St. Petersburg - Marianna Butenschön - E-Book

St. Petersburg E-Book

Marianna Butenschön

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Beschreibung

St. Petersburg – heute die Partnerstadt von Hamburg – ist eine junge Stadt. Im Mai 1703 von Zar Peter I. scheinbar gegen jede Vernunft und gegen erheblichen Widerstand im sumpfigen Delta der Newa am Rande der bewohnten Welt gegründet und 1712 von ihm zur Hauptstadt seines riesigen Reiches erhoben, war sie dazu bestimmt, dem rückständigen Russland als "Fenster nach Europa" zu dienen. Zwei Jahrhunderte lang wurden Russlands Geschicke vom "Winterpalast", der barocken Residenz der Petersburger Kaiser, aus bestimmt, bevor 1918 "der Kreml", die mittelalterliche Zitadelle der Moskauer Zaren, diese Funktion übernahm. Von internationalen Architekten erbaut, ist St. Petersburg als "europäisches Gesamtkunstwerk" bezeichnet worden, als "Venedig des Nordens". Auch viele bekannte Schriftsteller reisten nach St. Petersburg und schrieben über die Stadt. Nach dem Oktoberumsturz von 1917 pilgerte die europäische Linke hoffnungsvoll nach Leningrad, in die "erste Zitadelle der Sowjetmacht". Keine andere Stadt dieser Größe hat so viel Literatur über sich selbst hervorgebracht wie St. Petersburg. Dabei handelt es sich nicht nur um den sogenannten "Petersburger Text" der russischen Literatur, sondern auch um Memoiren, Tagebücher, Reiseberichte und Korrespondenzen. Der Reiz der Texte liegt in ihrer Polyphonie – die Autoren schreiben in der Sprache ihrer Zeit und aus ihrem persönlichen Blickwinkel. Das Buch ist keine Anthologie im herkömmlichen Sinn und auch kein literarisches Lesebuch, sondern ein Geschichtsbuch, eine historische Textcollage, wie es sie bisher nicht gegeben hat.

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Marianna Butenschön

ST. PETERSBURG

Stimmen zur Stadtgeschichte

Vorsatz: Der Stadtplan von St. Petersburg entstammt Meyers Konversations-Lexikon, 5. Auflage, 1897.Nachsatz: Umgebungskarte von St. Petersburg nach einem Original von 1895.

Erste Auflage 2021

© Osburg Verlag Hamburg 2021

www.osburgverlag.de

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Lektorat: Bernd Henninger, Heidelberg

Korrektorat: Mandy Kirchner, Weida

Umschlaggestaltung: Judith Hilgenstöhler, Hamburg

Satz: Hans-Jürgen Paasch, Oeste

ISBN 978-3-95510-240-1

eISBN 978-3-95510-251-7

Inhalt

Einleitung: »Hier werde eine Stadt am Meer«

I. Die Gründung

Alexander Puschkin · Adam Mickiewicz · Alexei Tolstoi · Jacob von Stählin · Dmitri Mereschkowski · Peter Ustinov · Boris Pilnjak · Peter I. · Jacob von Stählin · Joseph Brodsky · Andrej Belyj

II. Kaiserliche Residenz

Friedrich Christian Weber · Jewgeni Anissimow · Francesco Algarotti · Katharina II. · Michail Lomonossow · Alexander Sumarokow · Katharina II. · Giacomo Casanova · Katharina II. · Heinrich von Storch · Katharina II. · Louis-Philippe de Ségur · Fürst von Ligne · Jakob de Sanglen

III. Mehr als Berlin und Wien

August von Kotzebue · Elisabeth Vigée-Lebrun · André Jacques Garnerin · Johann G. Seume · Luise von Preußen · Boris Kostin · Alexander I. · Freiherr vom Stein · Kaiserin Elisabeth · Freiherr vom Stein · Alexei Rasumowski · Sankt-Peterburgskije wedomosti · Joseph de Maistre · Freiherr vom Stein · Alexander Herzen · Kaiserin Elisabeth · Juri Tynjanow · Maria Wolkonskaja · Alexander Puschkin · Nikolai Gogol · Serena Vitale · Dr. Martin Mandt · Astolphe de Custine

IV. Wunderstadt der Welt

Johann Georg Kohl · Lina Ramann · Clara und Robert Schumann · Hector Berlioz · Fjodor Dostojewski · Apollon Grigorjew · Fjodor an Michail Dostojewski · Miliza Korschunowa · Helmuth Karl Bernhard von Moltke · Kurd von Schlözer · Alexandre Dumas · Otto von Bismarck · Peter Kropotkin

V. Gärung

Peter Kropotkin · Kurd von Schlözer · Heinrich Schliemann · Vladimir Fédorovski · Dmitri Grigorowitsch · Fjodor Dostojewski · Lewis Carroll · Fjodor Dostojewski · Hans Lothar von Schweinitz · Anna Dostojewski · Alexander von Russland · Alexander Benois · Leo Trotzki · Nikolaus II. · Ossip Mandelstam · Anna Achmatowa · Rainer Maria Rilke

VI. Umbenennung

Alexander Benois · Wiktor Schklowski · Nikolaus II. · Dmitri Schostakowitsch · Ossip Mandelstam · Andrej Belyj · Leo Trotzki · Marc Chagall · Vladimir Nabokov · Nicolas Nabokov · Edward Radsinski · Anna Achmatowa · George William Buchanan · Alexander Solschenizyn · Maurice Paléologue · George William Buchanan · Baron Wrangel · Maurice Paléologue · Fjodor Schaljapin · Nicolas Nabokov · Ossip Mandelstam

VII. Umsturz

Sinaida Hippius · Maurice Paléologue · George William Buchanan · Michail Rodsjanko · R. H. Bruce Lockhart · George William Buchanan · Wiktor Schklowski · R. H. Bruce Lockhart · Iwan Bunin · Wladimir Nabokow · Tamara Karsawina · Ilja Ehrenburg · Fjodor Schaljapin · John Reed · Louise Bryant · Alexei Tolstoi

VIII. Statusverlust

Simon Dubnow · Sinaida Hippius · Leo Trotzki · Anatoli Sobtschak · Isaak Babel · Naum Sindalowski · Sinaida Hippius · Nikolai Anziferow · Anna Achmatowa · Wiktor Schklowski · Bertrand Russell · Igor Sewerjanin · Ossip Mandelstam · H. G. Wells · Wladislaw Chodassewitsch

IX. Leningrad

Krasnaja gazeta · Heinrich Vogeler · Victor Serge · Joseph Roth · Egon Erwin Kisch · Stefan Zweig · Armin T. Wegner · Sergei Eisenstein · Paul Scheffer · Ossip Mandelstam

X. Terror

Ossip Mandelstam · Harrison Salisbury · Natalja Lebina · Dmitri Lichatschow · Anna Achmatowa · Lydia Tschukowskaja · Anatoli Marienhof · Wenjamin Kawerin · Dmitri Schostakowitsch · Christian Neef

XI. Eingeschlossen

Seekriegsleitung · Lidia Ginsburg · Harrison Salisbury · Dmitri Lichatschow · Anna Achmatowa · Lidia Ginsburg · Lew Marchasjow · Daniil Granin/Ales Adamowitsch · Lidia Ginsburg · Dmitri Lichatschow · Daniil Granin · Lidia Ginsburg · Anna Achmatowa · Lew Marchasjow · Dmitri Schostakowitsch · Joseph Brodsky · Olga Bergholz

XII. Nachkriegsjahre

Joseph Brodsky · Lew Marchasjow · Anatoli Sobtschak · Wassili Grossman · Dmitri Schostakowitsch · Truman Capote · Boris Piotrowski · Alexander Solschenizyn · Nadeschda Mandelstam · Joseph Brodsky · Karl Schlögel · Joseph Brodsky · Michail Gorbatschow · Wiktor Kriwulin · UNESCO

XIII. Vivat, Sankt Petersburg

Anatoli Sobtschak · Weniamin Iofe · Iswestija · Daniil Granin · Oleg Tschuprow · Konstantin Asadowski · Alexander Margolis · Joseph Brodsky

XIV. Zwei Hauptstädte

Katharina II. · Joseph de Maistre · Nikolai Gogol · Michail Lermontow · Astolphe de Custine · Alexander Herzen · Wsewolod Garschin · Alexander Benois · Karl Stählin · Dmitri Mereschkowski · Boris Eichenbaum · Leo Trotzki · Ossip Mandelstam · Nadeschda Mandelstam · Jewgeni Samjatin · Boris Pasternak · Daniil Granin · Andrei Bitow · Lew Lurje

Anhang

Biobibliographie · Bibliographie · Personenverzeichnis · Glossar · Zeittafel · Bildnachweis

»Hier werde eine Stadt am Meer«

Von Europa gebaut,

von Europa besucht,

von Europa beschrieben,

von Europa gelesen.

Der 12. Juni 1991 war ein denkwürdiger Tag in der bewegten Geschichte der berühmten Stadt an der Newa, die damals noch Leningrad hieß und die zweitgrößte Stadt der Sowjetunion war, von der sowjetischen Propaganda gefeiert als »Wiege der proletarischen Revolution«, von der russischen Intelligenzija bedauert als »Große Stadt mit Provinzschicksal«, deren glanzvolle vorrevolutionäre Geschichte verschwiegen und vergessen worden war und deren Zukunft im Dunklen lag. An diesem langen, hellen Junitag, einem arbeitsfreien Mittwoch in der Zeit der Weißen Nächte, sollten die Leningrader auf die Frage antworten, ob sie wünschen, dass ihre Stadt ihren ursprünglichen Namen Sankt-Peterburg, kurz St. Petersburg zurückerhält. An dem Referendum, das nicht bindend und eher eine Volksbefragung war, nahmen 64,69 Prozent der Wahlberechtigten teil, und 54,86 Prozent davon antworteten mit »Ja«. Es war das erste nicht gefälschte Abstimmungsergebnis in der ehemaligen UdSSR, und es war ein knappes Ergebnis.

Der Volksbefragung war eine lange und heftige Auseinandersetzung in der Stadt und im Land vorausgegangen, weil es viele Gegner der Rückbenennung gab. Vor allem die Kommunisten wehrten sich gegen den »deutschen« Namen der Stadt und die angebliche »Entweihung« ihres Idols Lenin, des Führers der Bolschewiki, und für die Kriegsveteranen und Überlebenden der Leningrader Blockade im Zweiten Weltkrieg konnte es keine »Petersburger Blockade« geben. In den Zeitungen erschienen Briefe von »Werktätigen«, die verlangten, alle »Petersburger« aus der Stadt auszusiedeln und ihre Wohnungen den Leningradern zu geben. Staatspräsident Michail S. Gorbatschow* sah »weder sittliche noch politische Gründe« für eine Namensänderung, und der Oberste Sowjet der UdSSR rief die Leningrader am 5. Mai 1991 sogar warnend auf, als stünde der Weltuntergang bevor, bloß keine antisowjetische Handlung zuzulassen: »Ohne Leningrad – kein Oktober! Ohne Leningrad – kein W. I. Lenin!«

Die Warnung verfing nicht mehr, zumal die Befürworter der Rückbenennung auch einen mächtigen Verbündeten hatten. Alexij II., der neue Patriarch von Moskau und ganz Russland, hatte sich nachdrücklich für die Rückgabe des historischen Namens ausgesprochen und erklärt, dass die Stadt sich an Zar Peter, ihren Gründer, erinnern und den Namen des Apostels Petrus, ihres Schutzheiligen, tragen müsse. Der Vater des Patriarchen, ein Geistlicher, war gebürtiger Petersburger, er selbst hatte an der Geistlichen Akademie in Leningrad studiert und war vor seiner Wahl zum Oberhaupt der Russischen Orthodoxen Kirche im Juni 1990 Metropolit von Leningrad und Nowgorod gewesen. Seine Hochheiligkeit kannte die Stadt und ihre Geschichte also gut.

Drei Monate später, am 6. September 1991, gab der Oberste Sowjet Russlands der Großen Stadt ihren historischen Namen per Ukas zurück, während das Leningrader Gebiet seinen sowjetischen Namen behielt, und St. Petersburg begann, sich auf seine Geschichte zu besinnen. Den ersten Schritt auf der Suche nach der verlorenen Zeit tat die Tageszeitung Leningrad am Abend, die schon am 7. September 1991 wieder mit ihrem alten Titelkopf Petersburg am Abend erschien. Links daneben prangte ein Foto vom Reiterstandbild Peters I., dem bekanntesten Wahrzeichen der Stadt, darüber stand in großen Lettern die Bitte »Geheiligt werde Dein Name!« aus dem Vaterunser. Das war eindeutig: Die Stadt hatte sich vom gottlosen Führer der Bolschewiki abgewandt und sich wieder ihrem alten Schutzheiligen, dem Apostel Petrus, unterstellt, dessen Namen Zar Peter ihr einst gegeben hatte, freilich in der holländischen Form: Sankt-Piterburch.

Touristen, die sich in diesen Septembertagen in der Stadt aufhielten, waren in Leningrad angekommen und reisten aus St. Petersburg wieder ab. Im Oktober 1991 erhielten 43 Straßen und Plätze ihren ursprünglichen Namen zurück, 1992 wurde aus dem Kirow-Theater wieder das Marientheater (Mariinski teatr). Die Zeitungen brachten nun lange Beiträge zur Stadtgeschichte, und mancher Leser wurde über Nacht zum Hobbyhistoriker. Die großen Buchhandlungen, allen voran das wohlbekannte Dom knigi (Haus des Buches) im sog. Singer-Haus am Newski Prospekt, richteten Petersburg-Abteilungen ein, Stadtführer machten Fortbildungskurse, und Schulklassen richteten Kreuze und Grabsteine auf den verfallenden Friedhöfen wieder auf, jäteten Unkraut und harkten die Wege. Das Schulzentrum der Ermitage bot Kurse zur Stadtgeschichte an, und in den Schulen wurde das Unterrichtsfach »Geschichte und Kultur von Sankt Petersburg« eingeführt.

In der großen Halle des Moskauer Bahnhofs wurden Reisende allerdings noch eine Zeitlang von einer alabasternen Lenin-Büste auf hohem Postament begrüßt, die erst in der Nacht auf den 1. Juli 1993 abgenommen und in der Nacht auf den 23. Juli 1993 durch eine vergrößerte Bronzekopie der markanten Wachsbüste Peters des Großen von Bartolomeo Carlo Rastrelli ersetzt wurde. Der Tausch musste nachts vorgenommen werden, weil die Kommunisten Widerstand angekündigt hatten. Eine offizielle Einweihung des neuen Denkmals fand nicht statt. Es war, als hätten die Stadtväter doch noch Angst vor der eigenen Courage bekommen …

Doch Peter I., den schon die Zeitgenossen den »Großen« nannten, war in seine Stadt zurückgekehrt und mit ihm sein Schutzpatron, der Apostel Petrus, der Türsteher des Himmels, der bekanntlich die Schlüssel zum Paradies verwahrt. Und hatte Peter sein Sankt-Piterburch anfangs nicht sein »Paradies« genannt? Jedenfalls konnte die rückbenannte Stadt nun auf eine gute Zukunft hoffen und sich für die Rückkehr in den Kreis der großen Metropolen Europas rüsten.

Im Vergleich zu den anderen Hauptstädten des alten Kontinents ist St. Petersburg freilich eine junge Stadt, keine natürlich gewachsene, sondern eine geplante Stadt, am Reißbrett entworfen und eilig hochgezogen – das größte und kostspieligste Städtebauprojekt des 18. Jahrhunderts, ein Utopia am Rande der damals bewohnten Welt, das Realität wurde. Mit St. Petersburg beginnt die Geschichte des modernen Russland. Im Mai 1703 von Zar Peter I. scheinbar wider jegliche Vernunft und ohne Rücksicht auf Verluste im sumpfigen Delta der Newa gegründet und von ihm 1712 mitten im langen Nordischen Krieg zur Hauptstadt seines riesigen Reiches erhoben, war es dazu bestimmt, dem rückständigen Moskowien als »Fenster nach Europa«, zu dienen, als Motor der Europäisierung und Modell der Modernisierung. Das ging nicht ohne Hilfe ausländischer Fachleute, die dem Ruf Peters und seiner Nachfolger in die neue Reichshauptstadt in großer Zahl willig folgten und vielfach führende Stellungen einnahmen, sodass Petersburg bald »an eine europäisch-amerikanische Kolonie« (Nikolai Gogol) erinnerte. Von Nikolaus I. ist der Satz überliefert: »Petersburg ist russisch, aber es ist nicht Russland.«

Insofern war die Gründung dieser Stadt, eine Provokation der Natur und des gesunden Menschenverstandes, das wichtigste politische Ereignis des beginnenden 18. Jahrhunderts, ein epochales Ereignis, dessen Bedeutung sich den Zeitgenossen nicht sofort erschloss. Doch mit der Gründung St. Petersburgs und der 1721 erfolgten Annahme des Kaisertitels durch Peter I., änderten sich die Vektoren der russländischen Politik von Grund auf. Die Romanows zogen mit den alten europäischen Dynastien gleich, und aus dem fernen halbasiatischen Zartum Moskowien mit dem altbackenen, byzantinisch-orthodoxen Moskau als Hauptstadt wurde das Kaiserreich Russland mit dem eleganten, weltläufigen, multikulturellen St. Petersburg als Hauptstadt, eine europäische Großmacht, die sich endgültig an der Ostsee festgesetzt hatte, attraktives Einwanderungsland für Abertausende Europäer – Militärs, Seeleute, Architekten, Ingenieure, Wissenschaftler, Lehrer, Apotheker, Ärzte, Handwerker, Buchbinder, Uhrmacher, Bauern, Kaufleute, Unternehmer, Künstler, Schauspieler, Tänzer, Schriftsteller, Abenteurer. Und von Anfang an waren unter den Einwanderern besonders viele Deutsche vor allem aus Sachsen, Pommern und Preußen, die zu Hause kein Auskommen gefunden hatten und auf ein besseres Leben in Russland hofften.

Zwar kehrte Peter II., ein Enkel Peters I., noch einmal nach Moskau zurück und blieb dort, weil er in den Wäldern der Umgebung der Ersten Residenzstadt wohl besser jagen konnte als in den Petersburger Sümpfen, doch schon die Kaiserin Anna, eine Nichte Peters I., kam 1730 mit dem Hof wieder nach Petersburg, um seine Politik der Öffnung fortzusetzen. Sie war es, die nach den verheerenden Bränden von 1737 eine Baukommission einsetzte, die Stadtbezirke einteilen und die weitere Planung und Entwicklung der Stadt vornehmen sollte. Sie vergab auch die ersten Straßennamen. In der Folge haben die meisten Romanow-Herrscher, allen voran Elisabeth Petrowna, Katharina II., Paul I. und seine Söhne Alexander I. und Nikolaus I., Einfluss auf die architektonische Entwicklung der Hauptstadt genommen und sie geprägt, während die Zuwanderung ausländischer Fachkräfte anhielt.

Einige von ihnen hatten bereits einen Namen wie der französische Balletttänzer Jean-Baptiste Landé, der 1734 nach St. Petersburg kam und vier Jahre später die erste russische Ballettschule gründete, aus der die weltberühmte Waganowa-Ballettakademie hervorging. Oder der schottische Architekt Charles Cameron, der auf Einladung Katharinas II. in den kaiserlichen Sommerresidenzen Zarskoje Selo und Pawlowsk baute. Oder der französische Bildhauer Etienne-Maurice Falconet, der das Reiterstandbild Peters des Großen auf dem Senatsplatz schuf und den Stadtgründer nicht als siegreichen Feldherrn darstellte, sondern als Reformer, der »alle Hindernisse mit der Hartnäckigkeit eines Genies überwinden musste«. Oder der deutsche Sturm-und-Drang-Dichter Friedrich Maximilian Klinger, der es in russischen Diensten zum Generalmajor und Direktor des Ersten Kadettenkorps brachte und sein Hauptwerk in Russland schrieb. Oder Leo von Klenze, der bayerische Hofarchitekt, der 1839 nach Petersburg kam und für Nikolaus I. die Neue Ermitage entwarf. Oder Franz Krüger, der Berliner Maler, der über Jahrzehnte die offiziellen Porträts dieses Kaisers schuf, der seit 1836 Ehrenbürger von Berlin war.

Andere machten sich erst in St. Petersburg einen Namen wie der schwedische Ingenieur und Industrielle Immanuel Nobel, dessen Sohn Alfred einen Teil seiner Kindheit und Jugend in der Stadt verbrachte und später das Dynamit erfand. Oder Carl Siemens, ein jüngerer Bruder von Werner von Siemens, der 1853 im Auftrag der Berliner Telegrafen-Bauanstalt von Siemens & Halske nach Russland ging, um den Aufbau eines landesweiten Telegrafennetzes zu leiten, und 1855 eine Niederlassung der Firma in St. Petersburg eröffnete. Oder der Schlesier Karl Oswald Bulla, der in Petersburg zum Starfotografen und Begründer der russischen Fotoreportage avancierte. Oder Heinrich Schliemann, der polyglotte Kaufmann aus Ankershagen in Mecklenburg-Schwerin, der in Russland mit dem Indigohandel ein reicher Mann wurde, in Petersburg Neu- und Altgriechisch lernte, die Ilias im Original las und hier beschloss, Troja auszugraben. Das kostspielige Unternehmen finanzierte er mit dem Geld, das er in Russland verdient hatte, im Krimkrieg auch durch den Handel mit Kriegsmaterialien. Im Januar 1864 erhielt dieser Petersburger mit Migrationshintergrund, der auf der 1. Linie 28 der Wassili-Insel wohnte, die erbliche Ehrenbürgerwürde. Carl Siemens, der in den 1880er-Jahren das Monopol im Bereich elektrischer Straßenbeleuchtungen in ganz Russland erwirkt hatte, wurde 1895 für seine Verdienste um Russland von Nikolaus II. in den Adelsstand erhoben. Ob die Mecklenburger Schliemann und Siemens, beide Untertanen des Kaisers von Russland und Kaufleute der 1. Gilde, sich gekannt haben?

Als Hauptstadt hat St. Petersburg zwei Jahrhunderte lang Russlands Geschicke bestimmt und das Schicksal Europas und der Welt mitbestimmt. Bis 1917 hat »der Winterpalast«, die barocke Residenz der Petersburger Kaiser, in der europäischen Politik die Rolle gespielt, die 1918 »der Kreml«, die mittelalterliche Zitadelle der Moskauer Zaren, übernahm. Und die Geschichte hat es so gewollt, dass die Stadt gelegentlich auch Zufluchts- und Wallfahrtsort war, mal der europäischen Rechten, mal der europäischen Linken. Hierher flüchteten französische Legitimisten vor den Folgen der Revolution von 1789 und vor Napoleon, hierher pilgerte in den 1920er-Jahren die europäische Linke in der Überzeugung, hier eine neue, bessere Welt vorzufinden.

Die strenge Zentralisierung des kaiserlichen Russland war der Grund dafür, dass sich das Schicksal des Landes in seiner Hauptstadt entschied, auch wenn sie am äußersten nordwestlichen Rand des Reiches lag und für das weite, bäuerlich geprägte Land stets ein Fremdkörper war, eine steinerne Stadt mit einzigartigen architektonischen Ensembles verschiedenster Stilrichtungen, die bis in die Gegenwart so erhalten sind, wie sie geplant und gebaut wurden.

Von den besten französischen, italienischen, deutschen, englischen und einheimischen Architekten errichtet, ist St. Petersburg als »europäisches Gesamtkunstwerk« bezeichnet worden. Darüber hinaus war es im 19. Jahrhundert eine von Europas Kulturhauptstädten, in die »man« reiste, wie »man« nach Paris, London oder Rom reiste, eine elegante, vielsprachige Metropole, die unzählige große Künstler aus ganz Europa anzog, glänzend bezahlte und feierte. Die Liste der Stars ist lang.

Von Mlle George über Mlle Rachel bis Sarah Bernhardt kamen sie, die großen französischen Tragödinnen, und begeisterten die Petersburger. Sarah Bernhardt trat dreimal in Petersburg auf, gerne hätte sie die Anna Karenina gespielt. Hector Berlioz, der Nikolaus I. seine Symphonie fantastique gewidmet hatte, dirigierte seine Sinfoniekantate Fausts Verdammung, die in Paris durchgefallen war, mit dem größten Erfolg in St. Petersburg und dann auch in Moskau. Marius Petipa, ein Balletttänzer aus Marseille, debütierte am Marientheater, stieg zum Ersten Ballettmeister und Chefchoreographen der Kaiserlichen Theater auf und schuf in St. Petersburg 60 Ballette, von denen einige – darunter Dornröschen, Der Nussknacker und Schwanensee – bis heute in seiner Choreographie aufgeführt werden. Der Franzose gilt als Begründer des klassischen russischen Balletts. – Auch die lange russische Karriere des österreichischen Violinisten, Dirigenten und Komponisten Léon Minkus begann in St. Petersburg, wo er 1871 zum offiziellen Ballettkomponisten der Kaiserlichen Theater ernannt wurde und die Musik zu vielen Balletten von Petipa schrieb. Ihr größter gemeinsamer Erfolg war das romantische Ballett La Bayadère, das am 23. Jan./4. Febr. 1877 im Petersburger Bolschoi Theater uraufgeführt wurde.

Und noch manch anderer Uraufführung von Rang kann sich St. Petersburg rühmen. So fand im Haus der Adelsversammlung (Newski Prospekt 30/Gribojedow-Kanal 16) am 26. März/7. April 1824 die Premiere der Missa Solemnis von Beethoven statt. In diesem Haus, heute Sitz der Schostakowitsch-Philharmonie, sind sie aufgetreten: Franz Liszt, Clara Schumann, Pauline Viardot, Hector Berlioz und Richard Wagner. Letzterer bedauerte schon kurz nach seiner Rückkehr aus Russland, nicht in St. Petersburg geblieben zu sein. Seine Petersburger Erlebnisse seien die »einzigen Lichtblicke« seines Lebens »seit langer Zeit« gewesen, schrieb er einer Freundin. Am 10. November 1862 wurde im Petersburger Bolschoi Theater Verdis Oper Die Macht des Schicksals uraufgeführt, die einzige Oper, die von einem Ausländer speziell für ein russisches Theater geschrieben wurde. In der Petersburger Redaktion wird sie auch heute noch vom Marientheater aufgeführt.

In diesem Theater fand am 19. Dezember 1890 die lang erwartete Premiere von Tschaikowskis neuer Oper Pique Dame statt. Das Libretto stammte von Modest Tschaikowski, dem jüngeren Bruder des Komponisten, die Choreographie des Intermezzos von Marius Petipa. Die Handlung basiert lose auf Puschkins gleichnamiger Erzählung, war aber ins 18. Jahrhundert verlegt worden und hat ein tragisches Ende: Lisa wirft sich von der Ermitage-Brücke in die Newa. Danach gingen, so heißt es, noch viele unglücklich Verliebte an dieser Stelle ins Wasser.

Im Herbst 1892 wurde die Pique Dame in Prag, zwei Jahre später in Wien aufgeführt. Im Januar 1892 hatte im Stadttheater Hamburg die westeuropäische Erstaufführung der Oper Eugen Onegin unter dem Dirigat des jungen Ersten Kapellmeisters Gustav Mahler stattgefunden. Tschaikowski war anwesend und höchst zufrieden, er war sechsmal in Hamburg und mochte die Stadt. Der Komponist starb, nachdem er noch am 28. Oktober 1893 die Uraufführung seiner Sechsten Sinfonie, der Pathétique, selbst dirigiert hatte, überraschend am 6. November 1893 in der Wohnung seines Bruders Modest in der Malaja morskaja 13. Er starb vermutlich an der asiatischen Cholera, die in der Hauptstadt grassierte. Auf kaiserliche Anordnung erhielt er ein Staatsbegräbnis, dessen Kosten Alexander III. persönlich übernahm. Die Totenmesse fand in der Kasaner Kathedrale statt. Sie war überfüllt. Zehntausende folgten dem Sarg zum Tichwiner Friedhof des Alexander-Newski-Klosters.

Nur ein paar Wochen später kam der junge Bassbariton Fjodor Schaljapin nach St. Petersburg. Am 1. Februar 1895 unterzeichnete er einen Vertrag mit der Kaiserlichen Oper und wurde am Marientheater eingesetzt. Er war 21 Jahre alt und am Ziel seiner Wünsche, sang den Méphistophélès aus Gounods Oper Faust, den Sussanin aus Glinkas Ein Leben für den Zaren, den Fürsten Gremin aus Tschaikowskis Eugen Onegin und den Grafen Robinson aus Cimarosas Oper Die geheime Ehe. 1901 ging Schaljapin an die Mailänder Scala, wo seine Weltkarriere begann. Auch die legendäre Compagnie Ballets russes des großen Impresarios Sergei Djagilew, die 1909 erstmals triumphal in Paris auftrat, hat ihre Ursprünge in St. Petersburg.

Kurzum, mochte Russland den Europäern fremd bleiben, seine Hauptstadt war es nie. St. Petersburg war Russlands europäischste Stadt. Und schon wegen der verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen den Romanows und mehreren deutschen Dynastien waren die Beziehungen zu den Deutschen besonders eng, den deutschstämmigen Kaiserinnen folgten auch immer viele Landsleute ins ferne St. Petersburg, sodass die Deutschen gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit acht bis zehn Prozent der Stadtbevölkerung die größte und einflussreichste nationale Minderheit stellten. Mehrere Gouverneure bzw. Bürgermeister der Hauptstadt, kaiserliche Minister und Botschafter waren deutscher bzw. deutschbaltischer Herkunft. Kein Wunder daher, dass die Petersburger Deutschen vielfach in die russische Literatur eingegangen sind. Puschkin nannte St. Petersburg einmal »eine deutsche Stadt«, und Gogol fand, Petersburg sei »schon ein akkurater Deutscher«.

Manches erinnert noch an die historische Nähe. Die lateinischen »bukwy« (»Buchstaben«), deren Rezept ein deutscher Bäcker um 1844 aus St. Petersburg mitbrachte und fortan in seiner Deutschen & Russischen Bäckerei in Dresden buk, sind als »Russisch Brot« hierzulande immer noch gefragt, in Petersburg sind sie vergessen. Richard Eilenbergs Petersburger Schlittenfahrt aus dem Jahre 1886 wird zu Weihnachten und zum Jahresende immer noch gerne gespielt und ist auch in Russland noch populär. Für seinen Krönungsmarsch op. 34 zu Ehren Alexanders III. erhielt Eilenberg vom Kaiser persönlich eine goldene Uhr. Der Gassenhauer Denkste denn, denkste denn, du Berliner Pflanze war schon 1837 als Marsch aus Petersburg nach Berlin gekommen, mitgebracht von Wilhelm von Preußen, der so gerne nach St. Petersburg reiste und immer herzlich empfangen wurde. Auf die Melodie legten gewitzte Berliner später den bekannten Text. Die Marschpolka, die während der Eröffnungsfeier der XXII. Olympischen Winterspiele im Februar 2014 in Sotschi gespielt wurde, kam also nicht aus Berlin, sondern war ein Gruß aus Petersburg!

Mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges war die deutsch-russische Symbiose in St. Petersburg zu Ende. Am 4. August 1914 stürmte der Mob die erst 1913 fertiggestellte Kaiserlich Deutsche Botschaft am Isaaksplatz, plünderte Geschäfte und belästigte die deutschsprachigen Mitbürger, die umgehend ihre Namen russifizierten. Alle Wagner-Inszenierungen verschwanden aus dem Repertoire des Marientheaters, die deutschsprachigen Zeitungen der Hauptstadt wurden verboten, die deutschen Ladenschilder abgenommen. Vergessen war, dass die Petersburger dem alten Kaiser Wilhelm noch 1873 einen herzlichen Empfang bereitet und die Orchester der kaiserlichen Garderegimenter für ihn auf dem Schlossplatz die Kaiserhymne und die Wacht am Rhein gespielt hatten.

Die Umbenennung St. Petersburgs in Petrograd (Peterstadt) am 31. Juli/12. Aug. 1914 kam unerwartet. Die Russifizierung des »deutschen« Namens war eine Reaktion auf die deutsche Kriegserklärung und die russischen Niederlagen in Ostpreußen, aber freudig aufgenommen wurde sie nicht, weil sie eine Abkehr vom Willen des Stadtgründers bedeutete, der seine Stadt eben nicht nach sich selbst benannt hatte. Der Maler und Kunsthistoriker Alexander Benois sah in der Umbenennung Verrat am Stadtgründer und sogar den Anfang vom Ende des Imperiums. Die Petersburger konnten sich lange nicht an den neuen Namen gewöhnen, schließlich hatten sie auch ihren himmlischen Schutzpatron verloren. Im April 1916 notiert der Dichter Alexander Blok nach einem Spaziergang: »Auf dem Denkmal Falconets hält sich eine Bande von Jungs und Hooligans am Schwanz fest, sitzt auf der Schlange und raucht unter dem Bauch des Pferdes. Totaler Niedergang. Ende Petersburgs.«

Mit der Machtergreifung der Bolschewiki im Oktober 1917 änderten sich die Vektoren der russischen Politik erneut. Sowjetrussland zog sich zurück, schottete sich ab und verharrte in selbstgewählter Isolation, und als die neuen Herren die Hauptstadt Sowjetrusslands im März 1918 nach Moskau verlegten, angeblich »vorübergehend«, tatsächlich für immer, ging ein Zeitabschnitt zu Ende, der als »Petersburger Periode« der russländischen Geschichte bezeichnet wird. Es begann die neue Zeit, eine Zeit, die der Stadt – nach dem Statusverlust – Hunger, Terror, Flucht, Krieg, Entvölkerung und Provinzialisierung brachte und als »Generalprobe« für die Leningrader Blockade im Zweiten Weltkrieg bezeichnet worden ist. Am Ende des Bürgerkrieges 1920 zählte Petrograd nur noch 700 000 Einwohner (gegenüber 2 ½ Millionen Einwohnern der Vorkriegszeit).

Das »Fenster nach Europa« ging wieder zu, obwohl es durch die Ritzen immer zog und Leningrad – so hieß die Stadt seit Lenins Tod im Januar 1924 – die westlichste Stadt des Landes blieb. Leningrad wurde aber auch eines der großen Zentren des militärisch-industriellen Komplexes, das durch den weiteren Zuzug von (bäuerlichen) Arbeitsmigranten aus allen Ecken der Sowjetunion einen demographischen Wandel erlebte, der das Antlitz der Stadt nachhaltig veränderte. Eleganz, Geschmack und Haltung kamen ihr abhanden. Dmitri Schostakowitsch wähnte sich nun in »St. Leninsburg«. In den 1930er-Jahren, zur Zeit des Großen Terrors, »galt nicht der Tod als Verhängnis, nein: das Leben in Leningrad«, schreibt Anna Achmatowa. Nach dem Zweiten Weltkrieg – nur 500 000 Menschen hatten das Ende der Blockade in Leningrad erlebt – strömten erneut Menschen aus allen Landesteilen in die leere Stadt, wiederaufgebaut wurde sie nur langsam, die urbane Infrastruktur vernachlässigt; Vorrang hatte die Rüstungsindustrie. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts lebten kaum noch gebürtige Petersburger oder deren Nachfahren in St. Petersburg.

Die enorme kulturelle Rolle, die St. Petersburg zu Beginn des 20. Jahrhunderts als »Laboratorium der Moderne« (Karl Schlögel) in Europa gespielt hat, wurde bis gegen Ende der Sowjetzeit bewusst verschwiegen, die Namen der großen Kulturschaffenden des »Silbernen Zeitalters«, der Schriftsteller, der Philosophen, der Maler, die entweder emigriert, mundtot gemacht oder umgebracht worden waren, fielen der Vergessenheit anheim. Für die Leningrader begann die ruhmreiche Geschichte ihrer Stadt erst im Oktober 1917, das unermessliche Leid der 900 Tage der Blockade hat sie geadelt. Doch noch Jahrzehnte nach dem Ende des imperialen Petersburg fanden prominente UdSSR-Reisende, das Beste an Leningrad sei das alte Petersburg, verfallende Kulisse einer untergegangenen Zeit.

Von Anfang an von Chronisten begleitet, von großen Autoren und prominenten Reisenden erkundet und beschrieben, Handlungsort vieler Romane, Kulisse und selbst Subjekt so mancher Erzählung, hat wohl keine andere Stadt von dieser Größe und mit einer so kurzen Geschichte so viel Literatur hervorgebracht und so viele kontroverse Ansichten und Meinungen über Sinn und Zweck ihrer Gründung und Existenz provoziert wie diese.

Der »Petersburger Text« der russischen Literatur weist die Stadt als literarische Schatzkammer aus. Und da im zaristischen Russland die Literatur in mancher Hinsicht die Publizistik ersetzte und zeitweise die »gesamte Energie des nationalen Lebens in der Literatur konzentriert« war (Juri Lotman), bilden Auszüge aus den Klassikern die städtische Wirklichkeit durchaus realistisch ab. Tagebücher und Memoiren, Reiseberichte und Briefe; Mythen und Legenden ergänzen den Fundus. Der Begriff Literatur meint im Falle Petersburgs also ein umfangreiches Schrifttum, das die Stadtgeschichte über die Jahrhunderte aus vielen Blickwinkeln wiedergibt, reflektiert und interpretiert und durch seine Polyphonie beeindruckt.

Schon Ende der 1980er-Jahre war eine vergessene Wissenschaft wieder aufgelebt – die Petersburgkunde, die fast so alt ist wie die Stadt selbst und mittlerweile auch noch eine Fülle von Publikationen produziert hat, die zusammen mit Neuauflagen längst vergriffener älterer Werke der Landeskunde den Buchmarkt förmlich überschwemmten, darunter Die Seele Petersburgs von Nikolai P. Anziferow, das Kultbuch jener Jahre. Die Historiker brachten eine Geschichte Petersburgs nach der anderen und Biographien der Petersburger Kaiser von Peter I. bis Nikolaus II. heraus oder schilderten einzelne herausragende historische Ereignisse wie den Bau der Ermitage-Gebäude Mitte des 18. Jahrhunderts, den Mord an Paul I. im Michael-Schloss Anfang März 1801, den Dekabristenaufstand auf dem Senatsplatz im Dezember 1825, den Brand des Winterpalastes im Dezember 1837, den Bombenanschlag auf Alexander II. im März 1881, den (letzten) historischen Kostümball im Winterpalast im Februar 1903, das »Silberne Zeitalter« der Stadt, den Blutsonntag im Januar 1905, die 300-Jahr-Feier des Hauses Romanow im Jahre 1913, den Oktoberumsturz von 1917, die Umbenennungen der Jahre 1914 und 1924, den Großen Terror der 1930er-Jahre, die Leningrader Blockade oder den Leningrader Underground der 1970er- und 1980er-Jahre, jene alternative Subkultur, die den Boden für den legendären Besuch Michail Gorbatschows im Mai 1985 in der Stadt bereitete.

Dass der neue Parteichef seine Politik der Perestroika nicht in Moskau, sondern in Leningrad öffentlich verkündete, war sicher kein Zufall, denn hier konnte er noch am ehesten auf Zustimmung zum geplanten »Umbau« rechnen. Es war dann auch kein Zufall, dass sich namentlich die Leningrader unter Führung ihres soeben neugewählten, charismatischen Bürgermeisters Anatoli A. Sobtschak am 19. August 1991 gegen die reaktionären Putschisten in Moskau stellten und durch ihr entschiedenes »Nein!« wesentlich zum Scheitern des Putsches beitrugen. Die riesige Protestdemonstration gegen die Putschisten am 20. August auf dem Schlossplatz ist unvergessen. Aus Einwohnern waren Bürger geworden …

Im Vorfeld des 300. Geburtstages 2003 entdeckten schließlich auch Osteuropa-Historiker im Westen die Stadt neu und widmeten ihrer Geschichte und Kultur umfangreiche Darstellungen, gar nicht zu reden von unzähligen Reise- und Stadtführern und Petersburg-Romanen. Auch Bestsellerautoren wie Ken Follett und J. M. Coetzee ließen sich von dieser Stadt inspirieren.

Daniil Granin schrieb seinen großen Roman Abende mit Peter dem Großen, Natalja Galkina ihren Archipel des Heiligen Petrus. Andere Petersburger Autoren holten »ihr« Petersburg in ihren Memoiren in die Gegenwart. Die Literaturwissenschaftler nahmen sich das Petersburg der Dichter vor und beschrieben Puschkins Petersburg, Gogols Petersburg, Dostojewskis Petersburg, Anna Achmatowas Petersburg und Mandelstams Petersburg. Iossif Brodskis Petersburg wird wohl kein anderer mehr besser beschreiben als er selbst, der nach einem politischen Prozess wegen »Nichtstuns« bzw. »Parasitentums« 1964 zu fünf Jahren Verbannung am Weißen Meer verurteilt worden war, nach internationalem Protest vorzeitig freikam und 1972 ausgebürgert wurde. Der Dichter ging in die USA und nannte sich fortan Joseph Brodsky.

Mehrere Prosastücke, die Brodsky im amerikanischen Exil bereits auf Englisch geschrieben hatte, erschienen 1986 unter dem Titel Less Than One. Selected Essays in New York. Eine Hommage an Petersburg, das für Brodsky »eine Schule des Maßes, der Komposition« und die »schönste Stadt auf dem Antlitz der Erde« war. Der verstoßene Poet, der 1987 den Literaturnobelpreis erhielt und 1991 zum poeta laureatus Amerikas gekürt wurde, starb am 28. Januar 1996 in New York. Er war herzkrank und wollte lieber mit seinem eigenen Herzen sterben als mit einem fremden leben. In die erneut umbenannte Stadt, die ihm im Mai 1995 die Ehrenbürgerwürde verliehen hatte, ist er nicht mehr zurückgekehrt, wollte es auch nicht. »Das Beste von mir ist doch da, meine Gedichte«, pflegte er zu sagen. Er hatte sich leidenschaftlich für die Rückbenennung eingesetzt. Erst 1999, drei Jahre nach seinem Tod, erschien Less Than One endlich auch in St. Petersburg. In vielen Begleittexten heißt es allerdings immer noch, Brodsky sei in die USA »emigriert«. Als hätte der Dichter Petersburgs seine Stadt freiwillig verlassen …

Auch die Ausländer, die von Anfang an in der Stadt gelebt hatten, rückten ins Blickfeld der Forscher, wobei ihre besondere Aufmerksamkeit den Deutschen galt, die der Residenz zusammen mit Holländern, Engländern, Franzosen, Polen, Finnen, Juden u. a. ihr besonderes Flair verliehen und einen bedeutenden Anteil an der Entwicklung der Petersburger Kultur hatten. Nun wurde ihre Leistung gewürdigt.

Kurzum, die Stadt eignete sich ihre Geschichte wieder an und schien ein für alle Mal all das fixieren zu wollen, was einmal in ihr war, damit ihr nichts mehr verloren ging.

Besonders erfolgreich war der Historiker und Journalist Dmitri Scherich mit seinem erstmals 1993 erschienenen Stadtkalender, der unter dem Titel Petersburg. 300 Jahre. Tag für Tag zum 300. Geburtstag der Stadt am 27. Mai 2003 in dritter Auflage herauskam. Darin konnte der Leser nachlesen, was sich an einem beliebigen Tag in einem beliebigen Monat und Jahr seit 1703 in der Stadt ereignet hatte. Einer derart präzisen Chronik über 300 Jahre kann sich auch keine andere Stadt in Europa rühmen. Unter dem 27. Mai 1703 heißt es knapp: »Festung auf der Haseninsel gegründet. Geburtstag Sankt Petersburgs«.

Es ist ein legendenumwobener Geburtstag, obwohl St. Petersburg eine junge Stadt ist. Eine der Gründungslegenden besagt, dass ein Adler über dem Zaren kreiste, als er an diesem Tag, dem 16. Mai alten Stils, den Grundstein für die Festung legte, die er Sankt-Piterburch nannte. Längst wissen die Historiker, dass Peter I. bei der Grundsteinlegung gar nicht anwesend war, sondern 250 km weiter nordöstlich weilte, in Lodejnoje pole am Fluss Swir. Dort hatte der Zar und Zimmermann 1702 eine Werft gegründet und half nun als Schiffsbaumeister Peter Michailow beim Bau der Fregatte Standart, des ersten Schiffs der künftigen Baltischen Flotte, das er auch selbst projektiert hatte. Im August 1703 lief die Standart vom Stapel und segelte unter dem Kommando Seiner Zarischen Majestät nach Sankt-Piterburch, um die Festung und die nach ihr benannte Siedlung gegen Angriffe der Schweden zu schützen.

Dass ein Adler am Gründungstag über dem Zaren kreiste, ist natürlich eine schöne Legende, aber der König der Lüfte und Gesandte der Götter, Symbol der Kraft, der Stärke und der Herrschaft in der Mythologie vieler Völker, unterstreicht die gottähnliche Stellung des gesalbten Zaren und die göttliche Bestimmung seiner Stadt. Damit wurde die Stadtgründung, ein Gewaltakt, der Hundertausende Menschenleben gekostet hatte und das Land auch sonst teuer zu stehen kam, ein Akt göttlicher Fügung. Es war daher logisch, dass Peter seine Stadt nicht nach sich selbst benannte, wie man denken könnte, sondern nach seinem Schutzpatron, dem Apostel Petrus. Natürlich wusste der Zar, dass Petrus »Stein« oder »Felsen« bedeutet und dass Christus auf diesen Felsen seine Kirche bauen wollte, und mag sich Ähnliches vorgestellt haben. Der Name sollte aber auch dokumentieren, dass St. Petersburg in der Nachfolge Roms, Konstantinopels und Moskaus gesehen werden musste. Den Beinamen »nördliches Rom« erhielt die junge Stadt jedenfalls schon im frühen 18. Jahrhundert, seit Katharina II. wurde sie auch »Palmyra des Nordens« genannt, und natürlich galt sie wegen ihrer vielen Wasserwege, Brücken und Inseln auch immer als »nördliches Venedig«.

Nach einer anderen Legende gelang es Peter zunächst nicht, die Stadt im Morast der Newa-Mündung zu errichten, weil die Häuser gleich wieder im Sumpf versanken. Also errichtete er die Stadt in der Luft, und als sie fertig war, senkte er sie ab und setzte sie auf die Erde, namentlich auf die rund 100 Inseln des Newa-Deltas, von denen noch 42 erhalten sind. Sie blieb stehen, dem Spiel des Lichts und des Wassers, der Winde und der Schatten ausgesetzt. Ein Wunder.

Natürlich kannte Alexander Puschkin all die Legenden, als er sein berühmtes Poem Der Eherne Reiter schrieb, das er eine »Petersburger Erzählung« nannte. Seit Puschkin hält sich in den Köpfen der Russen hartnäckig die Vorstellung, dass St. Petersburg in einer menschenleeren öden Gegend entstand, wo nur »hier und da im Ufermoor« eine Hütte »grau« stach hervor, »die karge Wohnstatt eines Finnen«. Und Wald, »in den sich nie verlor ein Sonnenstrahl durch Nebellinnen, rauschte ringsum«. Tatsächlich war die Gegend von finnougrischen Stämmen und Russen besiedelt, und auch Schweden hatten sich dort niedergelassen. Die Archäologen haben jedenfalls Ruinen der schwedischen Festung Nyenschanz und Spuren von rund 40 Dörfern aus vorpetrinischer Zeit gefunden. Aber »Peters Schöpfung« erschien eben noch gewaltiger, wenn sie aus dem Nichts emporwuchs, steinern, riesig, fremd. Der Eherne Reiter begründet den Petersburger Text, Puschkin ist der Schöpfer des Mythos Petersburg.

Auch vermittelt das Poem den Eindruck, als wollte Peter von Anfang an in dieser Gegend eine Stadt gründen. (»Von hier aus drohen wir dem Schweden / Hier werde eine Stadt am Meer.«) Doch sein erstes Anliegen war ein Hafen an der Ostsee und der Bau einer Flotte: Russland sollte eine Seemacht werden. Der lange Nordische Krieg zwischen Russland und Schweden um die Vormachtstellung an der Ostsee hatte gerade erst begonnen, und formal entstanden Festung und die um sie herum wachsende Siedlung auf schwedischem Territorium. Erst 1704 sprach der Zar in einem Brief erstmalig von seinem »Paradies« als seiner künftigen Hauptstadt, und erst nach dem Sieg über die Schweden in der Schlacht von Poltawa im Sommer 1709 ging er an den Ausbau der Stadt, die ein russisches Amsterdam werden sollte. Schließlich hatte Peter in Holland gelebt und dort verschiedene Gewerke erlernt, er sprach fließend Holländisch, und so wählte er die holländische Form für den Namen der Festung, der dann auf die Stadt überging: Sankt-Piterburch, woraus in den 1730er-Jahren das »deutsche« Sankt Petersburg wurde. In der Literatur des 18. Jahrhunderts kommen auch schon mal das griechische »Petropolis« und das russische »Petrograd« vor. Auch Puschkin spricht im Ehernen Reiter von Petrograd. Im Volksmund hieß die Stadt jedoch von Anfang an nur »Piter«, (»Pieter«) und dabei ist es geblieben.

Die Namensgebung zu Ehren des Apostels Petrus erfolgte am 29. Juni alten Stils, der nach dem russisch-orthodoxen Kirchenkalender den Aposteln Petrus und Paulus gewidmet ist. An diesem Tag wurde in der Festung in Peters Anwesenheit feierlich der Grundstein für die den beiden Aposteln gewidmete Peter-und-Paul-Kathedrale gelegt, die erste Kirche der Stadt und künftige Grablege der Romanows. Der Schweizer Architekt Domenico Trezzini ersetzte die Holzkirche ab 1712 durch einen Steinbau. Die Arbeiten dauerten 21 Jahre. In dieser Zeit ging der Name der Festung auf die junge Stadt und der Name der Kathedrale auf die Festung über: Peter-und-Paul-Festung.

Schon im August 1703 hatte Sankt-Piterburch die erste Überschwemmung seiner Geschichte erlebt, im November 1706 folgte die zweite. Seit Menschengedenken war das Wasser nicht so hoch gestiegen, durch die Straßen fuhren Boote. »Aber es hielt sich nicht lange, weniger als drei Stunden«, schrieb Zar Peter seinem Freund und Günstling Menschikow, »und es war tröstlich zu beobachten, dass die Menschen wie in Zeiten der Sintflut auf Dächern und Bäumen saßen … Obwohl das Wasser hoch stand, hat es keinen großen Schaden angerichtet.« Überschwemmungen suchten die Stadt nun fast jedes Jahr heim, meistens im Oktober/November und fast immer in der Nacht oder am frühen Morgen. Auch das unstete Klima machte den Petersburgern zu schaffen, der Nebel, der Regen, die Feuchtigkeit, die scharfen Winde und letztlich auch die geheimnisvollen Weißen Nächte.

Kein Wunder daher, dass der Stadtgründung von Anfang an etwas Unnatürliches, Künstliches, Geheimnisvolles, Mythisches anhaftete, zumal sie auch so viele Opfer gefordert hatte. Die Stadt entstand auf Gebeinen und Tränen und wurde auch noch zwangsbesiedelt, sodass Peter der Große, jähzornig und brutal, vielen Zeitgenossen nicht als Reformer galt, sondern als Antichrist in Person. Der kühnen Idee Peters, »Hier werde eine Stadt«, stand auch immer der bittere Fluch seiner ersten, von ihm verstoßenen Frau Jewdokija Lopuchina »Petersburg soll veröden!« gegenüber.

Im 18. Jahrhundert einmütig besungen und gepriesen, wird das »glänzende Petersburg« im 19. Jahrhundert zur Kasernen- und Behördenstadt, die den Einzelnen erdrückt, zum Sinnbild der Autokratie, die nicht mehr sakrosankt ist. »Halb Petersburg steckt in Uniform«, notiert 1840 der Bremer Reiseschriftsteller Johann Georg Kohl. »Unfreier Geist, Pracht besticht«, heißt es bei Puschkin, »grandiose Stadt der Sklaven« bei Apollon Grigorjew. Die Stadt ist nun eines der großen kontroversen Themen der russischen Publizistik, an ihrer Existenz scheiden sich die Geister. Die einen sehen in St. Petersburg das wichtigste Symbol der Europäisierung des Landes, die anderen das Symbol der Abkehr vom ursprünglichen, wahren »heiligen« Russland, für das immer noch Moskau steht, die Erste Residenzstadt, in der auch die Petersburger Kaiser sich krönen ließen.

Das »Sankt« im Namen der nördlichen Hauptstadt entfällt, und es mehren sich die negativen Urteile über ihren Gründer, den genialen Despoten, der eiskalt über Leichen ging. Joseph de Maistre, sardischer Botschafter am Petersburger Hof, nennt Peter den Großen nun den »Mörder seiner Nation«, weil er ihr eine fremde Zivilisation aufzwang, andere sehen ihn nur noch als Imitator. Der Historiker Nikolai M. Karamsin bezeichnet die Gründung Petersburgs gar als Peters »glänzendsten Fehler«. Peter sei zweifellos ein großer Mann gewesen, doch er hätte noch viel größer sein können, wenn er die Umgestaltung des Staates ohne Gewalt, Folter und Hinrichtungen verwirklicht hätte.

Doch gehören zur Geschichte einer Stadt nicht nur ihr Gründer, ihre Erbauer und Einwohner, ihre Besucher und Chronisten, sondern auch die Helden ihrer Literatur und deren Schöpfer. Das gilt insbesondere für St. Petersburg, den »Startplatz« (Joseph Brodsky) der großen russischen Literatur. St. Petersburg ist eine Stadt der literarischen Helden, ohne sie wäre die Stadt undenkbar. »Petersburg taucht so oft in Romanen, Gedichten und Legenden auf, dass es weniger einer wirklichen als einer erfundenen Stadt gleicht, und die Kraft des Talents von Puschkin, Gogol und Dostojewski lassen uns ihre Helden manchmal wirklicher erscheinen als jene Menschen, denen wir gerade auf der Straße begegnen«, schreibt Ryszard Kapuściński, der polnische Reiseschriftsteller. So ist es, und da der Leser oft auch die Adressen der literarischen Helden mitgeliefert bekommt und ihnen auf ihren Wegen folgen kann, darf er sich einbilden, bereits in dieser Stadt gewesen zu sein. Die »literarische« Stadt ist nicht mehr da, aber die realen Schauplätze der fiktiven Handlungen sind geblieben, Erinnerungsorte, die wohl die meisten Petersburger und Freunde der russischen Literatur kennen.

Alexander Puschkin, geboren 1799 in Moskau, Schüler des berühmten Kaiserlichen Lyzeums in Zarskoje Selo, war der letzte Sänger des klassizistischen Petersburg. In seinem Versroman Eugen Onegin (1833) und in der Erzählung Pique Dame schildert Puschkin die mondäne Petersburger Gesellschaft, die er verabscheute, obwohl er ein Teil von ihr war. Sein Onegin räkelt sich noch gegen Mittag gemächlich im Bett, erhält drei Einladungen für den Abend, fährt zum Boulevard, »dort zu flanieren ohne Sorge«, um sodann im »Talon«, einem französischen Restaurant am Newski Prospekt 15, zu speisen und abends auf einen Ball am Englischen Kai 10 zu eilen, wo »ein prächtiges Gebäude glänzt«. Es ist dasselbe Gebäude, in dem Natascha Rostowa in Tolstois Krieg und Frieden Silvester 1809 ihren ersten großen Ball erlebt. »Das gesamte diplomatische Korps war geladen. Auch der Kaiser hatte sein Erscheinen in Aussicht gestellt. Das allen Petersburgern wohlbekannte Haus des Gastgebers – es lag am Englischen Quai – strahlte von ungezählten Lichtern.« Die einflussreiche Fürstin Natalja Petrowna Golyzina, Prototyp der Pique Dame, lebte in der Malaja Morskaja 10, einer der »literarischen« Straßen der Hauptstadt. Ganz Petersburg kannte diese Adresse.

Doch anders als Onegin, sein Alter Ego, fühlte sich Puschkin in dieser Gesellschaft nicht wohl. »Denkst Du etwa«, schreibt er einmal seiner Frau, »dass das säuische Petersburg mir nicht zuwider ist? Dass es eine Freude ist, zwischen Pasquillen und Denunziationen zu leben?« Die wenigen Salons, in denen er verkehrte, nannte er »Oasen des kulturellen Lebens«. Der Dichter, selbst Opfer von Pasquillen und Denunziationen, starb am 29. Jan./10. Febr. 1837 im Alter von nur 37 Jahren an den Folgen eines Duells in seiner Wohnung an der Moika 12. In diesen Jahren waren immer mehr Engländer nach St. Petersburg gekommen, sodass die Literaturzeitung, für die auch Puschkin schrieb, sich gezwungen sah, ihren Lesern das Fremdwort »tourist« zu erklären: »So nennen die Engländer ihre Landsleute, die aus Müßiggang oder um einen Spleen loszuwerden, durch Europa ziehen.«

Nikolai Gogol, der Ende 1828 aus der Ukraine nach St. Petersburg gekommen war, um hier seine schriftstellerische Karriere zu beginnen, hatte sich Petersburg »sehr viel schöner, großartiger« vorgestellt. Die Gerüchte, die andere über die Stadt verbreiten, seien auch trügerisch, schreibt er seiner Mutter. »Hier nicht wie ein Schwein zu leben, d. h. einmal am Tage Schtschi und Kascha zu haben, ist ungleich teurer, als wir dachten. Für die Wohnung zahlen wir achtzig Rubel im Monat, nur für Wände, Holz und Wasser. Sie besteht aus zwei kleinen Zimmern und dem Recht, die Küche der Wirtin zu benutzen. Die Lebensmittel sind auch nicht billig, ausgenommen Wild, das kein Leckerbissen für unsereinen ist. Kartoffeln werden im Dutzend verkauft, ein Dutzend Zwiebeln kostet 30 Kopeken. Das alles zwingt mich, wie in der Wüste zu leben, ich bin gezwungen, auf mein schönstes Vergnügen, das Theater, zu verzichten. Wenn ich erst einmal hingehe, werde ich schon oft hingehen, aber das ist kostspielig für mich, d. h. für meine magere Tasche.« Gogol beschreibt die Merkwürdigkeiten der Stadt, die in seinen Erzählungen »ihre Wunderlichkeit preisgab« (Vladimir Nabokov).

Seine erste Petersburger Wohnung lag in der Gorochowaja 46. Sie war klein und eng, er zog mehrfach um. Die Erzählungen Newski prospekt, Die Nase und mehrere Kapitel der Toten Seelen entstanden in der Malaja Morskaja 17.

Von Gogol wissen wir, dass es »nichts Schöneres als den Newski prospekt gibt, wenigstens in Petersburg nicht: für Petersburg bedeutet er alles«. Der Newski mit seinen Palästen, Kirchen, Hotels und Geschäften war der bekannteste Handlungsort und die vornehmste Adresse der nördlichen Hauptstadt, freilich »ein trügerisch schöner Ort, der besonders gefährlich wird am Abend, wenn »Satan in eigener Person« die Lampen anzündet, um »alles in einem falschen Lichte erscheinen zu lassen«. Bei Gogol rücken die kleinen Leute ins Bild, arme Beamte, Handwerker, Händler. In seinem Petersburg begegnet man »Tausenden von unfassbaren Charakteren und Erscheinungen«. Dem Kollegien-Assessor Kowaljow kommt seine Nase abhanden, die selbständig in der Uniform eines Staatsrats in der Stadt herumspaziert. Die Nachbildung der Nase aus rosa ukrainischem Marmor an der Fassade des Hauses Wosnessenski Prospekt 36/11 ist eine Touristenattraktion. Auf der Suche nach seinem gestohlenen Mantel geistert Akaki Akakijewitsch Baschmatschkin noch als Toter durch die nächtliche Stadt und versucht, einen neuen Mantel zu stehlen. Anzeige erstattet der Arme beim Polizeimeister in der Bolschaja Morskaja 22.

Fjodor Dostojewski kam 1837 nach Petersburg, um an der Ingenieurschule im Michael-Schloss (seit 1823: Ingenieurschloss) zu studieren. Er schloss das Studium als Fähnrich ab, blieb jedoch nicht beim Militär, sondern wurde Schriftsteller und lebte 28 Jahre in der Stadt, die ihn berühmt machen sollte. Fjodor Michailowitsch war überzeugt, »dass es in Petersburg viele Leute gibt, die im Gehen mit sich selbst sprechen. Es ist die Stadt der Halbverrückten«. Er zog zwanzigmal um, bevorzugte Wohnungen in Eckhäusern mit Blick auf eine Kirche. Die Stadt ist bei Dostojewski immer gegenwärtig, ist Kulisse. Als Erster stellt er den Großstadtmoloch dar, die Anonymität der großen Mietskasernen, die Einsamkeit der Bewohner, die brunnenartigen Hinterhöfe und die Kneipen, Armut und Prostitution. Sein »Kellermensch« hat »das besondere Unglück, in Petersburg zu leben, der abstraktesten und ausgedachtesten Stadt der ganzen Welt«. In einer »feuchten, stürmischen Petersburger Novembernacht« begegnet Herr Goljadkin auf der Uferstraße der Fontanka einem Doppelgänger, der in Wahrheit er selbst ist. Rodion Raskolnikow, ein auffallend hübscher Jüngling »von ziemlich hohem Wuchs, schlank und wohlgestalt« und »so schlecht gekleidet, dass sogar ein an dergleichen Gewohnter sich geschämt hätte, am Tage in solchen Lumpen auf die Straße zu gehen«, lebt in der Dachkammer eines vierstöckigen Hauses beim Heumarkt, dem »Bauch« Petersburgs, »wo fast ausschließlich Handwerker und Arbeiter gedrängt hausten […]«.

Wie Dostojewski selbst, der seiner Frau einmal erzählte, er habe Raskolnikow gesehen, so kann sich auch der heutige Besucher einbilden, ihn gesehen zu haben, auf dem Heumarkt oder in seiner Umgebung. Das Raskolnikow-Haus in der Graschdanskaja 19 sieht jedenfalls noch so aus, wie Dostojewski es gesehen haben dürfte, und es ist leicht zu finden. Die Brüder Karamasow und das Tagebuch eines Schriftstellers schrieb Dostojewski am Kusnetschny Pereulok 5/2, in der Wohnung im ersten Stock, in der er 1881 starb. Aus seinen Fenstern konnte er die Wladimir-Kirche sehen.

Die Gorochowaja, eine der drei ältesten zentralen Straßen der Stadt, ist fast so literaturträchtig wie die Malaja Morskaja. »In der Gorochowaja uliza, in einem der großen Häuser, dessen Bevölkerung für eine ganze Kleinstadt reichen würde, lag eines Morgens Ilja Iljitsch Oblomow im Kabinett seiner Wohnung im Bett.« So beginnt Iwan A. Gontscharows berühmter Roman über diesen Nichtstuer, für den das Liegen »sein normaler Zustand« war. – Viel später lebte ein mindestens ebenso bekannter Russe, der Wanderprediger Grigori Rasputin, tatsächlich in der Gorochowaja 64; ermordet wurde er im Palast der Jussupows an der Moika 94. Wohnung und Tatort kann man besichtigen.

Iwan Turgenjew, der Russland aus Abscheu vor der Leibeigenschaft und aus Liebe zu Pauline Viardot verließ, verbrachte mehr als die Hälfte seines Lebens außerhalb Russlands, lebte in Deutschland und Frankreich und kam nur zu Besuch in seine Heimat. Aber wenn er in St. Petersburg war, wo die Literaturhistoriker insgesamt 17 Adressen des Autors ausfindig gemacht haben, ging er unbedingt in die Kaiserliche Ermitage, um sich Neuzugänge anzusehen. Sein Roman Väter und Söhne, die Geschichte eines akuten Generationenkonflikts, war im Frühjahr 1862 das Stadtgespräch. Turgenjew hatte einen Namen für die unzufriedenen Studenten gefunden, die an nichts mehr glaubten, Flugblätter verteilten und auf den Straßen gegen die Obrigkeit demonstrierten, wie im Sommer 1861. Er nannte sie »Nihilisten«. In diesem Sommer nahm die Polizei Hunderte Demonstranten fest und schaffte sie in die Peter-und-Paul-Festung, worauf an deren Eingang die Inschrift »Universität Petersburg« erschien. Der Schriftsteller starb am 3. September 1883 in Bougival bei Paris, doch begraben werden wollte er in St. Petersburg. Sein Begräbnis war ein grandioses Spektakel. Zehntausende folgten dem Sarg vom Warschauer Bahnhof bis zum Wolkowo-Friedhof. In der Presse hieß es, die Sicherheitskräfte hätten nichts zu tun bekommen.

Leo Tolstoi verließ sein Gut Jasnaja poljana bei Tula nur ungern. Er mochte Petersburg nicht, war in seinem Leben wohl zehnmal in der Hauptstadt, doch seine Aufenthalte waren immer nur kurz. Seine Absicht, an der Petersburger Universität einen Abschluss zu machen, verwirklichte er nicht, veröffentlichte die meisten seiner frühen Werke jedoch zuerst in der Petersburger Zeitschrift Sowremennik (Der Zeitgenosse), deren Redaktion sich an der Uferstraße der Fontanka 19 befand. Eine Gedenktafel am Haus Fontanka 38 nahe der Anitschkow-Brücke erinnert daran, dass der Graf hier bei seinem zweiten Aufenthalt in der Stadt im November/Dezember 1855 abgestiegen ist und bei seinem Kollegen und Freund Iwan Turgenjew gewohnt hat. In seinen großen Romanen Krieg und Frieden und Anna Karenina beschreibt Tolstoi die sog. »große« Welt Petersburgs, die hauptstädtische Aristokratie und die Hofbeamtenschaft, die man gleich auf den ersten Seiten von Krieg und Frieden kennenlernt. Die Damen und Herren treffen sich im Salon der Madame Scherer, einer Hofdame, parlieren Französisch oder sprechen Russisch mit französischem Akzent, langweilen sich beim Smalltalk und bilden sich ein, bedeutend zu sein. Eine ganz andere Welt als die Welt Raskolnikows am Heumarkt, zwei Seiten Petersburgs, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. 1900 wurde Tolstoi zum Ehrenmitglied der Petersburger Akademie der Wissenschaften gewählt, eine Straße und ein Platz auf der Petrograder Seite sind nach ihm benannt.

Anton Tschechow schrieb zwar für eine Petersburger Zeitung und besuchte hin und wieder seinen Petersburger Verleger, doch er blieb in seinem geliebten Moskau, seine Drei Schwestern zieht es nach Moskau, nicht nach Petersburg. »Tolstois Petersburg«, »Turgenjews Petersburg« oder »Tschechows Petersburg« gibt es nicht.

Ossip Mandelstam hatte als Kind ständig das Gefühl, »dass sich in Petersburg unbedingt etwas sehr Prachtvolles und Feierliches ereignen müsse«. Unübertroffen sind seine Schilderungen der 1890er-Jahre im Rauschen der Zeit und der Ereignisse von 1905.

Auch Anna Achmatowa, deren Familie 1890 aus Odessa nach Zarskoje Selo zog, behielt die Stadt der neunziger Jahre in Erinnerung. »Ein Petersburg vor den Straßenbahnen, ein Petersburg der Pferde, Pferdebahnen, krachend und knirschend, ein Petersburg der Dampfboote, von Kopf bis Fuß mit Ladenschildern vollgehängt, die die Architektur der Häuser erbarmungslos zudeckten.« Die Dichterin des »Silbernen Zeitalters« wohnte nach eigener Aussage 35 Jahre »in einem der bemerkenswertesten Petersburger Paläste (dem Fontänenhaus der Scheremetjews)« an der Fontanka und »freute sich über die vollendeten Proportionen dieses Gebäudes aus dem 18. Jahrhundert«. Das Fontänenhaus ist in ihre Lyrik eingegangen, der Silberweide vor ihrem Fenster hat sie ein Gedicht gewidmet. Ihr großes Triptychon Poem ohne Held, an dem sie 22 Jahre gearbeitet hatte, nannte sie – wie Puschkin seinen Ehernen Reiter – eine »Petersburger Erzählung«. Es ist eine »Gedächtnisdichtung, die das Jahrhundert bewahrt« (Fritz Mierau). Und natürlich hat diese Dichtung einen Helden. Es ist die Stadt selbst, »Granitstadt des Ruhms und des Unheils«.

Joseph Brodsky, Achmatowas Schüler und Freund, lebte von 1955 bis zu seiner Ausbürgerung 1972 im Murusi-Haus (»Dom Murusi«) am Litejny Prospekt 24. Das Haus hatte schon viele Literaten beherbergt, bevor die Familie Brodski in die Wohnung Nr. 28 zog, die aus anderthalb Zimmern bestand. Brodsky verabscheute den Namen Leningrad und sagte lieber »Pieter«, denn er erinnerte sich an diese Stadt in einer Zeit, »wo sie noch nicht wie ›Leningrad‹ aussah – gleich nach dem Krieg«. –

Auch die lange Liste der prominenten Besucher, auf die St. Petersburg so stolz ist, zeigt, wie nahe die Stadt einmal Europa war. Beeindruckt oder begeistert von Peters Stadt waren sie alle, Kritik oder Zweifel kamen selten auf.

Casanova, der 1765 »noch die ersten Anfänge« sah, quartierte sich preiswert in »einer großen, schönen Straße ein, die man Millionnaja nennt«. Er war skeptisch, die Existenz dieser Stadt kam ihm noch gegen Ende seines Lebens »unwahrscheinlich« vor. »Alles erschien mir, als hätte man es schon als Ruine erbaut […].«

Auf Denis Diderots Aufenthalt in Petersburg im Herbst/Winter 1773/1774 weist eine Gedenktafel am Isaaksplatz 9 hin. Der berühmte Franzose, Enzyklopädist und Philosoph, wollte zwei Monate bleiben und blieb fünf Monate, obwohl er das Klima nicht vertrug und die ganze Zeit kränkelte. Doch Petersburg jubelte. Diderot wurde dreimal wöchentlich von Katharina II. empfangen und diskutierte stundenlang mit ihr über Reformen, die sie nicht verwirklichte. Aber sie kaufte seine Bibliothek und stellte ihn als Bibliothekar seiner Bücher ein, die nun Ihrer Majestät gehörten. Schon vor seiner Russlandreise hatte Diderot der Kaiserin seinen Freund, den Bildhauer Etienne-Maurice Falconet, für ein Denkmal Peters des Großen empfohlen. Falconet traf 1766 in Petersburg ein und blieb zwölf Jahre. Wahrscheinlich ist kein anderes Denkmal Europas so oft von so prominenten Besuchern beschrieben und von Dichtern besungen worden wie dieses. Der Eherne Reiter ist der Geist des Ortes, seine Energie wirkt fort.

Im Januar 1809 kamen Friedrich Wilhelm III. und Luise von Preußen auf Staatsbesuch nach St. Petersburg. Sie wurden zarisch empfangen, der Einzug war feierlich. »Ein Galawagen mit sieben Fensterscheiben und acht Pferden nahm mich auf, und so zogen wir durch die mit Militär besetzten Straßen dem Schlosse zu. 46 Infanteriebataillone und vier Reiterregimenter standen in Parade«, notiert die Königin in ihrem Tagebuch. »Die Stadt ist außerordentlich schön«, schreibt sie an ihren Sohn Friedrich Wilhelm, den Kronprinzen, »man kann sie mit keiner anderen vergleichen, weil die Kanäle so breit und lang sind, dass alles ungeheuer groß sein muss, um Effekt zu machen, und dass alle Gebäude dennoch im größten Stil gebaut sind und auch solchen Effekt machen.«

Auguste-Frédéric-Louis Viesse de Marmont, Herzog von Ragusa, Sonderbotschafter König Karls X. bei der Krönung Nikolaus’ I. im Juli 1826, war einer der wenigen Besucher, der fragte, ob St. Petersburg überhaupt Bestand haben werde. Diese schöne Stadt könne wegen des strengen zerstörerischen Klimas nur um den Preis fortgesetzter Ausgaben und ständiger Reparaturen erhalten werden. An dem Tag, an dem der Souverän entfernt werde und die Mittel für ihren Unterhalt weniger würden, sei ihr Untergang sicher. »Also kann man sagen, wenn es erlaubt ist, sich so auszudrücken, dass diese Stadt zur ewigen Jugend verdammt ist oder zum Untergang.«

Alexander von Humboldt, der Anfang Mai 1829 den Eisgang auf der Newa erlebte, wurde in der Stadt »von 8 Uhr morgens bis in die tiefe Nacht von Haus zu Haus getrieben« und sehnte sich »nach der freien Luft fern von den Städten«. Er wurde mehrfach vom Kaiserpaar zum Essen eingeladen, und Nikolaus I. persönlich führte ihn durch den Winterpalast. »Wir bleiben noch, um eine der Granitsäulen der Isaac-Kirche (60 Fuss und von einem Stücke) heute Morgen (in 30 Minuten) aufrichten zu sehen«, schreibt Humboldt seinem Bruder Wilhelm unter dem 19. Mai. Er erlebte eine technische Höchstleistung seiner Zeit. Einen Tag später brachen Humboldt und seine Begleiter nach Moskau auf.

Astolphe de Custine, Autor des russlandkritischen Bestsellers La Russie en 1839, Paris 1842, fand die berühmte Stadt »ihrem Rufe nicht entsprechend«, nannte sie »eine Stadt ohne Charakter«, »mehr pomphaft als imposant, mehr groß als schön« und glaubte, dass Petersburg untergehen werde, »sobald die Russen ihre Macht sich ausbreiten sehen. Ich glaube an die Dauer Petersburgs wie an die eines politischen Systems, wie an die Beständigkeit eines Menschen. Das kann man von keiner andern Stadt der Welt sagen.« Der Selbstherrschaft blieben noch 80 Jahre …

Alexandre Dumas, der 1858 zwei Monate an der Newa verbrachte, fand, dass in Petersburg wie in ganz Russland der beste Tee getrunken werde. Warum? Weil der dort getrunkene Tee auf dem Landweg herbeitransportiert wurde. Auf dem Seeweg verlor er laut Dumas an Geschmack. Der Franzose erlebte Petersburg als Stadt der Verbote, äußerte für das Rauchverbot auf dem Newski Prospekt wegen der Brandgefahr jedoch Verständnis. Da er mit dem berühmten schottischen Medium Daniel Dunglas Home angereist war, der seine Séancen selbst in den kaiserlichen Palästen abhalten durfte, während Dumas bestrebt war, zum Essen in die besten Häuser eingeladen zu werden, waren die beiden das Stadtgespräch des Sommers 1858. Dumas’ Russlandreise wurde ein großer Erfolg.

Helmuth von Moltke, der spätere Generalfeldmarschall, der im August 1858 als Adjutant des Prinzen Friedrich Wilhelm von Preußen zur Krönung Alexanders II. über Petersburg nach Moskau reiste, mokierte sich über die Vorliebe der Russen »für Balkons und besonders für Säulen, die beide in diesem abscheulichen Klima geradezu widersinnig sind«. Auch Moltke sah die Notwendigkeit ständiger Reparaturen infolge der Feuchtigkeit.

Otto von Bismarck, der preußische Gesandte, der im März 1859 in St. Petersburg eintraf, fand erst nach langem Suchen ein passendes Gebäude für die Gesandtschaft. Er wusste natürlich, dass die Stadt schön war, »wenn ich mich aber dem Gefühl des Wunderns hingäbe, so würde es über die außerordentliche Belebtheit der Straßen sein«, schreibt er. Bismarck hatte viel Arbeit, aber zu wenig Geld, um gebührend am gesellschaftlichen Leben der Hauptstadt teilnehmen zu können. Am Englischen Kai 50 weist eine Plakette darauf hin, dass in diesem Haus der künftige Reichskanzler lebte. Bismarck behielt Petersburg in »angenehmer Erinnerung«.

Lewis Carroll, der berühmte Kinderbuchautor, reiste 1867 als Tourist nach St. Petersburg und fand die Stadt wunderbar, herrlich und »so durchaus verschieden von allem, was ich je gesehen habe, dass mir ist, ich könnte und müsste damit zufrieden sein, tagelang nichts anderes zu tun, als in ihr herumzuspazieren«. Die Entfernungen in der Stadt waren enorm, und Carroll schien, »als ob man in einer Stadt für Riesen umherginge«.

Marc Chagall kam Anfang 1907 aus Witebsk nach St. Petersburg, um hier zu studieren, fiel aber durch die Zulassungsprüfung für die Kunst- und Handwerksschule des Barons Stiglitz und musste auf die weniger exklusive Schule der Kaiserlichen Gesellschaft zur Förderung der Bildenden Künste gehen, in der er nach eigener Aussage nichts lernte. Als Jude aus dem Ansiedlungsrayon konnte er nicht ohne Wohnberechtigung in Petersburg leben, und seine Mittel erlaubten ihm nicht, ein Zimmer zu mieten. Er musste sich mit Zimmerecken begnügen. Eine Zeitlang holte er sich einmal im Monat in der Millionnaja 14 bei Baron David G. Günzburg, dem Bankier, Industriellen und bekannten Orientalisten, dürftige 10 Rubel Fördergeld ab. Danach brachte er sich als Schildermaler durch. 1910 ging Chagall nach Paris.

Nach dem Oktoberumsturz 1917 und der Rückverlegung der Hauptstadt des Landes nach Moskau Anfang 1918 erlebt Petrograd zum ersten Mal, was später als Generalprobe für die Blockade im Zweiten Weltkrieg bezeichnet wurde: Krieg, Gewalt, Hunger, Tod, Entvölkerung, Terror. »Petropolis verwandelt sich in Nekropolis«, notiert Nikolai P. Anziferow im März 1922 und »fixiert Petersburg im Augenblick seines Verschwindens« (Karl Schlögel).

Wenig später bestätigt Stefan Zweig den Befund. Mit dem Sturz der Monarchie habe »diese Stadt ihren lebendigen Sinn verloren«. In den Augen anderer Besucher hatte sie jedoch einen neuen Sinn erhalten – als »erste Zitadelle der Sowjetmacht« und als »neue, rein und bewusst proletarische Zivilisation«.

André Gide konnte sich »keine schönere Stadt, keine harmonischere Verschmelzung von Stein, Metall und Wasser« vorstellen. »Sankt Petersburg ist wie ein Traum von Baudelaire.« Gide hat 1936 nicht gemerkt, dass die Stadt vor Angst zitterte, weil die Geheimpolizei jederzeit jeden holen konnte. »Leicht und heiter weht hier der Geist.« Ein fataler Irrtum.

Eine Atempause war den Leningradern nicht vergönnt. Hitler hatte beschlossen, die Stadt auszuhungern und dem Erdboden gleichzumachen. Der Leningrader Blockade (1941–1944) fielen annähernd zwei Millionen Menschen zum Opfer – eines der schlimmsten Kriegsverbrechen der Deutschen an der Ostfront, das die Bezeichnung »Leningrader Holocaust« nahelegt.

Die Nachkriegsjahre dauerten Jahrzehnte, und noch Anfang der 1990er-Jahre sah die Stadt an manchen Stellen aus wie gegen Kriegsende. Nicht umsonst wurde hier im Jahre 2000 der Film Der Untergang gedreht, und es ist verbürgt, dass ältere Leningrader zu Tode erschraken, als sie Bruno Ganz beim Set in der Maske Adolf Hitlers erblickten.

Der Übergang zur Marktwirtschaft war auch für St. Petersburg schmerzhaft. Es kam zu erheblichen Versorgungsengpässen. Die Stadt sah verkommen aus, Ratten liefen am helllichten Tag über die Straßen. An den Wegen und vor den Kirchen verkauften alte Frauen Selbstgestricktes. Wenige wurden schnell sehr reich, die Mehrheit der Bevölkerung verarmte.

Rechtsradikale Gruppen entstanden, Angriffe auf Farbige waren keine Seltenheit. Beim Gostinny dwor am Newski Prospekt konnte man problemlos Mein Kampf erwerben, und Europas rechtspopulistische Parteien begannen, sich ausgerechnet in dieser Stadt mit russischen Gesinnungsgenossen zu treffen. Nach Focus-Recherchen bilden russische Rechtsextremisten seit einigen Jahren in einem Camp in Stadtnähe deutsche Neonazis militärisch aus.

Um die Jahrtausendwende war die Fernsehserie Banditski Peterburg (Banditenpetersburg) ein Straßenfeger. Politische Morde, Bandenkriege und Schutzgelderpressung waren an der Tagesordnung. Kriminelle Autoritäten drängten in die Politik. Die ehemalige Hauptstadt war in Gefahr, ihren in Jahrhunderten erworbenen Ruf zu verlieren.