Stella maris - Isabella Feimer - E-Book

Stella maris E-Book

Isabella Feimer

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Beschreibung

Die Menschheit hat die Grenzen des ihr bekannten Himmels überschritten, die Erde ist zu einer Nichtigkeit geworden, der Mensch selbst seines die Nacktheit beschützenden Schleiers beraubt. Eva hat in sich Geschichten vieler Epochen und unterschiedlicher Orte versammelt. Ihre Erinnerung ist der einzige Ort, der keine Begrenzung kennt. Evas Erinnerungsfragmente fügen sich mosaikartig zu einem überbordenden Gemälde, in dem sich ihre Erlebnisse in Rom und Paris verdichten. Zwischen den antiken Ruinen Roms, die immer noch vergangene Seelen in sich tragen, wuchern Angst und Faschismus in Richtung des nahenden Krieges. Jahrzehnte später in Paris sieht sich Eva erneut mit einer Epoche der Gewalt konfrontiert, in der dem vorherrschenden Terror nur mit Anarchie und der Überschreitung einer Liebe begegnet werden kann. Doch es scheint, als hätte Eva ihren Leitstern, den Stella maris, verloren.

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Seitenzahl: 168

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stella maris

Isabella Feimer

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

1. Auflage 2017

© 2017 by Braumüller GmbH

Servitengasse 5, A-1090 Wien

www.braumueller.at

Coverzeichnung: © Esin Turan, www.esinturan.net

Lektorat: Senta Wagner

ISBN Printausgabe: 978-3-99200-181-1

ISBN E-Book: 978-3-99200-182-8

Für meine Eva.

„The mask she wore was turning her into an animal.“

Georges Bataille,Madame Edwarda

„On the day of execution only women kneel and smile.“

David Bowie,Blackstar

Inhalt

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Epilog

Danksagung

Prolog

Ich schloss die Augen, schloss auch mein Herz und nahm Abschied, Abschied war das Gefühl einer Frühlingsluft, die über die Wangen streift, war Regen, Schnee, Hagel, ein Blitz, gefolgt von Donner und dem wärmenden Sonnenschein, alles zur gleichen Zeit, ein kleiner Weltuntergang war dieser Abschied, und doch, eine Weltenschöpfung war dem Untergang augenblicklich nachgesetzt,

das Ei brach auf, die Schale splitterte, und ich schlüpfte, streckte den Kopf in die Dunkelheit, die mich umgab, atmete ein und atmete lange aus, meine Sinne formten die Welt, und meine Stimme gab ihr Struktur, Farben, Bewegung und Licht, gab ihr nicht nur meine Geschichte,

in diesen Minuten, die mir länger vorkamen, als sie waren, erinnerte ich mich, dass ich einmal Kind gewesen war, erinnerte mich an den Zauber einer Schneeflocke, der ersten eines Winters, die sich in meinen Blick tanzte, und an jenen Stern, den ich immer bewusst wahrgenommen hatte, an keine Gesichter erinnerte ich mich, an keine Körper, die mir nahe waren, das kam später, ich spürte die zerstörerische Kraft des Feuers, ich hatte mich verbrannt, ich spürte den Lebensatem eines Ozeans, ich hatte ihn gerochen, all das erinnerte ich in diesen Minuten nach dem Start,

ich blickte nach links, auch Inès hatte die Augen geschlossen, ihr Körper war angespannt und ihre Hände klammerten ineinander, ich beugte mich zu ihr, so gut es ging, der Gurt schnitt in meine Schultern, ich drückte dagegen,

flüsterte ihr wider die ohrenbetäubenden Geräusche,

die uns umschlossen hielten, auch in der Gewissheit, dass sie mich nicht hörte,

der Schnee ist geschmolzen,

das Sonnenlicht aufgebraucht,

Sterne umringen mich und dich, uns alle,

ich pflücke mir einen Stern, halte ihn fest,

schneide mich an seinen scharfen Kanten,

schwarz ist mein Blut, das dickflüssig aus mir tropft,

ich schicke den Stern zurück, beschütze ihn in der Dunkelheit meines Herzens,

auch wenn sie mich nicht verstand, Inès lächelte.

Als wir starteten, nickte der Captain im Rhythmus des Countdowns, sein Blick war geradeaus gerichtet, sein Körper aufrecht, Jaques saß neben ihm, seine Finger zuckten, Inès und ich saßen hinter ihnen, ich spürte die Erwartung, die in uns allen drängte, auch die Ungewissheit dieser Mission,

wir waren ausgeliefert, auch Raul, der sich im Maschinenraum verbarg, ausgeliefert den Vibrationen der Außenhülle, dem Druck der Geschwindigkeit, als der Countdown zu Ende gegangen war und das Raumschiff sich aus der Verankerung gehoben hatte, Angst hatte ich, taub zu werden, Angst, weil es diesmal kein Zurück mehr gab,

würde sich uns der Stern zeigen, der uns leitet, der Stella maris, an den Seefahrer ihre Hoffnungen auf eine sichere Überfahrt banden, eine Heimkehr?,

Stern des Meeres,

der Maria,

Meerestropfen,

und die Erde würde darin schwinden, nach und nach.

1

Auch meine Geschichte muss damit beginnen können, dass einmal etwas war, vor langer Zeit, in ein Jetzt gerückt, in einen Raum, der keine Grenzen kennt, abgegrenzt ist von allem, selbst von Dunkelheit,

einmal war es kalt gewesen, draußen, und in diesem Draußen wanderte ich, im Vertrauten, das Erde hieß, Heimat nicht, doch Ursprung, bewegte mich leichtfüßig durch Wind und Schneegestöber, fühlte Sandkörner, die sich an meiner Haut rieben, die auch mein Haar bedeckten und unter meine Kopfhaut krochen, ich bewegte mich in einer Zeit, die fassbar war, in der ich ich sein konnte, nicht dieses Abbild, Bündel an Erinnerungen, unordentlich verschnürt,

aber ich muss mich erinnern, denn Inès will meine Geschichten hören, sieht mich an, spitzt ihre Lippen, formt tonlos diese Bitte nach mehr, nach diesen anderen Welten, die ihr fremd sind, die ihr schmecken und vor denen sie sich scheut, scheue Inès verkriecht sich in ihrem Dschungel, bei den Keimlingen und Pflanzen, in ihrem Zufluchtsort, sehe ich aus einer der schmalen Luken in das Nichts, in dem wir treiben, sehe ich die Erde nur noch in meinen Gedanken,

Erde, der verblasste, aufgebrauchte Planet, der längst aus unserem Sichtfeld verschwunden ist, manchmal sehe ich das strahlende Blau noch vor mir pochen, diesen kostbaren Saphir, Blau der Erinnerung, das mit jedem neuerlichen Blick in Veränderung ist, wechselt von einer Gestalt in eine andere,

ein Stück Seide aus einem Kleid gerissen,

eine Blume zum Trocknen unter ein Kissen gelegt,

eine Liebeserklärung niemals gemacht,

Erde ist diese optische Täuschung, in der ich mich verliere, und verloren bin ich seit langer Zeit, dennoch, vielleicht einer letzten Sehnsucht folgend, tupfe ich mit den Fingerspitzen in das Blau und spüre, dass ich darin versinke, eins werde mit dem Element,

so sehe ich mich, nicht das Leben, das ich führen muss,

ein maskiertes Ich lächelt mir im Taschenspiegel, den ich immer bei mir trage, ein Schmuckstück aus einer vergessenen Zeit, und die Ornamente, die ihn zieren, zieren auch meine Gedanken an diese Zeit,

noch zähle ich die Tage der Mission und ritze mir jeden Tag, der vergangen ist, mit den Nägeln in mein Herz.

Es ist ein einsamer Ort, dieses Raumschiff, mitsamt der Stille, die es als zweite Fracht mit sich trägt, als wäre sie die Dopplung jener Stille, die im dunklen Nichts atmet,

seit Wochen diese Dunkelheit, seit Wochen dieses Gefühl, dass in der Dunkelheit etwas wartet, auf uns, ein Ungeheuer lauert, wie es vor Jahrhunderten die Seekarten schmückte, damals eine List, damit sich Seefahrer nicht in fremde Gewässer wagten, in jene, die längst von anderen in Besitz genommen waren, damals ist lange her, ist in den Menschen, die noch übrig sind, nichts mehr als die vage Reflexion einer Zeit, die in sich zusammenfiel,

unser Ungeheuer ist real,

hörst du das Schweigen?, fragt mich Inès, und ich nicke, sage, dass es der Drache ist, der uns holen kommen wird, so wie er sich Sonne und Mond geholt hat und all die uns bekannten Planeten, dann lache ich, und mein Lachen nimmt Inès den Schrecken, die Sterne, sage ich, siehst du, das sind seine Schuppen, sie funkeln nur für dich,

in dieser Stille, die sich als unheimliches Flüstern in die Glieder nistet, höre ich den Drachen, spüre die Angst, die Inès vor dem Drachen hat, sie verbirgt sie nicht, trägt sie mit fragenden Blicken an mich heran und will nach meiner Hand greifen, die ich ihr rasch entziehe,

sie sagt, ich solle ihr von Drachen erzählen und davon, wie sie in der Geschichte verschwunden sind, Geschichte ist dieses ihr fremde Terrain, das sie durch mich erkunden will, das sie mit jeder Frage, die sie mir stellt, aus mir saugt, meine Geschichten saugt sie rücksichtslos aus mir heraus,

der Drache ist das Chaos der Unendlichkeit, sage ich, seine Augen sind die des Teufels, und sein Atem ist die stickige Luft, die in der Hölle dampft, Teufel?, fragt Inès, Hölle?, ihr Unwissen verärgert mich, und ich sage, von der Hölle und meinem Teufel erzähle ich dir ein anderes Mal, ist Seemannsgarn, versponnen.

Ich weiß nicht, wie lange uns dieses Schiff noch schützt, die Außenhülle ist zerbrechlich, zu leicht könnte sie Risse bekommen, die Risse sich weiten, alles in diesem Schiff ist miteinander verknüpft, ist ein Netz an Energie, das uns am Leben hält, und reißen die Verbindungen, zerbrechen wir, und der Drache wartet, hat Zeit, hat Geduld, wie auch wir Zeit haben, Jahre, die vor uns liegen, versetzen uns in Ungeduld, ich stamme aus einer Zeit, in der man nicht mehr an Drachen glaubte, bin in ein Jahrhundert des Aufbruchs und der Entdeckungen hineingeboren worden, in fruchtbaren Boden gepflanzt, gewachsen aus Finsternis in ein geweitetes Weltbild, in deren Zentrum nicht mehr die Erde stand,

zerrissene Horizonte und vergängliche Wahrheiten, gehäutet,

was in mir blieb, waren die Seelen derer, die sie mit Federkielen prophezeit hatten,

und denke ich an diese Zeit zurück, an die kindliche Neugier, an meine lächerliche Wissbegier, anstecken ließ ich mich, beflügeln, will erneut in ihr geboren sein,

das sage ich Inès nicht, das sage ich nur dir, mein Captain, wenn ich dich besuche und diese Stunden an deiner Seite sitze, in diesem Raum, der zu dem deinen geworden ist, im gedämmten Licht, und sitze ich bei dir, streiche ich über das Glas, das deinen Körper birgt, deine Ruhe, die du finden musstest, deine Augen sind offen, aber sie sehen mich nicht an, dein Herz schlägt, aber ich höre deinen Herzschlag nicht, sehe deine schwächer werdenden Lebensfunktionen auf dem Bildschirm hinter dir, die Schläuche, die dich mit Energie versorgen, und dein Körper, so sehr ich es mir auch wünsche, bewegt sich nicht,

hörst du meinen Herzschlag, den ich dir schenken will?, hörst du meine Stimme, die dir mein Erlebtes erinnert?,

Erinnerung ist das, was uns an die Toten bindet, in einem Standbild festgehalten suchen sie nicht mehr unseren Blick,

ich bin müde von all den Erinnerungen, diesen Bildern, denen Körper fehlen, und dennoch, realer sind sie mir in diesen Momenten als das Schiff, als Inès, die ihre Keimlinge und Pflanzen beflüstert, als Jaques, der mich in sein Quartier locken will, weil er nicht vergessen hat, dass Sexualität, immer noch, etwas Gelebtes sein muss, als Raul, den wir selten sehen, und nur ahnen können wir, was er in seiner Abgeschiedenheit im Maschinenraum tut,

auch als du, mein Captain, dessen Stimme ich in den Augenblicken zwischen Traum und Erwachen höre, dieses Echo deiner Stimme, die verstummt ist, auch dieses Echo erinnert mich, eine dunkle Stimme wie die deine ist mir schon einmal durch Mark und Bein gekrochen, das ist Jahrhunderte her und Teil meiner Gegenwart geblieben.

Jahrhundertelanges Eingeschlossensein,

ich in diesem Körper, schälte sich unveränderlich von einem Leben in ein nächstes, ich inmitten dieser Risse, von Leben zu Leben ein Einriss mehr, sie weiteten mein Herz,

einsames Eingeschlossensein, deines und meines, in ihm finde ich mich zurecht, nicht jedoch in dieser Stille, die mir, manchmal, unerwartet den Atem nimmt, und überrascht sie mich, ist es, als würde es mich zusammenziehen, bis nichts mehr von mir übrig ist,

nein, ich falle nicht, ich widerstehe,

Einsamkeit ist ein Zwitterwesen,

Einsamkeit hat auch kein Gegenteil,

ich bin einsam, sagt Inès, obwohl ich es nicht verstehe, Eva, ich verstehe Einsamkeit nicht, sagt sie und kämpft gegen Tränen an, die sie mir nicht zeigen möchte, stark will sie sein, ich habe keine Antwort, ich hätte lediglich eine Erinnerung, die ich ihr nicht in eine meiner Geschichten verpacken will, nicht zusammenhanglos,

ich vertraue meinen Erinnerungen nicht und frage mich, ob all das, woran ich mich erinnere, auch tatsächlich geschah, ob es nicht nur die Geschichten anderer sind, die ich mir über Zeit und Raum einverleibte,

früher konnte ich zuhören, früher war ich gut darin, ich mochte es, wenn man mir Geschichten erzählte, hörte Alltägliches und auch Außergewöhnliches, hörte Lügengeschichten und zwischen den Zeilen Wahrhaftigkeit, ein Wort, das mich erschaudern lässt, macht dem Teufel ungewollt Platz in meinen Gedanken, dem Gefallenen,

ich mag es, sagt Inès, wenn du mir Geschichten erzählst, sagt es leise, fast beschämt, sie weiß es nicht, doch spürt es, dass sie mir Herausforderndes abverlangt, dass sie an meiner Seele kitzelt und mich in Gewesenes zwingt, dann lächelt sie und streicht über das Blatt eines Keimlings, noch nicht zu einer Pflanze herangewachsen,

er fruchtet, sagt sie und das Glück darüber ist ihr anzusehen.

Der Captain ahnte, dass mehr dahintersteckte, mehr hinter dieser Eva, die ich mit auf dieses Schiff brachte, mehr als die technischen Fähigkeiten, die Kommunikationsbegabung, mehr als das Wissen und das hübsche Gesicht, das ahnte er von dem Moment unserer ersten Begegnung an,

Formsache,

bevor wir dieses Schiff betraten,

bevor wir starteten,

bevor etwas seinen Körper zerfraß,

ein Händedruck, ein Blick meinerseits, der seinen fangen wollte, lange hielt er meine Hand, sah zu Boden, schwieg, und als er von mir ließ, spürte ich, er ahnte, dass ich etwas zu verbergen hatte,

etwas, was uns einen,

was uns danach entzweien könnte,

erwacht er, würde ich mir wünschen, dass er mich zur Rede stellte, ich möchte meine Geheimnisse nicht mehr länger nur für mich behalten, zu viele Geheimnisse, werde ich ihm sagen, sind in mir, die ich hüten muss, und Geheimnisse, auf Dauer, machen träge, machten mich zu einer, die ich nicht mehr sein will, wurden mir geflüstert, ich fragte nie danach,

nicht nach dem abenteuerlichen Leben,

nicht nach der anarchistischen Beziehungslosigkeit,

auch nicht nach Liebe,

sagte ich dem Captain, als er schlief, glaubte, ihn mit den Gefühlen, die mich mit anderen einst verbunden hatten, leiten zu können, in diesem Nichts, in das er versunken war,

und meine Gedanken versanken mit ihm,

Liebe ist Ebbe und Flut der Erinnerung, sagte ich, der Geruch des feuchten Sandes nach Fisch, nach Muscheln, nach all dem Treibgut und dem Salz, das sich aus dem Meer zurückgezogen hatte, Salzkruste, schimmernd, die sich über meine Haut legte,

damals,

wie sieht deine Hölle aus?, mein Captain, die Bedrohung der Unbeschwertheit, dieses Gegenbild von allem, das einem ein Lächeln zaubert?,

einmal nur habe ich dich lächeln gesehen, einmal nur war dein stets fokussierter Blick abgelenkt,

ich war in deinen Gedanken, sagtest du,

das irritierte mich, brachte das Zusammensein durcheinander, unsere Zweckgemeinschaft, die wir eingegangen waren,

bevor wir starteten,

und im Schattenspiel deiner Gedanken, Eva, sagtest du, verstand ich alles für einen Augenblick,

du, mein Captain, hast uns im Stich und uns selbst gelassen.

Die Erde ist ein verlorener Planet, und der Mensch ein vergessener Stern,

deine Worte, als deine Stimme noch nicht verstummt war, als du spürtest, dass etwas in dir zu nagen begann, etwas Appetit hatte, Lust auf dein Fleisch, und dich von Tag zu Tag schwächte, du spürtest dich ausklingen, dein Blut dünner werden und in den Arterien langsamer pulsieren, ich sah dir diese Schwäche an, dein Blick getrübt, deine Augen bedeckt von einem spröden Schleier, dein Körper geknickt, dein Atem befallen, dein Quartier, das wir uns heimlich geteilt hatten, blieb mir verschlossen, das kränkte mich,

Jaques roch die Krankheit an dir, bevor du sie selbst noch gewittert hattest, er ist ein Raubtier, das seine Krallen nicht versteckt, geduldig wartet er auf Beute, aufdringlich und derb zieht er sie an sich heran, ich kenne diese Art von Lust, die besitzen will, aber keine Sorge, auch ich kann ein Raubtier sein,

kann sich das Weltall weiten?, fragt Inès, kann es in seiner Ausdehnung gleichzeitig unser Schiff schrumpfen lassen?,

fragt nicht mich, fragt Jaques, der ihr im Gemeinschaftsraum gegenübersitzt, stochert in seinem Brei mit einem Messer, leckt es mit der Zunge ab, und Inès sieht weg,

ich weiß nicht, sagt er, frag Eva, Eva weiß alles, nicht wahr?,

wieder sticht er in den Brei, wieder schleckt seine Zunge über das Messer,

weiß alles besser, sagt er,

ich sage, pass mit dem Messer auf, wäre schade um deine Zunge,

Inès kichert, und Jaques sticht mit dem Messer in den Tisch, dann steht er auf, verlässt den Gemeinschaftsraum, noch immer kichert Inès,

ihre Unschuld widert mich an,

darf ich dir ein Geheimnis verraten, Inès?, darf ich dir verraten, dass ich Zufälle mag, dass ich sie mir immer herbeigehofft habe, in jedem Leben, an jedem einzelnen Tag, dass ich es mag, wenn du den Kopf zur Seite neigst, sobald ich anfange zu erzählen, dass ich dein Schmunzeln mag, wenn du glaubst, mich bei einer Lüge ertappt zu haben, aber auch dein Maulen gefällt mir, Inès, wenn es dich nicht zufriedenstellt, was ich zu sagen habe, und es gefällt mir, dass ich in dir all das sehe, was ich niemals war, was man mir immer böswillig unterstellte, mich verletzen wollend, ich war stark, Inès, in dieser Vortäuschung, alles wäre in Ordnung, alles gut so, wie es war, noch nichts zerrissen, nichts zerfleischt,

Körper noch nicht aufgeschnitten,

soll ich beginnen?, bist du bereit, meine Hübsche?, unschuldiges Wesen, das du bist, willst verdorben werden, und ich will dir diesen Wunsch erfüllen.

Das Licht gab dem Schatten einen Zwilling, und ich erwachte, hörte Stimmen, nahm Stimmen und Sprache in mich auf, es war eine mir bekannte Melodie, vulgär, laut, fordernd mit jeder Silbe, in mich dringend, die ich vermisst hatte, ich verstand das reizvolle Spiel des Lebhaften und der Trägheit, der Falschheit aus Eigensinn und der grenzenlosen Güte, Form, Chaos, Frivolität, all das war mir diese Sprache, war mir auch meine erste Erinnerung,

leise vernahm ich das Lied der Reispflückerinnen, lauschte ihrer Klage, dem Wunsch nach Freiheit, dem keimenden Widerstand, die Stadt, das Abbild einer schönen Blume, verblasste,

selten, dass ich mich in diesen ersten Tagen aus dem Bett bewegte, nie aus dem Zimmer, das von nun an in gewohnter Selbstverständlichkeit das meine war, es war ein kleines Zimmer mit schlichter Einrichtung, an der man die Jahre der Abnützung sah, dem Tisch waren drei Kanten abgeschlagen, ein Stuhlbein wackelte, und dem Lampenschirm fehlten ein paar seiner schwarzen Fransen, sein Stoff hatte einen langen Riss,

das Haus selbst war dreistöckig, die Fassade durch Pilaster gegliedert, manch Fenster, von außen betrachtet, eine täuschend echt gemalte Illusion, im Treppenaufgang und im schmalen Korridor hallten meine Schritte und mein Atem doppelte sich, die Küche, der hellste Raum, befand sich im unteren Stock, und ich teilte sie mit der Signora, einer großen, mondänen Frau, deren wahres Alter unter glatter Haut verborgen lag und die mit keiner ihrer Bewegungen in ihr Umfeld passte, nicht in ihr Haus, nicht in diese Stadt, nicht in diese Zeit,

jeden Nachmittag, wenn ich mein Geschirr in der Küche wusch, saß sie in Bernstein gefangen über einem Gläschen Orangenlikör, sie nippte mit gespitzten Lippen, sie missbilligte, dass sie aus meinem Zimmer und in meiner Kleidung Tabak roch, dass er sich ins ganze Haus lege, sagte sie, wie Leinenstoff, mit dem man Möbel in verlassenen Häusern bedeckt,

ich mochte es, dass sie sich umständlich ausdrückte und langsam sprach und mir sagte, ich solle jede Nacht nach Hause kommen, selbst wenn die Nacht zu einem Morgen geworden sei, und solle nie dort bleiben, wo man mich nicht wolle, sie wusste, wovon sie sprach, auch ich wusste es,

ich weiß, Signora, wo ich nicht bleiben darf, weiß, wo selbst das grellste Licht die Dunkelheit nie mehr vertreiben kann,

leichtsinnig Dahingesagtes, nicht ahnen konnte ich, welches Ungeheuer sich aus den Reliefs meiner Träume schälen würde,

so ist das, Inès, mit uns Seefahrern der Unendlichkeit, nicht immer suchen wir den hellsten Stern.

Erst nach Tagen verließ ich das Haus, folgte den Stimmen, die mir sangen, immer wieder einer anderen, bewegte mich im Schatten, ich hätte sichtbar sein können, hätte erkennen können, dass alles bloß ein Traum und ich eine Traumgestalt im Unterbewusstsein eines anderen gewesen wäre, des einen anderen,

so ging ich weiter in diese Gassen, die nie endeten, die sich irgendwann im Kreis drehten, verzweigte Wege, alle Wege führten nach Rom, selten ein Weg, der aus dieser Stadt hinausführte, aus der Verbindlichkeit der sich überwuchernden Epochen,

der Wind trieb mich an, schneller zu gehen, zu eilen, nicht darauf zu achten, ob ich stolperte, ob ich mich verlief,

Sonnenuntergang,

die Leerstellen atmeten,

Sonnenaufgang,

letztendlich trat ich in die Mittagssonne, die mir meinen Schatten nahm,

die Signora sagte, sie kenne Frauen wie mich, die etwas wollen, was in diesen Zeiten nur schwer zu erreichen sei, dass das einmal anders gewesen sei, und dass sich Zeiten auch ändern könnten, vielleicht wieder ändern würden, dann wenn dieser Krieg einen Anfang und ein Ende hätte, das Grauen der Welt, sagte sie, werde einmal ein Ende haben, Duce, Duce, nein, verstummen würden die Rufe nach einer gerechten Führerhand,

Hoffnung hörte ich in ihren Worten nicht, Hoffnung blieb stets dieses Flüstern unter den Menschen, das in den Straßen verklang,

sah die Signora aus dem Fenster, beobachtete ich sie, ihre Regungslosigkeit, wartete auf die kleinste Zuckung, folgte ihrem Blick, der sich auf der Mauer des Hauses gegenüber festsetzte, nichts suchte, sich dennoch in Efeuranken, immergrün wuchernd, verfing,