Staatskunst - Henry A. Kissinger - E-Book
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Staatskunst E-Book

Henry A. Kissinger

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Beschreibung

Der Bestseller des Jahrhundertpolitikers (1923 bis 2023) jetzt im Paperback

Henry Kissinger, Jahrhundertpolitiker und Friedensnobelpreisträger, Meister der Diplomatie und politischer Stratege, zeigt in diesem Alterswerk, was Staatskunst in Zeiten von Krise und Umbruch auszeichnet. Am Beispiel von sechs Staatenlenkern, denen er persönlich verbunden war – Konrad Adenauer und Charles de Gaulle, Richard Nixon und Anwar el-Sadat, Lee Kuan Yew und Margaret Thatcher –, führt er uns vor Augen, wie aus dem Zusammenspiel von Strategie, Mut und Charakter politische Führung erwächst. Und was wir heute, angesichts wiederaufflammender Großmachtkonflikte, von ihrer Staatskunst lernen können.

Ein beeindruckendes Vermächtnis, zeitlos und zugleich hochaktuell.

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Seitenzahl: 991

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Buch

Henry Kissinger, Jahrhundertpolitiker und Friedensnobelpreisträger, Großmeister der internationalen Diplomatie und politischen Strategie, erzählt in diesem Alterswerk prägnant und eindrücklich von herausragenden Staatslenkern des 20. Jahrhunderts und seinen persönlichen Begegnungen mit ihnen: von Konrad Adenauer und Charles de Gaulle über Richard Nixon und Anwar el-Sadat bis hin zu Lee Kuan Yew und Margaret Thatcher. Eine faszinierende Studie über die Kraft der politischen Vision – und zugleich das Vermächtnis eines legendären Staatsmannes.

Autor

Henry Kissinger, geboren 1923 in Fürth, emigrierte 1938 in die USA. Er war Professor für Politikwissenschaft in Harvard, bevor er ab 1969 als Sicherheitsberater und von 1973 bis 1977 als Außenminister der Vereinigten Staaten amtierte. Er gilt als Motor der Entspannungspolitik sowie der diplomatischen Voraussetzungen für einen Rückzug aus Vietnam und eine Friedensregelung in Nahost. 1973 wurde ihm der Friedensnobelpreis verliehen. Henry Kissinger, der Prototyp eines »Elder Statesman«, veröffentlichte umfassende politische Erinnerungen (in drei Bänden) und andere internationale Bestseller wie »China« (2011) und »Weltordnung« (2014).

Henry

Kissinger

STAATS

KUNST

Sechs Lektionen

für das

21. Jahrhundert

Aus dem Amerikanischen übertragen von

Henning Dedekind, Helmut Dierlamm, Karlheinz Dürr,

Anja Lerz, Karsten Petersen, Sabine Reinhardus,

Karin Schuler und Thomas Stauder

Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel »Leadership.

Six Studies in World Strategy« bei Penguin Press, New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

© 2022 by Henry Kissinger

© 2022 für die deutschsprachige Ausgabe

by C. Bertelsmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-28846-4V004

www.cbertelsmann.de

Für Nancy, die Inspiration meines Lebens

Inhalt

Einleitung

Die Achsen der Staatskunst

Das Wesen politischer Entscheidungen

Sechs politische Führungsfiguren in ihrem Kontext

Klassische Beispiele für Führung: Der Staatsmann und der Prophet

Das Individuum in der Geschichte

1

Konrad Adenauer: Die Strategie der Demut

Die Notwendigkeit der Erneuerung

Von den frühen Jahren bis zum inneren Exil

Der Weg zur Führung

Die Wiederherstellung der bürgerlichen Ordnung und die Einsetzung des Kanzlers

Der Weg zu einer neuen nationalen Identität

Die sowjetische Herausforderung und die Wiederbewaffnung

Die unentrinnbare Vergangenheit: Wiedergutmachung an das jüdische Volk

Zwei Krisen: Suez und Berlin

Drei Gespräche mit Adenauer

Die deutsche Wiedervereinigung: Das quälende Warten

Letzte Gespräche

In der Tradition Adenauers

2

Charles de Gaulle: Die Strategie des Willens

Persönliche Begegnungen

Der Beginn der Reise

Die Ursprünge und Ziele des Verhaltens von de Gaulle

De Gaulle in der Geschichte Frankreichs

De Gaulle und der Zweite Weltkrieg

Nordafrikanische Auseinandersetzung

Erlangung politischer Macht

Ein Besuch in Moskau

De Gaulle und die Übergangsregierung

Die Wüste

Scheitern in Indochina und Frustration im Nahen Osten

Algerien und die Rückkehr von de Gaulle

Die Fünfte Republik

Das Ende des Algerienkonflikts

Deutschland als Schlüssel zur französischen Politik: De Gaulle und Adenauer

De Gaulle und die Atlantische Allianz

Das Nukleardirektorium

Flexible Erwiderung und Nuklearstrategie

Was ist ein Bündnis?

Das Ende der Präsidentschaft

Das Wesen von de Gaulles Staatskunst

De Gaulle und Churchill im Vergleich

Hinter dem Mysterium

3

Richard Nixon: Die Strategie des Gleichgewichts

Die Welt, in die Nixon kam

Ein unvorhergesehener Ruf

Entscheidungsprozesse zur nationalen Sicherheit in der Nixon-Administration

Nixons Sicht der Welt

Diplomatie und Junktims

Eine Reise nach Europa

Der Vietnamkrieg und seine Beendigung

Großmachtdiplomatie und Rüstungskontrolle

Auswanderung aus der Sowjetunion

Öffnung gegenüber China

Chaos im Nahen Osten

Der Jom-Kippur-Krieg

Die Diplomatie des Waffenstillstands

Der Friedensprozess im Nahen Osten

Bangladesch und der damit verbundene Kalte Krieg

Nixon und die Krise der Vereinigten Staaten

4

Anwar el-Sadat: Die Strategie der Überwindung

Der einzigartige Anwar el-Sadat

Der Einfluss der Geschichte

Die frühen Jahre

Betrachtungen während der Haft

Die ägyptische Unabhängigkeit

Sprachrohr der Revolution

Nasser und Sadat

Die Perspektive Sadats

Die Korrekturrevolution

Strategische Geduld

Der Oktoberkrieg 1973

Meir und Sadat

Das Treffen im Tahra-Palast

Genf und das Truppenentflechtungsabkommen

Syrische Interessen

Ein weiterer Schritt in Richtung Frieden: Das Sinai-II-Abkommen

Sadats Reise nach Jerusalem

Der mühsame Weg zum Frieden

Die Auflösung

Attentat

Epilog: Das nicht angetretene Erbe

5

Lee Kuan Yew: Die Strategie der Spitzenleistung

Ein Besuch in Harvard

Der Riese aus Liliput

Jugend unter Kolonialherrschaft

Der Aufbau eines Staates

Der Aufbau einer Nation

»Die Geschichte möge urteilen«

Der Aufbau einer Volkswirtschaft

Lee und Amerika

Lee und China

Zwischen den USA und China

Lees Vermächtnis

Lee als Person

6

Margaret Thatcher: Die Strategie der Überzeugung

Eine höchst unwahrscheinliche Führungspersönlichkeit

Thatcher und das britische System

Die Herausforderungen: Großbritannien in den 1970er-Jahren

Aufstieg von Grantham aus

Ein Bezugsrahmen für die Führungsarbeit

Die Wirtschaftsreformerin

Zur Verteidigung der Staatssouveränität: Der Falklandkonflikt

Verhandlungen über Hongkong

Konfrontation mit einem Erbe der Gewalt: Nordirland

Fundamentale Wahrheiten: Die »besondere Beziehung« und der Kalte Krieg

Ein Problem in Grenada

Ein strategischer Wandel: Thatcher und die Ost-West-Beziehungen

Die Verteidigung der kuwaitischen Souveränität: Die Golfkrise

Grenzen der Staatskunst: Deutschland und die Zukunft Europas

Europa, das endlose Problem

Der Sturz

Epilog

Schlusswort: Die Evolution politischer Führung

Von der Aristokratie zur Meritokratie

Harte Wahrheiten

Die schwächelnde Meritokratie

Deep Literacy und visuelle Kultur

Grundlegende Werte

Führung und Weltordnung

Die Zukunft politischer Führung

Dank

Anmerkungen

Bildnachweis

Einleitung

DIE ACHSEN DER STAATSKUNST

Jede Gesellschaft ist unabhängig von ihrem politischen System unentwegt im Übergang zwischen einer Vergangenheit, die ihre Erinnerung prägt, und einer Vision der Zukunft, die ihre Entwicklung inspiriert. Auf diesem Weg ist Führung unverzichtbar: Entscheidungen müssen getroffen, Vertrauen verdient, Versprechen gehalten, ein Weg nach vorn gebahnt werden. In menschlichen Institutionen – Staaten, Religionen, Armeen, Unternehmen, Schulen – ist Führung vonnöten, um den Menschen zu helfen, damit sie von dort, wo sie gerade sind, dorthin kommen, wo sie noch nie gewesen sind – und manchmal sogar an Orte oder in Positionen, die sie sich bisher kaum haben vorstellen können. Ohne Führung treiben Institutionen dahin, und Nationen riskieren wachsende Bedeutungslosigkeit und schließlich eine Katastrophe.

Politische Entscheidungsträger denken und handeln am Schnittpunkt zweier Achsen: Die erste verläuft zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart, die zweite zwischen den beständigen Werten und den Erwartungen der Menschen unter ihrer Führung. Ihre erste Aufgabe ist die Analyse, die mit einer realistischen Bewertung ihrer Gesellschaft ausgehend von ihrer Geschichte, ihrer Lebensweise und ihrer Leistungsfähigkeit beginnt. In einem zweiten Schritt müssen sie dann das, was sie wissen und notwendigerweise aus der Vergangenheit abgeleitet haben, in Einklang bringen mit den Mutmaßungen, die sie über die Zukunft intuitiv erahnen. Es ist dieses intuitive Erfassen der Richtung, das Staatslenker in die Lage versetzt, Ziele zu definieren und eine Strategie festzulegen.

Damit ihre Strategien die Gesellschaft inspirieren, müssen Führungspersönlichkeiten auch als Erzieher wirken – sie müssen Ziele kommunizieren, Zweifel beschwichtigen und Unterstützung mobilisieren. Der Staat besitzt zwar per definitionem das Gewaltmonopol, doch Zwangsmaßnahmen sind ein Symptom unzulänglicher Staatsführung. Gute Anführer wecken in ihrer Bevölkerung den Wunsch, Seite an Seite mit ihnen zu gehen. Zudem müssen sie auch ihr direktes Umfeld dazu anregen, ihr Denken so zu vermitteln, dass es den praktischen Tagesfragen gerecht wird. Ein dynamisches Team ist die sichtbare Ergänzung der inneren Kraft einer solchen Führungspersönlichkeit; es unterstützt ihren Weg und verbessert ihre Entscheidungen. Politische Entscheidungsträger können durch die Qualität ihres Umfelds größer – oder kleiner – werden.

Die wichtigsten Eigenschaften bei diesen Aufgaben, und die Brücke zwischen Vergangenheit und Zukunft, sind Mut und Charakter – Mut, um unter komplexen und schwierigen Optionen eine Richtung zu wählen und damit das Althergebrachte hinter sich zu lassen; und Charakterstärke, um einen Kurs beizubehalten, dessen Nutzen und Risiken im Moment der Entscheidung nur unvollständig abgeschätzt werden können. Mut gibt im Moment der Entscheidung Kraft; Charakterstärke sorgt dafür, dass man seinen Werten treu bleibt.

Besonders wichtig ist staatsmännische Führung in Übergangszeiten, wenn Werte und Institutionen ihre Bedeutung verlieren und die Umrisse einer lebenswerten Zukunft umstritten sind. In solchen Zeiten sind Führungsfiguren aufgerufen, kreativ und diagnostisch zu denken: Aus welchen Quellen entspringt das Wohl der Gesellschaft? Oder ihr Niedergang? Welches Erbe der Vergangenheit sollte bewahrt werden, welches angepasst oder verworfen? Welche Ziele verdienen intensiven Einsatz, und welche Chancen müssen ausgeschlagen werden, egal, wie verlockend sie wirken? Und im Extremfall: Ist die eigene Gesellschaft vital und zuversichtlich genug, um auf dem Weg in eine erfülltere Zukunft Opfer zu ertragen?

DAS WESEN POLITISCHER ENTSCHEIDUNGEN

Staatslenker sind immer Zwängen unterworfen. Sie operieren mit dem Mangel, denn jede Gesellschaft stößt an die von Demografie und Ökonomie diktierten Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit und ihres Einflusses. Sie operieren auch in ihrer Zeit, denn jedes Zeitalter und jede Kultur spiegeln ihre eigenen vorherrschenden Werte, Gewohnheiten und Einstellungen wider, die zusammen ihre angestrebten Ergebnisse definieren. Und sie operieren in Konkurrenz, denn sie müssen sich mit anderen Akteuren – seien es Verbündete, potenzielle Partner oder Gegner – auseinandersetzen, die nicht statisch sind, sondern sich anpassen können und mit ihren eigenen je besonderen Fähigkeiten eigene Ziele verfolgen. Zudem entwickeln sich Ereignisse oft auch noch zu schnell, um genaue Berechnungen zu erlauben; Führungspersönlichkeiten müssen oft anhand von Intuitionen und noch nicht überprüfbaren Hypothesen entscheiden. Risikomanagement ist für einen Spitzenpolitiker ebenso wichtig wie analytische Fähigkeiten.

»Strategie« beschreibt die Schlussfolgerung, zu der ein Staatslenker unter diesen Bedingungen der Knappheit, der Zeitgebundenheit, der Konkurrenz und der Fluidität kommt. Bei der Suche nach einem Weg voran kann man strategische Führung mit einem Seiltanz vergleichen: Wie ein Akrobat, der stürzt, wenn er zu ängstlich oder zu kühn ist, bewegt sich auch eine Führungsfigur auf einem dünnen Seil, aufgehängt zwischen den relativen Gewissheiten der Vergangenheit und den Unklarheiten der Zukunft. Die Strafe für das Streben nach dem Unerreichbaren – die Griechen sprachen von Hybris – ist Erschöpfung, der Preis für das Ausruhen auf den eigenen Lorbeeren sind fortschreitende Bedeutungslosigkeit und schließlich Verfall. Schritt für Schritt müssen Anführer Mittel und Zwecke sowie Absichten und Umstände in Übereinstimmung bringen, wenn sie ihr Ziel erreichen wollen.

Der strategisch handelnde Entscheidungsträger ist mit einem inhärenten Paradoxon konfrontiert: In Situationen, in denen Handeln gefragt ist, ist der Entscheidungsspielraum oft dann am größten, wenn die relevanten Informationen noch sehr knapp sind. Sobald mehr Daten zur Verfügung stehen, hat sich der Spielraum meist schon verengt. In den frühen Phasen des Aufbaus strategischer Waffen bei einer rivalisierenden Macht oder beim plötzlichen Auftauchen eines neuartigen Atemwegsvirus etwa ist die Verlockung groß, das gerade im Entstehen begriffene Phänomen als entweder vorübergehend oder als mit den bestehenden Standards beherrschbar zu betrachten. Wenn die Bedrohung nicht länger geleugnet oder minimiert werden kann, ist der Handlungsspielraum dann schon geschrumpft, oder die Kosten, das Problem anzugehen, sind womöglich exorbitant gewachsen. Wenn man die Zeit nicht nutzt, werden von selbst Schranken auftauchen. Selbst die beste der verbleibenden Möglichkeiten wird dann schwierig umzusetzen sein, mit kleineren Gewinnen im Erfolgsfall und größeren Risiken bei einem Scheitern.

In solchen Situationen sind der Instinkt und die Urteilskraft einer Führungspersönlichkeit von größter Bedeutung. Winston Churchill war sich dessen sehr wohl bewusst, als er in Ein Sturm zieht auf (1948) schrieb: »Staatsmänner sind nicht nur zur Regelung einfacher Fragen berufen. Diese Fragen regeln sich oft von selbst. Wenn die Waagschalen sich zitternd im Gleichgewicht halten, wenn die wahren Verhältnisse verschleiert sind, bietet sich die Gelegenheit zu Entscheidungen, durch die die Welt gerettet werden kann.«1

Im Mai 1953 fragte ein amerikanischer Austauschstudent Churchill, wie man sich wohl auf die Herausforderungen der Staatsführung vorbereiten könne. »Studieren Sie Geschichte! Studieren Sie Geschichte!«, lautete Churchills entschiedene Antwort. »In der Geschichte liegen alle Geheimnisse der Staatskunst.«2 Churchill selbst war ein bemerkenswerter Geschichtskenner und Geschichtsschreiber, dem das Kontinuum, in dem er arbeitete, nur allzu bewusst war.

Allerdings ist historisches Wissen zwar notwendig, aber nicht hinreichend. Manche Dinge bleiben für immer »verschleiert«, sie entziehen sich auch den Gebildeten und Erfahrenen. Die Geschichte lehrt durch Analogie, durch die Fähigkeit, vergleichbare Situationen zu erkennen. Ihre »Lektionen« sind allerdings im Wesentlichen Annäherungen, die Entscheidungsträger wahrnehmen müssen, um sie dann verantwortlich an die Umstände ihrer eigenen Zeit anzupassen. Der Geschichtsphilosoph Oswald Spengler erfasste diese Aufgabe, als er im frühen 20. Jahrhundert schrieb, der »geborene Staatsmann« sei »vor allem Kenner, Kenner der Menschen, Lagen, Dinge«, mit der Fähigkeit, »das Richtige [zu] tun, ohne es zu ›wissen‹«.3

Strategische Staatslenker brauchen auch die Eigenschaften des Künstlers, der spürt, wie er mit den Materialien, die in der Gegenwart verfügbar sind, die Zukunft formen kann. Wie Charles de Gaulle in seiner Betrachtung über Führungsstärke, Le Fil de l’Epée (1932), schrieb, »bedient sich [dieser] fortwährend der Intelligenz«, die schließlich die Quelle von »Schlüssen, Technik, Wissen« ist. Der Künstler aber fügt diesen Grundlagen noch »das Mittel einer instinktiven Fähigkeit, der Inspiration« hinzu, »die allein die direkte Fühlung mit der Natur herstellt, an der der Funke sich entzündet«.4

Weil die Realität so komplex ist, unterscheidet sich die historische von der naturwissenschaftlichen Wahrheit. Der Naturwissenschaftler sucht verifizierbare Ergebnisse; der historisch gebildete strategische Staatslenker bemüht sich, aus der der Sache innewohnenden Mehrdeutigkeit umsetzbare Erkenntnisse zu destillieren. Wissenschaftliche Experimente stützen vorherige Ergebnisse oder werfen Zweifel auf, sie geben Naturwissenschaftlern die Möglichkeit, ihre Variablen anzupassen und ihre Versuche zu wiederholen. Strategen bekommen gewöhnlich nur einen Versuch; ihre Entscheidungen sind typischerweise unwiderruflich. Der Naturwissenschaftler erarbeitet sich Wahrheit also experimentell oder mathematisch; der Stratege arbeitet wenigstens teilweise mit Analogieschlüssen aus der Vergangenheit – indem er zunächst feststellt, welche Ereignisse vergleichbar sind und welche vorherigen Schlussfolgerungen relevant bleiben. Selbst dann muss der Stratege die Analogien noch sorgfältig auswählen, denn niemand kann die Vergangenheit tatsächlich in allen Aspekten wahrnehmen; man kann sie sich nur »im Mondlicht der Erinnerung« vorstellen, so der niederländische Kulturhistoriker Johan Huizinga.5

Sinnvolle politische Entscheidungen gehen selten auf eine einzelne Variable zurück; kluge Entscheidungen erfordern eine Mischung aus politischen, ökonomischen, geografischen, technischen und psychologischen Erkenntnissen, alle geprägt von einem historischen Instinkt. Isaiah Berlin beschrieb gegen Ende des 20. Jahrhunderts die Unmöglichkeit, naturwissenschaftliches Denken jenseits der Naturwissenschaft anzuwenden. Er war der Ansicht, dass Anführer wie Romanautoren oder Landschaftsmaler das Leben in all seiner verwirrenden Komplexität in sich aufnehmen müssen:

Was einen Menschen jedoch dumm oder weise, blind oder klug macht – statt kenntnisreich, gebildet oder wohlinformiert –, das ist die Fähigkeit, dieses einzigartige Gepräge einer ganz bestimmten, konkreten Situation mit ihren spezifischen Unterschieden wahrzunehmen – das, worin sie sich von allen anderen Situationen unterscheidet, also jene Aspekte, die sich einer wissenschaftlichen Behandlung entziehen […].6

SECHS POLITISCHE FÜHRUNGSFIGUREN IN IHREM KONTEXT

Geschichte entsteht aus der Kombination von Charakter und Umständen, und die sechs Führungspersönlichkeiten, die auf diesen Seiten porträtiert werden – Konrad Adenauer, Charles de Gaulle, Richard Nixon, Anwar el-Sadat, Lee Kuan Yew und Margaret Thatcher –, waren alle durch die Umstände ihrer dramatischen historischen Epoche geprägt. Sie alle wurden dann auch Architekten der Entwicklung ihrer Gesellschaften und der internationalen Ordnung nach dem Krieg. Ich hatte das Glück, alle sechs auf dem Höhepunkt ihres Wirkens kennenzulernen und eng mit Richard Nixon zusammenzuarbeiten. Als Erben einer Welt, deren Sicherheiten sich durch den Krieg aufgelöst hatten, definierten sie nationale Aufgaben neu, eröffneten neue Perspektiven und gaben einer Welt im Übergang eine neue Struktur.

Jede der sechs Führungspersönlichkeiten überstand auf ihre Weise den Feuerofen des »Zweiten Dreißigjährigen Krieges« – einer Reihe zerstörerischer Konflikte vom Beginn des Ersten Weltkriegs im August 1914 bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs im September 1945. Wie der erste Dreißigjährige Krieg begann auch der zweite in Europa, hatte dann aber Auswirkungen auf die ganze Welt. Der erste verwandelte Europa von einer Region, in der Konfession und dynastisches Erbe zu Legitimität verhalfen, zu einer Ordnung, die auf der souveränen Gleichheit weltlicher Staaten basierte und darauf aus war, ihre Prinzipien auf der ganzen Welt zu verbreiten. Drei Jahrhunderte später forderte der Zweite Dreißigjährige Krieg das gesamte internationale System dazu heraus, die Ernüchterung in Europa und die Armut in einem großen Teil der übrigen Welt mit neuen Ordnungsprinzipien zu überwinden.

Europa war auf dem Höhepunkt seines globalen Einflusses in das 20. Jahrhundert eingetreten, durchdrungen von der Überzeugung, dass seine fortschreitende Entwicklung im Laufe der vorherigen Jahrhunderte gesichert war, wenn nicht dazu bestimmt, niemals zu enden. Die Bevölkerungen und Ökonomien des Kontinents wuchsen wie nie zuvor. Industrialisierung und immer freierer Handel hatten einen historischen Wohlstand hervorgebracht. Demokratische Institutionen fanden sich in fast allen europäischen Ländern: Während sie sich in Großbritannien und Frankreich durchgesetzt hatten, waren sie im Deutschen Reich und Österreich unterentwickelt, gewannen jedoch an Bedeutung und waren im vorrevolutionären Russland erst in Ansätzen vorhanden. Die gebildeten Schichten Europas im frühen 20. Jahrhundert teilten mit Lodovico Settembrini, dem liberalen Humanisten in Thomas Manns Der Zauberberg, den Glauben, dass für die Zivilisation alles gut lief.7

Diese utopische Sicht erreichte ihren Höhepunkt im Jahr 1910 mit einem Bestseller des englischen Journalisten Norman Angell: In Die große Täuschung vertrat er die Ansicht, dass die zunehmende wirtschaftliche Interdependenz der europäischen Mächte einen Krieg zu kostspielig gemacht habe. Angell verkündete »der Menschheit die unaufhaltsame Tendenz, dem brutalen Kampf zu entsagen und zur gemeinsamen Arbeit zu gelangen«.8 Diese und viele ähnliche Voraussagen sollten bald Makulatur werden – zuerst und vor allem wohl diese Aussage Angells: »Wirtschaftliche Fragen aller Art beiseite, ist es nicht mehr möglich, dass die britische Regierung nach alter biblischer Art die Vernichtung einer ganzen Bewohnerschaft mit Mann und Maus verordnet, Weiber und Kinder miteingeschlossen.«9

Der Erste Weltkrieg erschöpfte Staatskassen, beendete Dynastien und wirbelte Lebenspläne durcheinander. Europa sollte sich nie ganz von dieser Katastrophe erholen. Als am 11. November 1918 der Waffenstillstand unterzeichnet wurde, waren fast zehn Millionen Soldaten und sieben Millionen Zivilisten gestorben.10 Von jeweils sieben einberufenen Soldaten kehrte einer nicht mehr lebend nach Hause zurück.11 Zwei Generationen der Jugend Europas waren dezimiert – junge Männer getötet, junge Frauen verwitwet oder allein, zahllose Kinder verwaist.

Frankreich und Großbritannien gingen zwar siegreich aus dem Krieg hervor, waren aber beide erschöpft und politisch schwach. Das besiegte Deutschland, seiner Kolonien entblößt und schwer verschuldet, oszillierte zwischen Feindseligkeit gegenüber den Siegern und internen Konflikten der rivalisierenden politischen Parteien. Das Österreichisch-Ungarische und das Osmanische Reich brachen zusammen, während Russland eine der radikalsten Revolutionen in der Geschichte erlebt hatte und jetzt außerhalb aller internationalen Systeme stand.

In den Jahren zwischen den Kriegen gerieten Demokratien ins Wanken, der Totalitarismus marschierte voran und die Not suchte den Kontinent heim. Die Kriegsbegeisterung von 1914 war lange dahin, Europa begrüßte den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs im September 1939 mit resignierter Vorahnung. Und dieses Mal teilte die ganze Welt das Leid Europas. In New York schrieb der angloamerikanische Dichter W. H. Auden:

Waves of anger and fear

Circulate over the bright

And darkened lands of the earth,

Obsessing our private lives;

The unmentionable odor of death

Offends the September night.

(Wellen des Zorns und der Angst

überziehen die hellen

und dunkelnden Länder der Erde,

ergreifen von unserem Leben Besitz;

unsäglicher Todesgeruch

verdirbt die Septembernacht.)12

Audens Worte erwiesen sich als prophetisch. Der Blutzoll des Zweiten Weltkriegs belief sich auf nicht weniger als 60 Millionen Leben, vor allem in der Sowjetunion, in China, Deutschland und Polen.13 Im August 1945 lagen von Köln und Coventry bis Nanjing und Nagasaki die Städte in Trümmern, zerstört durch Granaten, Fliegerbomben, Feuer und Bürgerkriege. Die nach dem Krieg zerschlagene Wirtschaft und oft hungernde und erschöpfte Menschen standen entmutigt vor den kostspieligen Aufgaben des nationalen Wiederaufbaus. Deutschlands Ansehen, fast schon seine Legitimität als Nation, war von Adolf Hitler ausgelöscht worden. In Frankreich war die Dritte Republik unter dem Angriff der Nazis 1940 zusammengebrochen und machte 1944 gerade die allerersten Schritte hinaus aus dieser moralischen Leere. Von den wichtigen europäischen Mächten hatte sich nur Großbritannien seine politischen Institutionen aus der Vorkriegszeit bewahrt, doch das Land war im Grunde bankrott und musste sich bald mit dem fortschreitenden Verlust seines Empire und dauerhaften wirtschaftlichen Schwierigkeiten auseinandersetzen.

Bei allen Staatslenkern, die in diesem Buch porträtiert werden, hatten diese Umbrüche unauslöschliche Spuren hinterlassen. Die politische Karriere Konrad Adenauers (geboren 1876), der von 1917 bis 1933 das Amt des Oberbürgermeisters von Köln innehatte, war vom Konflikt mit Frankreich wegen des Rheinlands in der Zwischenkriegszeit ebenso geprägt wie vom Aufstieg Hitlers; im Zweiten Weltkrieg wurde er zweimal von den Nationalsozialisten ins Gefängnis geworfen. Von 1949 an führte Adenauer Deutschland durch den Tiefpunkt seiner Geschichte, indem er das jahrzehntelange Streben nach einer Vormachtstellung in Europa aufgab, Deutschland im Atlantischen Bündnis verankerte und das Land auf einem moralischen Fundament wiederaufbaute, das Adenauers eigene christliche Werte und demokratische Überzeugungen widerspiegelte.

Charles de Gaulle (geboren 1890) verbrachte im Ersten Weltkrieg zweieinhalb Jahre als Kriegsgefangener im wilhelminischen Deutschland; im Zweiten Weltkrieg kommandierte er anfangs ein Panzerregiment. Dann, nach dem Zusammenbruch Frankreichs, baute er zweimal die politische Struktur Frankreich wieder auf – zunächst 1944, um Frankreich im Kern wiederherzustellen, und dann noch einmal 1958, um die Seele des Landes wiederaufzurichten und einen Bürgerkrieg zu verhindern. De Gaulle leitete Frankreichs historischen Übergang von einem geschlagenen, geteilten und überdehnten Reich zu einem stabilen, prosperierenden Nationalstaat mit einer soliden Verfassung. Von dieser Basis aus gab er Frankreich eine wichtige und nachhaltige Rolle in den internationalen Beziehungen zurück.

Richard Nixons (geboren 1913) Lehre aus seinen Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg war, dass sein Land eine herausgehobene Rolle in der sich abzeichnenden Weltordnung spielen musste. Er war zwar der bisher einzige amerikanische Präsident, der zurücktreten musste, doch zwischen 1969 und 1974 sorgte er in der Hochzeit des Kalten Krieges für eine gewisse Entspannung zwischen den Supermächten und führte die Vereinigten Staaten aus dem Vietnam-Konflikt heraus. Dabei stellte er die amerikanische Außenpolitik auf eine konstruktive globale Grundlage, indem er Beziehungen zu China knüpfte, einen Friedensprozess für den Nahen Osten anstieß und für das Konzept einer Weltordnung im Gleichgewicht eintrat.

Zwei Staatsführer, um die es in diesem Buch geht, erlebten den Zweiten Weltkrieg als Untertanen der Kolonialmächte. Anwar el-Sadat (geboren 1918) saß als ägyptischer Offizier zwei Jahre im Gefängnis, weil er 1942 versucht hatte, mit dem deutschen Feldmarschall Erwin Rommel zusammenzuarbeiten, um die Briten aus Ägypten zu vertreiben, und dann noch einmal drei Jahre, davon lange Zeit in Einzelhaft, nach dem Mordkomplott gegen den probritischen früheren Finanzminister Amin Osman. Sadat, der lange von revolutionären und panarabischen Überzeugungen beseelt war, wurde 1970 durch den plötzlichen Tod von Gamal Abdel Nasser überraschend Präsident eines Ägypten, das durch die Niederlage im Sechstagekrieg 1967 gegen Israel geschockt und demoralisiert war. Mithilfe einer klugen Kombination aus militärischer Strategie und Diplomatie schaffte er es, Ägyptens verlorene Territorien ebenso zurückzuerlangen wie das nationale Selbstbewusstsein des Landes und schließlich einen Frieden mit Israel mittels einer transzendenten Philosophie zu sichern, den man lange nicht für möglich gehalten hatte.

Lee Kuan Yew (geboren 1923) entkam nur knapp der Hinrichtung durch die japanischen Besatzer im Jahr 1942. Später prägte er die Entwicklung einer verarmten Vielvölkerstadt am Rande des Pazifiks, eingekreist von feindlichen Nachbarn. Unter seiner Führung wurde Singapur zu einem sicheren, gut verwalteten und wohlhabenden Stadtstaat mit einer gemeinsamen nationalen Identität inmitten kultureller Vielfalt.

Margaret Thatcher (geboren 1925) drängte sich mit ihrer Familie um das Radio, um die Rundfunkansprachen des Premierministers Winston Churchill während der Schlacht um England zu hören. 1979 erbte Thatcher mit Großbritannien eine ehemals imperiale Macht, die durchdrungen war von einer erschöpften Resignation angesichts des Verlusts ihres weltweiten Einflusses und des Niedergangs ihrer internationalen Bedeutung. Sie erneuerte ihr Land durch Wirtschaftsreformen und eine Außenpolitik, die Kühnheit und Klugheit miteinander verband.

Aus dem Zweiten Dreißigjährigen Krieg zogen alle sechs Führungspersönlichkeiten ihre eigenen Schlüsse im Hinblick darauf, was die Welt vom rechten Weg abgebracht hatte, und sie entwickelten daraus eine enorme Wertschätzung für die Unverzichtbarkeit mutiger – und ehrgeiziger – politischer Führung. Der Historiker Andrew Roberts ruft uns ins Gedächtnis, dass »Führung« im Allgemeinen zwar mit einer ihr innewohnenden Tugend assoziiert wird, »tatsächlich aber moralisch völlig neutral ist, ebenso fähig, die Menschheit an den Abgrund wie auch auf das sonnenbeschienene Hochland zu führen. Es ist eine Urgewalt mit entsetzlicher Kraft«, die wir durch unsere Bemühungen auf moralische Ziele hin ausrichten müssen.14

KLASSISCHE BEISPIELE FÜR FÜHRUNG: DER STAATSMANN UND DER PROPHET

Die meisten Führungspersönlichkeiten haben keine visionären, sondern vor allem Managerfähigkeiten. In jeder Gesellschaft und auf jeder Verantwortungsebene braucht man Verwalter für das Tagesgeschäft, um die Institutionen zu leiten. Doch in Krisenzeiten – im Krieg, bei einem schnellen technologischen Umbruch, einer jähen wirtschaftlichen Disruption oder einem ideologischen Umsturz – kann das bloße Management des Status quo der gefährlichste Kurs überhaupt sein. In vom Glück begünstigten Gesellschaften bringen solche Zeiten transformationelle Führungspersönlichkeiten hervor. Man kann dabei zwei Idealtypen unterscheiden: den Staatsmann und den Propheten.15

Weitsichtige Staatsmänner wissen, dass sie im Grunde zwei Aufgaben zu erfüllen haben. Zum einen sollten sie ihre Gesellschaft schützen, indem sie die Umstände beeinflussen und sich nicht ihrerseits von ihnen überwältigen lassen. Solche Führungsfiguren fördern Wandel und Fortschritt, während sie dafür sorgen, dass ihre Gesellschaft sich gleichzeitig eine elementare Wahrnehmung ihrer selbst bewahrt. Zum anderen sollten sie ihre Vorstellungskraft mit Vorsicht mäßigen und ein Gespür für Grenzen pflegen. Sie übernehmen Verantwortung – nicht nur für das beste, sondern ebenso für das schlimmste Ergebnis. Sie sind sich meist der vielen großen Hoffnungen bewusst, die gescheitert sind, und der zahllosen guten Absichten, die nicht umgesetzt werden konnten, der starrsinnigen Beharrungskraft des menschlichen Egoismus, des Machthungers und der Gewalt. Dieser Definition von Führung zufolge sind Staatsmänner geneigt, Absicherungen gegen die Möglichkeit einzuziehen, dass selbst die besten Pläne scheitern und sich auch hinter der elegantesten Formulierung Hintergedanken verstecken können. Sie stehen jenen, die Politik personalisieren, eher misstrauisch gegenüber, denn die Geschichte lehrt, dass Strukturen, die vor allem von einzelnen Persönlichkeiten abhängen, schwach sind. Ehrgeizig, aber nicht revolutionär, arbeiten sie innerhalb dessen, was sie als »historischen Rahmen« verstehen, sie bringen ihre Gesellschaften voran und sehen gleichzeitig ihre politischen Institutionen und fundamentalen Werte als ein Erbe, das an zukünftige Generationen weitergegeben werden muss (allerdings durchaus mit Veränderungen, die den Kern bewahren). Kluge Staatsmänner merken, wann sie aufgrund neuer Umstände über bestehende Institutionen und Werte hinausgehen müssen. Aber sie verstehen auch, dass die Veränderung nicht über das Erträgliche hinausgehen darf, wenn ihre Gesellschaft florieren soll. Zu ihnen gehören die Entscheidungsträger des 17. Jahrhunderts, die das Staatensystem des Westfälischen Friedens* entwarfen, ebenso wie europäische Spitzenpolitiker des 19. Jahrhunderts wie Palmerston, Gladstone, Disraeli und Bismarck. Im 20. Jahrhundert waren Theodore und Franklin Roosevelt, Mustafa Kemal Atatürk und Jawaharlal Nehru Führungspersönlichkeiten in der Erscheinungsform des Staatsmanns.

Der zweite Typ des Anführers – der des Visionärs oder Propheten – behandelt bestehende Institutionen nicht unbedingt von der Perspektive des Möglichen, sondern vorrangig von einer Vision des Nötigen aus. Prophetische Anführer berufen sich auf ihre transzendenten Visionen als Beleg dafür, dass sie im Recht sind. In ihrer Sehnsucht nach einer leeren Leinwand für ihre eigenen Entwürfe begreifen sie die Auslöschung der Vergangenheit als eine vorrangige Aufgabe – ihrer Schätze ebenso wie ihrer Fallstricke. Das Gute an solchen Propheten ist, dass sie neu definieren, was möglich erscheint; sie sind die »unvernünftigen Menschen«, denen George Bernard Shaw »allen Fortschritt« zuschrieb.**Im Glauben an ultimative Lösungen neigen prophetische Anführer dazu, der Strategie der kleinen Schritte als einer unnötigen Konzession an Zeit und Umstände zu misstrauen; ihr Ziel ist es, über den Status quo hinauszugehen, ihn nicht nur zu verwalten. Echnaton, Jeanne d’Arc, Robespierre, Lenin und Gandhi zählen zu den prophetischen Führungsgestalten der Geschichte.

Die Trennlinie zwischen diesen beiden Typen erscheint vielleicht auf den ersten Blick absolut, aber sie ist nicht unüberwindbar. Anführer können von einem Modus in den anderen wechseln – oder sich bei dem einen bedienen, während sie weitgehend im anderen zu Hause sind. Churchill in seinen »Jahren in der Wildnis« und de Gaulle als Führer der »Freien Franzosen« gehörten in die prophetische Kategorie, ebenso Sadat auf dem Höhepunkt seines Lebens. In der Praxis gelang allen sechs in diesem Buch porträtierten Staatslenkern eine Synthese der beiden Richtungen, allerdings mit einer Neigung zum Staatsmännischen.

Im Altertum verkörperte Themistokles, der Führer Athens, der die griechischen Stadtstaaten davor bewahrte, vom Persischen Reich geschluckt zu werden, eine optimale Mischung der beiden Stile. Laut Thukydides war Themistokles »mit kürzester Überlegung ein unfehlbarer Erkenner des Augenblicks und auf weiteste Sicht der beste Berechner der Zukunft«.16

Ein Aufeinandertreffen der beiden Typen endet oft ergebnislos und enttäuschend, was auf ihre unterschiedlichen Maßstäbe für einen Erfolg zurückzuführen ist. Der Härtetest für den Staatsmann ist die Stabilität politischer Strukturen unter Stress, während der Prophet seine Leistungen an absoluten Maßstäben ausrichtet. Während der Staatsmann mögliche Handlungsoptionen auf der Basis ihrer Nützlichkeit, nicht ihrer »Wahrheit« bewertet, betrachtet der Prophet diesen Ansatz als Sakrileg, als einen Triumph der Opportunität über das universale Prinzip. Für den Staatsmann sind Verhandlungen ein Stabilitätsmechanismus; für den Propheten können sie ein Mittel sein, um Gegner zu bekehren oder zu demoralisieren. Und während für den Staatsmann die Bewahrung der internationalen Ordnung wichtiger ist als jeder Disput innerhalb dieser Ordnung, orientieren Propheten sich an ihrem Ziel und sind bereit, die bestehende Ordnung dafür umzustürzen.

Beide Führungstypen sind transformationell gewesen, besonders in Krisenzeiten, wobei allerdings der prophetische Stil, der auch für Momente der Euphorie steht, gewöhnlich mit größeren Umbrüchen und schwererem Leid einhergeht. Jeder Ansatz hat auch seine Nemesis. Die des Staatsmanns ist, dass ein Gleichgewicht zwar vielleicht die Voraussetzung für Stabilität und langfristigen Fortschritt ist, aber keine eigene Dynamik entfaltet. Das Risiko für den Propheten besteht darin, dass in einer ekstatischen Stimmung womöglich die Menschlichkeit zugunsten einer gewaltigen Vision geopfert und das Individuum auf ein Objekt reduziert wird.

DAS INDIVIDUUM IN DER GESCHICHTE

Unabhängig von ihren persönlichen Charakterzügen oder Handlungsweisen stehen Führungspersönlichkeiten unausweichlich vor einer unerbittlichen Herausforderung: Sie müssen dafür sorgen, dass die Erfordernisse der Gegenwart die Zukunft nicht erdrücken. Durchschnittliche Anführer versuchen das gerade Anstehende zu managen; große versuchen, ihre Gesellschaft an ihren Visionen wachsen zu lassen. Wie man dieser Herausforderung gerecht wird, ist diskutiert worden, seit die Menschheit über die Beziehung zwischen dem Gewollten und dem Unausweichlichen nachdenkt. In der westlichen Welt wurde die Lösung seit dem 19. Jahrhundert immer stärker der Geschichte zugeschrieben, als ob historische Ereignisse Männer und Frauen in einem gewaltigen Prozess, in dem sie nur Werkzeuge, nicht Schöpfer waren, überwältigt hätten. Im 20. Jahrhundert haben viele Gelehrte, etwa auch der herausragende französische Historiker Fernand Braudel, darauf bestanden, Individuen und die Ereignisse, die sie prägen, als reine »oberflächliche Störungen« und »Schaumkämme« in einem größeren Meer mit gewaltigen und unerbittlichen Gezeiten zu sehen.17 Führende Denker – Sozialhistoriker, politische Philosophen und Theoretiker der internationalen Beziehungen gleichermaßen – haben unfertige Kräfte mit der Macht der Vorsehung erfüllt. Im Angesicht von »Strömungen«, »Strukturen« und »Machtverteilungen« wird der Menschheit jede Entscheidungsfreiheit abgesprochen – sie kann infolgedessen nichts anderes tun, als alle Verantwortung von sich zu weisen. Dies sind natürlich valide Konzepte von historischer Analyse, und jede Führungsfigur muss sich ihrer Kraft bewusst sein. Sie werden jedoch immer durch menschliche Vermittlung umgesetzt und durch menschliche Wahrnehmung gefiltert. Ironischerweise hat es kein effizienteres Werkzeug für die unheilvolle Machtkonsolidierung von Individuen gegeben als die Theorien zu den unausweichlichen Gesetzen der Geschichte.

Daraus ergibt sich die Frage, ob diese Kräfte endemisch oder dem gesellschaftlichen und politischen Handeln unterworfen sind. Die Physik hat festgestellt, dass sich die Realität durch den Prozess der Beobachtung verändert. Auch die Geschichte lehrt, dass Männer und Frauen ihre Umgebung durch ihre Deutung dieser Umgebung formen.

Spielen Individuen eine Rolle in der Geschichte? Einem Zeitgenossen Cäsars oder Mohammeds, Luthers oder Gandhis, Churchills oder Franklin D. Roosevelts hätte sich diese Frage gar nicht gestellt. Dieses Buch beschäftigt sich mit Führungspersönlichkeiten, die in dem endlosen Kampf zwischen dem Gewollten und dem Unausweichlichen begriffen haben, dass menschliches Handeln das, was unausweichlich scheint, unausweichlich macht. Sie waren bedeutsam, weil sie die Umstände überwanden, die sie geerbt hatten, und dadurch ihre Gesellschaften an die Grenzen des Möglichen führten.

*  Der im 17. Jahrhundert nach dem Dreißigjährigen Krieg ausgehandelte Westfälische Frieden gruppierte die überlebenden Staaten des Konflikts auf der Grundlage des nationalen Interesses und der Eigenstaatlichkeit als Ersatz für das religiöse oder dynastische Fundament des Mittelalters.

**  »Der vernünftige Mensch passt sich der Welt an; der unvernünftige besteht auf dem Versuch, die Welt sich anzupassen. Deshalb hängt aller Fortschritt von unvernünftigen Menschen ab.« (George Bernard Shaw, »Mensch und Übermensch« [Berlin: S. Fischer, 1907], S. 440)

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Konrad Adenauer: Die Strategie der Demut

DIE NOTWENDIGKEIT DER ERNEUERUNG

Auf der Konferenz von Casablanca verkündeten die Alliierten im Januar 1943, dass sie einzig und allein die »bedingungslose Kapitulation« der Achsenmächte akzeptieren würden. Der amerikanische Präsident Franklin Delano Roosevelt, der die treibende Kraft hinter dieser Forderung war, wollte jeder eventuellen Nachfolgeregierung Hitlers die Möglichkeit nehmen zu behaupten, sie sei mit falschen Versprechungen in die Kapitulation gelockt worden. Deutschlands völlige militärische Niederlage führte zusammen mit seinem totalen Verlust an moralischer Integrität und internationaler Legitimität unaufhaltsam zur fortschreitenden Auflösung der deutschen Zivilgesellschaft.

Ich beobachtete diesen Vorgang als Teil der 84. Infanteriedivision der US-Armee, die sich von der deutschen Grenze nahe dem industriell geprägten Ruhrgebiet bis an die Elbe nahe Magdeburg vorschob – nur rund 150 Kilometer entfernt von der damals tobenden Schlacht um Berlin. Als die Division nach Deutschland einrückte, war ich Teil einer Einheit, die unter anderem für die Verhinderung von Guerilla-Aktivitäten zuständig war, wie Hitler sie angeordnet hatte.

Für jemanden wie mich, dessen Familie sechs Jahre zuvor aus dem fränkischen Fürth geflohen war, um der ethnischen Verfolgung zu entgehen, war kein größerer Gegensatz zum Deutschland meiner Jugend vorstellbar. Damals hatte Hitler gerade den »Anschluss« Österreichs vollzogen und war dabei, die Tschechoslowakei zu zerlegen. Das vorherrschende Gebaren der Deutschen grenzte an Anmaßung.

Nunmehr hingen aus vielen Fenstern weiße Leintücher, um die Kapitulation der Bevölkerung anzuzeigen. Die Deutschen, die ein paar Jahre zuvor die Aussicht gefeiert hatten, Europa vom Ärmelkanal bis zur Wolga unter ihre Herrschaft zu bringen, waren eingeschüchtert und verwirrt. Tausende Verschleppte – im Krieg als Zwangsarbeiter aus Osteuropa deportiert – bevölkerten die Straßen auf der Suche nach Essen, Unterkunft und einer Möglichkeit, in die Heimat zurückzukehren.

Es war eine verzweifelte Zeit in der deutschen Geschichte. Nahrungsmittel waren furchtbar knapp. Viele hungerten, und die Kindersterblichkeit war doppelt so hoch wie im übrigen Westeuropa.18 Der normale Austausch von Waren und Dienstleistungen brach zusammen; Schwarzmärkte traten an seine Stelle. Der Postverkehr war beeinträchtigt bis nicht existent. Züge fuhren nur sporadisch, und der Transport auf der Straße war durch die Verheerungen des Krieges und die Treibstoffknappheit überaus schwierig.

Im Frühjahr 1945 bestand die Aufgabe der Besatzungstruppen darin, eine Art zivile Ordnung einzusetzen, bis das dafür ausgebildete Personal einer Militärregierung die Kampftruppen ablösen konnte. Dies geschah etwa zur Zeit der Potsdamer Konferenz im Juli und August (an der Churchill/Attlee, Truman und Stalin teilnahmen). Auf diesem Gipfel teilten die Alliierten Deutschland in vier Besatzungszonen: für die Vereinigten Staaten ein südlicher Teil, der vor allem Bayern umfasste, für Großbritannien das industrialisierte nördliche Rheinland und das Ruhrgebiet, für Frankreich das südliche Rheinland und das Gebiet entlang der Grenze zum Elsass und für die Sowjets eine Zone von der Elbe bis zur Oder-Neiße-Linie, die die neue polnische Grenze bildete und damit das deutsche Territorium der Vorkriegszeit um fast ein Viertel verkleinerte. Die drei Westzonen standen jeweils unter der Rechtsprechung eines hochrangigen Beamten der Besatzungsmächte mit dem Titel eines Hohen Kommissars.

Die deutsche Zivilverwaltung, einst erwiesenermaßen effizient und kompetent, lag am Boden. Die höchste Autorität übten jetzt die Besatzungstruppen bis auf Kreisebene aus. Diese Truppen hielten die Ordnung aufrecht, doch es dauerte fast achtzehn Monate, bis die Nachschublinien wieder einigermaßen zuverlässig funktionierten. Im Winter 1945/46 zwang die Brennstoffknappheit auch Konrad Adenauer, der vier Jahre später Kanzler werden sollte, in einem dicken Mantel zu schlafen.19

Das besetzte Deutschland trug nicht nur an der Last seiner unmittelbaren Vergangenheit, sondern auch an der Unübersichtlichkeit seiner Geschichte. In den 74 Jahren seit der Reichsgründung war Deutschland erst als Monarchie, dann als Republik und schließlich als totalitärer Staat regiert worden. Bei Kriegsende ging die einzige Erinnerung an eine stabile Regierung auf die Anfänge des geeinten Deutschlands unter der Kanzlerschaft Otto von Bismarcks (1871–1890) zurück. Von da an bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs im Jahr 1914 sah sich das Deutsche Reich verfolgt vom »Albtraum«, wie Bismarck es nannte, feindlicher äußerer Bündnisse, die Deutschland mit seinem Militärpotenzial und seiner undurchsichtigen Rhetorik erst heraufbeschworen hatte. Weil das geeinte Deutschland stärker war als jeder einzelne der vielen Staaten, die es umgaben, und viel bevölkerungsreicher als alle Staaten außer Russland, wurde seine wachsende Macht und potenzielle Dominanz zu einer ständigen Herausforderung für die Sicherheit Europas.

Nach dem Ersten Weltkrieg verarmte die neu entstandene Weimarer Republik durch Inflation und Wirtschaftskrisen und sah sich selbst als Opfer der harten Strafbestimmungen des Versailler Vertrags. Unter Hitler versuchte Deutschland nach 1933 dann ganz Europa seinen Totalitarismus aufzuzwingen. Kurz gesagt: Das geeinte Deutschland war in der ganzen ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts für einen Frieden in Europa abwechselnd entweder zu stark oder zu schwach gewesen. 1945 war es auf seine schwächste Position in Europa und der Welt seit der Gründung des Deutschen Reiches beschnitten worden.

Die Aufgabe, dieser am Boden liegenden Gesellschaft Würde und Legitimität zurückzugeben, fiel Konrad Adenauer zu, der 16 Jahre lang als Oberbürgermeister von Köln gewirkt hatte, bevor er von Hitler entlassen worden war. Adenauer geriet, wenn man seinen Hintergrund betrachtet, eher zufällig in diese Rolle, die gleichzeitig die Demut erforderte, die Folgen einer bedingungslosen Kapitulation umzusetzen, wie die nötige Charakterstärke, um internationales Ansehen für sein Land im Kreise der Demokratien zurückzuerlangen. Geboren im Jahr 1876 – nur fünf Jahre nach der deutschen Einigung unter Bismarck –, blieb Adenauer sein ganzes Leben lang mit seiner Geburtsstadt Köln verbunden, mit ihrem gotischen Dom, der am Rheinufer aufragt, und ihrer Geschichte als Hansestadt in zentraler Verkehrslage.

Als Erwachsener hatte Adenauer die drei Ausgestaltungen des geeinten deutschen Staates nach Bismarck erlebt: das Auftrumpfende unter dem Kaiser, die inneren Unruhen in der Weimarer Republik und das Abenteurertum unter Hitler, das in Selbstzerstörung und Zerfall gipfelte. In seinem Bemühen, seinem Land wieder einen Platz in einer rechtmäßigen Nachkriegsordnung zu verschaffen, sah er sich weltweit einer von den Nationalsozialisten ererbten Feindseligkeit und zu Hause der Orientierungslosigkeit einer Öffentlichkeit gegenüber, die durch die lange Abfolge von Revolution, Weltkrieg, Völkermord, Niederlage, Teilung, Wirtschaftskollaps und Verlust der moralischen Integrität erschöpft war. Er schlug einen zugleich demütigen und wagemutigen Kurs ein: deutsches Unrecht eingestehen; als Strafe die Niederlage und die eigene Ohnmacht akzeptieren, darunter auch die Teilung seines Landes; den Abbau der industriellen Lebensgrundlage als Kriegsreparationen dulden und den Versuch unternehmen, durch Unterordnung eine neue europäische Struktur aufzubauen, innerhalb derer Deutschland ein vertrauenswürdiger Partner werden konnte. Deutschland, so hoffte er, werde ein normales Land werden, allerdings immer, wie ihm bewusst war, mit einer nicht normalen Erinnerungslast.

VON DEN FRÜHEN JAHREN BIS ZUM INNEREN EXIL

Adenauers Vater Johann Conrad, einst Unteroffizier im preußischen Heer, war danach drei Jahrzehnte lang Justizbeamter in Köln. Johann Conrad, der selbst keine höhere Bildung nach der verpflichtenden Grundschule genossen hatte, war fest entschlossen, seinen Kindern Bildung und Aufstiegsmöglichkeiten zu bieten. Adenauers Mutter unterstützte ihn darin; als Tochter eines Bankangestellten besserte sie das Familieneinkommen mit Näharbeiten auf. Gemeinsam bereiteten sie den jungen Konrad gewissenhaft auf die Schule vor und suchten ihm ihre katholischen Werte zu vermitteln.20 Sündenanerkenntnis und soziale Verantwortung prägten Adenauers Kindheit. Als Student an der Universität Bonn kannte man ihn wegen seiner Angewohnheit, seine Füße in einen Eimer kaltes Wasser zu tauchen, um die Müdigkeit bei nächtlichen Studien zu bekämpfen.21 Adenauers Juraabschluss und sein familiärer Hintergrund im Staatsdienst führten ihn 1904 auf einen Posten in der Kölner Stadtverwaltung. Als Beigeordneter war er vor allem für die Besteuerung zuständig. 1909 wurde er zum stellvertretenden Bürgermeister ernannt, um dann schließlich 1917 Oberbürgermeister von Köln zu werden.

Oberbürgermeister von Köln waren in der Regel frühere Verwaltungsbeamte, die sich in ihrem Verhalten von der gewaltgeprägten Parteipolitik der Zeit abheben wollten. Adenauers Ansehen in diesem Amt war so groß, dass es 1926 sogar Gespräche in Berlin gab, ob man ihn nicht als Kanzler einer Regierung der nationalen Einheit einsetzen sollte. Der Versuch scheiterte, weil es nicht gelang, Adenauers Bedingung zu erfüllen und ein überparteiliches Bündnis zu schmieden.

Seinen ersten unübersehbaren nationalen Auftritt hatte Adenauer in Verbindung mit Hitlers Ernennung zum Reichskanzler am 30. Januar 1933. Um seine Position zu stärken, rief Hitler allgemeine Wahlen aus und legte dem deutschen Parlament das sogenannte Ermächtigungsgesetz vor, das die Rechtsordnung und die Unabhängigkeit staatlicher Institutionen aufhob. Adenauer demonstrierte im ersten Monat nach Hitlers Ernennung zum Kanzler dreimal öffentlich seine Gegnerschaft. Im Dreimännerkollegium, dem er als Vorsitzender des Preußischen Staatsrats ex officio angehörte, boykottierte er eine Abstimmung zur Auflösung des preußischen Landtags. Er schlug eine Einladung aus, Hitler während des Wahlkampfs am Kölner Flughafen zu begrüßen. Und in der Woche vor der Wahl befahl er, NS-Flaggen von Brücken und anderen städtischen Bauwerken zu entfernen. Eine Woche nach Hitlers Wahlsieg wurde Adenauer abgesetzt.

Nach seiner Entlassung bat Adenauer bei einem alten Schulfreund, der Abt eines Benediktinerklosters geworden war, um Zuflucht. Die Bitte wurde gewährt, und im April zog Adenauer in die Abtei Maria Laach, 80 Kilometer südlich von Köln am Laacher See gelegen. Dort vertiefte er sich vor allem in zwei Enzykliken der Päpste Leo XIII. und Pius XI., in denen es um die Anwendung der katholischen Lehre auf soziale und politische Entwicklungen ging, besonders auf die Situation der wachsenden modernen Arbeiterklasse.22 In diesen Enzykliken stieß Adenauer auf Aussagen, die mit seinen politischen Überzeugungen übereinstimmten: die Betonung der christlichen gegenüber der politischen Identität, die Verurteilung von Kommunismus und Sozialismus, die Milderung des Klassenkampfes durch Demut und christliche Wohltätigkeit und die Sicherung des freien Wettbewerbs anstelle von Kartellpraktiken.23

Adenauers Zeit in Maria Laach sollte nicht allzu lange dauern. Nach einem Besuch der Christmette – die Menschen aus der ganzen Umgebung angezogen hatte, die ihn sehen und unterstützen wollten – setzten die Nationalsozialisten den Abt unter Druck, seinen angesehenen Gast vor die Tür zu setzen. Adenauer ging im Januar.

Sein nächstes Lebensjahrzehnt war von Schwierigkeiten und Unwägbarkeiten geprägt. Es gab Momente großer Gefahr, besonders nach dem gescheiterten Anschlag auf Hitler im Juli 1944, den Vertreter der preußischen Oberschicht, darunter auch einige frühere Angehörige des politischen und militärischen Apparats der Weimarer Zeit, organisiert hatten. Sie alle bekamen Hitlers Rache zu spüren. Eine Zeit lang entzog sich Adenauer der Gefahr, indem er rastlos reiste und nie länger als 24 Stunden an einem Ort blieb.24 Seine prekäre Lage änderte allerdings nichts an seiner Ablehnung Hitlers, der die Rechtsstaatlichkeit, die Adenauer als eine conditio sine qua non des modernen Staates betrachtete, mit Füßen trat.25 Adenauer war zwar als Andersdenkender bekannt, aber nicht bereit, sich zivilen oder militärischen Verschwörern gegen das Regime anzuschließen, vor allem weil er ihre Erfolgschancen skeptisch beurteilte.26 Insgesamt »taten er und seine Familie ihr Bestes, so ruhig und unauffällig wie nur möglich zu leben«, wie ein Forscher es beschreibt.27

Trotz seines Abschieds aus der Politik verhafteten die Nationalsozialisten ihn schließlich. Im Herbst 1944 verbrachte er zwei Monate in einer Gefängniszelle, von deren Fenster aus er Zeuge von Hinrichtungen, auch der eines 16-Jährigen, wurde; aus einem Raum unter seiner Zelle hörte er die Schreie anderer Insassen, die gefoltert wurden.

Schließlich gelang es seinem Sohn Max, der im deutschen Heer diente, seine Entlassung zu erreichen. Als amerikanische Panzer im Februar 1945 ins Rheinland vordrangen, begann Adenauer über eine Rolle in seinem militärisch besiegten, moralisch verheerten, wirtschaftlich erschütterten und politisch zusammengebrochenen Land nachzudenken.28

DER WEG ZUR FÜHRUNG

Hitlers brutale Reaktion auf das Attentat vom Juli 1944 hatte die Reihen jener dezimiert, die womöglich auf seine Nachfolge spekulierten. Einige hochrangige Politiker der Sozialdemokratischen Partei hatten die Konzentrationslager überlebt – darunter Adenauers späterer Rivale Kurt Schumacher – und besaßen die politische Statur für das Amt des Kanzlers. Aber ihnen fehlte eine Gefolgschaft, die groß genug gewesen wäre, um die öffentliche Unterstützung zu mobilisieren, die man brauchte, um die bedingungslose Kapitulation des Landes und die damit einhergehenden Strafen umzusetzen – Vorbedingungen, um das Vertrauen der westlichen Alliierten zu erlangen.

Im Mai 1945 setzten die amerikanischen Streitkräfte, die Köln zunächst besetzt hatten, Adenauer wieder als Bürgermeister ein, doch mit der Übergabe der Stadt an die britische Verwaltung als Ergebnis des Potsdamer Abkommens wuchsen die Spannungen, und die Briten entließen ihn ein paar Monate später. Die Besatzungsmacht hatte Adenauer jetzt zwar zeitweise von jeder politischen Aktivität ausgeschlossen, doch er konzentrierte sich in aller Stille darauf, sich in Vorbereitung auf eine neue deutsche Selbstverwaltung eine politische Basis zu schaffen.

Im Dezember 1945 nahm Adenauer an der Gründungsversammlung einer neuen Partei christlicher Prägung teil, in der Katholiken wie Protestanten eine Heimat finden konnten. Anwesend waren ehemalige Mitglieder der katholischen Zentrumspartei, deren Mitglied Adenauer als Oberbürgermeister von Köln gewesen war, wie auch der nationalkonservativen Deutschen Nationalen Volkspartei und der liberalen Deutschen Demokratischen Partei. Viele hatten sich gegen Hitler gewandt, einige hatten wegen ihres Widerstands im Gefängnis gesessen. Der Gruppe fehlten eine klare politische Richtung und Grundsätze; tatsächlich war der Tenor der Diskussionen bei diesem ersten Treffen eher sozialistisch als klassisch liberal. Auch wegen der Einwände Adenauers wurde die Frage der Grundprinzipien vertagt, und die Gruppe einigte sich zunächst auf ihren Namen: Christlich Demokratische Union.29

Im nächsten Monat sorgte neben anderen auch Adenauer dafür, dass der CDU ihre politische Philosophie als Partei der Demokratie, des gesellschaftlichen Konservativismus und der europäischen Integration unter Ablehnung der jüngsten Vergangenheit Deutschlands wie auch des Totalitarismus in jeder Form in Fleisch und Blut überging. Bei einer Tagung der Gründungsmitglieder der CDU im Januar 1946 in der britischen Besatzungszone im westfälischen Herford legte Adenauer diese Prinzipien ausführlich dar und untermauerte seinen Anspruch auf Führerschaft in der neuen Partei.

In seiner ersten öffentlichen Rede nach Kriegsende am 24. März 1946 wagte Adenauer einen Ausblick auf seine anschließende politische Agenda. Er kritisierte Deutschlands Verhalten unter Hitler und fragte seine mehreren tausend Zuhörer in der schwer zerstörten Aula der Universität zu Köln, wie die Nationalsozialisten überhaupt an die Macht hatten kommen können. Sie hätten dann »Verbrechen größten Ausmaßes« begangen, wie er sagte, und die Deutschen könnten ihren Weg in eine bessere Zukunft nur finden, wenn sie ihre Vergangenheit aufarbeiteten.30 Eine solche Anstrengung sei nötig, wenn es ihrem Land wieder besser gehen sollte. Aus dieser Perspektive musste Deutschlands Haltung nach dem Zweiten Weltkrieg genau das Gegenteil seiner Reaktion auf den Ersten sein. Statt sich wieder in selbstmitleidigem Nationalismus zu suhlen, sollte Deutschland seine Zukunft in einem sich vereinenden Europa suchen. Adenauer verkündete eine Strategie der Demut.

Hochgewachsen und scheinbar unerschütterlich neigte Adenauer zu einer knappen, aber durch den singenden rheinischen Tonfall gemilderten Sprache, verbindlicher als das Preußische, in dem nach Mark Twain Sätze wie Heeresformationen durch Konversationen marschierten. (Das Rheinland hatte eine unabhängige Geschichte gehabt, bevor es von Preußen 1814/15 erworben wurde.) Gleichzeitig verströmte er Vitalität und Selbstbewusstsein. Sein Führungsstil war die Antithese zum charismatischen Gebrüll der Hitlerzeit und orientierte sich eher an der ernsten Autorität der Generation vor dem Ersten Weltkrieg, die ihre Angelegenheiten in einer Atmosphäre der Zurückhaltung und der gemeinsamen Werte geregelt hatte.

All diese Eigenschaften zusammen mit dem Ansehen, das er sich durch ein Jahrzehnt Distanz zu Hitler erworben hatte, machten Adenauer zum offenkundig geeignetsten Kandidaten für die Führung der neuen demokratischen Partei. Aber er war sich auch für praktische Manöver nicht zu schade, um sein Ziel zu erreichen. Beim ersten Treffen der CDU stand ein Stuhl an der Kopfseite des Tisches. Adenauer steuerte ihn an und erklärte: »Ich bin am 5. Januar 1876 geboren, also wohl der Älteste hier. Wenn niemand widerspricht, darf ich mich als Alterspräsident betrachten.« Das provozierte Gelächter wie auch Zustimmung; von dem Punkt an lenkte er die Partei für mehr als 15 Jahre.31

Das CDU-Programm, bei dessen Entwurf Adenauer eine wichtige Rolle spielte, drängte die Deutschen, ihre Vergangenheit abzulegen und die Zukunft in einem Geist der Erneuerung, basierend auf christlichen Idealen und demokratischen Prinzipien, zu suchen:

Darum fort mit den Schlagworten einer überwundenen Zeit, fort mit der Lebens- und Staatsmüdigkeit! Die gleiche Not zwingt uns alle, zuzupacken. Es wäre Verrat an der eigenen Familie und am deutschen Volke, jetzt in Nihilismus oder Gleichgültigkeit abzusinken.

Die CDU ruft alle neubauwilligen Kräfte auf in dem unerschütterlichen Vertrauen auf die guten Eigenschaften des deutschen Volkes und in der unbeugsamen Entschlossenheit, den christlichen Gedanken und das hohe Ideal wahrhafter Demokratie zur Grundlage der Erneuerung zu machen.32

Die ganze Zeit war sich Adenauer der Möglichkeit einer Tragödie bewusst – vielleicht sogar davon besessen. Deutschland war seiner Ansicht nach moralisch wie materiell nicht stark genug, sich allein zu behaupten, und jeder Versuch in diese Richtung würde in einer Katastrophe enden. Das neue Deutschland in der Mitte des Kontinents musste viele seiner vorherigen Strategien und Haltungen aufgeben – vor allem die opportunistische Manipulation seiner geografischen Lage und die preußische Neigung zu guten Beziehungen mit Russland. (Preußen, die Pfahlwurzel des deutschen Militarismus, wurde als Staat innerhalb Deutschlands 1947 von den Alliierten formell aufgelöst.) Adenauers Deutschland verankerte seine Demokratie stattdessen im Inneren in seinen katholischen Regionen und ökumenischen christlichen Werten und international im Bündnis mit den Westen – besonders im Sicherheitsbündnis mit den Vereinigten Staaten.33

Die beschauliche Universitätsstadt Bonn, die im Krieg nicht unter Fliegerangriffen gelitten hatte, war als vorübergehender Regierungssitz der BRD ausgewählt worden – bis zu einer Wiedervereinigung mit Berlin als Hauptstadt. Auch Adenauer präferierte Bonn, da es in der Nähe seines Wohnorts Rhöndorf und weit weg vom politischen Getümmel lag. Adenauer konnte die Wahl Bonns im September 1948 – noch bevor er Kanzler wurde – als Vorsitzender der CDU und Präsident des Parlamentarischen Rats beeinflussen. Die Alliierten hatten den Parlamentarischen Rat, eine Gruppe deutscher Politiker, damit beauftragt, die politische Entwicklung zu planen und eine neue Verfassung, ein Grundgesetz, zu erarbeiten. Später sagte Adenauer im Scherz, dass er den Rat nur deshalb überredet habe, sich für Bonn einzusetzen, weil Rhöndorf als Regierungssitz nun wirklich zu klein gewesen sei (nicht einmal 2000 Einwohner).34 Weniger humorig hatte er auch das sehr viel kosmopolitischere München abgelehnt, weil Bayern angeblich noch den »alten Zeiten« nachtrauerte und weil, wie er gehässig bemerkte, die Hauptstadt nicht direkt am Kartoffelacker liegen sollte. Adenauer lehnte auch größere Städte wie Frankfurt, Sitz des kurzlebigen Parlaments von 1848, ab, da die Entwicklungsmöglichkeiten der Demokratie dort womöglich durch öffentliche Demonstrationen und Unruhen verzerrt würden.

DIE WIEDERHERSTELLUNG DER BÜRGERLICHEN ORDNUNG UND DIE EINSETZUNG DES KANZLERS

1946 begann langsam der Wiederaufbau. Immer höhere Regierungsebenen wurden gewählt, Strukturen neu aufgebaut und die politische Verantwortung Stück für Stück wieder den Deutschen selbst übertragen. Im Januar 1947 etablierten die USA und Großbritannien eine gemeinsame Wirtschaftspolitik für ihre Zonen. Frankreich schloss sich ein Jahr später an, und so entstand die »Trizone«. Der Wirtschaftswissenschaftler Ludwig Erhard wurde zum Direktor des Wirtschaftsrats ernannt und beaufsichtigte den reibungslosen Übergang zur neuen Währung, der Deutschen Mark. Gleichzeitig hob er die Preiskontrollen wie auch die Rationierung auf. Erhards mutige wirtschaftspolitische Manöver läuteten eine Erholung ein, die schließlich den politischen Wiederaufbau auf der Grundlage eines von den alliierten Mächten gebilligten Grundgesetzes ermöglichte.35

Am 23. Mai 1949 – vier Jahre nach der bedingungslosen Kapitulation – trat das Grundgesetz in Kraft, und aus den drei westlichen Zonen entstand formell die Bundesrepublik. Einige Monate später bildete sich anstelle der sowjetischen Besatzungszone offiziell die Deutsche Demokratische Republik.

Die Teilung Deutschlands spiegelte jetzt die durch Europa verlaufenden Trennlinien wider. Der Prozess kulminierte in der Wahl eines Nationalparlaments, des Bundestags, im August. Am 15. September votierte der Bundestag für einen Kanzler, der laut Grundgesetz eine absolute Mehrheit brauchte und seinerseits nur mittels einer absoluten Mehrheit durch einen schon feststehenden Nachfolger ersetzt werden konnte – eine stabilisierende Maßnahme. Adenauer wurde mit nur einer Stimme Mehrheit (vermutlich seiner eigenen) in diesem Parlament eines Rumpfstaates zum Kanzler gewählt; ihm gelangen vier aufeinanderfolgende Wahlerfolge mit 14 Jahren Amtszeit.

Deutschlands Souveränität war allerdings stark beschnitten. Die Alliierten, die durch ihre jeweiligen Hohen Kommissare die höchste Befehlsgewalt über das besetzte Westdeutschland ausübten, »wünschten und beabsichtigten« offiziell, »dass sich das deutsche Volk […] im größtmöglichen Maße selbst regiert«. Aber sie setzten eine Reihe von Themen – von der Außenpolitik bis hin zur »Verwendung von Geldmitteln, Lebensmitteln und sonstigen Bedarfsgütern« – fest, bei denen die drei Hohen Kommissare und andere Besatzungsbehörden das letzte Wort haben sollten.36 Das Besatzungsstatut, aus dem die obigen Zitate stammen und das zwei Wochen vor der Gründung der Bundesrepublik in Kraft trat, stand über dem Grundgesetz. Ein damit verbundenes Dokument, das Ruhrstatut, begründete die alliierte Kontrolle über das gleichnamige industrielle Zentrum und formulierte Kriterien für die Demontage der deutschen Industrie zur Wiedergutmachung.37 Das ebenfalls industriell geprägte Saargebiet bekam allerdings verhältnismäßig früh einen gesonderten autonomen Status zugesprochen.

Die Spannung zwischen der noch bestehenden alliierten Oberherrschaft und der neuen deutschen Selbstverwaltung trat vor allem am 21. September 1949 zutage, als die drei Hohen Kommissare in Bonn zusammenkamen, um Adenauer als den neuen Kanzler der Bundesrepublik und ersten rechtmäßigen Nachfolger Hitlers willkommen zu heißen. Adenauer hatte vor der Zeremonie versichert, dass er die Teilung Deutschlands und die Beeinträchtigung seiner Souveränität durch die verschiedenen von den Alliierten auferlegten Statuten als Preis der bedingungslosen Kapitulation nicht in Frage stellen werde. Doch er nutzte die Gelegenheit der Amtseinsetzung, um zu zeigen, dass er dies mit Würde und Selbstachtung tat. Jenseits des Randes des roten Teppichs, auf dem sich die Hohen Kommissare versammelt hatten, war an der Seite ein Platz für ihn vorgesehen. Bei Beginn der Zeremonie nahm Adenauer unter völliger Missachtung des Protokolls seinen Stuhl und stellte ihn auf den Teppich neben die Hohen Kommissare – und verwies damit darauf, dass die neue Bundesrepublik in der Zukunft auf einem gleichberechtigten Status bestehen werde, wenn es auch die Folgen seiner früheren Verfehlungen akzeptierte.

In einer kurzen Antrittsrede betonte Adenauer, dass er als Kanzler das Besatzungsstatut und andere Einschränkungen der Souveränität akzeptiere. Deutschlands Unterordnung unter dessen Bestimmungen, so legte er dar, war in dem Statut mit der Teilung des Landes verknüpft worden; in Anerkennung seiner Zustimmung zu diesen Opfern bat er daher die Hohen Kommissare, »das Statut in einer großzügigen und maßvollen Weise anzuwenden« und die Klauseln zu nutzen, die Veränderungen und Entwicklungen zuließen. Damit sollte das deutsche Volk womöglich in die Lage versetzt werden, zur gegebenen Zeit zur »völligen Freiheit« zu gelangen.

Den Kern seiner Antrittsrede bildete nicht der Appell an die Sieger um Großzügigkeit, sondern Adenauers Vision des neuen Europas, auf die er das neue Deutschland verpflichtete. Adenauer schwor jeder Rückkehr zum Nationalismus oder anderen Triebkräften der Vorkriegszeit ab und warb dafür, eine »wirkliche, lebensfähige europäische Föderation« zu errichten.

Wir sind gewiss, dass die enge nationalstaatliche Idee des 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts heute als überwunden gelten muss. […] Wenn wir zurückfinden zu den Quellen unserer europäischen Kultur, die aus dem Christentum entspringen, muss es uns gelingen, die Einheit des europäischen Lebens auf allen Gebieten wiederherzustellen. Dies ist die allein wirksame Garantie für die Erhaltung des Friedens.38

Adenauers Rede setzte eine tiefgreifende Transformation seines Landes voraus. Im Kontext der bedingungslosen Kapitulation war sie auch ein kluger Appell an die Sieger, Deutschland als gleichberechtigt anzuerkennen – die einzige Möglichkeit, die dem Land blieb.

Die Ansprache eröffnete auch grundsätzlichere Perspektiven. Der neue Kanzler akzeptierte gleichzeitig die unbefristete (womöglich dauerhafte) Teilung seines Landes und verkündete eine Außenpolitik in Partnerschaft mit den ausländischen Mächten, die das Land jetzt besetzten. Er erkannte Deutschlands Unterwerfung an, verkündete aber gleichzeitig nationale Bündnisziele mit den historischen Widersachern seines Landes in Europa und das Ziel einer Allianz mit den Vereinigten Staaten.

Adenauer brachte diese visionären Ideen ohne alle rhetorischen Schnörkel vor. Die Pflichten der Nationen, wie er sie verstand, trugen ihre Rechtfertigung in sich; rhetorische Ausschmückung konnte nur von jenem Grundverständnis ablenken. Adenauers zurückhaltender Stil entsprach auch der Rolle, die er für das neue Deutschland vorsah: zur Entstehung eines neuen Europas durch Konsens beizutragen.

Seit mehr als einem Jahrhundert hatte kein europäischer Staatenlenker mehr vor der Herausforderung gestanden, sein Land in die internationale Ordnung zurückzuführen. Frankreich war nach den Napoleonischen Kriegen völlig besiegt und seine Hauptstadt von ausländischen Truppen besetzt gewesen, doch die französische Einheit war nicht in Frage gestellt, und der Wiener Kongress nach dem Krieg akzeptierte Talleyrand als einen ranghohen Vertreter Frankreichs, das als ein historisch gewachsener Staat gleiche Rechte genoss. Konrad Adenauer schulterte seine vergleichbare Aufgabe unter sehr viel schwierigeren Umständen. Seine Nachbarn akzeptierten sein Land nicht als gleichberechtigt. In ihren Augen war Deutschland noch immer »auf Bewährung«.

Für eine demoralisierte, besiegte Gesellschaft stellt der Übergang zur Wiederherstellung der demokratischen Souveränität eine der schwierigsten Herausforderungen an die Staatskunst dar. Die Sieger zögern, einem früheren Feind die Rechtsmacht oder gar die Fähigkeit zu gewähren, seine Kraft zurückzuerlangen. Der darniederliegende Verlierer bewertet den Fortschritt anhand des Umfangs und der Geschwindigkeit, in denen er die Kontrolle über seine Zukunft wiedererlangen kann. Adenauer hatte die inneren Ressourcen, diese Spannungen zu überwinden. Seine Strategie der Demut bestand aus vier Elementen: Anerkennung der Folgen der Niederlage, Zurückgewinnung des Vertrauens der Sieger, Aufbau einer demokratischen Gesellschaft und Bildung eines europäischen Staatenbunds, der die historischen Spaltungen Europas überwinden würde.

DER WEG ZU EINER NEUEN NATIONALEN IDENTITÄT

In Adenauers Augen war die Verbindung zum Westen und besonders zu den Vereinigten Staaten der Schlüssel, um Deutschland wieder einen Platz in der Welt zu verschaffen. In seinen Memoiren beschrieb Dean Acheson begeistert sein erstes Treffen als US-Außenminister mit Adenauer im Jahr 1949:

Die Vorstellungskraft und die Weisheit seines Ansatzes überraschten mich. Er setzte voll und ganz auf die Integration Deutschlands nach Westeuropa. Tatsächlich gab er diesem Ziel den Vorrang vor der Wiedervereinigung des unglücklich geteilten Deutschlands und konnte verstehen, warum dessen Nachbarn es fast als eine Vorbedingung für eine Wiedervereinigung sehen mochten. […] Er wollte, dass die Deutschen Bürger Europas waren, dass sie kooperierten, vor allem mit Frankreich bei der Entwicklung gemeinsamer Interessen und Zukunftsperspektiven und bei der Beilegung der Rivalitäten der letzten Jahrhunderte. […] Sie müssen die Führung bei der Wiedergeburt Europas übernehmen.39

Die Vereinigten Staaten waren mit einem Wirtschaftsplan beim Aufbau behilflich. Am 5. Juni 1947 hatte General George C. Marshall, Achesons Vorgänger als Außenminister und ehemaliger Generalstabschef des Heeres, dies an der Harvard University deutlich zur Sprache gebracht:

Unsere Politik richtet sich nicht gegen irgendein Land oder eine Anschauung, sondern gegen Hunger, Armut, Verzweiflung und Chaos. Ihr Ziel ist die Wiederbelebung einer leistungsfähigen Weltwirtschaft, die das Entstehen politischer und sozialer Zustände, in denen freiheitliche Einrichtungen gedeihen können, ermöglichen soll.40

Adenauer sah in der Rede Marshalls und dessen dann folgendem offiziellen Wirtschaftsplan einen Grund, dem Ruhrstatut von 1949 zuzustimmen, einem weiteren Mittel, mit dem die Alliierten sich die Kontrolle über die deutsche Industrie sicherten. Er deutete den Marshall-Plan als eine Bremse der Industriedemontage zur Wiedergutmachung, aber vor allem als einen ersten Schritt hin zur Föderalisierung Europas:

Wenn [das Ruhrstatut] so gehandhabt wird, daß dadurch die deutsche Wirtschaft niedergehalten wird, so ist der Marshall-Plan ein Unsinn. […] Wenn aber das Ruhrstatut angewandt wird im deutschen und im europäischen Interesse, wenn es den Beginn einer Ordnung der westeuropäischen Wirtschaft bedeutet, dann kann es ein vielverheißender Anfang für die europäische Zusammenarbeit werden.41

Ironischerweise wurde jetzt die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) unter der Führung Kurt Schumachers zu Adenauers wichtigstem Gegner im Inneren. Die SPD konnte auf ein langes und intensives Engagement für die Demokratie zurückblicken, das bis in die Entstehungszeit des deutschen Staates zurückreichte; in der Kaiserzeit jedoch war sie von der Staatsführung ferngehalten worden, da sie als marxistische Partei in dem Ruf stand, nationale Interessen zu vernachlässigen. Ihr gegenwärtiger Anführer Schumacher, der infolge einer mehr als zehnjährigen Haft unter Hitler gesundheitlich beeinträchtigt war, kam zu dem Schluss, dass seine Partei nie eine Nachkriegswahl gewinnen würde, solange sie sich nicht als national positionierte. Deshalb wandte er sich gegen Adenauers Strategie einer Erneuerung durch Unterwerfung: »Als ein Volk müssen wir deutsche Politik machen, das heißt eine Politik, die nicht von einem fremden Willen bestimmt wird, sondern das Produkt des Willens unseres Volkes ist.«42 Eine Art von Populismus, wurde dies Schumachers beharrliche Forderung. Doch so verständlich sie auch im Hinblick auf die Geschichte der SPD sein mochte – sie war inkompatibel mit der bedingungslosen Kapitulation oder mit Europas Erfahrungen mit Deutschland unter Hitler.

Adenauer teilte die demokratischen Prinzipien der SPD, es gab aber auch einen strategischen Grund für seine Umarmung der Demokratie. Er war entschlossen, aus der Unterwerfung eine Tugend zu machen. Er verstand, dass eine zeitweilige Ungleichheit der Bedingungen die Vorbedingung für eine spätere Gleichheit des Status war. Während der Parlamentsdebatten im November 1949 betonte er dies mit dem (für ihn höchst ungewöhnlich) lauten Zwischenruf: »Wer, glauben Sie, hat den Krieg verloren?«43 Unterwerfung war der einzige Weg nach vorn: »Die Alliierten haben mir erklärt, dass die Demontage von Fabriken erst beendet werde, wenn ich den alliierten Wunsch nach Sicherheit befriedige«, verkündete er, bevor er trocken fragte: »Möchte die SPD, dass die Demontage bis zum bitteren Ende weitergeht?«44

Ein weiteres wichtiges Ziel Adenauers war die Aussöhnung mit Frankreich. Adenauer hatte Robert Schuman, der damals Außenminister Frankreichs war, 1948 kennengelernt. Zu der Zeit zielte die französische Politik darauf, die deutsche Industrieproduktion zu blockieren und das Saargebiet unter französische Kontrolle zu bringen. Adenauer definierte die Situation neu: Es ging letztlich nicht um eine strategische oder finanzielle Problematik, sondern um eine politische und ethische. Im Juli 1949, noch bevor er Kanzler wurde, führte er dieses Thema in einem Brief an Schuman näher aus: