Station Eleven - Emily St. John Mandel - E-Book
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Emily St. John Mandel

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Beschreibung

Die Welt ist aus den Fugen  »Die Grippe war damals wie eine Neutronenbombe auf der Erde explodiert, und es folgte eine Schockwelle – die ersten unsäglichen Jahre, als alle sich auf Wanderschaft begaben, bis den Leuten klar wurde, dass es keinen Ort auf der Welt gab, an dem das Leben so weiterging wie zuvor …« Zwanzig Jahre nach dem Kollaps der Zivilisation zieht Kirsten mit einer Schauspieltruppe durch die Landschaften einer verwüsteten Welt. Sie geben Shakespeare-Stücke in den Siedlungen, die seither entstanden sind. Ein Neuanfang scheint endlich möglich. Doch in St. Deborah by the Water, an den Ufern des Lake Michigan, erhebt sich eine ungeahnte Gefahr. Ein gewaltbereiter Prophet bedroht die sprießenden Hoffnungen der Überlebenden auf eine sichere Welt.

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Station Eleven

Die Autorin

EMILY ST. JOHN MANDEL wurde in Kanada geboren und studierte Tanz in Toronto. Mit Station Eleven war sie für den National Book Award nominiert und feierte einen weltweiten Publikums- und Presseerfolg. Auch ihr aktueller Roman Das Glashotelwurde begeistert aufgenommen und und stand auf zahlreichen Jahres-Bestenlisten und der The New York Times-Bestseller-Liste. St. John Mandel lebt mit Ehemann und Tochter in New York. 

Das Buch

»Die Grippe war damals wie eine Neutronenbombe auf der Erde explodiert, und es folgte eine Schockwelle – die ersten unsäglichen Jahre, als alle sich auf Wanderschaft begaben, bis den Leuten klar wurde, dass es keinen Ort auf der Welt gab, an dem das Leben so weiterging wie zuvor …«

Zwanzig Jahre nach dem Kollaps der Zivilisation zieht Kirsten mit einer Schauspieltruppe durch die Landschaften einer verwüsteten Welt. Sie geben Shakespeare-Stücke in den Siedlungen, die seither entstanden sind. Ein Neuanfang scheint endlich möglich. Doch in St. Deborah by the Water, an den Ufern des Lake Michigan, erhebt sich eine ungeahnte Gefahr. Ein gewaltbereiter Prophet bedroht die sprießenden Hoffnungen der Überlebenden auf eine sichere Welt.

Emily St. John Mandel

Station Eleven

Das Licht der letzten Tage

Aus dem Englischen von Wibke Kuhn

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de

Diese Ausgabe ist textidentisch mit der 2015 im Piper Verlag unter dem Titel Das Licht der letzten Tage erschienenen Übersetzung von Station Eleven.

Neuausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage Februar 2022Alle Rechte an der deutschen Übersetzung von Wibke Kuhn © Piper Verlag, München© für die deutsche AusgabeUllstein Buchverlage GmbH, Berlin 2022© Emily St. John Mandel 2014Titel der amerikanischen Originalausgabe:Station Eleven, Alfred A. Knopf, a division ofRandom House LLC, New York,a Penguin Random House companyUmschlaggestaltung: zero-media.net, MünchenTitelabbildung: © 2021 WarnerMedia Direct, LLC. All Rights Reserved.HBO Max™ is used under license.Autorinnenfoto: © Sarah ShatzE-Book-Konvertierung powered by Pepyrus

ISBN 978-3-8437-2757-0

Emojis werden bereitgestellt von openmoji.org unter der Lizenz CC BY-SA 4.0.

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Inhalt

Titelei

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

Teil 1

1

2

3

4

5

6

Teil 2

7

8

9

10

11

12

Teil 3

13

14

15

16

17

18

Teil 4

19

20

21

22

23

24

25

26

Teil 5

27

28

29

30

31

32

33

34

35

36

37

Teil 6

38

39

40

41

Teil 7

42

43

44

45

46

47

Teil 8

48

49

50

51

52

Teil 9

53

54

55

Anhang

Anmerkungen

Danksagung

Anmerkungen der Übersetzerin

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Teil 1

Widmung

Zur Erinnerung an Emilie Jacobson

Teil 1

Das Theater

1

Der König stand schwankend in einer Lache aus blauem Licht. Es war der 4. Akt von König Lear, an einem Winterabend im Elgin Theatre in Toronto. Zuvor, während das Publikum in den Saal kam und seine Plätze einnahm, hatten drei Mädchen auf der Bühne ein Klatsch-Spiel gespielt, kindliche Versionen von Lears Töchtern, und jetzt kehrten sie in der Wahnsinnsszene als Halluzinationen zurück. Der König stolperte umher und versuchte sie festzuhalten, während sie in den Schatten hierhin und dorthin huschten. Er hieß Arthur Leander. Er war einundfünfzig und trug Blumen im Haar.

»Kennst du mich wohl?«, fragte der Schauspieler, der den Gloucester spielte.

»Ich erinnere mich deiner Augen recht gut«, sagte Arthur, abgelenkt von der kindlichen Version der Cordelia, und genau in diesem Moment geschah es. Auf einmal veränderte sich sein Gesichtsausdruck, er stolperte, er wollte Halt an einer Säule suchen, verschätzte sich aber im Abstand und schlug sich schmerzhaft die Hand an.

»Vom Gürtel nieder sind’s Centauren«, sagte er. Ganz abgesehen davon, dass es die falsche Zeile war, brachte er sie auch noch seltsam gepresst vor, mit kaum hörbarer Stimme. Er drückte sich die Hand an die Brust wie einen verletzten Vogel. Der Schauspieler, der den Edgar spielte, beobachtete ihn scharf. In diesem Moment bestand immer die Möglichkeit, dass Arthur schauspielerte, aber in der ersten Reihe hinter dem Orchester stand gerade ein Mann auf, der eine Sanitäterausbildung hatte. Seine Freundin zog ihn am Ärmel und zischte: »Jeevan! Was machst du denn?« Jeevan wusste es selbst nicht so recht, und aus den Reihen hinter ihm raunte man ihm zu, er möge sich doch wieder hinsetzen. Ein Platzanweiser steuerte auf ihn zu. Auf der Bühne begann Schnee zu fallen.

»Der Zeisig tut’s«, flüsterte Arthur, und Jeevan, der das Stück sehr gut kannte, wusste, dass der Schauspieler gerade zwölf Zeilen im Text zurückgerutscht war. »Der Zeisig …«

»Sir«, sagte der Platzanweiser, »würden Sie bitte …«

Doch Arthur Leanders Zeit lief ab. Er schwankte, sein Blick war ins Unbestimmte gerichtet, und Jeevan war klar, dass der Schauspieler jetzt nicht mehr König Lear war. Er schob den Platzanweiser beiseite und rannte zu den Stufen, die auf die Bühne führten, aber da kam schon ein zweiter Platzanweiser den Gang entlanggerannt, sodass Jeevan sich gezwungen sah, sich ohne die Hilfe einer Treppe einfach auf die Bühne zu hangeln. Sie war höher, als er gedacht hatte, und er musste den ersten Platzanweiser, der ihn am Ärmel gepackt hatte, mit dem Fuß wegstoßen. Der Schnee war aus Plastik, wie Jeevan unbewusst zur Kenntnis nahm, zahllose kleine Stückchen aus durchscheinendem Plastik, die an seiner Jacke hängen blieben und auf seiner Haut scheuerten. Edgar und Gloucester wurden einen Augenblick von dem Getöse abgelenkt. Keiner schaute zu Arthur, der sich mittlerweile mit leerem Blick gegen die Sperrholzsäule lehnte.

Man hörte Rufe aus dem Backstagebereich, zwei Schatten kamen herangeeilt, doch Jeevan hatte Arthur jetzt erreicht, fing den Schauspieler auf, als er ohnmächtig wurde, und ließ ihn behutsam auf den Boden gleiten. Rundherum segelten die Schneeflocken jetzt immer dichter herab, sie schimmerten im bläulich weißen Licht. Arthur atmete nicht mehr. Die zwei Schatten – Security-Mitarbeiter – waren in ein paar Schritt Abstand stehen geblieben und kapierten wohl langsam, dass Jeevan kein geistesgestörter Zuschauer war. Im Publikum wildes Stimmengewirr, blitzende Handykameras, unverständliche Ausrufe im Dunkel.

»Lieber Gott«, sagte Edgar. »Du lieber Gott.« Er hatte den britischen Akzent, dessen er sich vorher bedient hatte, völlig fallen gelassen und klang jetzt so, als käme er aus dem tiefsten Alabama. Was ja auch der Wahrheit entsprach. Gloucester hatte die Mullbinde weggezogen, die sein halbes Gesicht verbarg – zu diesem Zeitpunkt hatte man seiner Figur bereits die Augen ausgestochen –, und stand da wie angewurzelt. Sein Mund öffnete und schloss sich wie bei einem Fisch.

Arthurs Herz schlug nicht. Jeevan begann mit Herzmassage und Mund-zu-Mund-Beatmung. Irgendjemand rief einen Befehl, und der Vorhang fiel, ein wisch! aus Stoff und Schatten, das das Publikum aus der Gleichung nahm und der Bühne die Hälfte ihres Glanzes raubte. Die Security-Leute hatten sich zurückgezogen. Die Beleuchtung veränderte sich, das Blau und Weiß des Schneesturms wurde von einem grell fluoreszierenden Licht ersetzt, das sich im Vergleich fast gelb ausnahm. Jeevan arbeitete schweigend in diesem Margarinelicht, wobei er ab und zu einen Blick auf Arthurs Gesicht warf. Bitte, dachte er, bitte. Arthurs Augen waren geschlossen. Der Vorhang bewegte sich, irgendjemand schlug von außen dagegen und suchte nach einem Durchlass. Dann kniete auf einmal ein älterer Herr im grauen Anzug neben Arthur.

»Ich bin Kardiologe«, sagte er. »Walter Jacobi.« Seine Augen wurden durch seine Brillengläser vergrößert, und auf seinem Schädel stand das Haar in schütteren Büscheln.

»Jeevan Chaudhary«, sagte Jeevan. Er hätte nicht sagen können, wie lange er schon hier war. Ringsum liefen Menschen hin und her, aber außer Arthur kamen sie ihm alle weit entfernt und unscharf vor, und jetzt hatte sich auch noch dieser Mann dazugesellt. Es fühlte sich an, als wären sie im Auge eines Orkans, dachte Jeevan, er und Walter und Arthur, zu dritt in dieser absoluten Stille. Walter berührte kurz die Stirn des Schauspielers, ganz sanft wie eine Mutter, die ihr fieberndes Kind beruhigen will.

»Man hat schon einen Krankenwagen gerufen«, sagte Walter.

Der heruntergelassene Vorhang verlieh der Bühne etwas unerwartet Intimes. Jeevan musste an die Zeit denken, als er Arthur in Los Angeles interviewt hatte – das war mittlerweile schon Jahre her –, während seiner kurzen Karriere als Kulturjournalist. Er musste an seine Freundin Laura denken und überlegte, ob sie wohl noch auf ihrem Platz in der ersten Reihe saß oder vielleicht ins Foyer gegangen war. Und dabei dachte er, bitte, fang wieder an zu atmen, bitte. Er dachte sich, dass der heruntergelassene Vorhang die vierte Seite abschloss und die Bühne in einen Raum verwandelte, wenn auch einen Raum mit einem Hohlraum als Decke und meilenweitem Gewirr aus Stegen für das Personal und Scheinwerfern, zwischen denen eine Seele unbemerkt davongleiten konnte. Was für ein lächerlicher Gedanke, sagte sich Jeevan. Sei nicht blöd. Aber jetzt spürte er auf einmal so ein Prickeln im Nacken, als würde er von oben beobachtet.

»Soll ich Sie ablösen?«, bot Walter an. Jeevan begriff, dass der Kardiologe sich nutzlos fühlte, also nickte er und nahm die Hände von Arthurs Brustkorb, woraufhin Walter im gleichen Rhythmus weitermachte.

Kein richtiger Raum, dachte Jeevan, während er sich auf der Bühne umschaute. Es war alles zu flüchtig, diese ganzen Gänge und dunklen Räume zwischen den Seitenbühnen, die fehlende Decke. Es war eher wie ein Terminal, dachte er, ein Bahnhof oder ein Flughafen, ein Ort, durch den jeder nur kurz hindurchgeht. Inzwischen war der Krankenwagen gekommen, zwei Ärzte näherten sich durch den absurd still fallenden Schnee, und dann kauerten sie auch schon über dem Schauspieler wie Krähen. Ein Mann und eine Frau in dunkler Uniform, die Jeevan beiseitedrängten. Die Frau war so jung, dass sie sogar noch unter zwanzig hätte sein können. Jeevan stand auf und trat zurück. Die Säule, an der Arthur zusammengesackt war, fühlte sich unter seinen Fingerspitzen glatt und blank poliert an. Holz, das so bemalt worden war, dass es wie Stein wirkte.

Überall Bühnenhelfer, Schauspieler, namenlose Funktionäre mit Klemmbrettern. »Verdammt noch mal«, hörte Jeevan jemand sagen. »Kann nicht endlich mal jemand diesen blöden Schnee abstellen?« Regan und Cordelia standen weinend am Vorhang und hielten sich an den Händen, Edgar saß im Schneidersitz auf dem Boden und hielt sich die Hand vor den Mund. Goneril sprach leise in ihr Handy. Die falschen Wimpern warfen Schatten über ihre Augen.

Niemand schaute Jeevan an, und ihm dämmerte, dass seine Rolle in diesem Stück beendet war. Die Ärzte schienen keinen Erfolg zu haben. Er wollte Laura suchen. Wahrscheinlich stand sie ganz aufgelöst in der Lobby und wartete auf ihn. Vielleicht – es war nur eine entfernte Überlegung, aber doch eine Überlegung – fand sie sein Einschreiten ja bewundernswert.

Irgendjemand gelang es schließlich, den Schnee abzustellen, es segelten nur noch ein paar letzte durchscheinende Plastikflocken herab. Jeevan sah sich um, um den einfachsten Weg von der Bühne zu finden, da hörte er ein Wimmern und sah ein Kind, das er vorher gar nicht bemerkt hatte, eine kleine Schauspielerin, die links von ihm neben der nächsten Sperrholzsäule kniete. Jeevan hatte das Stück schon viermal gesehen, aber noch nie mit Kindern, und er fand dieses Detail der Inszenierung sehr innovativ. Das Mädchen war sieben oder acht. In regelmäßigen Abständen wischte sie sich die Augen mit einer Bewegung ab, die Make-up-Streifen auf ihrem Gesicht und ihrem Handrücken hinterließ.

»Vorsicht«, sagte einer der Notärzte, und der andere trat zurück, während der erste dem Mann einen Elektroschock verpasste.

»Hallo«, sagte Jeevan zu dem Mädchen. Er kniete sich vor sie. Warum war niemand gekommen, um sie hier wegzuholen? Sie beobachtete die Ärzte. Er war nicht sicher, wie er mit ihr reden sollte, denn er hatte keinerlei Erfahrung mit Kindern, obwohl er schon immer gedacht hatte, dass er selbst einmal zwei haben wollte.

»Vorsicht«, sagte der Notarzt wieder.

»Das solltest du dir jetzt aber nicht mit anschauen«, meinte Jeevan.

»Er wird sterben, stimmt’s?« Ihr Atem kam in kleinen Schluchzern.

»Ich weiß nicht.« Er wollte ihr etwas Beruhigendes sagen, aber er musste selbst zugeben, dass das alles nicht gut aussah. Arthur lag reglos auf der Bühne, auch nach dem zweiten Elektroschock. Walter fasste sein Handgelenk und starrte finster in die Ferne, während er auf einen Puls wartete. »Wie heißt du?«

»Kirsten«, sagte das Mädchen. »Ich bin Kirsten Raymonde.« Das Bühnen-Make-up wirkte befremdend an dem kleinen Mädchen.

»Kirsten«, sagte Jeevan. »Wo ist denn deine Mutter?«

»Die holt mich erst um elf.«

»Vergiss es«, sagte ein Notarzt.

»Und wer kümmert sich um dich, wenn du hier bist?«

»Tanya, die Tierpflegerin.« Das Mädchen starrte immer noch auf Arthur. Jeevan stellte sich vor sie, um ihr die Sicht zu verstellen.

»Einundzwanzig Uhr vierzehn«, sagte Walter Jacobi.

»Die Tierpflegerin?«, wiederholte Jeevan.

»So nennen die anderen sie alle«, sagte sie. »Sie kümmert sich um mich, wenn ich hier bin.« Ein Mann im Anzug war auf der rechten Seite der Bühne erschienen und redete jetzt eindringlich auf die Notärzte ein, die Arthur auf einer Bahre festschnallten. Einer von ihnen zuckte mit den Schultern und zog die Decke herunter, um eine Sauerstoffmaske auf Arthurs Gesicht zu befestigen. Jeevan war klar, dass diese Scharade für Arthurs Familie bestimmt war, damit sie nicht aus den Abendnachrichten von seinem Tod erfuhren. Die feinfühlige Geste berührte ihn.

Jeevan stand auf und streckte dem schniefenden Kind die Hand hin. »Komm«, sagte er. »Wir gehen Tanya suchen. Sie sucht dich wahrscheinlich auch schon.«

Das stand zu bezweifeln. Wenn Tanya sie gesucht hätte, dann hätte sie sie inzwischen bestimmt gefunden. Er führte das kleine Mädchen zum seitlichen Bühnenrand, aber der Mann im Anzug war schon wieder verschwunden. Der Backstagebereich war chaotisch, nichts als Lärm und Gerenne, irgendjemand rief, dass die anderen Platz machen sollten für Arthurs Prozession. Walter ging neben der Bahre. Die Prozession verschwand über den Korridor durch die Bühnenausgänge, und im Kielwasser des Zuges schwoll die Unruhe noch weiter an, die Leute weinten oder sprachen in ihre Handys oder standen in kleinen Gruppen zusammen, um sich die Geschichte immer noch einmal zu erzählen: »Dann hab ich rübergeschaut, und er fiel einfach …«, oder um Anweisungen zu bellen oder die Anweisungen anderer Leute zu ignorieren.

»Die ganzen Leute hier«, sagte Jeevan. Er hatte nicht viel für Menschenmengen übrig. »Kannst du Tanya irgendwo sehen?«

»Nein. Ich seh sie nirgends.«

»Tja«, meinte Jeevan. »Dann sollten wir vielleicht an einem Ort bleiben und warten, bis sie uns findet.« Er erinnerte sich, dass er diesen Hinweis einmal in einer Broschüre gelesen hatte, die Tipps gab, wie man sich verhalten sollte, wenn man sich im Wald verlaufen hatte. An der Rückwand standen ein paar vereinzelte Stühle, und er setzte sich. Von seinem Platz aus konnte er die unbearbeitete Rückseite der Sperrholzkulisse sehen. Ein Bühnenarbeiter fegte den Schnee zusammen.

»Wird Arthur wieder gesund?« Kirsten war auf den Stuhl neben ihm geklettert und hatte die Hände in ihr Kleid gekrallt.

»In diesem Moment«, sagte Jeevan, »hat er das getan, was er auf der Welt am meisten geliebt hat.« Diese Feststellung basierte auf einem Interview mit Arthur, das er vor einem Monat im The Globe and Mail gelesen hatte: »Ich hab mein Leben lang darauf gewartet, alt genug zu sein, um Lear spielen zu können, und es gibt nichts, was ich mehr liebe, als auf der Bühne zu stehen, diese Unmittelbarkeit zu fühlen …« – aber rückblickend kamen ihm die Worte seltsam hohl vor. Arthur war in erster Linie Filmschauspieler gewesen, und wer in Hollywood würde sich schon danach sehnen, älter zu werden?

Kirsten war ganz still.

»Damit wollte ich sagen, wenn er als Letztes auf der Bühne stand«, sagte Jeevan, »dann war das Letzte, was er in seinem Leben getan hat, etwas, was ihn glücklich gemacht hat.«

»War das denn das Letzte, was er in seinem Leben getan hat?«

»Ich glaube schon. Tut mir leid.«

Der Schnee war jetzt ein glitzernder Haufen hinter der Kulisse, ein kleiner Berg.

»Es ist auch das, was ich auf der Welt am meisten mag«, sagte Kirsten nach einer Weile.

»Was?«

»Schauspielern«, antwortete sie, und in diesem Moment löste sich eine junge Frau mit sichtbaren Tränenspuren im Gesicht aus der Menge und kam mit ausgestreckten Armen auf sie zu. Sie würdigte Jeevan kaum eines Blickes, als sie Kirsten bei der Hand nahm. Kirsten schaute noch einmal über die Schulter zurück, dann war sie weg.

Jeevan stand auf und ging wieder auf die Bühne hinaus. Niemand hielt ihn zurück. Halb erwartete er, Laura direkt vor der Bühne zu finden, wo sie sich zuletzt gesehen hatten – wie viel Zeit war seitdem wohl vergangen? –, aber als er endlich die Stelle gefunden hatte, an der er die Samtvorhänge teilen konnte, war das Publikum schon weg. Die Platzanweiser fegten zwischen den Sitzreihen und hoben Programmhefte auf oder hie und da einen Schal, den jemand auf der Rückenlehne vergessen hatte. Jeevan ging in die mit prunkvollem rotem Teppich ausgelegte Lobby, wobei er jeden Blickkontakt mit den Platzanweisern vermied. Ein paar einzelne Theaterbesucher standen noch herum, aber Laura war nicht unter ihnen. Er rief sie an, aber sie hatte ihr Telefon vor der Vorstellung ausgemacht und offenbar noch nicht wieder eingeschaltet.

»Laura«, sprach er auf ihre Mailbox. »Ich bin in der Lobby, ich weiß nicht, wo du bist.«

Er ging bis an die Schwelle der Damentoiletten und sprach eine Mitarbeiterin an, aber sie erklärte, es sei niemand mehr da. Nachdem er noch eine Runde in der Lobby gedreht hatte, ging er zur Garderobe, wo sein Mantel als einer der letzten noch an den Haken hing. Lauras blauer Mantel war schon weg.

Schnee fiel auf die Yonge Street. Er irritierte Jeevan, als er das Theater verließ, denn die letzten Reste der durchsichtigen Plastikschneeflocken von der Bühne hingen immer noch an seiner Jacke. Ein halbes Dutzend Paparazzi hatte den Abend vor dem Bühnenausgang verbracht. Arthur war nicht mehr so berühmt wie früher, aber seine Bilder ließen sich immer noch verkaufen, vor allem jetzt, wo er sich im Scheidungskrieg befand mit seiner Model-Schauspielerin-Frau, die ihn mit einem Regisseur betrogen hatte.

Bis vor Kurzem war Jeevan selbst Paparazzo gewesen. Er hatte gehofft, sich unerkannt an seinen Exkollegen vorbeischleichen zu können, aber diese Männer verstanden sich von Berufs wegen darauf, Leute zu bemerken, die sich unerkannt an ihnen vorbeischleichen wollten, deswegen umringten sie ihn im nächsten Moment auch schon.

»Gut siehst du aus«, sagte einer von ihnen. »Schicken Mantel hast du da an.«

Jeevan trug seine Kabanjacke, die nicht unbedingt warm genug war, aber den erwünschten Effekt hatte, ihn äußerlich ein wenig von seinen Exkollegen zu unterscheiden, die zu dicken Daunenjacken und Jeans tendierten. »Wo bist du denn gewesen in letzter Zeit?«

»Hab als Barkeeper gearbeitet«, sagte Jeevan. »Und eine Ausbildung zum Sanitäter gemacht.«

»Bei den Sanis? Echt? Willst du deinen Lebensunterhalt jetzt damit verdienen, Besoffene vom Bürgersteig zu kratzen?«

»Ich möchte eine sinnvolle Tätigkeit ausüben, wenn du das meinst.«

»Ja, schon gut. Hör mal, du warst doch da drinnen, oder nicht? Was ist denn da passiert?« Ein paar Fotografen sprachen in ihre Handys. »Ich sag euch doch, der Mann ist tot«, sagte gerade einer direkt neben Jeevan. »Ja, klar, der Schnee macht das Bild nicht besser, aber wenn ihr euch anschaut, was ich euch grade geschickt habe, sein Gesicht, als sie ihn grade in den Krankenwagen schieben …«

»Ich weiß auch nicht, was passiert ist«, sagte Jeevan. »Sie haben einfach mitten im vierten Akt den Vorhang runtergelassen.« Zum einen wollte er im Moment mit niemand sprechen, außer mit Laura vielleicht, zum andern wollte er eigentlich vor allem mit ihnen nicht sprechen. »Habt ihr gesehen, wie sie ihn in den Krankenwagen verfrachtet haben?«

»Die haben ihn hier durch den Bühnenausgang rausgerollt«, sagte einer der Fotografen. Er rauchte eine Zigarette mit raschen, nervösen Bewegungen. »Ärzte, Krankenwagen, die ganze Show.«

»Wie sah er aus?«

»Soll ich ehrlich sein? Wie eine Leiche, Mann.«

»Es gibt Botox, aber es gibt auch … Botox«, sagte einer.

»Hat jemand eine Erklärung abgegeben?«, fragte Jeevan.

»So ’n Anzugtyp ist rausgekommen und hat kurz mit uns gesprochen. Erschöpfung und Dehydrierung.« Ein paar Fotografen lachten. »Bei den Leuten ist es immer Erschöpfung und Dehydrierung, oder?«

»Könnte ihnen doch einfach mal jemand sagen, oder?«, meinte der Botox-Mann. »Müsste sich einfach mal jemand ein Herz fassen und ein, zwei von diesen Schauspielern beiseitenehmen und ihm sagen: ›Hör mal, Kumpel, sag das mal deinen ganzen Kollegen weiter: Ihr müsst immer schön Flüssigkeit zu euch nehmen und ab und zu auch mal schlafen, okay?‹«

»Ich befürchte, ich hab weniger gesehen als ihr«, sagte Jeevan und tat so, als bekäme er einen wichtigen Anruf. Er ging die Yonge Street hoch, drückte sich sein kaltes Handy ans Ohr und trat eine Straße weiter in einen Eingang, um Lauras Nummer zu wählen. Ihr Telefon war noch immer ausgeschaltet.

Wenn er sich ein Taxi rief, war er in einer halben Stunde zu Hause, aber er war gerade ganz gerne an der frischen Luft, weit weg von anderen Menschen. Der Schnee fiel jetzt dichter. Er fühlte sich auf eine irgendwie schuldige Art extrem lebendig. Das war alles so unfair – sein Herz schlug tadellos und unbeirrbar, während Arthur jetzt irgendwo ganz kalt und still dalag. Er spazierte die Yonge Street in nördliche Richtung weiter, vergrub die Hände tief in den Taschen und spürte die Schneeflocken stechend auf dem Gesicht.

Jeevan wohnte im Viertel Cabbagetown, das nördlich und östlich vom Theater lag. Die Art von Fußweg, die er mit zwanzig gemacht hätte, ohne groß zu überlegen, ein paar Kilometer Stadt, während die roten Straßenbahnen an ihm vorbeifuhren. Aber jetzt war er die Strecke schon lange nicht mehr gegangen. Er war nicht sicher, ob er sie jetzt komplett zu Fuß gehen wollte, aber als er nach rechts auf die Carlton Street einbog, spürte er doch einen gewissen Schwung in sich, und der trug ihn schon mal an der ersten Straßenbahnhaltestelle vorbei.

Er erreichte den Allan Gardens Park, der mehr oder weniger die Hälfte der Strecke markierte, und hier befiel ihn eine unerwartete Freude. Arthur ist gestorben, sagte er sich, du konntest ihn nicht retten, es gibt keinen Grund zum Fröhlichsein. Und doch war er geradezu heiterer Stimmung, denn er hatte sich sein Leben lang gefragt, was für einen Beruf er einmal ausüben sollte, und jetzt war er sicher, absolut sicher, dass er Sanitäter werden wollte. In Momenten, in denen andere einfach nur danebenstanden und gafften, wollte er jemand sein, der vortrat und etwas tat.

Er spürte ein absurdes Verlangen, in den Park zu laufen. Er sah durch den Sturm ganz verändert aus, nichts als Schnee und Schatten, die schwarzen Silhouetten der Bäume, der Unterwasserglanz eines gläsernen Gewächshauses. Als er noch klein war, lag er gerne auf dem Rücken im Garten und schaute nach oben, wie die Schneeflocken auf ihn herunterfielen. Cabbagetown war mittlerweile in einiger Entfernung zu sehen, die vom Schnee gedämpften Lichter der Parliament Street. Sein Handy vibrierte in der Tasche. Er blieb stehen und las eine SMS von Laura: »Ich hatte Kopfweh und bin nach Hause gegangen. Kannst du Milch mitbringen?«

Und in diesem Augenblick verließ ihn sein ganzer Schwung. Er konnte nicht mehr weitergehen. Die Theaterkarten hatten eine romantische Geste sein sollen, ein Lass-uns-mal-wieder-was-Romantisches-tun-weil-wir-bloß-noch-streiten, und sie hatte ihn alleingelassen, hatte ihn einfach stehen lassen, während er auf der Bühne Wiederbelebungsmaßnahmen an einem toten Schauspieler durchführte, und war nach Hause gegangen. Und jetzt wollte sie, dass er Milch mitbrachte. Jetzt, wo er aufgehört hatte zu gehen, wurde Jeevan kalt. Seine Zehen waren ganz taub. Die ganze Magie dieses Sturms hatte ihn verlassen, und die Fröhlichkeit, die er kurz zuvor noch gespürt hatte, verflog. Die Nacht war dunkel und voller Bewegung, der Schnee fiel dicht und lautlos, die Autos, die an der Straße parkten, schwollen zu weich gezeichneten Konturen ihrer selbst. Er hatte Angst davor, was er sagen würde, wenn er zu Laura nach Hause kam. Er überlegte, ob er irgendwo eine Bar suchen sollte, aber er wollte auch mit niemand sprechen, und wenn er genauer überlegte, hatte er noch weniger Lust, betrunken zu sein. Er wollte nur einen Moment allein sein, während er beschloss, wohin er als Nächstes gehen wollte. Er trat in die Stille des Parks.

2

Jetzt waren nur noch wenige Personen im Elgin Theatre. Eine Frau, die in der Garderobe Kostüme wusch, und ein Mann, der neben ihr andere Kostüme bügelte. Eine Schauspielerin – sie hatte die Cordelia gespielt – trank hinter der Bühne Tequila mit dem zweiten Inspizienten. Ein junger Bühnenarbeiter wischte die Bühne und nickte im Takt der Musik, die er auf seinem iPod hörte. In einer Garderobe versuchte die Frau, zu deren Aufgaben die Betreuung von minderjährigen Schauspielern gehörte, das schluchzende kleine Mädchen zu trösten, das auf der Bühne gewesen war, als Arthur starb.

Sechs Übriggebliebene waren zur Bar in der Lobby abgewandert, wo der Barkeeper netterweise noch nicht zugemacht hatte. Der Inspizient war dort, des Weiteren Edgar und Gloucester, ein Visagist, Goneril und ein Produzent, der im Publikum gewesen war. In dem Augenblick, als Jeevan durch die Schneewehen in Allan Gardens stapfte, goss der Barkeeper Goneril einen Whisky ein. Das Gespräch drehte sich gerade darum, wie man es den Angehörigen mitteilen sollte.

»Wer war denn überhaupt seine Familie?« Goneril hockte auf ihrem Barhocker. Ihre Augen waren rot. Ohne Make-up sah sie aus wie eine Murmel, mit der blassesten und makellosesten Haut, die der Barkeeper je gesehen hatte. Jenseits der Bühne wirkte sie viel kleiner und bei Weitem nicht so böse. »Wen hatte er denn?«

»Er hatte einen Sohn«, sagte der Visagist. »Tyler.«

»Wie alt ist der?«

»Sieben oder acht?« Der Visagist wusste genau, wie alt Arthurs Sohn war, wollte aber ungern verraten, dass er die Klatschpresse las. »Ich glaube, er wohnt bei seiner Mutter in Israel, vielleicht in Jerusalem oder Tel Aviv.« Er wusste auch, dass es Jerusalem war.

»Ach ja, stimmt, diese blonde Schauspielerin«, sagte Edgar. »Elizabeth, oder? Eliza? Irgendwas in der Richtung.«

»Exfrau Nummer drei?« Das war der Produzent.

»Ich glaube, die Mutter des Kindes war Exfrau Nummer zwei.«

»Armes Kind«, meinte der Produzent. »Hatte Arthur jemand, der ihm nahestand?«

Die Frage rief unbehagliches Schweigen hervor. Arthur hatte eine Affäre mit der Frau gehabt, die sich um die minderjährigen Schauspieler kümmerte. Jeder der Anwesenden wusste das, außer dem Produzenten, aber keiner wusste, ob es die anderen wussten. Gloucester war derjenige, der den Namen der Frau aussprach.

»Wo ist eigentlich Tanya?«

»Wer ist Tanya?«, fragte der Produzent.

»Eins von den Kindern ist noch nicht abgeholt worden. Ich glaube, Tanya ist in der Kindergarderobe.« Der Inspizient hatte noch nie jemand sterben sehen. Er hatte das ganz dringende Verlangen nach einer Zigarette.

»Tja«, sagte Goneril. »Wer noch? Tanya, der kleine Junge, die ganzen Exfrauen – sonst noch irgendjemand? Geschwister, Eltern?«

»Wer ist Tanya?«, wiederholte der Produzent.

»Von wie vielen Exfrauen ist denn hier die Rede?« Der Barkeeper polierte ein Glas.

»Er hat noch einen Bruder«, sagte der Visagist, »aber ich kann mich nicht mehr an seinen Namen erinnern. Ich weiß bloß noch, dass er mal erwähnt hat, er hätte einen kleinen Bruder.«

»Ich glaube, es waren drei oder vier«, erklärte Goneril zum Thema Exfrauen. »Drei, oder?«

»Drei.« Der Visagist blinzelte seine Tränen weg. »Aber ich bin nicht sicher, ob die letzte Scheidung schon durch war.«

»Arthur war also mit niemand verheiratet zum Zeitpunkt … er war also heute Abend mit niemand verheiratet?« Der Produzent wusste, dass es dämlich klang, aber er wusste nicht, wie er es anders hätte formulieren sollen. Vor ein paar Stunden war Arthur Leander ins Theater spaziert, und es war einfach unbegreiflich, dass er morgen nicht wieder hereinspazieren würde.

»Drei Scheidungen«, sagte Gloucester. »Könnt ihr euch so was vorstellen?« Er hatte sich selbst erst kürzlich scheiden lassen. Er versuchte, sich an die letzten Worte zu erinnern, die Arthur zu ihm gesagt hatte. Irgendetwas über die Personenanordnung im zweiten Akt? Er wünschte, er könnte sich noch erinnern. »Ist jemand informiert worden? Wen sollen wir anrufen?«

»Ich sollte seinen Anwalt anrufen«, meinte der Produzent.

Diese Lösung war unbestreitbar korrekt, aber so deprimierend, dass die Gruppe mehrere Minuten schweigend trank, bevor sich jemand wieder ein Herz fasste und etwas sagte.

»Seinen Anwalt«, sagte der Barkeeper. »O Gott, das muss man sich mal geben. Da stirbst du, und dann rufen die Leute deinen Anwalt an.«

»Wen denn sonst?«, fragte Goneril. »Seinen Agenten? Den Siebenjährigen? Die Exfrauen? Tanya?«

»Ich weiß, ich weiß«, erwiderte der Barkeeper. »Trotzdem, das ist einfach heftig.«

Wieder wurde geschwiegen. Irgendjemand machte eine Bemerkung darüber, wie heftig es schneite, und das stimmte auch, sie konnten es alle durch die Glastüren am Ende der Lobby sehen. Von der Bar gesehen hatte der Schnee fast etwas Abstraktes wie ein Film über schlechtes Wetter in einer verlassenen Straße.

»Tja, dann … auf Arthur«, sagte der Barkeeper.

In der Garderobe für die Kinderschauspieler drückte Tanya Kirsten gerade einen Briefbeschwerer in die Hand. »Hier«, sagte sie, als sie ihn dem Mädchen gab. »Ich versuche jetzt, deine Eltern zu erreichen, und in der Zwischenzeit versuchst du bitte, mit dem Weinen aufzuhören, und schaust einfach diesen hübschen Briefbeschwerer an …« Und Kirsten, die kurz vor ihrem achten Geburtstag stand, starrte ihn atemlos und mit verweinten Augen an und dachte sich, dass er das Schönste, Wunderbarste, Seltsamste war, was ihr jemals jemand geschenkt hatte. Es war ein Glasklumpen, in dem eine Gewitterwolke steckte.

In der Lobby sammelten sich die Leute an der Bar und stießen an. »Auf Arthur«, sagten sie. Sie tranken noch eine Weile, dann gingen sie alle ihrer Wege, hinaus in den Sturm.

Von allen Personen, die in dieser Nacht in der Bar gewesen waren, war der Barkeeper derjenige, der noch am längsten leben sollte. Er starb drei Wochen später auf der Straße, über die er die Stadt verlassen wollte.

3

Jeevan wanderte allein durch den Park. Er ließ sich vom kühlen Licht des Treibhauses anziehen wie von einem Leuchtturm. Die Schneewehen waren mittlerweile knietief, und es bereitete ihm ein kindliches Vergnügen, der Erste zu sein, der Spuren in dieser Schneefläche hinterließ. Als er einen Blick ins Gewächshaus warf, hatte der Anblick dieses Paradieses eine beruhigende Wirkung auf ihn. Tropische Blumen, die durch das beschlagene Glas nur undeutlich zu erkennen waren, Palmwedel, deren Form ihn an einen lange zurückliegenden Urlaub auf Kuba erinnerte. Er beschloss, seinen Bruder zu besuchen. Er wollte Frank so dringend von diesem Abend erzählen, von der Hässlichkeit von Arthurs Tod und der Erkenntnis, dass er den Rest seines Lebens Sanitäter sein wollte. Bis heute Abend war er sich da nie sicher gewesen. Er hatte schon so lange nach einem Beruf gesucht. Er war Barkeeper gewesen, Paparazzo, Unterhaltungsjournalist, dann wieder Paparazzo und dann noch einmal Barkeeper – und das auch bloß innerhalb der letzten zwölf Jahre.

Frank lebte am südlichen Stadtrand in einem Wolkenkratzer mit Glasfassade, von dem man über den See blickte. Jeevan verließ den Park und wartete eine Weile auf dem Gehweg an der Straßenbahnhaltestelle, wobei er auf der Stelle hüpfte, um sich aufzuwärmen. Er stieg in die Straßenbahn, die wie ein Schiff aus der Nacht heranglitt, und während sie zentimeterweise die Carlton Street entlangfuhr, den Weg, den er gekommen war, lehnte er die Stirn ans Fenster. Der Sturm war mittlerweile fast ein Whiteout, und die Bahn fuhr nur noch mit Schrittgeschwindigkeit. Die Hände taten ihm immer noch weh von der Massage an Arthurs widerspenstigem Herzen. Die Traurigkeit, die darin lag, Erinnerungen daran, wie er Arthur vor all den Jahren in Hollywood fotografiert hatte. Er musste an das kleine Mädchen denken, Kirsten Raymonde, mit ihrem Bühnenmake-up, an den Kardiologen, der sich in seinem grauen Anzug auf den Boden kniete, an die Linien in Arthurs Gesicht, seine letzten Worte – »Der Zeisig …« –, und das brachte seine Gedanken auf Vögel, auf Frank mit seinem Fernglas, die wenigen Male, die sie zusammen zum Vogelbeobachten gegangen waren, an Lauras Lieblingssommerkleid, das blaue mit dem wilden Muster aus gelben Papageien, an Laura – was würde aus ihnen werden? Es war immer noch möglich, dass er nachher einfach nach Hause ging oder dass sie jeden Augenblick anrief und sich entschuldigte. Er war jetzt fast wieder an seinem Ausgangspunkt. Das geschlossene, dunkle Theater lag nur noch ein paar Straßen weiter Richtung Süden. Kurz vor der Yonge Street hielt die Straßenbahn, und er sah, dass ein Auto mitten auf den Schienen stand. Drei Leute schoben an, während die Reifen im Schnee durchdrehten. Sein Handy vibrierte wieder in der Tasche, aber diesmal war es nicht Laura.

»Hua«, sagte er. Er betrachtete Hua als seinen besten Freund, obwohl sie sich selten sahen. Sie hatten vor ein paar Jahren zusammen hinter derselben Bar gearbeitet, gleich nach dem Studium, als Hua für seine Aufnahmeprüfung fürs Medizinstudium lernte und Jeevan erfolglos versuchte, sich als Hochzeitsfotograf zu etablieren. Dann folgte Jeevan einem anderen Freund nach Los Angeles, um Schauspieler zu fotografieren, während Hua sein Medizinstudium aufnahm. Inzwischen arbeitete Hua lange Schichten im Toronto General Hospital.

»Hast du die Nachrichten gesehen?« Hua sprach mit außergewöhnlich eindringlichem Ton.

»Heute Abend? Nein, ich hatte Theaterkarten. Übrigens, stell dir vor, was passiert ist: Ich …«

»Warte, hör zu. Bitte sag mir jetzt ganz ehrlich: Kriegst du eine deiner Panikattacken, wenn ich dir jetzt etwas richtig, richtig Schlimmes erzähle?«

»Ich hab schon seit drei Jahren keine Angstattacke mehr gehabt. Mein Arzt meint, dass das nur vorübergehend und stressbedingt war, das weißt du doch.«

»Okay. Hast du von der Georgischen Grippe gehört?«

»Klar«, sagte Jeevan. »Wie du weißt, versuche ich durchaus, die Nachrichten zu verfolgen.« Am Vortag hatte er von einer alarmierenden neuen Grippe in Georgien gelesen. Die Angaben zur Zahl der Todesfälle widersprachen sich, Einzelheiten gab es kaum. Den Namen, der in den Nachrichten verwendet wurde – die Georgische Grippe –, hatte Jeevan entwaffnend hübsch gefunden.

»Ich hab einen Patienten auf der Intensivstation«, sagte Hua. »Ein sechzehnjähriges Mädchen, gestern Abend mit dem Flieger aus Moskau gekommen, hat sich heute Morgen mit Grippesymptomen in der Notaufnahme vorgestellt.« Jeevan bemerkte erst jetzt, wie erschöpft Huas Stimme klang. »Es sieht gar nicht gut für sie aus. Na ja, am Vormittag kamen dann noch zwölf Patienten dazu, mit denselben Symptomen, und wie sich rausstellte, waren sie alle im selben Flieger. Sie haben alle angegeben, dass sie schon auf dem Flug anfingen, sich krank zu fühlen.«

»Verwandte? Freunde der ersten Patientin?«

»Überhaupt keine Verbindung. Sie haben in Moskau einfach nur alle dasselbe Flugzeug bestiegen.«

»Und die Sechzehnjährige …«

»Ich glaube, sie wird nicht durchkommen. Gut, das war also die erste Patientengruppe, die Passagiere aus Moskau. Dann kam am Nachmittag ein neuer Patient. Dieselben Symptome, aber er war nicht auf dem Flieger. Er war nur ein Flughafenangestellter.«

»Ich weiß nicht, was du …«

»Ein Mann, der an den Gates arbeitet«, sagte Hua. »Damit will ich sagen, der einzige Kontakt, den er mit den anderen Patienten hatte, bestand darin, dass er einem von ihnen gesagt hat, wo er sein Hotel-Shuttle findet.«

»Oh«, sagte Jeevan. »Das klingt ja wirklich übel.« Die Straßenbahn stand immer noch hinter dem Auto mit der Panne. »Dann musst du heute Abend wohl Überstunden machen, oder?«

»Kannst du dich noch an die SARS-Epidemie erinnern?«, fragte Hua. »Und unsere Unterhaltung darüber?«

»Ich weiß noch, dass ich dich aus Los Angeles angerufen habe, als ich hörte, dass dein Krankenhaus unter Quarantäne gestellt worden war. Aber ich weiß nicht mehr, was ich damals gesagt habe.«

»Du bist total durchgedreht. Ich musste dich erst mal wieder beruhigen.«

»Okay, daran erinnere ich mich schon. Aber ganz ehrlich, ich muss zu meiner Verteidigung sagen, dass die in den Medien ganz schön …«

»Du hast mich gebeten, dass ich dich anrufen soll, wenn es jemals eine richtige Epidemie geben sollte.«

»Das weiß ich auch noch.«

»Wir haben seit heute Morgen zweihundert Grippepatienten aufgenommen«, sagte Hua. »Hundertsechzig in den letzten drei Stunden. Fünfzehn von ihnen sind schon tot. Die Notaufnahme ist voll mit neuen Fällen. Wir haben Betten auf den Fluren stehen. Das kanadische Gesundheitsministerium wird eine Bekanntmachung herausgeben.« Jetzt wurde Jeevan bewusst, dass es nicht nur Erschöpfung war, die er in Huas Stimme hörte. Hua hatte Angst.

Jeevan zog die Klingel und ging zur hinteren Tür. Er merkte, wie er die anderen Fahrgäste musterte. Die junge Frau mit ihren Lebensmitteleinkäufen, den Mann im feinen Anzug, der auf seinem Handy ein Spiel spielte, das ältere Ehepaar, das sich gedämpft auf Hindi unterhielt. War einer von ihnen wohl vom Flughafen gekommen? Ihm wurde bewusst, wie sie um ihn herum alle atmeten.

»Ich weiß, wie paranoid du manchmal werden kannst«, fuhr Hua fort. »Glaub mir, du wärst der letzte Mensch, den ich anrufen würde, wenn ich denken würde, dass es nichts Schlimmes ist, aber …« Jeevan schlug mit der flachen Hand gegen die Glasscheibe der Tür. Wer hatte die Tür vor ihm angefasst? Der Fahrer warf einen Blick über die Schulter, ließ ihn dann aber doch aussteigen. Jeevan trat in den Sturm hinaus, und die Türen schlossen sich mit einem leise zischenden Geräusch hinter ihm.

»Aber du glaubst nicht, dass es nichts Schlimmes ist.« Jeevan ging an dem liegen gebliebenen Fahrzeug vorbei, dessen Räder sich immer noch im Schnee drehten. Die Yonge Street lag direkt vor ihm.

»Ich bin sicher, dass es schlimm ist. Also, ich muss jetzt wieder zurück an die Arbeit.«

»Hua, hast du schon den ganzen Tag mit diesen Patienten gearbeitet?«

»Mir geht’s gut, Jeevan. Es wird schon gut gehen. Ich muss jetzt aufhören, ich ruf dich später wieder an.«

Jeevan schob das Handy wieder in die Tasche und ging durch den Schnee weiter. Er bog in die Yonge Street ein und ging in südlicher Richtung zum See und dem Hochhaus, in dem sein Bruder wohnte. Geht es dir gut, Hua, mein alter Freund, oder wird es schon gut gehen? Er war zutiefst beunruhigt. Die Lichter des Elgin Theatre waren jetzt direkt vor ihm. Das Innere des Theaters war ganz dunkel, auf den König-Lear-Plakaten war Arthur zu sehen, wie er mit Blumen im Haar und der erschlafften Cordelia auf dem Arm in blaues Licht starrte. Jeevan blieb eine Weile stehen und betrachtete die Plakate. Langsam ging er weiter und dachte über Huas seltsamen Anruf nach. Die Yonge Street war völlig verlassen. Er blieb im Eingangsbereich eines Koffergeschäfts stehen, um wieder zu Atem zu kommen, und beobachtete ein Taxi, das sich im Schneckentempo seinen Weg auf der ungeräumten Straße suchte. Der Schneesturm war in den Scheinwerfern noch deutlicher zu sehen, und dieser Anblick, Schnee vor Lichtern, versetzte ihn einen Moment in den künstlichen Schneesturm auf die Bühne des Elgin Theatre zurück. Er schüttelte den Kopf, um das Bild von Arthurs leerem Blick loszuwerden, und ging dann in benommener Erschöpfung weiter, durch die Schatten und orangefarbenen Lichter unterhalb des Gardiner Expressways zum südlichen Stadtrand von Toronto, wo die Architekten besonders viel Glas verbaut hatten.

Unten auf dem Queens Quay war der Schneesturm noch heftiger, der Wind pfiff ungebremst über den See. Als Jeevan endlich bei dem Hochhaus angekommen war, in dem Frank wohnte, rief Hua nochmals an.

»Ich hab an dich gedacht«, sagte Jeevan. »Ist es wirklich …«

»Hör zu«, sagte Hua. »Du musst die Stadt verlassen.«

»Was? Jetzt, heute Abend? Was ist denn los?«

»Ich weiß es nicht, Jeevan. Das ist die kurze Antwort. Ich weiß nicht, was los ist. Es ist eine Grippe, das ist offensichtlich, aber ich hab so etwas noch nie gesehen. Sie ist so schnell. Sie scheint sich einfach so rasend schnell auszubreiten …«

»Wird es denn schlimmer?«

»Die Notaufnahme ist voll«, sagte Hua. »Und das ist ein Problem, weil mittlerweile die Hälfte des Personals in der Notaufnahme wegen Erkrankung ausgefallen ist.«

»Haben sie sich bei den Patienten angesteckt?«

In der Lobby von Franks Wohnhaus blätterte der Nachtwächter in einer Zeitung. An der Wand hinter ihm hing beleuchtet ein abstraktes Gemälde in Rot und Grau. Der Mann und das Gemälde spiegelten sich in Streifen auf dem blitzblanken Boden.

»Das ist die kürzeste Inkubationszeit, die ich jemals gesehen habe. Ich hab gerade eine Patientin gesehen, eine von unseren Pflegerinnen, die hatte Dienst, als heute Morgen die ersten Patienten reinkamen. Nach ein paar Stunden fühlte sie sich schlecht, ging früh nach Hause, vor zwei Stunden hat ihr Freund sie wieder reingefahren, und jetzt hängt sie am Beatmungsgerät. Wer mit diesem Virus in Berührung gekommen ist, erkrankt innerhalb weniger Stunden.«

»Du glaubst, es wird sich auch außerhalb des Krankenhauses ausbreiten …?« Jeevan musste um einen klaren Kopf ringen.

»Nein. Ich weiß, dass es außerhalb des Krankenhauses ist. Das ist eine richtiggehende Epidemie. Wenn es sich hier schon so ausbreitet, dann breitet es sich auch in der Stadt aus, und so etwas wie das hier habe ich noch nicht gesehen.«

»Du meinst also, ich soll …«

»Ich meine, du solltest jetzt gehen. Beziehungsweise, wenn du nicht gehen kannst, dann solltest du dir zumindest Vorräte zulegen und in deiner Wohnung bleiben. Ich muss jetzt noch mehr Leute anrufen.« Er legte auf. Wenn es jemand anders als Hua gewesen wäre, hätte Jeevan es nicht geglaubt, aber er hatte nie einen Mann gekannt, der mehr Talent zur Untertreibung besaß. Wenn Hua sagte, dass es eine Epidemie gab, dann war der Ausdruck »Epidemie« nicht stark genug. Und in diesem Moment hatte Jeevan plötzlich das todsichere Gefühl, dass dies hier, diese Krankheit, die Hua ihm beschrieben hatte, eine Trennlinie zwischen einem Vorher und einem Nachher bedeuten würde, eine Linie, die durch sein Leben lief.

Jeevan begriff, dass vielleicht gar nicht mehr besonders viel Zeit blieb. Er wandte sich wieder von Franks Wohnhaus ab und ging am dunklen Coffeeshop am Pier und dem winzigen Hafen mit den zugeschneiten Segelbötchen vorbei zum Lebensmittelladen auf der anderen Seite des Hafens. Einen Moment blieb er im Geschäft stehen und blinzelte ins Licht. Nur ein oder zwei andere Kunden schlenderten durch die Gänge. Er hatte das Gefühl, dass er jemand anrufen sollte, aber wen? Hua war sein einziger enger Freund. Seinen Bruder würde er gleich treffen. Seine Eltern waren tot, und er brachte es nicht über sich, jetzt mit Laura zu telefonieren. Er beschloss, zu warten, bis er bei Frank war, er würde die Nachrichten ansehen, sobald er bei ihm war, und dann würde er die Kontaktliste auf seinem Handy durchgehen und sämtliche Bekannten anrufen.

Über dem Tresen für die Fotoannahme hing ein kleiner Fernseher, auf dem Nachrichten mit Newsfeed liefen. Jeevan ging darauf zu. Man sah eine Reporterin vor dem Toronto General Hospital im Schnee, während am Bildschirmrand der Text durchlief. Das Toronto General Hospital sowie zwei andere örtliche Krankenhäuser waren unter Quarantäne gestellt worden. Das kanadische Gesundheitsamt bestätigte einen Ausbruch der Georgischen Grippe. Zu diesem Zeitpunkt wurden noch keine Zahlen genannt, aber es hatte schon Todesfälle gegeben, und man würde die Zuschauer auf dem Laufenden halten. Es wurde angedeutet, dass die offiziellen georgischen und russischen Stellen sich nicht allzu klar über die Ernsthaftigkeit der Krise geäußert hätten. Man bat die Bevölkerung, ruhig zu bleiben.

Jeevans Vorstellungen davon, wie man sich auf Katastrophen vorbereitete, stammten ausschließlich aus Actionfilmen, aber andererseits hatte er eine ganze Menge Actionfilme gesehen. Er begann mit Wasser, stellte den riesigen Einkaufswagen mit so vielen Trägern und Flaschen voll, wie nur hineinpassen wollten. Einen Moment befielen ihn Zweifel, als er mit dem widerspenstig schweren Wagen zur Kasse ging – war das alles eine Überreaktion? –, aber er hatte seine Entscheidung bereits getroffen, es war zu spät, jetzt noch umzukehren. Die Kassiererin zog eine Augenbraue hoch.

»Ich hab mein Auto draußen«, sagte Jeevan. »Ich bring den Wagen gleich wieder zurück.« Die Kassiererin nickte nur müde. Sie war jung, Anfang zwanzig wahrscheinlich, mit dunklen Ponyfransen, die sie sich wiederholt aus dem Gesicht strich. Er schob den unheimlich schweren Wagen hinaus und schlitterte durch den Schnee am Ausgang. Eine Rampe führte in eine parkähnliche Anlage mit Bänken und Blumentöpfen. Der Wagen wurde beim Bergabrollen immer schneller, versank im Tiefschnee und schlitterte seitlich gegen einen Blumentopf.

Es war zwanzig nach elf. Der Supermarkt machte in vierzig Minuten zu. Er stellte sich vor, wie lange es dauern würde, den Wagen in Franks Wohnung zu bringen, ihn auszuladen und dabei die erforderlichen Erklärungen und Beteuerungen zu seiner geistigen Gesundheit abzugeben, um dann zum Einkauf weiterer Vorräte in den Supermarkt zurückzukehren. War es wohl schlimm, wenn er den Wagen einen Moment hier stehen ließ? Auf der Straße war niemand zu sehen. Auf dem Weg zurück in den Laden rief er Hua noch einmal an.

»Und, was passiert jetzt?« Jeevan bewegte sich flink durch den Laden, während Hua mit ihm redete. Noch ein Kasten Wasser – Jeevan dachte sich, dass man nie zu viel Wasser haben konnte – und dann Konservendosen über Konservendosen, Thunfisch und Bohnen und Suppen, auch Pasta, alles, was so aussah, als wäre es eine Weile haltbar. Das Krankenhaus war voller Grippepatienten, und in den anderen Krankenhäusern der Stadt war die Situation dieselbe. Die Notärzte kamen nicht mehr nach. Inzwischen waren siebenunddreißig Patienten gestorben, darunter alle Patienten des Fliegers aus Moskau sowie zwei Schwestern aus der Notaufnahme, die Dienst gehabt hatten, als die ersten Patienten hereinkamen. Jeevan stand jetzt wieder an der Kasse, während die junge Frau seine Dosen und Päckchen über den Scanner zog. Hua berichtete, er habe seine Frau angerufen und ihr aufgetragen, mit den Kindern noch heute Abend die Stadt zu verlassen, aber nicht mit dem Flugzeug. Die heutigen Ereignisse im Elgin Theatre kamen ihm fast so vor, als wären sie aus einem anderen Leben. Die Kassiererin bewegte sich sehr langsam. Jeevan schob ihr eine Kreditkarte hin, und sie besah sie so gründlich, als hätte sie sie nicht erst vor fünf oder zehn Minuten gesehen.

»Nimm Laura und deinen Bruder«, sagte Hua, »und verlass noch heute Nacht die Stadt.«

»Ich kann die Stadt heute Nacht nicht mehr verlassen, nicht mit meinem Bruder. Um diese Uhrzeit kann ich keinen Van mehr mieten, der für Rollstühle geeignet ist.«

Die Antwort war ein ersticktes Geräusch. Hua hustete.

»Bist du krank?« Jeevan schob den Wagen zur Tür.

»Gute Nacht, Jeevan.« Hua beendete das Gespräch, und Jeevan stand allein im Schnee. Er war jetzt wie besessen. Den nächsten Wagen füllte er nur mit Toilettenpapier. Den Wagen danach noch einmal mit Konservendosen, dazu tiefgefrorenes Fleisch und Aspirin, Mülltüten, Putzmittel und Klebeband.

»Ich arbeite für einen Wohltätigkeitsverein«, erklärte er dem Mädchen an der Kasse, als er zum dritten oder vierten Mal bei ihr stand, aber sie achtete gar nicht sonderlich auf ihn. Sie schaute ständig zu dem kleinen Fernseher hoch, der über dem Fotoservice-Tresen hing, während sie seine Einkäufe einscannte wie auf Autopilot. Bei seiner sechsten Runde rief Jeevan Laura an, aber er landete nur auf der Mailbox.

»Laura«, begann er. »Laura.« Er hielt es für besser, persönlich mit ihr zu reden, und es war fast schon elf Uhr fünfzig, er hatte keine Zeit, ihr auf die Mailbox zu sprechen. Er füllte den nächsten Einkaufswagen mit Lebensmitteln, bewegte sich eilig durch diese nach Brot und Blumen duftende Welt, diesen seltsamen Ort, und dachte an Frank in seinem Apartment im zweiundzwanzigsten Stock, ganz oben im Schneesturm, mit seiner Schlaflosigkeit und seinem Buchprojekt, seiner New York Times von gestern und seinem Beethoven. Jeevan wollte ihn unbedingt erreichen. Er beschloss, Laura später noch einmal anzurufen, überlegte es sich dann aber anders und rief die Festnetznummer an, während er an der Kasse stand und jeden Augenkontakt mit der Kassiererin zu meiden versuchte.

»Jeevan, wo bist du?« In Lauras Stimme lag ein Hauch von Vorwurf. Er gab dem Mädchen an der Kasse seine Kreditkarte.

»Hast du die Nachrichten gesehen?«

»Sollte ich?«

»Es ist eine Grippeepidemie ausgebrochen, Laura. Es ist wirklich ernst.«

»Diese Sache aus Russland oder wo das war? Das wusste ich schon.«

»Die ist mittlerweile hier angekommen. Und es ist schlimmer, als alle dachten. Ich hab gerade mit Hua gesprochen. Du musst die Stadt verlassen.« Er blickte noch rechtzeitig auf, um den Blick aufzufangen, mit dem die Kassiererin ihn bedachte.

»Ich muss? Was? Wo bist du gerade, Jeevan?« Er unterschrieb auf dem Beleg und manövrierte den Wagen mühsam Richtung Ausgang, wo die geordnete Ladenwelt endete und das wütende Toben des Schneesturms begann. Es war schwierig, den Wagen mit einer Hand zu steuern. Die fünf Einkaufswagen, die er draußen willkürlich zwischen den Bänken und Blumentöpfen abgestellt hatte, waren schon von einer dünnen Schneeschicht überzogen.

»Mach einfach die Nachrichten an, Laura.«

»Du weißt, dass ich nicht gern Nachrichten schaue, bevor ich schlafen gehe. Hast du gerade eine Panikattacke?«

»Was? Nein. Ich bin auf dem Weg zu meinem Bruder, um zu sehen, ob es ihm gut geht.«

»Warum sollte es ihm nicht gut gehen?«

»Du hörst mir nicht zu. Du hörst mir nie zu.« Jeevan wusste, dass dieser Vorwurf eine Bagatelle war neben einer wahrscheinlichen Grippepandemie, aber er konnte nicht anders. Er schob den Wagen zu den anderen und schoss wieder zurück in den Laden. »Ich kann’s nicht fassen, dass du mich im Theater hast stehen lassen«, sagte er. »Du bist gegangen, während ich versucht habe, mit Mund-zu-Mund-Beatmung und Herzmassage einen toten Schauspieler wiederzubeleben.«

»Jeevan, sag mir bitte, wo du bist.«

»Ich bin in einem Supermarkt.« Es war elf Uhr fünfundfünfzig. In diesem letzten Wagen lagen Luxuswaren: Gemüse, Obst, Netze mit Orangen und Zitronen, Tee, Kaffee, Cracker, Salz, eingeschweißte Kuchen. »Hör zu, Laura, ich will jetzt nicht mit dir streiten. Diese Grippe ist ernst, und schnell ist sie auch.«

»Was ist schnell?«

»Diese Grippe, Laura. Die ist schrecklich schnell. Sie breitet sich so rasch aus. Ich glaube, du solltest die Stadt verlassen.« Im letzten Moment legte er noch einen Strauß Nelken dazu.

»Was? Jeevan …«

»Im einen Moment bist du gesund genug, um ein Flugzeug zu nehmen«, sagte er, »und einen Tag drauf bist du tot. Ich werde bei meinem Bruder bleiben. Ich glaube, du solltest packen und zu deiner Mutter fahren, bevor es alle erfahren und die Straßen völlig verstopft sind.«

»Jeevan, ich mach mir wirklich Sorgen. Das klingt alles total paranoid in meinen Ohren. Es tut mir leid, dass ich dich im Theater hab stehen lassen, ich hatte nur einfach solche Kopfschmerzen, und ich …«

»Bitte schalt die Nachrichten ein«, sagte er. »Oder schau im Internet nach oder sonst was.«

»Jeevan, bitte sag mir, wo du bist, und ich …«

»Mach es einfach, Laura«, sagte er, und dann beendete er das Gespräch, denn er war jetzt zum letzten Mal an der Kasse und hatte keine Zeit mehr, mit Laura zu reden. Er versuchte angestrengt, nicht an Hua zu denken.

»Wir machen jetzt gleich zu«, erklärte die Kassiererin.

»Ich bin jetzt auch durch«, sagte er. »Sie müssen mich für total bekloppt halten.«

»Da hab ich schon Schlimmeres gesehen.« Ihm wurde bewusst, dass er ihr Angst gemacht hatte. Sie hatte Fetzen seiner Telefonate aufgeschnappt, und dazu kamen die beunruhigenden Nachrichten im Fernsehen.

»Na ja, ich versuche nur, vorbereitet zu sein.«

»Worauf?«

»Man weiß nie, wann ein Katastrophenfall eintreten könnte«, sagte Jeevan.

»Sie meinen das da?« Sie deutete auf den Fernseher. »Das wird genauso wie mit SARS«, meinte sie. »Erst haben sie einen Riesenwirbel darum gemacht, und dann war es doch gleich wieder vorbei.« Sie klang allerdings nicht ganz überzeugt.

»Das ist nicht wie SARS. Sie sollten die Stadt verlassen.« Er hatte nur die Wahrheit sagen wollen, ihr vielleicht irgendwie helfen, aber er sah sofort, dass er einen Fehler gemacht hatte. Sie hatte Angst, gleichzeitig hielt sie ihn aber für verrückt. Sie starrte ihn aus ausdruckslosen Augen an, während sie die letzten Artikel scannte, und wenig später stand er auch schon wieder draußen im Schnee, während ein junger Mann mit Ziegenbart von der Obst- und Gemüseabteilung die Türen hinter ihm abschloss. Er stand mit sieben riesigen Einkaufswagen draußen, die er jetzt durch den Schnee zur Wohnung seines Bruders transportieren musste, schweißgebadet und zugleich frierend. Er kam sich dämlich vor und verängstigt und ein bisschen verrückt. Und jeder seiner Gedanken landete am Ende wieder bei Hua.

Es dauerte fast eine Stunde, die Einkaufswagen einen nach dem anderen durch den Schnee und anschließend durch die Lobby zu schieben, sie in den Frachtenaufzug zu bugsieren – für dessen außerplanmäßige Benutzung er den Nachtwächter erst bestechen musste – und sie dann nacheinander bis in den zweiundzwanzigsten Stock zu transportieren. »Ich bin ein Mensch, der gern für den Katastrophenfall gerüstet ist«, erklärte Jeevan.

»Von der Sorte kriegen wir hier nicht viele zu sehen«, meinte der Wachmann.

»Deswegen ist dieses Haus ja auch so gut dafür geeignet«, sagte Jeevan.

»Geeignet wofür?«

»Fürs Überleben.«

»Verstehe«, sagte der Wachmann.

Sechzig Dollar später stand Jeevan allein vor der Wohnungstür seines Bruders, vor der die Einkaufswagen aufgereiht auf dem Flur standen. Vielleicht hätte er vorher anrufen sollen, fiel ihm ein. Es war Donnerstagnacht, ein Uhr, der Flur nichts als geschlossene Türen und Stille.

»Jeevan«, sagte Frank, als er an die Tür kam. »Das ist ja ein unerwartetes Vergnügen.«

»Ich …« Jeevan wusste nicht recht, wie er das alles erklären sollte, also trat er zurück und deutete mit einer matten Geste wortlos auf die Einkaufswagen. Frank manövrierte seinen Rollstuhl durch die Tür und blickte in den Flur.

»Du warst einkaufen, hm?«, sagte Frank.