und ich wäre am Ende mit meiner Arbeit nicht fertig. Die Konsequenzen möchte ich mir gar nicht ausmalen, hier drinnen gibt es genügend andere Unwägbarkeiten. Zum Glück habe ich einen direkten Draht zu meiner Mutter, besser gesagt eine Schnur. Benötige ich etwas, brauche ich nur zu klingeln. Aber diese Schnur ist nicht zu unterschätzen, ein paar ungeschickte Bewegungen, und schon wickelt sich das Ding um meinen Hals, um mir die Sauerstoffzufuhr abzudrehen. Ich weiß, wovon ich rede, ich war mehr als einmal in dieser misslichen Lage. Ich will nicht vorgreifen, zugleich fällt es mir schwer, auf diese Fähigkeit zu verzichten. Hier drinnen gelten andere Gesetze. Dem geordneten Nacheinander der Außenwelt stemmt sich hier ein wildes Nebeneinander entgegen, eine Gleichzeitigkeit, nicht zu verwechseln mit dem Durcheinander da draußen.

Jetzt klopft es über mir laut und schnell. Ich schwimme so dicht an die Mauern, wie ich kann. Ich balle meine Hände zu Fäusten, ein ganz neues Gefühl. Ich versuche, in demselben Rhythmus zu klopfen. Das Klopfen über mir wird kurz schneller, dann etwas schwächer und wieder langsamer. Ich bewege mich nicht. Zumindest versuche ich es. Ist nicht ganz einfach im Wasser. Bei Bewegungen von außen schwappe ich von einer Gebärmutterwand zur anderen. Wenn es anfängt, erschrecke ich manchmal, aber es ist auch lustig. Ich habe vor Kurzem gemerkt, dass ich mich dabei drehen kann. Das ist noch lustiger. Und ich habe etwas ganz Neues entdeckt: In mir klopft es auch. Ich kann es hören und fühlen. Und noch etwas: Ich kann mein Klopfen mit dem Klopfen meiner Mutter synchronisieren. Mit diesen Spielen kann ich mich gut ablenken, wenn es hier drinnen zu laut wird. Manchmal ist es wie das Tosen eines Wasserfalls oder wie rollende Steine. Es kann so krachen, dass ich die Stimmen von draußen kaum noch höre. Ich versuche dann, ruhig zu bleiben. Oder wenn es zu aufregend wird, stecke ich einen Daumen in meinen Mund. Das ist auch neu. Immer den linken. Keine Ahnung, warum. Ich glaube, er passt besser.

Warum ist es auf einmal so still? Diese Stille ist anders als sonst. Ich kenne die langen stillen Zeiten, sie wechseln sich mit den lauten ab. Wenn sich alles um mich herum bewegt, werde ich müde. Erst in der Stille erwache ich zu neuem Leben. Aber diese Stille ist anders. Es ist, als würde alles aufhören. Ich höre das Klopfen nicht mehr. Auch nicht in mir. Nur sehr schwach. Ich drehe mich nicht mehr, ich stoße Wasser aus. Die Wände bewegen sich auf mich zu.

Da ist der dunkle, schwere Klang. Er klingt anders als sonst. Das Wasser um mich herum steht still. In meinem Innern klopft es jetzt laut. Mein Klopfen wird immer heftiger. Keine Antwort. Warum antwortet sie mir nicht? Jetzt trete ich gegen ihre Wand. Sie soll antworten. Nichts. Da ist nichts. Nichts.

Wieder der dunkle Ton. Wo bleibt der andere, der hellere, der, den ich sonst immer höre, der zu mir spricht, wenn ich die Arme ausstrecke?

Ich höre nur noch dunkle Töne. Die hellen sind tot. Alles dreht sich. Ich schwanke hin und her, aber das Wasser um mich herum steht still. Das Klopfen in mir stolpert. Ich bin aus dem Takt. Etwas Schlimmes geschieht da draußen. Ich kann nichts tun. Ich muss mich tot stellen, sonst trifft es mich auch. Alles in mir krampft sich zusammen. Ich bekomme keine Luft mehr. Ich muss ersticken. Und wenn ich aufhöre zu atmen, wenn ich mich nicht mehr bewege, starr zusammengerollt, bis etwas geschieht?

Da. Etwas. Es streicht über mich hinweg. Ein Hauch. Das Wasser lässt mich wieder auf und ab schweben. Ein Kribbeln geht durch mich hindurch, vom Kopf bis in die Zehenspitzen. Ich bewege mich vorsichtig, stoße mit meinen Fingern gegen die Wand über mir. Da. Wieder eine Bewegung. Leben. Wir müssen nicht sterben. Es kehrt zurück. Ich höre ihre Stimme. Sie ist wieder da. Sie ist nicht tot. Sie lebt. Die Stimmen kommen und gehen mit den Wellen. Sie ziehen und stoßen mich. Sie rollen über mich hinweg. Sie reißen mich aus mir heraus. Ich spüre wieder ein Streicheln über mir. Warm und weich. Um mich wird es wieder lauter. Ihr Klopfen synchronisiert sich mit meinem. Ich habe es geschafft. Sie ist zurückgekommen. Meine Mutter ist wieder da. Ich muss immer nur so sein wie sie, lebendig oder tot.

Was ist los? Die sanften Wellen ziehen sich zurück. Ohrenbetäubender Donner.

Alles gerät ins Wanken. Mein Haus stürzt in sich zusammen. Ich werde zurückgezogen und wieder nach vorne gestoßen. Ein Ruck lässt alles um mich herum erzittern. Mein Schädel kracht auf harten Widerstand. Dumpf schlägt es gegen meinen Kopf. Wo ist das Wasser? Was geschieht hier? Wieder ein Schlag. Noch einer. Alles dreht sich. Ich muss zurück. Schnell. Mit dem Wasser zurückfließen. Es geht nicht. Ich werde wieder nach vorne geschleudert. Kaskaden stürzen von allen Seiten auf mich ein. Reißende Gewässer schlagen über mir zusammen. Luft. Luft. Wo ist ihre Stimme? Ich kann sie nicht mehr hören. Wo ist sie? Was geschieht mit mir? Die Wände beben. Beine und Arme schlagen gegen meinen Körper. Ich fliege auseinander. Schmerzen. Stoßen. Ziehen. Immer noch keine Luft. Alles wird enger. Es drückt. Es presst sich um meinen Hals. Keine Luft mehr. Ich ersticke. Drehen. Ich muss mich drehen. Raus aus der Schlinge. Schnell. Raus. Raus. Raus. Arme dicht an den Körper gepresst. Weiter nach vorn. Ich schiebe. Ich werde gestoßen. Mein Brustkorb wird zerquetscht. Das Vergessen. Es beginnt … Ich kann es fühlen … Es geht zu Ende … Hilfe … Hilfe … Das ist das Ende.

»AAAAAAH … AAAAAAAAAH … AAAAAAAAAAAH … AAAAAAAAAAAAAAAAAAAAH …«

Das ist sie. Ich erkenne ihre Stimme. Das ist meine Mutter.

Warum schreit sie so laut?

Mir geht’s gar nicht gut.

Wo bin ich?

Was sind das für Schatten?

Wie grell es hier ist.

Was machen die mit mir?

»Aaaaaaaaaaaaah! Aaaaaaaaaaaaaaaaaah! Aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaah!«

Wer hat mich geschlagen?

Jetzt. Ja. Ich spüre ihre Haut. Ich rieche. Das ist sie. Hoch. Gib mir. Gib. Gib.

Warm im Mund. Schön. Lass mich. Ich will hierbleiben. Nicht.

2

Als ich zum ersten Mal nicht zwischen meinen Eltern aufwache, liege ich in einem anderen, viel kleineren Bett, begrenzt durch hoch aufschießende Stäbe. Meine Eltern passen hier nicht rein. Sie sind verschwunden. Ihre Wärme fehlt mir, ich höre ihren Atem nicht. Mein erster Blick klettert die Wand hinauf. Dort entdecke ich den Reflex eines Sonnenstrahls. Dieses Stück Wand zieht mich an. Das Licht wärmt mich, tänzelt näher und immer näher, bis ich fühle, wie etwas in mir aufsteigt, um ihm zu begegnen, eins mit ihm zu werden. Da wird es heller und verschwindet ebenso überraschend, wie es gekommen ist. Warum kann ich diesen Fleck aus hellem und dunkler werdendem Licht nicht so berühren wie die Stäbe meines Gitterbetts? Alles um mich herum teile ich in erreichbare und nicht erreichbare Dinge ein. Die Schatten der Gitterstäbe beunruhigen mich. Sie fallen auf meinen Körper, aber ich kann sie nicht fassen.

Jemand kommt. Meine Mutter. Es ist der Klang ihrer Schritte. Warum ist sie aufgeregt? Sie nimmt mich hoch. In ihre Arme. Von ihren Augen sehe ich zu ihrer Stirn, auf den Punkt dieser licht gewölbten Fläche, aus dem etwas über ihren ganzen Kopf bis in den Nacken fällt, mal spitz, mal seidenweich mein Gesicht berührt, meine Nase kitzelt, wenn sie sich schüttelt oder alberne Grimassen schneidet, während sie mit ihren Händen die Luft über uns in Räume teilt. Immerfort starre ich auf diesen Punkt an ihrer Stirn, bis sie ihr Gesicht abwendet. Ich falle in meine Welt aus Schatten.

Im Halbdunkel geht mein Blick zurück an die Wand. Ich suche nach dem Lichtfleck. Er dehnt sich aus, schwimmt langsam auf mich zu, wechselt Farbe und Gestalt, gleitet immer näher, immer gelblicher an mich heran, wärmer und wärmer und immer wärmer. Überall, wo er nicht ist, weicht die Wand vom Blau in Grau und Weiß zurück. Er tänzelt wie ein langsam anschwellender Ton, wie ein Lied aus dem Mund meiner Mutter. Ich schwimme schwerelos in einem Wasserbecken, Lichter in allen Farben wölben sich über mir zu einem Bogen wie draußen, wenn das Wasser vom Himmel auf mich fällt und die Sonne wieder an mir züngelt. Ich wende mich ab, erst zur Decke, dann den Gitterstäben zu. Anders als zuvor springt einer von ihnen mich an. Sie drehen sich ineinander, leise, laut, erst sanft, dann wieder streng, als wollten sie mich streicheln und schlagen. Hinter ihnen tanzt es in anderem Rhythmus, dunkel und dumpf, ein rollendes Trommeln. Ich atme tief ein, schneller, immer schneller, bis mein Herz den Takt wiederfindet. Die Säulen weichen zurück. Mein Atem beruhigt sich. Durch die Tür spült mir das Licht in grünen Wellen den kühlen Duft meiner Mutter zu. Sie muss jetzt kommen. Der Raum reißt auf, dazu ein Ton, metallisch hell, Wolken schieben sich ineinander, türmen sich in mir zu einem Sturm, drücken die Wände weg, die Decke über mir senkt sich, entfernt sich, zieht sich zusammen, um sich gleich wieder aufzublähen. Wummernde Klänge breiten sich in mir aus, meine Hände krallen sich in Laken und Bettdecke fest, sie ziehen und zerren. Jetzt muss sie kommen. Der Raum zerfällt. In meiner Mitte drängt alles zu ihr. Sie ist nah, ich kann sie riechen. Warum stillt sie nicht meinen Schmerz? Der Boden unter mir beginnt zu schwanken. Ich brülle, mein Mund ist weit aufgerissen, ich schleudere aus dem Bauch über meine zitternde Zunge schrille Töne hinaus. Alles soll einstürzen, alles will ich mitreißen. Atmen und Schreien fließen ineinander. Es wird besser, es tut noch weh, aber meine Mannschaft gehorcht, wir kämpfen nun gemeinsam, fordern so lange die Rückkehr meiner Mutter, bis sie sich ergibt.

Da. Endlich. Ihre Stimme umhüllt mich sanft. Aufrecht in ihren Armen sehe ich die Welt kleiner und ruhiger werden. Vorsichtig schwanken wir aufeinander zu, ein Ziehen von beiden Seiten, ein warmer Strom schießt in mich ein, kühlt mein inneres Brennen. Wir treiben gemeinsam in ruhigen Gewässern. Meine Mutter ist bei mir, der Sturm vorbei. Ich ahne ihr Gesicht in schwebenden Linien, wir werden ein Ganzes, alles kann wieder fließen, ich kann wieder sehen.

Mit Licht und Dunkel tritt die Zeit in mein Leben ein. Aus Sehen wird Schauen, aus dem Blick eine Welt. In jedem Sonnenstrahl neu geboren, entgleiten mir die Dinge, bevor ich sie fassen kann. Sehe ich die Dinge, sind sie da, wende ich meine Augen von ihnen ab, sind sie weg. Es gibt die Welt, weil ich sie will. Schaue ich meine Mutter an, blickt sie zurück. Will ich mehr, muss ich lächeln. Jeden Morgen fliegt mir ihr Lachen auf diese Weise zu. Es ist ein Spiel, das ich beginnen und beenden kann. Ich drehe mich weg, dann wieder hin und wieder weg, bis andere Dinge wichtiger sind. Oder sie geht.

An manchen Tagen sind ihre Augen leer, ihre Haut wächsern wie die Decke auf unserm Küchentisch. Sie sieht mich an, aber sie erkennt mich nicht. Sie ist leer. Alles leer. Auch in mir. Meine Wut schreit. Wenn du das nächste Mal kommst, bin ich nicht da. Ich werde einfach wegschauen. Es gelingt mir nicht. Kaum ruft sie, schaue ich hin. Ihr Gesicht ist versteckt hinter einem Tuch. Ganz langsam lässt sie es heruntergleiten. Mein Herz klopft schnell und laut, ein Kribbeln geht hinunter, aus dem Mund über die Arme in meine Hände, über den Bauch, die Beine hinab bis in die Zehenspitzen. Ich strampele, werfe mich mit allem, was ich habe, in die Luft, das Tuch gleitet weiter, immer weiter hinunter, ich kann ihre Augen sehen. Sie ist es, sie, meine Mutter. Sie leuchtet. Sie ist nicht tot. Ich höre ihren Atem. Ich atme mit. Ich sehe ihre Linien im schräg einfallenden Licht. Ich spüre ihre Hände. Ich bewege mich nicht.

Ich sitze auf ihrem Schoß. Ich schaue sie an. Wieder bewegen sich ihre Augen nicht. Es klopft in ihrer Brust, aber ihr Herz ist still, ihr Gesicht so starr, als atme sie nicht. Wo ist sie? Ich fürchte diesen Blick. Wohin er geht, da möchte ich nicht sein. Wie soll ich atmen ohne sie? Ihre leeren Augen legen sich um meinen Hals. Meine Angst wächst. Ich werde wie sie. Wenn sie lacht, lache ich, wenn sie weint, weine ich, und wenn sie fort ist, will auch ich es sein, ich will ihr folgen, egal wohin. Was kann ich tun? Ein Lächeln? Das hilft vielleicht. Es ist zu klein. Ich bewege meinen Kopf und lächele mehr. Ein Lächeln kommt zurück, sie ist wieder da. Wo war sie? Wie kam sie zurück? Ich sehe sie an. Jetzt beugt sie sich zu mir, unsere Nasen berühren sich, ein Gurren, wie von den grauen Vögeln im Garten, so lustig und schön, dass ich vor Freude laut quietsche. Sie lehnt sich zurück und wieder vor, lässt mich eintauchen, als wäre sie eine Wolke über dem See aus Luft und Licht. Etwas berührt mich, sie haucht mich an, schneller und schneller, Linien türmen sich zu immer höher wogenden Wellen auf, schlagen über mich hinweg. Ich versuche, weiter zu lächeln, alles soll wieder gut sein, aber es gelingt mir nicht, der Luftraum wird kälter, friert ein, den Mund weit offen, erstarre ich. Da schießt der Wind von anderer Seite auf mich zu, mein Boot gerät ins Wanken, aber sie hält mich fest, alles wird ruhiger, der Sturm zieht vorüber, ich kann wieder sehen. Weich zerstreut ihre Hand meine Angst. Die Wolken verfliegen, ihr Gesicht reißt auf.

3

Ich sitze auf der Hüfte meines Vaters. Er hält mich locker an sich gedrückt, geht mit mir eine Treppe hinunter. Alles sieht anders aus. Hier bin ich noch nie gewesen. Ich wippe auf und nieder. Sein Blick ist nach vorne gerichtet, zwischendurch schaut er mich an. Wir gehen durch Räume. Von draußen höre ich Stimmen. Zwei davon kenne ich, es sind meine Mutter und meine Schwester Ada. Sie klingen ähnlich, beinahe gleich, aber die Stimme meiner Mutter ist dunkler. Wenn ich komme, fliegen Adas Augen woandershin. So ist das oft. Als würde es sie stören, dass ich da bin. Jetzt sind wir draußen. Wir reiten durch die Luft. Überall ist es grün, auf dem Boden, links und rechts von mir, nach allen Seiten. Das Grün steigt hoch, und über uns wird alles blau. Auf dem Arm meines Vaters fühlt sich alles fester an. Bei ihm bin ich nie allein. Auch heute nicht. Erst höre ich die Stimmen, dann sehe ich sie. Sie bewegen sich in alle Richtungen, jeder in einer anderen Geschwindigkeit. Alle kommen auf uns zu, sie schauen mich an, lachen, strecken ihre Hände nach mir aus, fassen mich an. Aber wo ist meine Mutter? Jetzt sehe ich sie. Sie steht weit weg von den anderen. Ich kenne diesen leeren Blick, will genauso schauen, damit sie mich versteht, damit sie sieht, dass ich sie verstehe. Sie sieht mich. Erkennt sie mich nicht? Wir gehen zu ihr. Ich suche ihren Blick. Sie antwortet nicht, ihre Augen fallen durch mich hindurch. Ich drehe mich um. Da ist nichts. Wohin schaut sie? Sieht sie etwas, das ich nicht sehe? Mein Vater streckt einen Arm zu ihr vor, aber sie dreht sich weg, weicht seiner Bewegung mit schnellen Schritten aus. Verschwunden. Weg. Niemand bewegt sich, geweitete Münder, manche rund, andere zu Schlitzen verzerrt, die Blicke zum Haus. Mein Vater ruft etwas, ein Klang, ein Ton, wie er ihn immer macht, wenn er kommt und sie sieht. Kurz ist es still, dann macht er noch einmal den gleichen Ton. Sie antwortet nicht. Eine nette runde Frau kommt zu uns. Sie nimmt mich auf den Arm.

Am nächsten Morgen kommt meine Mutter nicht. In mir zieht sich alles zusammen. Warum kommt sie heute nicht? Da ist wieder die runde Frau von gestern. Ganz unten in meinem Bauch türmen sich Gewitterwolken auf. Ein Donner rollt durch mich hindurch, von ganz unten schießt er mit Wucht hoch, mit aller Kraft schleudere ich ihn ihr entgegen, ich will keine andere Frau, ich will meine Mutter.

Meinen Vater sehe ich erst nach sehr langer Zeit. Die runde Frau kommt immer wieder, um mit Händen und Armen vor mir herumzufuchteln. Ich höre nicht auf zu schreien. Sie setzt mich auf ihren Schoß und wippt mit ihren Beinen. Es ist mir egal. Ich schreie immer weiter. Ich werde so lange schreien, bis meine Mutter kommt. Meine Mutter. Alles andere ist mir egal.

Die runde Frau ist jetzt jeden Tag bei uns. Sie heißt Kläre. Wenn sie lacht, wackelt alles an ihr. Meine Mutter bleibt weg. Kommt sie nie mehr zurück? Kläre gibt mir jeden Tag aus der Flasche zu trinken, aber ich will die Flasche nicht. Ich werfe sie auf den Boden. Ich spucke alles wieder aus, alles raus aus meinem Mund.

4

Ich habe das alles vergessen. Es steckt irgendwo in mir, hinter einer fest verschlossenen Tür. In meiner ersten Erinnerung dringt Licht durch die Lamellen einer Jalousie. Ich sitze in kurzen Hosen auf dem Bett meines Kinderzimmers und soll meinen Mittagsschlaf halten. Ich bin drei Jahre alt, vielleicht auch etwas jünger. Wie immer um diese Zeit bin ich nicht müde. Mein Vater kniet vor mir. Wahrscheinlich will er mich ausziehen. Ich glaube, es war Frühling. Draußen zwitscherten ein paar Vögel. Um diese Zeit sangen sie anders als am Morgen. Der Tag war vorangeschritten, es gab keinen Grund mehr, ihn freudig zu begrüßen oder vorzeitig sein Ende herbeizusehnen. Warum sollte ich schlafen, obwohl ich nicht müde war? Wie sollte ich müde sein, mitten am Tag? Die Welt der Erwachsenen blieb mir unverständlich. Entweder redeten sie über Dinge, die ich nicht kannte, oder sie schwiegen auf eine Weise, die mir ebenso rätselhaft erschien.

Mein Vater bewegte sich nicht. Regungslos hockte er vor mir, das Licht warf durch die Jalousie winzige Fensterchen auf seine Stirn. Er starrte an mir vorbei. Diesen ausgekippten Blick kannte ich sonst nur von meiner Mutter, aber jetzt war sie nicht da. Wo war sie? Man hatte es mir nicht gesagt. Meine Schwester Ada konnte ich auch nicht fragen, sie war im Internat und würde erst am Wochenende nach Hause kommen.

»Wo ist Mama?«

Mein Vater sah weiter geradeaus, als hörte er mich nicht.

»Wo ist Mama?«

Er räusperte sich. In letzter Zeit hatte er oft eine kratzige Stimme.

»Mama …«, er räusperte sich wieder, »Mama muss sich ein bisschen ausruhen, weißt du?«

Ich nickte und schwieg. Aber, dachte ich, wenn sie sich ausruhen musste, warum war sie dann nicht hier?

Eines Tages tauchte meine Mutter ebenso überraschend wieder auf, wie sie verschwunden war. Im ersten Moment erkannte ich sie nicht. Etwas an ihr war anders als zuvor. Waren es ihre Bewegungen? Ihr Blick? Sie sah müde aus. Das Lachen, mit dem sie sonst ihren Kopf in den Nacken warf, war verschwunden. Was war mit ihren Haaren geschehen? Woher diese merkwürdige Frisur? In den folgenden Monaten veränderte sich ihr Aussehen immer wieder. Einmal kam ich vom Kindergarten zurück. Ich klopfte ungeduldig an der Tür und erschrak, als mir eine fremde Frau öffnete. Wir starrten einander an. Wo war ich? Ich drehte mich zum Gartentor. War das nicht unser Haus? Doch, aber wenn das nicht meine Mutter war, wer war dann ich? Da riss sich die fremde Frau die Haare vom Kopf. Sie rief meinen Namen und lachte. Es war meine Mutter. Ihre Haare waren dünn und weiß geworden. In der Hand hielt sie eine feuerrote Perücke.

5

Ich lief die Straße hinunter, den linken Fuß auf dem Gehweg, den rechten auf der Fahrbahn. Der Duft frischen Teers stieg mir in die Nase. »Und bleib auf dem Bürgersteig«, hatte meine Mutter mir nachgerufen, bevor ich das Gartentor hinter mir zugeschlagen hatte.

Jetzt fragte ich mich, warum man die eine Seite der Straße Fahrbahn nannte und die andere Bürgersteig. Ich hörte nicht das Vogelgezwitscher, sah nicht, wie die Sonnenstrahlen durch die Äste der hundertjährigen Kiefern brachen. Meine Augen waren fest auf den Boden unter meinen Füßen geheftet. Vielleicht würde ich heute etwas finden, dachte ich, einen Ring, eine Goldkette oder eine silberne Münze mit einer 50 darauf. Mein Vater fand immer etwas. Einmal war er sogar mit einer neuen Uhr nach Hause gekommen. Er musste sie nicht einmal zur Reparatur geben, sie funktionierte tadellos. »Tadellos« war ein gutes Wort, ein Vaterwort. Es gab auch Mutterwörter, aber sie waren anders. »Brise« war ein Mutterwort, oder »Sykomore«. Manchmal verstand ich sie nicht, aber ihr Klang reichte aus. »Einwandfrei« war auch ein Vaterwort, aus dem Mund meines Vaters klang es wie »einbahnfrei«, was wohl daran lag, dass er nuschelte. Ob einwandfrei oder einbahnfrei, die Uhr beschäftigte mich. Seitdem ließ ich meinen Vater bei keinem Spaziergang aus den Augen. Wie er lief ich mit gesenktem Kopf voran. An den silbernen 50-Pfennig-Stücken mochte ich besonders die kniende Frau auf der Rückseite der Münze. Sie erinnerte mich an ein Bild, das in unserem Wohnzimmer hing. Darauf war auch eine Frau zu sehen. Groß. Breit. Nackt. Bei ihrem Anblick lief mir jedes Mal ein Schauer über den Rücken. Anders als die Münzfrau wirkte sie schwer, ihre Haut war schweinchenrosa. Manchmal glaubte ich, sie riechen zu können. Ein Geruch von Speck. Einige Freunde meiner Eltern rochen auch so, besonders Tante Foffe, die noch dicker war als die Frau auf dem Bild und deren Mann ganz schlank war, beinahe dünn, und Bilder von Wäldern und Seen malte, in die man gerne hineinspringen wollte. Er besaß einen Falken, einen echten Raubvogel. Eindrucksvoll. Auch so ein Vaterwort. Einmal stand ich mit dem Maler vor dem Bild, sein Name war Fritz Blau. Hieß er so, weil viele seiner Bilder blau waren? »Das ist ein Rückenakt«, erklärte Onkel Fritz, und ich war nicht ganz sicher, ob das nun ein Vater- oder ein Mutterwort war, vielleicht auch, weil ich es nur halb verstand. Als ich vor dem Bild stand, stellten sich die hellen Härchen an meinen Unterarmen auf. Dabei zog sich mein Herz zusammen. War ich so in meine Welt versunken, fürchtete ich jedes Mal, mein Vater könnte unbemerkt hereinschleichen, um sich hinter mich zu stellen. Ich glaubte, seinen Atem in meinem Nacken zu spüren. Gleich würde er sich räuspern. Ich mochte seine heisere Stimme, aber sie machte mir auch Angst. In solchen Augenblicken, zwischen zwei Lidschlägen, schnell und leicht wie der Staub auf Schmetterlingsflügeln, konnte alles geschehen, ohne dass die Welt Zeit hätte, Atem zu holen. Diese Kugel – ich hatte gehört, die Erde sei eine Kugel – würde stehen bleiben. Aber was würde dann mit den Menschen geschehen? Warum fielen sie nicht herunter, und auf welcher Seite der Kugel befand ich mich wohl gerade? Wie war ich dorthin gekommen? Was war mit all den anderen? Man war doch nicht einfach da. Als ich im Kindergarten Frau Kape fragte, wurde ich von allen ausgelacht. Tränen schossen mir in die Augen. »Sei nicht traurig«, sagte Frau Kape und strich mir das Haar aus der Stirn. Das mochte ich nicht. Meine Mutter streichelte mich auch nicht, warum sollte es dann Frau Kape tun? Meine Gedanken stockten, ich stolperte und schlug mir das Knie auf. Aufstehen, weitergehen! Ich spürte, wie ein Blutstropfen mein Schienbein hinunterkullerte. Ich blieb erschrocken stehen. Zu spät. Der Tropfen saß bereits in meinem nagelneuen rot-gelben Ringelstrumpf fest. Er breitete sich kreisförmig aus. Das würde Ärger geben. Immer machte ich Ärger. Immer musste meine Mutter waschen und tun. Die nackte Frau auf dem Bild im Wohnzimmer tauchte vor mir auf. Sie drehte mir den Rücken zu. Wie sah sie wohl von vorne aus? Sosehr ich mich auch anstrengte, ich konnte es mir nicht vorstellen. Meine Mutter hatte ich auch einmal so gesehen. Durch den Spalt der Badezimmertür. Ein nackter Rücken. Ganz weiß. »Dreh dich um«, hatte mein Vater geschrien. Dann war seine Faust an meinem Hinterkopf hochgeschlagen. Katzenkopf nannte man das. Warum? Der Grund blieb mir ebenso verborgen wie die Vorderansicht meiner Mutter. Wahrscheinlich war es dem Maler ähnlich ergangen, warum hätte er die Frau sonst von hinten gemalt? Ein dumpfer Knall riss mich aus meinen Gedanken, als schlüge mir eine Faust mitten ins Gesicht. Ich hatte das Auto nicht kommen sehen.

Als ich aufwachte, lag ich in einem großen, weißen Raum. Vor mir standen meine Eltern. Mein Vater hielt mein Handgelenk. Er schaute auf seine Uhr.

»Der Puls ist normal.«

»Sputnik.« Meine Mutter nahm die andere Hand.

Jetzt hatte ich wieder Ärger gemacht. Immer musste ich meinen Eltern Sorgen machen. Es reichte schon, dass sie sich tagein, tagaus um meine Schwester sorgten, aber Ada war nicht da. Sie lebte auf einer Insel, in einem Internat, sie kam nur manchmal und war schnell wieder weg. Je länger sie verschwand, desto öfter fragte ich mich, ob sie vielleicht nur in meinem Kopf existierte. War sie vielleicht gestorben? Jedenfalls redeten meine Eltern über sie, wie man sonst nur über Tote sprach. Wenn sie dann eines Tages wieder überraschend auftauchte, saßen wir schweigend zu Tisch. Andererseits, sagte ich mir, war das alles ganz normal, denn Ada kam aus einer anderen Welt. Sie war mit meiner Mutter in Argentinien aufgewachsen, deswegen sprachen die beiden oft Spanisch miteinander. Es war ihre Geheimsprache. Nicht einmal mein Vater verstand dann, was sie sagten. Ich glaube, das ärgerte ihn genauso wie mich.

»Tut es sehr weh?«

Ich schüttelte den Kopf, obwohl mein Brustkorb beim Einatmen schmerzte. Meine Eltern mochten es nicht, wenn ich krank war oder wenn ich mir sonst etwas hatte zuschulden kommen lassen.

»Wo bin ich?«

»Im Krankenhaus. Du wurdest von einem Auto angefahren«, sagte meine Mutter.

»Hast du denn nicht aufgepasst?«

Ich sah den forschenden Blick meines Vaters.

»Na?«

»Doch«, sagte ich schnell, »ich bin zurückgesprungen.«

Das war gelogen. Mein Vater fixierte einen Punkt auf meiner Stirn direkt über meinen Augen.

»Bist du ganz sicher?«

Ich nickte.

Die Tür sprang auf, eine Krankenschwester kam herein.

»Oh, Herr Doktor, guten Tag.«

Sie knickste.

Meine Mutter richtete sich kerzengerade auf.

»Ladies first, Fräulein.«

»’tschuldigung«, sagte die Schwester, noch mal knicksend, »ich wollte nur den Kleinen zum Röntgen abholen, wenn’s recht ist.«

Meine Mutter nickte.

»Wer ist der diensthabende Arzt?«, fragte mein Vater.

»Herr Dr. Peters.«

»Sagen Sie ihm, dass ich ihn gerne sprechen würde.«

»Er operiert noch.«

»Dann richten Sie ihm bitte meinen kollegialen Gruß aus. Wird ein EEG gemacht?«

»Ja, Herr Doktor.«

Ich richtete mich erschrocken auf. Mein Blick wanderte von meinem Vater zur Schwester, zu meiner Mutter.

»Das ist eine Elektroenzephalographie«, flüsterte sie.

Das klang nach etwas Besonderem. Zufrieden sank ich auf mein Kissen zurück.

»Da schauen sie in deinen Kopf rein.«

Wieder schoss ich hoch.

»Ob mit deinen Gehirnströmen alles in Ordnung ist.«

»Darf ich Ihren Sohn jetzt mitnehmen?«

»Sie dürfen«, sagte meine Mutter und lächelte zum ersten Mal.