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Rob Hopkins

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Beschreibung

Dieses Buch wird klimapositiv hergestellt, cradle-to-cradle gedruckt und bleibt plastikfrei unverpackt. LASS UNS DIE WELT VERÄNDERN UND DIE ZUKUNFT NEU DENKEN: MIT MUT UND FANTASIE! Wir leben in einer Welt, die es uns NICHT GERADE EINFACH macht, DER ZUKUNFT VOLLER HOFFNUNG ENTGEGENZUBLICKEN: düstere Nachrichten zu Klimakrise, Artensterben, Ernährungsunsicherheit, dem Zerbrechen von Ökosystemen und radikalen politischen Bewegungen stehen an der Tagesordnung. Vertrauen in der Bevölkerung, dass sich alles zum Besseren wenden kann? Fehlanzeige. Aber warum scheint es eigentlich so schwierig, Lösungen für diese Probleme zu finden? Rob Hopkins gibt uns die Antwort: WEIL WIR VERLERNT HABEN, UNSERE WICHTIGSTE FÄHIGKEIT EINZUSETZEN: UNSERE VORSTELLUNGSKRAFT. Die einfache Frage zu stellen: WAS WÄRE, WENN? Um eine neue Welt zu kreieren, müssen wir sie uns zuerst vorstellen können. Wir müssen unsere Fantasie einsetzen. Und wenn wir das vollbringen, dann sehen wir sie plötzlich ganz klar, entdecken die Kraft unserer Gedanken, die uns zuflüstern, dass wir es – doch noch! – schaffen können. Hast du den Mut, dich darauf einzulassen? WAS, WENN ALLES RICHTIG GUT WIRD? Wie malt sich Rob Hopkins also diese neue, von Erfindungsgeist und Imagination sprühende Zukunft aus? Er sieht SCHULEN, IN DENEN NICHT MEHR WISSEN ABGEFRAGT, SONDERN DIE KREATIVITÄT DER KINDER GEFÖRDERT WIRD. Er sieht GRÜNE, BIODIVERSE STÄDTE, in denen an jeder Ecke Pflanzen und Gemüse in die Höhe sprießen und Verbrennungsmotoren und Straßenlärm ein Ding der Vergangenheit sind. Er sieht KLEINSTRUKTURIERTE, LOKALE UNTERNEHMEN, große SOLIDARITÄT, Unterstützung, ALLGEMEINEN WOHLSTAND. Und er sieht kommunale "Think tanks", Zusammenkünfte von Imaginations-Komitees, in denen alle Bürger*innen mitforschen, debattieren und sich eine bessere Welt für ihre Gemeinde ausmalen. Du denkst, das klingt unrealistisch und schwer umsetzbar? Dann hast du dich getäuscht: Das sind nämlich alles PROJEKTE UND IDEEN, DIE ES BEREITS GIBT. BRING DEINE WELT IN BEWEGUNG – UND STARTE DEN WANDEL! Genau deshalb ist dieses Buch SO UNGLAUBLICH MUTIG - UND SO WICHTIG. Rob Hopkins, MITBEGRÜNDER DER "TRANSITION TOWNS"-BEWEGUNG, zeigt uns, dass es Hoffnung gibt: dass sie da sind, die Lösungen, die genialen Ideen, die innovativen Einfälle. Völlig gebannt begleiten wir ihn und LERNEN MENSCHEN KENNEN, DIE ES GESCHAFFT HABEN, scheinbar unmögliche Gedankenexperimente IN DIE REALITÄT UMZUSETZEN. Klingt riskant? Gut so: Denn ohne Mut, Fantasie und Risikobereitschaft können wir radikale und dringend notwendige Veränderungen auf unserem Planeten nicht umsetzen. Also: Lass uns einen neuen Weg finden, unsere Probleme zu lösen und über unsere Zukunft nachzudenken. Der SCHLÜSSEL DAZU IST UNSERE VORSTELLUNGSKRAFT. Wenn wir unsere KOLLEKTIVE IMAGINATION BELEBEN, NÄHREN UND TRAINIEREN, gibt es nichts, was wir nicht planen, erarbeiten und umsetzen können. Bist du dabei, wenn wir die Welt auf den Kopf stellen? - WIE WIR DIE WELT VERÄNDERN KÖNNEN? MIT VORSTELLUNGSKRAFT! Wenn wir ihr erst freien Lauf lassen, können wir einfach alles schaffen. Also, stellen wir uns die simple, aber alles entscheidende Frage: WAS WÄRE, WENN? - UNSERE ZUKUNFT? ANDERS, KNALLBUNT UND GUT FÜR ALLE: Lies dieses Buch und gewinne den Glauben an eine chancenreiche Zukunft und die Möglichkeit zur Veränderung zurück. - UNGLAUBLICHE GESCHICHTEN, SCHOCKIERENDE FAKTEN, FASZINIERENDE MENSCHEN: Mitreißend erzählt Hopkins von Leuten, die ihre IDEEN VON EINER BESSEREN ZUKUNFT UMSETZEN – und zeigt, dass der Wandel nur eine Kopfreise entfernt ist.

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„Menschen wie Rob Hopkins geben uns den Mut, nach vorne zu blicken. Als leuchtendes Beispiel zeigt er uns, dass wir unsere Hoffnungen zu Recht in eine Zukunft setzen dürfen, in der Männer und Frauen als Hüter*innen ihrer Umwelt handeln können. Die zahlreichen in diesem Buch versammelten Geschichten belegen, dass diese Zukunft für manche Menschen bereits Realität geworden ist.“

—Anne Hidalgo, Bürgermeisterin von Paris

„Ich konnte dieses Buch kaum weglegen, denn immer wieder schossen mir neue Ideen durch den Kopf. Rob Hopkins stellt die Vorstellungskraft wieder in den Mittelpunkt der Zukunftsträume und lädt uns auf charmanteste Weise dazu ein, größer zu träumen und diese Träume in die Realität umzusetzen. Dieses Buch ist für alle, die nach neuen Möglichkeiten suchen.“

—Kate Raworth, Autorin von Die Donut-Ökonomie

„Ich liebe dieses Buch. Es handelt sich um einen außergewöhnlichen, zugleich realitätsnahen Bericht über Menschen auf der ganzen Welt, die mit den Mitteln der Vorstellungskraft neue Gemeinschaften aufbauen und gemeinsam eine erfüllende, kreative und menschenmögliche Zukunft erschaffen. Eine unverzichtbare Lektüre für alle, denen an einer besseren Welt gelegen ist.“

—David C. Korten, Autor von Change the Story, Change the Future und When Corporations Rule the World

Emma, Rowan, Finn, Arlo und Cian gewidmet.

Meinen Eltern, für das kostbare Geschenk einer fantasiereichen Kindheit.

Den Standsted 15, weil unsere Fantasie Held*innen braucht.

 

Und in Erinnerung an Max Hamilton

Wir alle, Erwachsene und Kinder, sind dazu aufgerufen, zu träumen. Wir haben eine Verpflichtung zur Fantasie. Es ist einfach, zu sagen, dass keine Veränderungen möglich seien, dass wir in einer Welt leben, in der die Gesellschaft alles und der Einzelne nichts ist: ein Atom in einer Mauer, ein Reiskorn in einem Reisfeld. Die Wahrheit aber ist, wir als Individuen verändern unsere Welt immer wieder aufs Neue, wir als Individuen bauen die Zukunft und wir tun dies, indem wir uns vorstellen, dass alles anders sein könnte.

—Neil Gaiman

INHALT

EINLEITUNG

Was, wenn sich alles zum Guten wendet?

EINS

Was, wenn wir das Spielen ernst nehmen?

ZWEI

Was, wenn wir die Fantasie als grundlegend für unsere Gesundheit erachten?

DREI

Was, wenn wir dem Beispiel der Natur folgen?

VIER

Was, wenn wir darum kämpfen, unsere Aufmerksamkeit wiederzugewinnen?

FÜNF

Was, wenn die Schule die Vorstellungskraft junger Menschen fördert?

SECHS

Was, wenn wir bessere Geschichtenerzähler*innen werden?

SIEBEN

Was, wenn wir bessere Fragen stellen?

ACHT

Was, wenn unsere Anfüh-rer*innen auf eine Kultur der Fantasie setzen?

NEUN

Was, wenn all dies eintrifft?

Nachwort

Danksagungen

Anmerkungen

Über den Autor

Man könnte sagen, dass menschliche Gesellschaften zwei Grenzen haben. Eine Grenze wird von den Erfordernissen der physischen Welt gezogen und die andere von der kollektiven Fantasie.

—Susan Griffin, „To Love the Marigold“

Gut ausgeruht erwache ich in der Wohnung mit Wänden aus Strohballen, die meine Familie und ich unser Zuhause nennen. Der dreigeschossige Apartmentkomplex, vor fünfzehn Jahren als Teil einer unsere ganze Stadt umfassenden Initiative für nachhaltiges Bauen errichtet, verursacht praktisch keine Heizkosten. Im Kellergeschoss sind Kompostieranlagen für sämtliche Toiletten des Gebäudes untergebracht und die Solarpaneele auf dem Dach erzeugen den gesamten Strombedarf. Ich wecke meine Kinder, ziehe sie an, mache ihnen Frühstück und bringe sie zur Schule – eine Strecke, die uns durch Gemeinschaftsgärten mit einer großen Vielfalt an Obst- und Gemüsesorten führt, darunter auch der junge rote Mangold, dessen weinrote Blätter in der hellen Sonne dieses fortgeschrittenen Frühlingsmorgens wie Buntglas leuchten. Da nur wenig motorisierter Verkehr herrscht, sind die Straßen ruhig; an ihren Rändern stehen frisch erblühte Obst- und Nussbäume. Die Luft riecht nach Frühling. Alle Bushaltestellen, an denen wir vorbeikommen, sind an drei Seiten von einem Garten umgeben. Sie sind Teil des „Essbaren Bushaltestellennetzwerks“, das nun fast in ganz Großbritannien anzutreffen ist. Beim Warten auf den Bus darf man sich nach Herzenslust bedienen.

In unserer Gemeinde haben die Kinder offenbar völlig andere Gefühle für die Schule als noch vor zehn Jahren. Die Entscheidung des Bildungsministeriums, Prüfungen abzuschaffen, dem unstrukturierten Spielen viel Raum zu lassen und den Schüler*innen Möglichkeiten zu bieten, für die Gemeinschaft sinnvolle Fertigkeiten zu erlernen, die es ihnen ermöglichen, ein aus ihrer Sicht glückliches und gesundes Leben zu führen, bedeutet, dass die meisten Kinder hier überaus gerne zur Schule gehen. Mein Sohn zum Beispiel hat erst kürzlich seine Kochkünste aufgebessert, indem er eine Woche in einem hiesigen Restaurant verbracht hat.

Meine Kinder und ich kommen vor der Schule durch biointensive Gemüsegärten, die von den Schüler*innen gepflanzt und gepflegt werden, und wenn wir das Gebäude betreten, werden wir von dem Duft frisch gebackenen Brots und dem Stimmenwirrwarr fröhlicher Unterhaltungen begrüßt. Nachdem wir uns verabschiedet haben, nehme ich ein öffentliches Fahrrad und radle auf einem unserer Radschnellwege in die Stadt. Da auf den Straßen mehr Fahrräder und weniger Autos unterwegs sind, hat sich auch die Qualität der Luft verbessert und mit ihr das allgemeine Wohlbefinden. Ich gehe in meine Lieblingsbäckerei und kaufe Brot. Die Mission der Bäckerei, die vor fünfzehn Jahren unter dem Motto „Backen ist das neue Prozac“ eröffnet hat, besteht darin, Leuten ohne Dach über dem Kopf und ohne regelmäßige Arbeit oder solchen, die Probleme mit ihrer psychischen Gesundheit haben, sinnvolle Arbeitsmöglichkeiten zu bieten.1 Die Bäckerei setzt vorzugsweise auf lokale Erzeugnisse, betreibt einen üppigen Dachgarten und liefert in der ganzen Stadt mit Fahrrädern aus.2 Mit Unterstützung des Betriebs konnten zahlreiche Angestellte weitere erfolgreiche Geschäftsideen im Stadtgebiet umsetzen.

Ich fahre an einem der ehemaligen Supermärkte des Stadtteils vorbei, die meisten Geschäfte dieser Art mussten vor etwa zehn Jahren schließen. Das explosionsartige Wachstum der Nahrungsmittelproduktion in der Gemeinde und die rasche Verlagerung der Gemeindeinvestitionen führte dazu, dass die Versorgung über die Supermärkte zurückging, was das System der Nahrungsmittelindustrie innerhalb weniger Jahre zusammenbrechen ließ. Das Gebäude wurde einem neuen Zweck zugeführt und dient heute verschiedenen lokalen Lebensmittelherstellern, Kleinbetrieben und einem an die örtlichen Schulen angeschlossenen Ausbildungszentrum als Unterkunft. Es ist ein betriebsamer Ort. Unser ehemaliger Supermarkt beherbergt eine Mühle, die Getreide aus dem Umland vermahlt, sowie eine Sägemühle, die Holz aus den nahegelegenen Wäldern verarbeitet. Was einmal großflächige Parkplätze waren, sind heute biointensive Gemüsegärten – angelegt nach dem Vorbild jener Gärtnereien, die vor hundert Jahren Paris umgaben –, die ihre Produkte auf den örtlichen Märkten anbieten.

Ich gehe am Bahnhof vorbei und kaufe Tickets für einen Ausflug am kommenden Wochenende. Als vor zwölf Jahren die Eisenbahn an die öffentliche Hand übergeben wurde, endeten auch die Tage, an denen alle Bahnhöfe gleich aussahen und überall mit den gleichen Cafés, Imbiss- und Ladenketten ausgestattet waren. Heute sind die Bahnhöfe Visitenkarten der örtlichen Wirtschaft, ihrer Pionier*innen, ihrer einzigartigen Aromen und Geschmäcker. In unserem sind mittlerweile doppelt so viele Ladengeschäfte untergebracht als zuvor und alle zusammen spiegeln die kulturelle Vielfalt unserer Gemeinde wider. Der Bahnhof beherbergt sogar eine Brauerei; während man auf den Zug wartet, kann man sich, umgeben von den Braukesseln, ein Bier genehmigen.3 Und ja, die Züge fahren pünktlich. Die vielen Menschen aus aller Welt, die hier in den Zeiten der großen Migration ankamen, sind längst integriert und heute kann man sich diese Gemeinde gar nicht mehr ohne sie vorstellen. Obwohl die Zeiten des Übergangs nicht einfach waren, haben die Kultur, die Bereicherungen und der Unternehmergeist, die sie mit sich gebracht haben, uns alle sehr viel reicher gemacht.

Ich gehe zur Arbeit. Heute arbeite ich im Rahmen meiner Dreitage-Arbeitswoche einen halben Tag. Zusammen mit der Einführung eines universellen Grundeinkommens hat die vor zehn Jahren auf nationaler Ebene übernommene Dreitagewoche dazu geführt, dass in allen Einkommensklassen der Angst- und Stresslevel messbar nachgelassen hat. Die Menschen arbeiten in ihrer Freizeit an Gemeinschaftsprojekten und genießen ihr Leben. Einige meiner Kolleg*innen arbeiten heute außer Haus. Erst kürzlich wurde ein Programm ins Leben gerufen, bei dem zu jeder Zeit 10 Prozent der Beschäftigten einer Firma in die Arbeit der örtlichen Gemeinde eingebunden werden und ihre Fachkenntnisse in Verwaltung und Marketing, bei Finanzplanung und Projektmanagement jenen Organisationen anbieten, die den Einwohner*innen auf verschiedenste Weise Unterstützung zukommen lassen und dem Gemeindeleben zu größerer Stabilität verhelfen.

Ich hole meine Kinder von der Schule ab und wir spazieren durch Straßen nach Hause, in denen zahlreiche Häuser mit ins Auge springenden Fassadenmalereien und Mosaiken versehen sind. Auf der Straße spielen viele Kinder, ein Phänomen, das sich von selbst einstellte, als die Zahl der Autos nachließ, was die Anwohner*innen dazu ermutigte, die Straßen zu bestimmten Zeiten ganz für den Autoverkehr zu sperren, damit die Kinder draußen spielen können. Die Nachbar*innen schauen gemeinsam nach ihnen, was möglich ist, seit die Erwachsenen mehr Zeit zu Hause verbringen können, statt an weit entfernte Arbeitsplätze pendeln zu müssen.

Nach dem Mittagessen gehe ich zu einer Nachbarschaftsversammlung. Vor ein paar Jahren wurde eine Gruppe von Anwohner*innen, die keiner politischen Partei angehörten, als Stadtregierung gewählt. Sie modifizierten das Regierungssystem der Stadt mit dem Ziel, Initiativen auf Nachbarschaftsebene zu ermöglichen und zu fördern und Hindernisse aus dem Weg zu schaffen. Sie schufen sogar ein Stadtbüro für Bürger*innenideen, um die Ideen der örtlichen Gemeinden besser inspirieren und unterstützen zu können und ihnen dabei zu helfen, ihre Vorstellungen zu verwirklichen. Etwa siebzig Leute sind heute auf dem Treffen und wir diskutieren die Zukunft der Energie in unserer Nachbarschaft und einige andere drängende Fragen. Der politische Entscheidungsprozess hat sich enorm verbessert. Dank des 2021 gegründeten und im Besitz der Gemeinde befindlichen Energieunternehmens wird nun ein Großteil der städtischen Energie lokal generiert, wobei die meisten Bürger*innen finanziell an dem Unternehmen beteiligt sind; die Rendite ist bei Weitem höher als bei den Banken.

Zuhause angekommen, treffe ich einige meiner Nachbar*innen, die draußen sitzen und reden. Wir hören eine Eule und bekommen die Fledermäuse mit, die über uns hinweghuschen. Der Schritt, unsere Stadt zu einer Nationalparkstadt zu erklären, bremste den Niedergang der biologischen Vielfalt so weit ab, dass sie sich, da zuvor zersplitterte Wildtierkorridore, Grünflächen und Wälder miteinander verbunden wurden, wieder erholt. Nun fallen mir regelmäßig neue Insekten auf und auch der Vogelgesang ist lauter und vielfältiger geworden. Mit so vielen Bewegungen und Veränderungen und so üppigem Gedeihen um mich herum lege ich mich mit dem Gefühl schlafen, dass die Zukunft voller Möglichkeiten steckt.

Das klingt alles erfunden, oder nicht? Und das ist es, weitgehend.4 Die Geschichte zeigt, wie ich mir die nahe Zukunft vorstelle, es ist eine Geschichte darüber, wie sich die Dinge zum Guten wenden.

Natürlich ist auch dieses ausgemalte Leben nicht perfekt. Die vorgestellte Gesellschaft ist kein Utopia. Es regnet, man zankt sich mit Freund*innen und die Leute haben ihre schlechten Tage. Auch Auswirkungen des Klimawandels sind noch zu spüren. Und meine Vision dürfte sich von der Art, wie du dir ausmalen würdest, dass sich die Dinge zum Guten wenden, ziemlich unterscheiden. Ich habe sie aber an den Anfang gesetzt, weil wir in einer Zeit leben, der es an solchen Geschichten mangelt – Geschichten, die erzählen, wie das Leben aussehen könnte, wenn wir im Laufe der nächsten zwanzig Jahre einen Weg finden, mutig, brillant und entschlossen zu sein, auf die Herausforderungen, mit denen wir konfrontiert sind, angemessen zu reagieren und eine Zukunft anzustreben, in der wir uns tatsächlich wohl fühlen.

Ich glaube, dass wir derartige Geschichten – wie sich die Dinge zum Guten wenden – dringend benötigen, denn wenn es heute eine einhellige Meinung zur Lage der Welt gibt, dann die, dass die Zukunft fürchterlich sein wird. Und dies aus gutem Grund. 2018 legte der Weltklimarat (IPCC) einen Bericht vor, wonach sich die Erde im vergangenen Jahrhundert um 1 Grad Celsius erwärmt hat. Um zu verhindern, dass die Temperatur über 1,5 Grad ansteigt, müssten wir demnach bis 2030 die Emissionen um 45 Prozent und bis 2050 auf null senken.5 Diese Schätzungen sind zudem noch ziemlich konservativ. Andere gehen davon aus, dass selbst noch bei einem angestrebten Anstieg von unter 2 Grad für die „entwickelten“ Nationen, etwa die der EU, ab sofort jährliche Senkungen von 12 Prozent erforderlich wären, was weit über dem von der EU ausgegebenen Ziel von 40 Prozent bis 2030 liegt.6

Je länger unsere Trägheit anhält, desto dringlicher und anspruchsvoller wird diese Aufgabe. Wie Jim Skea, Co-Vorsitzender der IPCC-Arbeitsgruppe III, anlässlich der Vorstellung ihres Berichts feststellte, ist „nach den Gesetzen der Chemie und der Physik eine Begrenzung der Erderwärmung auf 1,5 Grad Celsius möglich; sie einzuhalten aber würde einen noch nie dagewesenen Wandel erfordern“7.

Und natürlich lassen sich die Wirkungen des Klimawandels (und anderer ökologischer Zerstörungen) in Echtzeit beobachten: extreme Wetterereignisse, der Verlust an Biodiversität und ein Ernährungssystem, das Unmengen an Pestiziden und Herbiziden zum Einsatz bringen muss, um der Erde Ernten abzuringen. Zudem fühlen sich immer mehr Menschen in ihrem persönlichen Leben einem wachsenden Druck ausgesetzt. Einsamkeit und Ängste haben ein epidemisches Ausmaß angenommen, wobei Letztere in den vergangenen dreißig Jahren schätzungsweise um das Zwanzigfache zugenommen haben, unter jungen Menschen ist ein krisenhafter Anstieg psychischer Erkrankungen zu verzeichnen, neue extremistische Bewegungen und Regierungen haben Fuß gefasst und vieles mehr.8 Sieht hoffnungslos aus, oder nicht?

Leider ist es offenbar weit einfacher, sich ein dystopisches Szenario vorzustellen als die Möglichkeit, dass wir noch immer die Fähigkeit besitzen, zu handeln, etwas anderes zu schaffen, uns aus den zahlreichen Fallgruben, die wir uns selbst geschaufelt haben, wieder hinauszuziehen. Die Botschaft, „es sei nicht zu schaffen“, ist durchschlagend und weit verbreitet. In den Worten von Susan Griffin:

Bei denen, die nach gesellschaftlichem Wandel streben oder ihn herbeiwünschen, macht sich Verzweiflung breit. Ein Mangel an Hoffnung, der mit vielfältigen Formen der Ohnmacht verbunden ist. Sich wiederholenden Leidensmustern. Aufkeimenden Philosophien der Angst und des Hasses. Ganz zu schweigen von gescheiterten Träumen. Wo es einst Gesellschaften gab, die als Modell einer besseren Zukunft, großer Pläne und Utopien dienten, herrschen heute Argwohn und Unmut gegenüber jeder Form von Politik, ein Ohnmachtsgefühl, das an Nihilismus grenzt.9

Angesichts des Zustands der Welt klingt die Botschaft der Verzweiflung ziemlich überzeugend. Die Aussichten sind finster. Aber etwas daran will mir nicht so richtig gefallen. Es gibt tatsächlich Anzeichen dafür, dass sich die Dinge ändern können, dass sich die kulturellen Gegebenheiten ändern können, und zwar rasch und unerwartet. Und das ist kein naives Rosa-Wölkchen-Denken. In How Did We Do That? The Possibility of Rapid Transition erzählen Andrew Simms und Peter Newell die Geschichte des Eyjafjallajökull-Ausbruchs 2010 in Island. Durch den Ausbruch wurde feiner Staub in den Himmel geschleudert, der sich über Tausende Kilometer ausbreitete und dazu führte, dass fast überall auf der Welt die Flugzeuge auf dem Boden bleiben mussten.10 Was geschah? Die Leute passten sich an. Rapide. Die Supermärkte ersetzten Luftfracht-Ware durch lokale Alternativen. Die Menschen entdeckten andere, langsamere Arten der Fortbewegung, oder sie beschlossen einfach, das Reisen ganz sein zu lassen. Geschäftstreffen wurden online abgehalten. Jens Stoltenberg, damals Premierminister Norwegens, führte seine Regierung von New York aus – mit seinem iPad. Und das ist nicht das einzige Beispiel. Heutzutage reden wir uns vielleicht zu sehr ein, dass nur neun Mahlzeiten zwischen der Menschheit und der Anarchie liegen, aber die Geschichte ist voller Erzählungen über rasche Veränderungen, die zu Einfallsreichtum, einem gedeihlichen Leben, zu neuen Ideen und Zusammengehörigkeit führten.11

Ich habe dies mit meinen eigenen Augen gesehen – dank eines Experiments, das ich mit ein paar Freund*innen vor mehr als zehn Jahren in unserer Heimatstadt Totnes (Devon, England, 8.500 Einwohner*innen) ins Leben gerufen habe. Unsere Idee war einfach: Was, wenn der als Reaktion auf die größten Herausforderungen unserer Zeit so dringend benötigte Wandel nicht von der Regierung und der Geschäftswelt kommen würde, sondern von dir und mir, von kollaborativen Gruppen? Was, wenn die Antworten nicht in der trostlosen Einsamkeit des Überlebenskampfes und der Isolation liegen würden, in den Zwängen einer skrupellosen Kommerzialisierung oder in dem Traum, dass uns ein wählbarer Retter hoch zu Ross zu Hilfe eilt, sondern in der Rückbesinnung auf die Gemeinschaft? Wir formulierten es damals so: Wenn wir auf die Regierung warten, dann ist es zu spät. Wenn wir als Einzelne handeln, dann ist es zu wenig. Wenn wir aber als Gemeinschaft handeln, wird es vielleicht reichen und geschieht gerade noch rechtzeitig.

Als wir diese Idee unter unseren Freund*innen und im weiteren Bekanntenkreis in Umlauf brachten, kam der Begriff der „Transition“, des Übergangs auf. Damit beschrieben wir die bewusste Entscheidung, von einem hohen Rohstoffverbrauch, hohen Kohlenstoffdioxid-Emissionen, Ressourcenabbau und zersplitterten Gemeinschaften zu Gemeinschaften mit einer gesünderen Kultur, einer robusten und breit aufgefächerten lokalen Wirtschaft, mehr Verbundenheit und weniger Einsamkeit, mehr Biodiversität und mehr Zeit, mehr Demokratie und Schönheit überzugehen.12

Als „Transition Town Totnes“ fingen wir an, diese „Was-wenn“-Fragen zu stellen und plötzlich regte sich etwas in unserer Stadt. Anwohner*innen pflanzten Obst- und Nussbäume auf öffentlichen Plätzen, bauten am Bahnhof Essbares an und stellten den Kontakt zwischen Nachbar*innen her, die Gemüsegärten anlegen wollten, und solchen, die ungenutzte Gartenflächen besaßen. Wir sammelten Geld, mit dem wir eine Mühle kauften – die erste neue Mühle in Totnes seit mehr als hundert Jahren –, um Getreide und Hülsenfrüchte aus der Umgebung zu verschiedenen Mehlen zu verarbeiten, und wir veranstalteten ein jährliches Erzeuger*innen-Festival, um lokale Produkte der Stadt und ihrer nächsten Umgebung zu feiern. Während ich dies schreibe, ist Transition Homes dabei, unter Verwendung lokaler Baustoffe 27 Häuser für Menschen in Not zu bauen. Caring Town Totnes hat ein Netzwerk für Pflegedienste entwickelt, mit dem diese ihre Zusammenarbeit besser koordinieren können. Und während der ganzen Zeit haben wir Gemeinde-Gesprächsrunden abgehalten, in denen die Menschen miteinander Ideen für die Zukunft, die sie sich wünschen, entwickeln und diskutieren können.

2013 erstellten wir mit unserem Local Economic Blueprint eine Bestandsaufnahme der örtlichen Wirtschaft und erörterten die finanziellen Aspekte einer mehr auf die örtlichen Bedürfnisse zugeschnittenen Wirtschaftsentwicklung.13 Unser jährliches Local Entrepreneur Forum ist eine Einladung an unsere Gemeindemitglieder, neue Geschäftsideen zu unterstützen, und hat mittlerweile mehr als dreißig Unternehmen Starthilfe geleistet.14 Vor Kurzem habe ich mit Freund*innen eine gemeindeeigene Craft-Beer-Brauerei gegründet, die New Lion Brewery, die aus einer Reihe lokaler Zutaten und oft in Zusammenarbeit mit anderen neu entstehenden sozialen Unternehmen köstliche Biere herstellt.15 Und gleich am Anfang hat die Transition Town Totnes das Totnes Pound, eine lokale Währung, ausgegeben, die an vielen Orten auf der ganzen Welt zu weiteren lokalen Währungen inspiriert hat. Wenn wir gefragt wurden, „Warum habt ihr eine 21-Pfund-Note?“, fragten wir: „Warum nicht?“

Etwa um die gleiche Zeit, in der wir systematisch die lokale Ökonomie erfassten, hat Transition Streets ungefähr 550 Haushalte in Gruppen von sechs bis zehn benachbarten Einheiten zusammengebracht. Die Gruppen haben sich sieben Mal getroffen, um Fragen rund um den Wasser-, Lebensmittel- und Energieverbrauch zu besprechen, und sich dabei bis zum nächsten Treffen auf Maßnahmen verständigt, die das Abfallaufkommen reduzieren, die Kosten senken und die Gemeinschaft insgesamt resilienter machen sollten. Am Schluss hatten die einzelnen Haushalte ihre Kohlenstoffemissionen jeweils um durchschnittlich 1,3 Tonnen gesenkt und jährlich 600 Pfund (ca. 680 Euro) eingespart.16

Das Faszinierende an Transition Streets war jedoch, dass auf die Frage der Organisator*innen, welche Aspekte der Teilnahme am meisten bewirkt hätten, niemand den Kohlenstoff erwähnte. Oder das Geld. Sie berichteten, dass sie sich als Teil der Gemeinschaft fühlten, sie hatten das Gefühl, dazuzugehören, hatten mehr Leute kennengelernt, fühlten sich eingebunden. Darin waren sich alle einig. Wichtiger als die eigentlichen Projekte war das Gefühl der Verbundenheit, Teil von etwas zu sein, das Bewusstsein, dass etwas in Bewegung geriet, gemeinsam eine neue Vorstellung der Zukunft erarbeitet wurde. Unsere Bemühungen, so wurde deutlich, haben zumindest teilweise dazu geführt, dass unsere Stadt eine andere Geschichte über sich selbst zu erzählen begann. Und im Zuge dessen veränderte sich kollektiv auch unser Sinn für das, was alles möglich ist. Wir entdeckten, dass wir, wenn nur genug Leute zusammenkamen, aus der kollektiven Erfahrung so vieler Menschen, die bestrebt waren, in unserer Gemeinde die Dinge zum Guten oder sogar zum Besseren zu wenden, eine ganz neue Geschichte schmieden konnten.

Das Schöne an diesem „Übergang“, an der Transition, ist auch, dass es sich um ein Experiment handelt. Ich weiß nicht, wie es geht. Und du weißt es auch nicht. In Totnes haben wir einfach versucht, etwas anzustoßen, das einen kreativen Geist freisetzt, einen neuen Sinn für das Mögliche, ein frisches und hoffnungsvolles Denken über die Zukunft und ohne den Gedanken, dass es sich in alle Welt verbreiten könnte. Aber genau das ist geschehen. Bereits 2007 wurden die ersten Transition-Gruppen in Gemeinden in den Vereinigten Staaten, Italien, Frankreich, Japan, Holland und Brasilien gegründet. Die Transition-Bewegung gibt es mittlerweile in 50 Ländern und in Tausenden von Gemeinden. Hervorgegangen aus dem Geist und der Kultur ihres Orts, ist jede Gruppe anders. Es ist ein Prozess, der von Anfang an die Menschen in ihrer Kreativität und ihrer Fantasie ermuntert und unterstützt hat. Und er hat mein Denken über die großen Probleme der Welt zutiefst beeinflusst.

Durch das, was die Transition-Bewegung alles in Gang gesetzt hat, wurde mir klar, dass wir oft an den falschen Stellen nach Lösungen für unsere größten Probleme suchen. Sicher, politisches Handeln ist für die Demokratie unerlässlich und kann auch zu echtem Wandel führen, doch anstatt zu glauben, wir müssten immer noch härtere Kampagnen führen und Lobbyarbeit betreiben, größere und einschneidendere Demonstrationen planen und mehr Leute für Online-Petitionen mobilisieren, gilt es manchmal vielleicht nur innezuhalten, aus dem Fenster zu schauen und sich eine bessere Welt vorzustellen. Vielleicht ist es an der Zeit zu erkennen, dass im Zentrum unserer Arbeit das Bedürfnis unserer Mitmenschen steht, sich eine bessere Welt vorstellen, Geschichten darüber erzählen und ihre Verwirklichung herbeisehnen zu können. Wenn wir uns eine bessere Welt vorstellen, herbeiwünschen und erträumen können, ist es viel wahrscheinlicher, dass wir unsere Energie und Entschlossenheit daransetzen, sie auch Wirklichkeit werden zu lassen. Wie mein Freund und mittlerweile verstorbener Mentor David Fleming schrieb: „Wenn auf die vollentwickelte Marktwirtschaft noch etwas folgen soll, dann wird es im Wesentlichen aus der Arbeit der Vorstellungskraft hervorgehen.“17

Die Transition-Bewegung in Totnes zu erleben und zu sehen, wie sie überall auf der Welt Fuß fasst, machte mir klar, wie vorausschauend Flemings Bemerkungen waren. Die Welt zu gestalten, in der wir leben wollen, die Welt, die wir unseren Kindern überlassen wollen, ist im Wesentlichen die Arbeit der Vorstellungskraft, oder wie es der Bildungsreformer John Dewey nannte, „die Fähigkeit, das Vorhandene anzuschauen, als ob es auch anders sein könnte“.18 Offenbar kommt eine Vielzahl an Leuten zu einem ähnlichen Schluss. 2009 schrieb Paolo Lugari, der Gründer der experimentellen Ökosiedlung Las Gaviotas in Kolumbien: „Wir stehen nicht vor einer Energiekrise, sondern vor einer Krise der Vorstellungskraft und des Enthusiasmus.“19 2016 beschrieb der Schriftsteller Amitav Ghosh den Klimawandel als „Krise der Kultur und deshalb eine der Imagination“.20 Ein Jahr später schrieb der Journalist George Monbiot, dass „politisches Versagen im Grunde ein Versagen der Fantasie ist“.21 Und 2018 bemerkte David Wallace-Wells, dass wir, was den Klimawandel angeht, „an einem unglaublichen Versagen unserer Vorstellungskraft leiden“.22

Aber niemand ist offenbar imstande zu erklären, warum uns unsere Vorstellungskraft so spektakulär im Stich lässt. Warum schaffen wir es einfach nicht zusammenzukommen, um eine Vision zu kreieren, zu erhalten und auszuführen, in der wir globale Krisen meistern und dabei trotzdem unser Leben noch mehr genießen können? Anscheinend verlässt uns die Fantasie gerade zu einem Zeitpunkt in der Geschichte, an dem wir am meisten auf sie angewiesen sind. Unser Fantasiemuskel sollte straff und gut trainiert sein; stattdessen ist er schlaff und ohne Spannung. Ich habe die Sorge, dass es, je tiefer wir in Krisen wie etwa den Klimawandel geraten, umso schwieriger wird, sich einen Weg vorzustellen, der aus ihnen hinausführt. Bedenkt man, was die Menschheit alles geschaffen hat, und zwar vorangetrieben von einem sprunghaften Wachstum des Vorstellungsvermögens, fragt man sich, warum wir es einfach nicht hinbekommen, uns ein sichereres, gesünderes, glücklicheres und friedlicheres Fortkommen vorzustellen? Ja, warum scheint es sogar zunehmend außer Reichweite zu geraten?

Das vorliegende Buch ist aus diesen und ähnlichen Fragen entstanden, denn ich wollte verstehen, warum einerseits die Transition-Bewegung einen alle Erwartungen übertreffenden Aufschwung erlebte, warum wir uns plötzlich in einem positiven Wandel befanden, den wir uns nie hätten vorstellen können, während andererseits zahlreiche Probleme, große wie kleine, unlösbar erschienen, selbst wenn wir sie gedanklich von allen Seiten beleuchteten. Als ich darüber nachdachte, stieß ich auf einen Artikel von Dr. Kyung Hee Kim, einer Forscherin am College of William and Mary. Dr. Kim hat von 1960 bis in die Gegenwart die Daten von über 250.000 Teilnehmer*innen zwischen Kindergarten und Erwachsenenleben analysiert und festgestellt, dass kreatives Denken und der IQ bis 1990 gleichermaßen einen Anstieg erlebten, irgendwann zwischen 1990 und 1998 aber in ihrer Entwicklung auseinanderliefen, wonach das kreative Denken den Weg eines „stetigen und anhaltenden“ Niedergangs einschlug.23 Diesen Niedergang schrieb Dr. Kim dem Umstand zu, dass Kinder weniger Zeit mit Spielen und mehr Zeit mit Elektronikgeräten verbringen würden, dass standardisierte Prüfungen in den Vordergrund gerückt seien und keine Zeit mehr für „reflektierte Abstraktion“ bliebe. Ihre Forschungsergebnisse wurden von Newsweek aufgegriffen und plötzlich sah sich die Wissenschaftlerin mit Einladungen für Radio- und Fernsehauftritte überhäuft.24

Aufgrund von Dr. Kims Kommentaren und Befunden machte ich mich daran, mein Leben und meine Gemeinschaft, aber auch die Probleme, mit denen die Leute in der Welt zu ringen haben, genauer in Augenschein zu nehmen. Offenbar haben die meisten von uns immer weniger Raum für kreatives oder fantasievolles Denken, wenn überhaupt. Selbst bei denen, die in der „Kreativwirtschaft“ arbeiten, wird die Kreativität offenbar mehr und mehr dazu eingesetzt, Nachfrage für Waren zu erzeugen, die kein Mensch wirklich braucht, deren Herstellung unsere gesellschaftlichen und ökologischen Systeme zunehmend an den Rand des Zusammenbruchs befördert – fast so, als würde die Fantasie in den Dienst unserer eigenen Auslöschung gestellt.

Was aber, wenn wir gerade die Fantasie benötigen, um diese Vernichtung zu verhindern? Darauf lässt eine Reihe von Forschungsergebnissen schließen.

Schließe deine Augen, wenn du willst, und stelle dir vor, dass du eine Zitrone in der Hand hältst. Spüre ihre kühle Schale in deiner Handfläche. Vergegenwärtige dir ihr helles Gelb. Fahre mit den Fingerspitzen über ihre glänzende, strukturierte Oberfläche. Wirf sie in die Luft, fange sie wieder auf und spüre ihr Gewicht, wenn sie in deiner Hand landet. Greife nun mit deiner anderen Hand nach einem Messer und schneide die Zitrone in der Mitte durch. Nimm eine Hälfte und presse ihren Saft langsam in ein Glas; höre, wie die Tropfen fallen. Rieche das Aroma des frischgepressten Zitronensafts. Beim Ausquetschen spritzt dir etwas davon ins Auge.

Wenn Psycholog*innen diese Übung durchführen, beobachten sie oft, dass die Proband*innen an diesem Punkt zusammenzucken, so wie sie es getan hätten, wenn ihnen tatsächlich Zitronensaft ins Auge gespritzt wäre. Die menschliche Vorstellungskraft ist beeindruckend. Und dabei geht es nicht nur um Bilder oder die Fähigkeit, sich ein Bild vor das innere Auge zu rufen. Sie betrifft alle Sinne und umfasst Geruch, Berührung, Klang, Emotion und Geschmack. Sie vermag mehr Veränderungen zu bewirken, als man glaubt. Wie wir aus dem Bereich der positiven Psychologie wissen, verstärkt die Fähigkeit, sich ein bestimmtes Resultat vorzustellen, unter Umständen die Wahrscheinlichkeit, dass es tatsächlich eintritt.

In einer 1995 durchgeführten Studie begleitete Dr. Alvaro Pascual-Leone von der Harvard Medical School zwei Anfängergruppen, die eine Notenfolge auf dem Klavier spielen lernen sollten. Jede Gruppe übte fünf Tage lang zwei Stunden täglich, wobei die eine Gruppe tatsächlich Klavier spielte und die andere am Klavier saß und sich lediglich vorstellte zu spielen. Nach drei Tagen hatten beide Gruppen die gleichen Fähigkeiten und bei beiden zeigten sich die gleichen Veränderungen im Gehirn, ob sie nun gespielt hatten oder nicht. Nach fünf Tagen waren diejenigen aus der Gruppe, die tatsächlich spielte, den anderen geringfügig voraus, doch Letztere holten rasch auf, sobald sie tatsächlich an einem Klavier saßen und spielten.25

Das gleiche Phänomen lässt sich auch bei einfachen Übungen beobachten. In einer Studie aus dem Jahr 1992 fanden Guang Yue und Kelly Cole heraus, dass Personen, die einen bestimmten Fingermuskel trainierten, dessen Stärke nach fünf Tagen um 30 Prozent steigern konnten, eine Gruppe hingegen, die sich dieses Training nur vorstellte, immer noch um 22 Prozent.26

Jackie Andrade und Jon May, die mir das Zitronenexperiment vorführten, schilderten mir ihre Forschungen an der University of Plymouth, wo sie einen als Functional Imagery Training (FIT) bezeichneten Ansatz entwickelt haben, der mittels der Vorstellungskraft Menschen dabei hilft, Gewohnheiten und Verhaltensmuster zu ändern.27 Nehmen wir zum Beispiel an, ich möchte abnehmen. Ich bin fest dazu entschlossen, aber dann sehe ich ein Eclair mit Schokolade, eine Versuchung, die meinen Wunsch, fit und schlank zu sein, umstößt. Was aber passiert, wenn wir uns unser Leben als fitte und schlanke Person vorstellen, und zwar bis zu einem Grad, in dem wir tatsächlich sehen, wie wir aussehen, wenn unsere Muskeln an Spannkraft gewinnen, unsere Ausgelassenheit fühlen, wenn wir mit unseren Enkeln durch den Garten rennen oder beim Joggen die Sonnenwärme auf unserer Haut genießen und danach beim Duschen und wieder zurück im Alltagsleben spüren, wie die Endorphine in uns nachklingen. Wenn wir uns dies vorstellen, wirklich vorstellen können, so Andrade und May, dann wird das nächste Eclair angesichts der Konkretheit unseres langfristigen Ziels viel weniger Macht über uns haben.

Ihre Forschungen scheinen das zu bestätigen. In einem dreijährigen Versuch haben Andrade und May herausgefunden, dass die Testpersonen im Laufe von sechs Monaten, in denen sie jeweils bis zu vier Stunden FIT-Therapie absolvierten, im Durchschnitt vier Kilogramm Gewicht verloren, während die Vergleichsgruppe durchschnittlich nur ein Kilogramm verlor. Im Laufe der nächsten sechs Monate hatten die Teilnehmer*innen der Testgruppe keine Therapiestunden, verloren aber trotzdem weiterhin an Gewicht. Das ist nahezu präzedenzlos; bei den meisten anderen Methoden legten die Proband*innen in diesen zweiten sechs Monaten um 50 Prozent ihrer vorherigen Gewichtsabnahme wieder zu. Andrade und May haben damit entdeckt, dass die Menschen, sobald sie die Fähigkeit internalisiert hatten, sich eine Zukunft mit ihrem angestrebten Gewicht oder einem erwünschten Verhaltensmuster vorzustellen, keine Therapie mehr benötigten.28

Diese Forschung zeigt, dass die Nutzung unserer Vorstellungskraft unser Leben beträchtlich verbessern kann. Ich konnte nicht aufhören, mich zu fragen: „Was, wenn wir das Ganze auf breiterer Basis, für weit komplexere Probleme anwenden könnten?“ Als ich mich eingehender mit dieser Frage beschäftigte, gehörte zu den ersten Orten, die ich besuchte, eine vom London’s Institute of Imagination (iOi) ausgerichtete Veranstaltung, die der Autor und Bildungsreformer Sir Ken Robinson, ein Schirmherr des Instituts, als „ein Fest der kindlichen Fantasie und Kreativität“ bezeichnete, „das vielfältige Möglichkeiten zu ihrer Kultivierung bietet“. Bei meiner Ankunft am iOi hatte das Lab Live: Metropolis schon angefangen und ich war umgeben von Kindern und Erwachsenen, die eine Stadt aus Kartons bauten. An anderer Stelle wurden Kinder vor einem Green Screen (à la Godzilla) gefilmt, wie sie Karton-Tokio in Stücke schlagen. Ich stellte fest, dass die Erwachsenen an dem Ganzen offenbar ebenso viel Freude hatten wie die Kinder. Tatsächlich waren manche Erwachsene so sehr in Beschlag genommen, dass sie gar nicht bemerkten, dass ihre Kinder ihre Aufmerksamkeit längst auf andere Sachen gerichtet hatten.

Später traf ich Jennifer Coleman, die Entwicklungsdirektorin von iOi, in einem ruhigen Nebenzimmer. Sie sagte: „Für Kinder gibt es viel zu wenige Gelegenheiten, in denen sie ihre Fantasie sinnvoll anwenden können … in einer Welt, die keinen Wert darauf legt. Wir glauben, dass der Fantasie eine viel grundlegendere Rolle zukommt. Sie versetzt die Kinder in die Lage, die Welt zu verstehen, das heißt, sich verschiedene Szenarien vorzustellen und sie dann auszuprobieren, sich mit Hilfe der Fantasie in andere hineinzuversetzen.“29 Sie kleidete auch in Worte, was zum Thema des vorliegenden Buches werden wird, nämlich, dass wir für die Fantasie nicht genug Zeit aufbringen. Weder in der Schule noch zuhause würde ihr genug Zeit eingeräumt, da wir unser Leben und das unserer Kinder zunehmend mit Kursen und Programmen vollpacken. In anderen Worten, die Fantasie wird immer mehr aufs Abstellgleis geschoben.

Nach unserem Gespräch drängte sich mir das vertraute Gefühl auf, dass wir ein Problem mit der Evaluierung haben. Das heißt, wir wissen nicht wirklich einzuschätzen, was tatsächlich zählt und warum. Ein paar Wochen zuvor hatte ich über Skype mit Scott Barry Kaufman gesprochen, dem wissenschaftlichen Direktor des Imagination Institute in Philadelphia, einem Zentrum für ernsthafte Akademische Forschung unter Leitung des Gurus der positiven Psychologie Martin Seligman. Obwohl das Imagination Institute von der familiären Atmosphäre des iOi Lichtjahre entfernt ist, erzählte mir Kaufman etwas sehr Ähnliches: „Wir glauben, dass die Fantasie eine wesentliche Fertigkeit darstellt. Sie ist wesentlich … für die Empathie, dafür, eine Perspektive einzunehmen. Sie ist wesentlich dafür, dass wir uns unser eigenes persönliches Wohlbefinden vorstellen können und so ermöglicht sie uns, unsere persönliche Zukunft und vieles mehr zu gestalten.“

Besonders beeindruckt hat mich die von Coleman und Kaufman geäußerte Behauptung, die Fantasie sei für die Fähigkeit einer Person, in der Gesellschaft zu funktionieren, fundamental, oder wie Kaufman es formulierte, sie sei „eine wesentliche Fertigkeit in der Welt“.30 Allerdings wird sie kaum als solche wahrgenommen, sondern gilt gemeinhin als chaotisch, unvorhersehbar, ein bisschen dreist, letztlich unkontrollierbar oder als leichtfertige und unprofitable Zeitverschwendung. Sie wird als der Welt der Kinder zugehörig erachtet, wobei Innovationsfähigkeit (und bis zu einem gewissen Grad Kreativität) als hohes Gut bewertet und entsprechend belohnt wird. Wie es David Fleming formulierte, wird Fantasie „weithin als abweichlerisch betrachtet und muss als solche unterdrückt, entfernt oder umerzogen werden“.31 Und doch liefert die Arbeit von Andrade und May offenbar genügend Erkenntnisse hinsichtlich der Frage, inwieweit und wie konkret die Fantasie für die Veränderungen entscheidend sein wird, die wir in den kommenden zwanzig Jahren vornehmen müssen.

Was, wenn wir ihre Techniken dazu verwenden könnten, jene „wesentliche Fertigkeit“ aufzurufen, um uns vorzustellen, dass wir alles, was uns an kreativen, ambitionierten, brillanten Dingen einfällt, unternehmen würden, um die schlimmsten Auswirkungen des Klimawandels abzuwenden? Was, wenn wir, als Antwort auf die Schlussfolgerung aus dem Bericht des Weltklimarats, dass wir „rasche, weitreichende und beispiellose Veränderungen in allen Aspekten der Gesellschaft benötigen“, imstande wären, uns all diese raschen, weitreichenden und beispiellosen Veränderungen vorzustellen?32 Was, wenn wir uns, ohne zu zögern, einer solchen Aufforderung, alles neu zu überdenken und umzubauen, annehmen würden?

Und was, wenn nicht?

Ich frage mich oft, wie zukünftige Generationen unseren heutigen Moment in der Geschichte wahrnehmen werden: eine Zeit, als Meerestiere, die in elf Kilometern tiefen Gräben entdeckt wurden, Plastik in ihren Mägen hatten; als sich die Gesellschaft gefährlich polarisierte und wir ein Wiederaufleben toxischer Ideen erlebten, die wir längst für historisch hielten; als wir uns von Finanzkrise zu Finanzkrise hangelten, ohne die fundamentalen Ungleichgewichte zu beheben, die ihr Stattfinden nahezu unvermeidlich machten; als Bienenvölker und andere Insektenpopulationen zusammenbrachen, weil wir unfähig waren, unsere Nahrungsmittelproduktion umzustellen oder die Agrarchemiefirmen auszubremsen. Eine Zeit all der versäumten Gelegenheiten, an denen der Klimawandel hätte abgewendet werden können, wenn wir die Dinge nicht verschleppt und aufgeschoben hätten.

Ein vor Kurzem erschienener Artikel zum allgemein als Treibhaus Erde titulierten Klimawandel konstatierte: „Graduelle lineare Änderungen … reichen nicht aus, um das Erdsystem zu stabilisieren. Um das Risiko zu mindern, den kritischen Punkt zu überschreiten, werden wohl weitreichende, umgehende und grundlegende Veränderungen nötig sein.“33 In der Formulierung der Schriftstellerin und Aktivistin Naomi Klein: „Uns bleiben keine nicht-radikalen Optionen mehr.“34 Ich glaube, die Fantasie ist die einzige Sache, die wir noch haben, die radikal genug ist – oder sein könnte –, unter der Voraussetzung allerdings, dass sie von couragiertem Handeln begleitet ist.

Das vorliegende Buch ist jedoch kein Buch der Verzweiflung. Während ich es schrieb, habe ich fast hundert Personen interviewt. (Diese Interviews sind in voller Länge auf dem Imagination Taking Power-Blog aufzurufen, der dieses Buch begleitet, www.robhopkins.net.) Ich habe Dutzende Projekte und Orte besucht, Hunderte Bücher gelesen (nicht mehr so einfach, wie es einmal war, darüber später) und Gespräche mit Menschen in aller Welt geführt, weil ich herausfinden wollte, wie weit wir mit diesen zwei kleinen Wörtern kommen können: „Was, wenn …?“ Diese Frage und die Begegnungen mit den Menschen, die sie gestellt haben, führten mich auf eine Reise, auf der ich, indem ich zu improvisieren lernte, meinen Sinn für das Spielerische wiederaufleben ließ, auf der ich die einstige Großbank besuchte, die „als Akt der Geldschöpfung für den Bürger“ neu eröffnete, auf der ich an der Umwandlung einer deprimierenden Buswendestelle in ein leuchtendes „Dorfgrün“ teilnahm, mich Kindern und Familien in Bristol anschloss, die ihre Straße für den Autoverkehr sperrten, damit sie dort mit ihren Skateboards und Rollern fahren konnten – und vieles andere mehr.

Nach all dem kam ich zu dem deutlichen Schluss, dass nicht nur David Fleming richtig lag, wenn er sagte, dass die vor uns liegende Arbeit im Wesentlichen eine Arbeit der Vorstellungskraft ist, sondern dass diese Arbeit bereits auf der ganzen Welt von Gemeinschaften angegangen wird, von denen wir viel lernen können. Ich entdeckte, dass es überall auf der Welt Menschen gibt, die sich im Großen wie im Kleinen fragen, was in Schulen, in Nachbarschaften, in unserem Verhältnis zur Natur und in unserem Gesundheitswesen anders laufen könnte, wie wir unsere Zeit und unsere Aufmerksamkeit anders verwenden und sie sogar als Ausgangspunkt benutzen könnten, um uns die ökonomischen und demokratischen Realitäten unserer Städte und Ortschaften neu vorzustellen.

Bei jedem Schritt verliebte ich mich mehr in diese beiden kleinen Wörter: „Was, wenn …?“ Was, wenn wir viel weniger Energie verschwenden würden und das meiste dessen, was wir verbrauchen, aus erneuerbaren Ressourcen generieren würden? Was, wenn wir Flüchtlinge in ihren neuen Heimatländern willkommen heißen und sie unterstützen würden? Was, wenn wir die Wirtschaft an anderen Messlatten messen würden als an ihrer jährlichen Wachstumsrate? Was, wenn wir über autofreie Städte, die Abschaffung der Gefängnisse oder eine gleichere Wohlstandsverteilung nachdenken könnten, ohne unseren Verstand damit völlig durcheinander zu bringen? Was, wenn wir in einer Welt lebten, in der die Polizei nicht auf unbewaffnete junge Männer of colour schießen würde und unser Bildungssystem kein Angriff auf die geistige Gesundheit unserer Jugendlichen wäre? Was, wenn wir die Luftfahrtbranche ausmustern und uns stattdessen für ein Leben mit langsamem Reisen entscheiden würden? Der israelische Historiker Yuval Noah Harari vertritt die These, dass der Mensch deshalb zum mächtigsten Geschöpf auf Erden geworden ist, weil er über Vorstellungsvermögen und die Fähigkeit, Geschichten zu erzählen, verfügt und weil er sich fragen kann: „Was, wenn?“35

Was, wenn wir diese Fähigkeit in ihrer ganzen Fülle wiederbeleben, und zwar von jetzt an?

Der Trieb, frei zu spielen, ist ein grundlegender biologischer Trieb. Fehlt das freie Spiel, wird dies nicht unbedingt wie Nahrungs-, Luft- oder Wassermangel tödliche Folgen für den Körper haben, aber es wird den Geist abtöten und das seelische Wachstum hemmen … nichts, was wir unternehmen, noch so viel Spielzeug, das wir ihnen kaufen, die gemeinsamen schönen Stunden, die wir mit ihnen verbringen oder besondere Kurse, die wir ihnen zuteilwerden lassen, kann die Freiheit, die wir ihnen nehmen, ersetzen. Was die Kinder auf eigene Faust, im freien Spiel, lernen, kann ihnen anders nicht beigebracht werden.

—Peter Gray, Befreit lernen

An einem frühen Mittwochabend besuche ich in Bristol die im Stadtteil St. George liegende Howard Road, eine Straße, die an der englandweiten Initiative mit dem Namen „Playing Out“ (Draußen spielen) teilnimmt. Es handelt sich um eine einfache Idee. Playing Out unterstützt Eltern, die ihre Straßen über kurze Zeiträume für den motorisierten Verkehr sperren lassen wollen, damit die Kinder und nicht die Autos das Sagen haben.36 Überall auf dem Pflaster sind Kreidezeichnungen zu sehen und Kinder auf Rollern, Skateboards und Fahrrädern rasen an mir vorbei. Zwei Erwachsene schwingen ein Seil, und Kinder stehen Schlange, bis sie beim Seilhüpfen an der Reihe sind.37

Es mag zunächst kontraintuitiv anmuten, dass Eltern ihre Kinder dazu ermutigen, auf der Straße zu spielen. Doch Jo Chesterman, die Playing-Out-Koordinatorin für die Straße, in der ich gerade stehe, meint: „Wir sind hier auf eine wirklich gute Sache gestoßen.“ Die Saat dafür wurde 2012, während des fünfzigjährigen Kronjubiläums der Queen, gesät, als die Nachbarschaft eine Straßenparty organisierte und alle darüber staunten, wie viele Kinder auf der Straße spielten und welchen Spaß sie dabei hatten. Jo arbeitet mittlerweile als örtliche „Aktivatorin“, die in anderen Straßen Initiativen mit dem gleichen Ziel unterstützt.

Die Howard Road wird zwischen April und Oktober alle vierzehn Tage zwei Stunden lang nach Schulende und im Winter für einen Sonntag im Monat gesperrt. Playing Out findet in 500 Straßen in ganz England, und hier vor allem in Leeds, Hackney, Worthing und North Tyneside statt. Bristol allerdings ist das Epizentrum. In der Stadt werden regelmäßig sechzig Straßen für den Verkehr geschlossen. Mit einer Organisation vor Ort ist das rechtliche Procedere zur Schließung einer Straße viel einfacher geworden. Dank des neuen „Erlasses für temporäre Spielstraßen“, der durch den Stadtrat von Bristol in das städtische Polizeigesetz von 1847 aufgenommen wurde, sind Initiativen fürs Erste in der Lage, Termine für ein ganzes Jahr auf einmal zu beantragen; sie müssen keine separaten Anträge mehr stellen.

Kinder auf den Straßen spielen zu lassen, diese „wirklich gute Sache“, brachte zahlreiche unerwartete Vorteile mit sich: Sie bietet den Kindern ein offenes Spielfeld (anders als etwa bei Computerspielen, wo man sich in der Regel durch vorgezeichnete Levels bewegt). Sie ermutigt zu spontanem und erfinderischem Spielen. Wenn Kinder auf der Straße spielen, hilft dies ihrem Selbstvertrauen. Sich nicht zuhause in der Wohnung aufzuhalten, ist ein erster Schritt, in der Interaktion mit anderen sicherer zu werden. Nach einem Nachmittag, den ein Kind spielend auf der Straße verbracht hat, hat es vielleicht so sehr an Selbstvertrauen gewonnen, dass es sich auch weiter weg von zuhause noch sicher fühlt und vielleicht am nächsten Tag alleine zur Schule geht. Das Spiel auf der Straße findet zudem, offensichtlich, vor dem eigenen Wohnhaus statt; man muss nicht zuerst in den Park oder auf einen Spielplatz gehen oder fahren. Es bringt Nachbar*innen näher zusammen und gibt den Anwohner*innen Gelegenheit, sich kennenzulernen und Freundschaften zu schließen. Die daraus entspringende Vertrautheit stärkt die Nachbarschaft in ihrem sozialen Zusammenhalt und macht sie zu einem sichereren und befriedigenderen Lebensumfeld. Darüber hinaus werden die Kinder beim Spielen „teilweise beaufsichtigt“, sodass die Erwachsenen ihren Aufgaben in dem Wissen nachgehen können, dass auf ihre Kinder aufgepasst wird.

Es lässt sich wohl kaum ein anderes Argument vorstellen, das gegen die Sperrung einer Straße spräche, damit Kinder dort spielen können, als die Unannehmlichkeit für die Autofahrer*innen. Jo meinte mir gegenüber, der Ansatz als solcher verstehe sich nicht als „gegen Autos“ gerichtet, „er ist für die Gemeinschaft“. Ich fragte, ob viel Gegenwind von den Nachbar*innen zu spüren war, als sich die ersten Leute in der Howard Road für Playing Out einsetzten, und sie antwortete, dass es während der Etablierungsphase keine Probleme gegeben habe. Wider-stand formierte sich erst mit „Chalkgate“, wie sie es nannte, dem Kreidedebakel, da war die Initiative bereits ein Jahr alt.

„Etliche ältere Anwohner*innen waren zunehmend verärgert über die Kreidebilder, die jedes Mal nach einem Play Out zurückblieben, und verlangten, dass sie abgewaschen werden müssten [nach der Philosophie ‚Wie man etwas vorfindet, so sollte man es auch verlassen‘]. Ich stand zwischen allen Stühlen – die Playing-Out-Leute waren über dieses Ansinnen ziemlich empört und verärgert und den älteren Anwohner*innen reichte es.“38

Man einigte sich schließlich auf den Versuch mit einem abgegrenzten und von einem der älteren Kinder beaufsichtigten Bereich für Kreidezeichnungen, der am Ende einer Spielphase gesäubert würde, und darauf, dass Kreide nicht immer zum Einsatz kommen sollte. Das Abwaschen der Kreidezeichnungen wurde zu einem Bestandteil des Spiels und bot Gelegenheit, mit den Kindern zu besprechen, wie wichtig es in einer Gemeinschaft ist, dass sich jeder für sein Tun verantwortlich zeigt. Heute finden manche Spieltage mit Kreide statt, andere ohne und manche Kinder spielen mit Kreide außerhalb der anberaumten Zeiten, so dass den Play-Out-Veranstaltungen nicht alle Schuld in die Schuhe geschoben werden kann.

Doch die Zeit, die man sich nahm und die Mühe, die man sich machte, auch den älteren Anwohner*innen Gehör zu schenken, stellte sich als wichtig heraus. Als später auf der Straße ältere Typen auf Quadbikes unsoziales Verhalten an den Tag legten, zeigte sich, dass diese Unterhaltungen und Kompromisse den Anwohner*innen dabei halfen, besser und geeinter darauf zu reagieren. „Seit mehr als vier Jahren finden nun regelmäßige Spieltage statt und ich glaube, die Tatsache, dass wir in unserem Enthusiasmus nicht nachgelassen haben, hat schließlich jeden Widerstand ausgeräumt – es passierte ja auch nichts Schlimmes, außer dass Nachbar*innen sich draußen trafen und Kinder spielten –, wir haben das Spielen zurück auf die Straße gebracht, das inzwischen die ganze Woche, jeden Monat, das ganze Jahr über zum Straßenbild gehört, und ich bin so froh, daran beteiligt gewesen zu sein“39, sagte Jo.

Daniella Radice, die nationale Projektmanagerin für Play Out, die mich durch den Abend in der Howard Road begleitete, wies darauf hin, „dass Straßen den größten Teil des öffentlichen Raums einer Stadt ausmachen“. Wenn man in der Welt unterwegs ist, wird man immer wieder bemerken, dass Straßen Orte sind, in denen gespielt wird, in denen Gespräche geführt, Schach und Domino gespielt werden, in denen getanzt, gesungen und geschlafen wird. Enrique Peñalosa, früherer Bürgermeister von Bogota, ist der Meinung, dass auf der Straße spielende Kinder im Grunde so etwas wie eine „Indikator-Art“ für das Wohlergehen einer Stadt sind.40 Tatsächlich ist die Verdrängung der Kinder von der Straße vornehmlich ein Problem der reicheren Nationen des Globalen Nordens. Vielleicht ist es an der Zeit, dass wir die öffentlichen Straßen und die Rolle, die sie für unser Leben und unsere Gemeinden spielen, neu interpretieren und sie zurückerobern.

Bis vor relativ Kurzem war das Spielen auf den Straßen an vielen Orten der Normalfall und ein wesentlicher Eckpfeiler unserer Kultur. Ein Schriftsteller schrieb in den 1920ern über das Straßenleben Londoner Kinder: „Die Straße ist die Wiege des neugeborenen Babys, die Krippe des Kleinkindes und das Spielgelände des ABC-Schützen; und dass die Kinder wild in ihr toben können, ist für die Vitalität, den Witz und die unersättliche Neugier verantwortlich, die sich an den Orten in London, wo sich Erwachsene zusammenfinden, so lebhaft äußert.“41

Eine von Playday 2007 durchgeführte Umfrage ergab, dass 71 Prozent der Erwachsenen in ihrer Kindheit auf der Straße spielten, während der Anteil der Kinder 2007 bei lediglich 21 Prozent lag.42 Unsere Kinder befinden sich zunehmend in einem, wie es Richard Louv, Autor von Last Child in the Woods nennt, „gut gemeinten, beschützenden Hausarrest“43, wo sie der elterlichen Aufsicht und Tabletten pharmazeutischen Ursprungs oder Tablets digitaler Provenienz kaum entkommen. Kindern bleibt heute viel weniger Raum, in dem sie sich frei bewegen können: nur noch ein Neuntel dessen, was früheren Generationen zur Verfügung stand.44

Aus Comic-Büchern und archiviertem Filmmaterial der 1970er-Jahre geht hervor, dass die Kinder meistens im Freien spielten und über eine reiche Kultur an Spielen, Liedern und Geschichten verfügten.45 Sie schufen sich ihre eigenen Welten, von denen die Eltern meist nichts mitbekamen – Verstecke, Treffpunkte, Baumhäuser, Schleichpfade –, und zwar in einer Weise, die, wie wir heute wissen, für ihr psychologisches Wohlbefinden und ihre geistige Gesundheit entscheidend war.46 Doch bereits in den 1970er-Jahren erlebte das unstrukturierte Spiel im Freien einen Niedergang. Der Stadthistoriker Howard Chudacoff nennt die Zeit von Anfang bis Mitte des 20. Jahrhunderts „die goldene Zeit des unstrukturierten Kinderspiels“47 und verortet das Einsetzen des Niedergangs um das Jahr 1955.

Dass das unstrukturierte Spiel aus unseren Straßen verschwunden ist, liegt unter anderem daran, dass bei älteren Leuten Kinder als unbändig verschrien sind. Der Chief Constable der West Midlands Police, Paul Scott, meinte 2004 gegenüber der Birmingham Mail: „Für mich ist interessant, dass für diese Leute, wenn sie gefragt werden, worüber sie sich aufregen, nicht das kriminelle Verhalten der Jugendlichen im Vordergrund steht, […] sondern im Grunde genommen, dass sie einfach nur da sind. Dass die Jugendlichen einfach existieren, ist für die meisten Leute heute die Hauptursache für ihren Ärger.“48 Menschen wie Jo sehen aber, dass sich die Kultur ihrer Straße wirklich zum Positiven verändert, einfach indem man die Jugendlichen dort sein lässt. Inzwischen, sagt sie, passiert dies auch außerhalb der Playing-Out-Zeiten. „So langsam wird das Spielen auf der Straße wieder selbstverständlich.“

Und auch die Art, in der die Kinder ihre Spiele spielen, verändert sich. Louise Davey, eine Mutter aus einer benachbarten Straße, die ihre Kinder an Playing-Out-Tagen in die Howard Street bringt, meinte, sie sehe während dieser Spielstunde, dass „die Fantasie einen Sprung macht“. Die Kinder würden nicht nur malen; sie würden mit der Kreide auf dem Pflaster Spiele erfinden. Und sie würden das Springseil nicht nur für Seilspringen benutzen; es würde, wenn sie genug vom Seilspringen haben, zum Ausgangspunkt für alle möglichen anderen Spiele. Wie Jo es formuliert: Es gibt ihnen Raum für ein fantasievolles Spiel. Und das Ganze besitze übrigens einen gewaltigen positiven Nebeneffekt für die Erwachsenen, die, wie ein Elternteil es darstellte, entdeckt hätten, „dass wir uns eigentlich ziemlich mögen“. Inzwischen gibt es, unabhängig von Playing Out, regelmäßige abendliche Zusammenkünfte. Louise bemerkte: „Es ist schön, wenn alle herauskommen, miteinander reden und nicht hinter ihrem Bildschirm hocken bleiben.“

Was passiert, wenn den Kindern dieses spontane freie Spiel verwehrt ist, der Raum, in dem sie so tun können, als ob? Der extremste Pol der Forschung, und er ist unleugbar extrem, findet sich in der Arbeit des Psychiaters Stuart Brown. Nach dem Amoklauf 1966 an der Universität von Texas, bei dem Charles Whitman von einem Turm auf dem Universitätsgelände aus auf 46 Menschen schoss, untersuchte Brown dessen Fall und interviewte zudem 26 andere verurteilte Mörder in Texas, um herauszufinden, was ihnen gemeinsam war.49 Zwei Schlüsselfaktoren schälten sich heraus: Alle untersuchten Personen stammten aus Familien, in denen psychischer und physischer Missbrauch vorkam, und alle durften in ihrer Kindheit nicht spielen. In späteren Arbeiten ging Brown noch gründlicher vor und befragte mehr als 6000 Menschen zu ihrer Kindheit. Die Auswertungen bestätigten seine ursprünglichen Befunde und die ernsten Folgen einer Kindheit ohne Möglichkeit zu spielen. Er schrieb, dass „pathologische Aggression oft auf eine Kindheit verweist, die durch den Mangel oder das Fehlen alles Spielerischen depraviert war“, und dass „bei einem Leben, in dem kein Spiel stattfinden kann, mit ernsthaften Folgen zu rechnen ist“.50