Sterben lassen - Ralf J. Jox - E-Book

Sterben lassen E-Book

Ralf J. Jox

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Beschreibung

Es gibt Fragen, die sich niemand gern stellt: Wann dürfen wir Sterben zulassen? Wie wahrt man die Würde des Menschen bis zum Schluss? Doch wir müssen Antworten darauf finden - als Individuen und als Gesellschaft. Zwei Drittel aller Menschen in den reichen Ländern sterben nicht mehr unerwartet, sondern absehbar, unter ärztlicher Begleitung. Ralf J. Jox hat die Sterbepraxis auf deutschen Intensivstationen untersucht und eine große Verunsicherung festgestellt. Denn Ärzte und Angehörige müssen über die »Therapiebegrenzung« entscheiden, wenn der Sterbende dies nicht mehr selbst kann. Aus seiner eigenen Erfahrung als Palliativmediziner und auf wissenschaftlicher Grundlage entwickelt Ralf J. Jox Kriterien für ethisch vertretbare Entscheidungen am Sterbebett. Er plädiert für einen intensiven Dialog aller Beteiligten als besten Weg, der Selbstbestimmung des Patienten gerecht zu werden. Eine ethische Fallberatung, mehr Rechtssicherheit, eine bessere Ausbildung in der Sterbebegleitung und vor allem ein gesellschaftlicher Bewusstseinswandel können dazu beitragen, die Entscheidungen am Lebensende erträglicher zu machen.

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Inhaltsverzeichnis
Vorwort
1. Die Kunst des Sterbenlassens
Historischer Wandel der Todeserfahrung
Alltäglichkeit des Sterbenlassens
Sterbenlassen: ein ethisches Problem?
Wandel der ärztlichen Einstellung zum Sterben
Unausweichlichkeit des Sterbenlassens
Verantwortungsvolles Entscheiden
2. Von Ängsten und Wissenslücken
Angst als dominierendes Thema
Angst vor dem Tod
Angst vor dem Sterben
Angst vor Abhängigkeit und Würdeverlust
Angst vor Verlust und Schuld
Angst vor Rechtsfolgen und rechtliche Unwissenheit
3. Rechtslage und Regelungsbedarf
Erwartungen an das Recht
Entwicklung der Rechtsprechung
Aktuelle zivilrechtliche Rechtslage
Aktuelle strafrechtliche Rechtslage
Ergänzender Regelungsbedarf
4. Entscheidungsfindung in der Praxis
Wahl der Begriffe
Das Modell der Therapiezieländerung
Ein Beispiel von der Intensivstation
Therapie ohne Ziel
Ärztliche Indikation am Lebensende
5. Selbstbestimmung im Sterben
Selbstbestimmung in Medizin und Gesellschaft
Selbstbestimmung und Fürsorge
Patientenverfügung: eine Erfolgsstory mit Einschränkungen
Der mutmaßliche Patientenwille
6. Suizid und Suizidhilfe
Aktuelle Beispiele und Fragestellung
Empirische Befunde: Welche Menschen bitten weshalb um Suizidhilfe?
Empirische Befunde: Auswirkungen einer kontrollierten Suizidhilfe
Die Regelung in Oregon
Zur aktuellen Situation in Deutschland
7. Palliativversorgung in Deutschland
Die Anfänge einer Reformbewegung
Um wen sorgt sich Palliative Care?
Welches Ziel verfolgt Palliative Care?
Was tut Palliative Care?
Wer leistet Palliative Care?
Welche anthropologischen Annahmen kennzeichnen Palliative Care?
Die Reform geht weiter
Palliativversorgung in Deutschland
Forschung und Transfer in die Praxis
Ausbildung: Grundlage nachhaltiger Qualität
Professionalisierung von Palliative Care
8. Klinische Ethikberatung
Hilfe für Entscheidungen am Ende des Lebens
Welche Praxismodelle gibt es?
Was kann Klinische Ethikberatung erreichen?
Wie weit ist die Klinische Ethikberatung in Deutschland?
Schlusswort
Anmerkungen
Glossar
Über den Autor

Für Lucia, Jakob und Julia

»Die Beschäftigung mit dem Tode ist die Wurzel der Kultur.«

Friedrich Dürrenmatt

Vorwort

Sie war unsere Großtante und lebte in einem Pflegeheim im schwäbischen Ulm. Sie muss über 80 Jahre alt gewesen sein – jedenfalls wirkte sie auf uns Kinder damals steinalt. Jahr für Jahr besuchten wir sie in dem tristen Heim, wo sie sich mit drei anderen Greisinnen ein schlichtes, schäbiges Zimmer teilte. Eine der anderen murmelte unaufhörlich das immer gleiche Stoßgebet vor sich hin, ohne Punkt und Komma, kaum vom Atemholen unterbrochen: »Gib uns allen deinen Segen, Herr, gib uns allen …« Unsere Oma schob ihr zwischendurch Erdbeeren in den Mund, damit sie wenigstens für ein paar Sekunden Ruhe gab.

Die Großtante dagegen war still und schweigsam. Sie lag im Bett, konnte sich kaum mehr bewegen. Manchmal fuhren wir sie im Rollstuhl durch den Garten, damit sie etwas von der Welt erlebe. Doch wir Kinder hatten erfahren, sie sei so gut wie blind und beinahe taub. Um mit ihr zu sprechen, musste man sich über ihr rechtes Ohr beugen und laut rufen. Wenn sie uns Kinder wahrnahm, drückte sie uns kurz die Hand. Und jedes Mal, Jahr für Jahr, zog sie uns sanft, aber entschieden zu sich hin und flüsterte uns inständig immer denselben Satz ins Ohr: »Bättet au, dass i schtirb!« – »Betet doch, dass ich sterbe!«

Uns Kinder hat dieses Ritual irgendwie verstört, aber auch seltsam belustigt. Was war denn das für ein komischer Satz? Warum sollten wir wollen, dass sie stirbt? Wie kann ein Mensch sterben wollen? Hatten wir nicht eben erst unsere eigene Mutter in jungen Jahren an Krebs sterben sehen – ein Sterben, das ganz und gar nicht gewollt war? Irgendwann, einige Jahre später, hörten wir, die Großtante sei nun »gegangen«. Erst viel später, als ich schon als Arzt arbeitete, begriff ich, was sie damals gemeint hatte.

Während meiner Arbeit auf der Palliativstation lernte ich, dass Sterben und Tod nicht immer und für alle etwas Schreckliches bedeuten. Wenn Menschen ihr nahendes Lebensende spüren, ist es nicht absonderlich, wenn sie dem Tod ins Auge sehen und ihn nicht mehr hinauszögern wollen. Sie lernen, das Leben loszulassen, Stück für Stück. Viel schwerer fällt dies meist den Angehörigen, den Ärzten und Pflegenden, für die es ja auch eine ganz andere Form des Loslassens bedeutet, denn sie bleiben allein zurück. Das Sterben des anderen zuzulassen ist aber nicht nur ein emotionales und existenzielles Problem, sondern zunehmend auch ein ethisch-moralisches. Denn es gilt, Entscheidungen zu treffen, inwieweit medizinische Maßnahmen zur Lebenserhaltung noch eingesetzt werden sollen. Wann ist es richtig, einen Menschen am Leben zu erhalten? Und wann ist es richtig, ihn sterben zu lassen? Diesen Entscheidungen müssen wir uns stellen, und von ihnen handelt dieses Buch.

In den letzten Jahren sind im Zusammenhang mit der öffentlichen Debatte um Patientenverfügungen zahlreiche Bücher zu diesem Thema erschienen, darunter viele bewegende Zeugnisse langjähriger persönlicher und beruflicher Erfahrung. Mein Ansatz geht hier bewusst in eine andere Richtung. Denn nach einigen Jahren klinischer Tätigkeit in der Neurologie, der Intensiv- und Notfallmedizin sowie in der Palliativmedizin, nicht zuletzt aber durch meine langjährige wissenschaftliche Arbeit zu ethischen Fragen am Lebensende wurde mir mehr und mehr bewusst, wie unerlässlich es hierbei ist, einmal innezuhalten und jenseits konkreter Schicksale über diese Fragen nachzudenken. Mein Anliegen ist es, zu dieser Reflexion anzuregen. Dazu scheint es mir wichtig, den Stand der internationalen Forschung und auch meine eigenen wissenschaftlichen Ergebnisse in verständlicher Form zu vermitteln. Die öffentliche Diskussion über das Sterbenlassen krankt seit Jahren an einer übertriebenen Emotionalisierung. Viel zu häufig werden nur Erlebnisse und Einstellungen ausgetauscht, viel zu selten Fakten zur Kenntnis genommen und Argumente abgewogen. Sachlich, aber engagiert sollen hier die wichtigsten Themen dargestellt werden. Möge das Buch in diesem Sinne zur Versachlichung und vernunftgeleiteten Betrachtung anregen.

Es richtet sich grundsätzlich an alle Leser, denn jeder ist sterblich und hat mit dem Sterben anderer zu tun. Ich hoffe, dass Kranke und ihre Angehörigen genauso davon profitieren wie Dienstleister im Gesundheitswesen, Ethiker, Juristen und Politiker. Die einzelnen Kapitel sind so selbstständig gestaltet, dass sie auch isoliert voneinander verstanden werden können. An jedes Kapitel schließt sich eine ausführliche Liste der aktuellen Literatur zu den jeweiligen Themen an. Ein Glossar am Ende des Buches greift die wichtigsten verwendeten Begriffe auf.

Die Arbeit an diesem Buch hat mich viele Abende gekostet, deshalb danke ich zuallererst meiner Familie für ihr Verständnis. Mein Dank gilt ebenso den zahlreichen Kolleginnen und Kollegen, mit denen ich wissenschaftlich und klinisch zusammengearbeitet habe, insbesondere Gian Domenico Borasio, von dem ich sehr viel lernen durfte. Ich danke der Körber-Stiftung, speziell dem Team des Deutschen Studienpreises, für die Unterstützung meiner wissenschaftlichen Arbeit und die Ermunterung zu diesem Buch. Zu guter Letzt bin ich besonders Ulrike Fritzsching zu Dank verpflichtet, die mir durch ihr sorgfältiges Lektorat und ihre freundliche Art die Arbeit an diesem Buch sehr angenehm gestaltet hat.

München, im August 2011

Ralf J. Jox

1. Die Kunst des Sterbenlassens

Historischer Wandel der Todeserfahrung

»Mors certa, hora incerta.« Es gibt kaum etwas Gewisseres als den Tod, aber auch kaum etwas Ungewisseres als die Todesstunde. Bereits Augustinus reflektierte diesen Gedanken, der in der Antike zum Allgemeingut gehörte und später auch prominent von dem Zisterzienserprediger Bernhard von Clairvaux aus dem 12. Jahrhundert überliefert ist. Lange Zeit war es Brauch, den zitierten lateinischen Sinnspruch auf Uhren, insbesondere Sonnenuhren, gravieren zu lassen, um die Menschen jederzeit an ihre Sterblichkeit zu erinnern. So tragen etwa die große Uhr am Neuen Rathaus in Leipzig oder die Sonnenuhr des Dresdener Schlosses diese Inschrift.

Dabei vermittelt sie nicht allein die Erkenntnis, dass wir in gesunden Tagen nicht wissen, wann wir sterben werden, ob bereits am morgigen Tag oder erst in 50 Jahren. Damals wie heute leben wir in dieser Ungewissheit, an der auch die Voraussagekraft der modernen Genetik bisher nichts geändert hat – und das ist gut so. Ein Zweites drückt die Sentenz aus: Der Tod kommt meist unversehens und plötzlich. Noch in den Jahren 1871–1881 betrug die durchschnittliche Lebenserwartung eines Deutschen bei seiner Geburt 35,5 Jahre, wie es das Statistische Bundesamt belegt.1 Bis ins 19. Jahrhundert hinein starben die meisten Menschen in ihrer Kindheit, Jugend oder im jüngeren Erwachsenenalter. Die Todesursache waren zumeist akute Infektionen, Epidemien, Unfälle oder Gewalttaten und Kriege. Die tödlichen Verläufe konnten mit medizinischen Mitteln nur unwesentlich gebremst, geschweige denn aufgehalten werden.

Dies hat sich seit dem 19. Jahrhundert für die industrialisierten westlichen Länder grundlegend gewandelt. In der jüngsten Sterbetafel von 2007 bis 2009 wird die Lebenserwartung bei der Geburt mit 77,3 Jahren für Männer und 82,5 Jahren für Frauen angegeben.2 Heute sterben hierzulande die meisten Menschen an fortschreitend verlaufenden chronischen Krankheiten, vor allem Herz-Kreislauf-, Krebs- und Lungenerkrankungen.3 Zwar vermag die moderne Medizin, entgegen einer weitverbreiteten Meinung, die meisten dieser chronischen Erkrankungen nicht zu heilen und in ihrem Verlauf allenfalls zu bremsen. Doch können akute Verschlechterungen des Gesundheitszustands deutlich besser behandelt und oftmals stabilisiert werden, Organfunktionen können gestützt oder ersetzt werden, der menschliche Organismus kann in lebenskritischen Lagen am Leben erhalten werden. Diese Diskrepanz zwischen einer hocheffektiven, Lebenserhaltung erreichenden Akut-, Notfall- und Intensivtherapie und einer weniger effektiven, Heilung oder Zustandsbesserung oft verfehlenden Behandlung chronischer Leiden ist das hervorstechende Merkmal der heutigen Medizin.

Dabei ist es noch gar nicht lange her, dass die akutmedizinischen Errungenschaften entwickelt wurden. Erst seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stehen die Techniken zur Verfügung, mit deren Hilfe die Intensivmedizin heute so effektiv ist. Die Dialyse wurde 1945 von dem Niederländer Willem Kolff entwickelt, die maschinelle Intubationsbeatmung heutiger Art entstand in den 1950er Jahren, und 1954 begann die Transplantationschirurgie mit der ersten erfolgreichen Verpflanzung einer Niere. Der Stockholmer Herzchirurg Åke Senning implantierte 1958 den ersten Herzschrittmacher, 1961 gelang dem österreichisch-amerikanischen Anästhesisten Peter Safar der Durchbruch in der Herz-Lungen-Wiederbelebung, und 1962 veröffentlichte der amerikanische Kardiologe Bernard Lown die elektrische Defibrillation zur Unterbrechung lebensbedrohlicher Herzrhythmusstörungen. In den 1970er Jahren wurde eine Möglichkeit gefunden, bei stark geschädigter Lunge das Blut auch außerhalb des Körpers künstlich mit Sauerstoff anzureichern. Die Magensonde gab es zwar schon länger, aber erst 1980 wurde die direkt durch die Bauchdecke in den Magen mündende PEG-Sonde erfunden, welche eine künstliche Ernährung über Jahrzehnte hinweg erlaubt. Schließlich wurde 1999 von deutschen Forschern eine Möglichkeit entwickelt, einen Großteil der Leberfunktionen mittels einer Art von Leber-Dialyse zu ersetzen.

Diese und weitere neue Behandlungsmethoden erlauben es heutzutage, beinahe alle Organfunktionen des menschlichen Körpers zu ersetzen. Gemeinsam mit den geschilderten Veränderungen von Lebenserwartung und Todesursachen hat dies dazu geführt, dass wir Zeitgenossen anders sterben als je zuvor. Der Tod ist für die meisten Menschen nicht mehr der Sensenmann, der unvermutet auftrittt und mit einem schnellen Schnitt das Leben der Menschen in seiner Blüte kappt. Der Tod beendet das Leben in der Regel im Alter, er ist über Wochen oder Monate zuvor absehbar und stellt das Ergebnis bewusster Verzichtsentscheidungen dar.

Alltäglichkeit des Sterbenlassens

Dies lässt sich mit empirischen Daten solide untermauern. Vor etwa zehn Jahren wurde die große europäische Studie EURELD durchgeführt, welche in den sechs Ländern Belgien, Dänemark, Italien, Niederlande, Schweden und Schweiz die aktuelle Sterbepraxis untersuchte.4 Für einen Zeitraum von neun Monaten wurde ein repräsentativer Querschnitt aller Todesfälle in der Bevölkerung analysiert, indem die Todesbescheinigungen ausgewertet und die zuletzt behandelnden Ärzte zu diesen Patienten5 befragt wurden. Von den über 20.000 untersuchten Todesfällen trat nur ein Drittel unerwartet auf, zwei Drittel jedoch erwartet und absehbar. Je nach Land war jeder vierte bis jeder zweite aller untersuchten Todesfälle mit der bewussten Entscheidung verbunden, das Sterben des Patienten zu ermöglichen. Meist geschah dies dadurch, dass eine oder mehrere lebenserhaltende Maßnahmen nicht mehr begonnen oder nicht mehr fortgeführt wurden.

Wenn schon bei sämtlichen Todesfällen in der Bevölkerung der Anteil von Todesfällen durch ein Sterbenlassen so groß ist, dann darf man erwarten, dass dies auf Intensivstationen, wo ja die Kunst der Lebenserhaltung auf die Spitze getrieben wird, noch häufiger vorkommt. Außerdem ist die Intensivstation einer der Orte, an denen Menschen am häufigsten sterben. In einer amerikanischen Untersuchung wurde festgestellt, dass jeder fünfte Bürger sein Leben auf der Intensivstation beendet.6 Wer im Krankenhaus stirbt – 38 Prozent aller Todesfälle –, stirbt demnach am wahrscheinlichsten auf der Intensivstation. Je jünger ein Sterbender ist, umso wahrscheinlicher ist es dieser Studie zufolge, dass er in der sogenannten Behandlungsbox einer Intensivstation seine letzten Tage verbringen wird.

In der Tat verhält es sich so, dass auf Intensivstationen die allermeisten Todesfälle durch Sterbenlassen zustande kommen. Auch hierzu gibt es eine europaweite Untersuchung, die sogar in 17 Ländern über 30.000 Patienten, die auf Intensivstationen aufgenommen wurden, weiterverfolgt hat.7 Etwas über 13 Prozent dieser Patienten starben auf der Intensivstation. Bei drei Vierteln dieser Todesfälle waren lebenserhaltende Maßnahmen eingestellt oder von vornherein nicht begonnen worden. Auch hier ließ sich, wie schon bei der EURELD-Studie, ein Nord-Süd-Gefälle in Europa feststellen: In nordeuropäischen und etwas abgeschwächt auch in zentraleuropäischen Ländern werden lebenserhaltende Maßnahmen häufiger begrenzt als in südeuropäischen Ländern. Genauer betrachtet liegt dies daran, dass in südeuropäischen Ländern lebenserhaltende Maßnahmen deutlich seltener abgebrochen werden, wenn sie einmal begonnen worden sind, während kein relevanter Unterschied darin besteht, wie oft solche Maßnahmen von vornherein unterlassen werden.

Die Tatsache, dass uns diese genauen Daten aus der Intensivmedizin vorliegen, sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Sterbenlassen nicht auf die Intensivstationen beschränkt ist. Es geschieht genauso in Alters- und Pflegeheimen, wenn Ärzte, Pflegende, Angehörige und rechtliche Vertreter der Patienten übereinkommen, auf eine Wiederbelebung zu verzichten. Es findet sich in der Entscheidung des Hausarztes, seinen todkranken Tumorpatienten bei der nächsten Komplikation nicht mehr ins Krankenhaus einweisen zu lassen, oder in der Entscheidung des Notarztes, der Patientin mit der Lungenfibrose im Endstadium keinen Beatmungsschlauch mehr für eine maschinelle Beatmung zu legen, sondern ihr Morphin zur Linderung der Atemnot zu geben. Und schließlich gehört das Zulassen des natürlichen Sterbens zu den Grundlagen der Palliativmedizin, die immer mehr Menschen beim Sterben begleitet. Eine wissenschaftliche Befragung aller ärztlichen Mitglieder der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin aus dem Jahr 2010 hat ergeben, dass knapp 70 Prozent dieser Ärzte bei ihren zuletzt behandelten Patienten auf lebenserhaltende Maßnahmen bewusst verzichtet haben, um das natürliche Sterben zuzulassen.8

Sterbenlassen: ein ethisches Problem?

Sterbenlassen stellt heutzutage also eine weitverbreitete Praxis dar. Heißt das aber nun, dass Menschen wieder »natürlich« sterben können wie in früheren Zeiten, als noch kein Kraut gegen die lebensbedrohliche Gefahr von Unfällen und Krankheiten gewachsen war? Immer wieder hört man ja die Forderung, wir müssten das natürliche Sterben wiederentdecken. Doch unterliegen wir damit einem Trugschluss: Wir lassen zwar der Krankheit ihren Lauf und greifen nicht mittels lebenserhaltender Techniken ein, doch wir tun dies sehr bewusst und erlauben der Natur nur so viel, wie es unseren Zielen zupass kommt. Selbstverständlich bemühen wir uns zugleich, die Schmerzen der Sterbenden zu lindern, ihre Atemnot zu dämpfen oder ihre sonstigen Beschwerden zu mildern. Dies tun wir mithilfe neuester Medikamente und technischer Hilfsmittel, wie etwa Kanülen im Unterhautfettgewebe zur Verabreichung von Infusionen. So wird der Sterbeprozess heute mehr denn je professionell gestaltet und gebändigt, von Ärzten, Pflegenden, Seelsorgern, Psychologen und Therapeuten. Und dabei ist es gerade die Palliativmedizin, welche sich parallel zu den skizzierten technischen Errungenschaften der Akutmedizin seit den 1960er Jahren von England und Kanada aus entwickelt hat und sich für die bewusste Gestaltung des Sterbeprozesses einsetzt. Bezeichnend dafür ist ein geflügeltes Wort, das als Motto für die Palliativmedizin gilt: »Wenn nichts mehr zu machen ist, ist noch viel zu tun.«

Wo aber liegt nun das Problem bei alledem? Stellt es überhaupt ein Problem für unsere Gesellschaft dar, wann und wie wir andere – oder auch uns selbst – sterben lassen? Die gesellschaftliche Diskussion der letzten Jahrzehnte bejaht diese Frage auf eindrückliche Weise. Es gibt kaum ein anderes Thema der Bioethik und Biopolitik, das die gesellschaftliche Diskussion seit den 1970er Jahren so kontinuierlich und nachhaltig prägt wie das Problem der sogenannten Sterbehilfe. Es begann mit dem berühmten Fall der amerikanischen Komapatientin Karen Ann Quinlan, bei der 1976 der New Jersey Supreme Court entschied, dass ihre maschinelle Beatmung abgestellt werden dürfe.9 In der Folge entwickelte sich eine Right-to-die-Bewegung, die auch auf Deutschland überging und bereits in der 1980er Jahren erste Formen der Patientenverfügung propagierte. Anfangs wurde die Debatte um das Sterbenlassen stark vermischt mit Forderungen nach einer Legalisierung der Tötung auf Verlangen (»aktive Sterbehilfe«) oder der Beihilfe zur Selbsttötung. Dies geschah im Kontext der niederländischen Liberalisierung der Tötung auf Verlangen und der Aktivitäten von Suizidhilfe-Vereinen in der Schweiz, die auch Protagonisten in Deutschland beeinflussten, etwa den Arzt Julius Hackethal, der 1984 einer Frau Suizidhilfe leistete. Seit den 1990er Jahren trat dann mehr und mehr das Recht in den Vordergrund, am natürlichen Sterben nicht gehindert zu werden, was in Deutschland und anderen Ländern vorwiegend durch höchstrichterliche Urteile ausgearbeitet und durchgesetzt wurde. So hat der Bundesgerichtshof mit mehreren Urteilen zwischen 1994 und 2010 das Patientenrecht, sterben zu dürfen, und die Arztverpflichtung, Sterben zuzulassen, juristisch installiert. In den vergangenen zehn Jahren wurde dieses Recht vor allem unter dem Reizwort der Patientenverfügung diskutiert, was schließlich 2009 in einer gesetzlichen Regelung derselben mündete.

Die öffentlichen Debatten in Feuilletons, Fernseh-Talkshows und Podiumsdiskussionen sind aber nicht losgelöst vom klinischen Alltag, sondern spiegeln die Probleme der Kliniker einerseits wider und wirken andererseits auf sie zurück. Eine groß angelegte Befragung von Internisten in verschiedenen europäischen Ländern ergab 2007, dass quasi alle befragten Internisten in ihrer täglichen Patientenversorgung mit ethischen Problemen konfrontiert wurden.10 Eines der häufigsten Probleme, genannt von 80 Prozent der Ärzte, betraf die Begrenzung lebenserhaltender Maßnahmen am Lebensende. Das identische Ergebnis hatte bereits einige Jahre zuvor eine Befragung Ärztlicher Direktoren und Pflegedirektoren deutscher Universitätskliniken erbracht.11 Die praktische Relevanz des Problems lässt sich auch daran ablesen, dass die Frage des Sterbenlassens der mit Abstand häufigste Grund ist, weshalb Ärzte in Kliniken die Hilfe von ethischen Beratungsdiensten anfordern. Dies hat sich gemäß einer Übersicht aller wissenschaftlichen Studien hierzu zwischen 1987 und 2005 nicht geändert.12

Warum bewerten Ärzte kein anderes ethisches Problem als gewichtiger und häufiger als die Frage des Sterbenlassens? Es finden sich im Wesentlichen drei Gründe: Erstens ist die Sterblichkeit die zentrale Herausforderung eines jeden Menschen, und jeder muss versuchen, seinem Leben vor diesem Hintergrund einen Sinn zu verleihen. Das trifft natürlich auf die in der Medizin Tätigen ebenso zu, vielleicht sogar in besonderem Maße, da sie durch die Patientenschicksale viel häufiger an ihre eigene Endlichkeit erinnert werden. Zweitens haben sich die westlichen Gesellschaften in den letzten 100 Jahren deutlich gewandelt, hin zu einer offenen, pluralen und säkularen Gesellschaft, in der Menschen unterschiedlicher Kulturen, Ethnien und Biografien mit verschiedensten Wertvorstellungen gleichberechtigt koexistieren – zumindest orientieren sich die westlichen Gesellschaften an dieser Idee, auch wenn sie nur unzureichend realisiert ist. Keine Institution kann noch uneingeschränkte moralische Autorität beanspruchen, weder die Kirchen oder Religionsgemeinschaften noch die Familie, die Parteien oder die Professionen. Damit stehen auch die moralischen Positionen zum Sterben und Sterbenlassen in einem pluralen Widerstreit. Drittens haben sich auch die Medizin und das Gesundheitswesen gewandelt. Die intime Dyade zwischen dem Hausarzt und seinem Patienten ist einem komplexen Versorgungssystem gewichen, das von Spezialisierung und Subspezialisierung, Institutionalisierung, Multiprofessionalisierung und Ökonomisierung geprägt ist. Der Kranke wird nicht mehr allein von seinem wohlbekannten, freundschaftlich verbundenen Hausarzt behandelt, sondern sieht sich in einem urbanen Klinikum einer Vielzahl spezialisierter, ihm unbekannter Ärzte, Pflegender und Therapeuten gegenüber. Niedergelassene Ärzte und Krankenhäuser müssen sich zudem als Wirtschaftsunternehmen behaupten und im Kontext der Ressourcenknappheit und der kompetitiven Mittelverteilung ihre wirtschaftliche Existenz im Auge behalten, was zuweilen zu Konflikten mit dem medizinisch Notwendigen oder ethisch Geforderten führt. Der Verlust der traditionellen Vertrauensbasis einer intimen und lange währenden Arzt-Patient-Beziehung hat es erforderlich gemacht, dass Patienten ihre eigenen Rechte formulieren, ihre Selbstbestimmung betonen und die Ethik der Ärzte hinterfragen. Die moderne Bio- und Medizinethik ist genau aus dieser Situation heraus in den 1960er Jahren entstanden und hat sich von Anfang an vor allem durch die Stärkung der Patientenselbstbestimmung ausgezeichnet. Konsequenterweise wurde auch die traditionelle ärztliche Berufsethik infrage gestellt, sodass althergebrachte Kodizes wie etwa der Hippokratische Eid nicht mehr eins zu eins auf die heutige Situation übertragbar sind, sondern neue Handlungskriterien entwickelt werden müssen. Jede größere Ärztevereinigung hat deshalb heutzutage ein Gremium, das ethische Grundsätze ihres Handelns reflektiert und einen Konsens formuliert. Die Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung, 1979 erstmals als »Richtlinien« verfasst und seither viermal aktualisiert, gehen in ihrer neuen Fassung von 2011 sogar so weit, nicht mehr von einem einheitlichen ärztlichen Ethos zu sprechen, wie dies noch 2004 der Fall war, sondern von den »verschiedenen und differenzierten individuellen Moralvorstellungen von Ärzten in einer pluralistischen Gesellschaft«.13

Wandel der ärztlichen Einstellung zum Sterben

Im Zuge dieser Veränderungen in den moralischen Vorstellungen westlicher Gesellschaften ist es nur folgerichtig, dass auch ein Berufsstand wie die Ärzteschaft seine Wertehaltungen ändert. Für die Einstellung zum Sterben ist dies sehr eindrücklich zu beobachten. Bis weit ins 20. Jahrhundert orientierten sich die Ärzte vornehmlich am Wert des Lebens und der Verpflichtung, Leben zu schützen sowie Gesundheit zu fördern. Sobald ein Patient jedoch infaust, das heißt »unheilvoll« erkrankt und sein baldiger Tod nicht mehr aufzuhalten war, zogen sich die Ärzte aus der Behandlung zurück. Um die Sterbenden kümmerten sich dann Nonnen, Krankenschwestern und Seelsorger. Die Ärzte sahen es nicht als ihre Aufgabe an, am Sterbebett aktiv zu werden. Gewiss gab es Ausnahmen, und manche Ärzte setzten ihre Kunst der Schmerzlinderung mit Morphium auch für Sterbende ein. Aber im Großen und Ganzen wurde dies nicht als ärztliche Aufgabe oder gar ethische Verpflichtung betrachtet.

Entscheidend war daher einzig und allein die korrekte Prognosestellung, um frühzeitig vorhersagen zu können, wem noch zu helfen war und wer vor dem nahenden Tod nicht mehr gerettet werden könne. Kennzeichnend dafür ist folgende Bemerkung aus dem hippokratischen Werk »Prognostikon«: »Daher muß man die Natur derartiger (tödlicher) Krankheitsbilder erkennen und wissen, wie sehr sie der Kraft der Körper überlegen sind (…) und ihre Prognose gründlich lernen. So wird man mit Recht bewundert werden und ein guter Arzt sein. (…) Man wird, wenn man vorher erkennt und voraussagt, wer sterben und wer am Leben bleiben wird, von der Verantwortung frei.«14

Zwar gab es schon seit dem 16. Jahrhundert einzelne Ärzte, die sich um eine »Cura Palliativa«, eine Linderung von Leid, bei schwer kranken Patienten bemühten.15 Doch in den spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Hospizen, welche der heutigen Hospizbewegung ihren Namen gaben, waren es im Wesentlichen Nonnen und Mönche, die den Kranken, Lahmen und Sterbenden am Rande der Pilgerwege ein Obdach boten und sie auch bis zum Tod versorgten. Erst durch die moderne Hospiz- und Palliativbewegung seit den 1960er Jahren wurde den Ärzten mehr und mehr bewusst, dass ihre Kunst auch am Sterbebett gefragt ist, dass ihnen effektive Mittel zur Leidenslinderung in der letzten Lebensphase zur Verfügung stehen und sie zu dieser Hilfe moralisch verpflichtet sind. So schrieb die Bundesärztekammer bereits in ihrer ersten Richtlinie zur ärztlichen Sterbebegleitung 1979: »Zu den Pflichten des Arztes, Leben zu erhalten, die Gesundheit zu schützen sowie wiederherzustellen und Leiden zu lindern, gehört auch, dem Sterbenden bis zu seinem Tod zu helfen. Die Hilfe besteht in Behandlung, Beistand und Pflege.«16

Je mehr die Ärzte aber die medizinische Sterbebegleitung zu ihren ethischen Verpflichtungen und ärztlichen Aufgaben rechneten, desto eher konnten sie lernen, Sterben zuzulassen, da sie dem Patienten nicht mehr sagen mussten: »Wir können nichts mehr für Sie tun.«

Unausweichlichkeit des Sterbenlassens

Nun drängt sich die Frage auf, ob die heutige Praxis des Sterbenlassens ethisch richtig ist. Dürfen wir andere Menschen überhaupt sterben lassen? In der Tat gibt es Verfechter der Einstellung, man dürfe unter keinen Umständen den Tod zulassen oder man dürfe allenfalls für sich selbst auf Lebenserhaltung verzichten, dies aber nicht für andere entscheiden.

Wer so argumentiert, verkennt zunächst, dass Entscheidungen nicht dadurch umgangen werden können, dass man sie ignoriert. Sobald uns bewusst ist, dass lebenserhaltende Behandlungsmaßnahmen eingesetzt werden, die ja genauso gut unterlassen werden könnten, fällen wir eine Entscheidung. Selbst wenn wir den Beatmungsapparat einfach weiterlaufen lassen, treffen wir eine Entscheidung – nämlich diejenige zur fortgesetzten Beatmung. Das mag nicht jeden Tag bewusst geschehen, dennoch wird eine solch grundsätzliche Entscheidung Tag für Tag performativ, also durch das Handeln bekräftigt.

Man unterliegt also einer Selbsttäuschung, wenn man sich einredet, die Beatmung sei nun einmal begonnen worden, also müsse sie auch fortgesetzt werden. Die Folgen einer solchen Einstellung wären geradezu grotesk, denn das hieße ja, man könnte nichts, was einmal begonnen wurde, jemals wieder beenden. Man müsste Behandlungen durchführen, die man selbst nicht mehr für gerechtfertigt erachtete, oder wäre gleich zu Beginn viel zu skeptisch und skrupulös, eine lebenserhaltende Therapie überhaupt zu beginnen, um sie nicht wider Willen ad infinitum fortsetzen zu müssen.

Nun gibt es manche, die zwar akzeptieren, dass Weichen gestellt werden müssen, die es jedoch strikt ablehnen, Entscheidungen über Leben und Tod anderer zu treffen. Ihnen zufolge müsse es immer die Entscheidung des Betreffenden selbst bleiben. Damit ist zwar ein wichtiges Kriterium für die Entscheidungsfindung angesprochen, auf das in Kapitel fünf über die Selbstbestimmung des Sterbenden noch einzugehen sein wird. Die Entscheidung für andere aber rundweg abzulehnen, geht schlicht an der Realität vorbei. Denn viele Menschen sind gerade dann, wenn über lebenserhaltende Therapiemaßnahmen entschieden werden muss, in einem so schlechten Gesundheitszustand, dass sie dazu gar nicht mehr in der Lage sind – sei es aufgrund eines Komas, eines schweren Schlaganfalls oder einer Demenzkrankheit. Das ist das Vertrackte: Sie können die Entscheidung nicht mehr selbst treffen, sind jedoch existenziell von der Entscheidung be-troffen. Schon ein Viertel der Patienten, die auf eine akutmedizinische Station aufgenommen werden, ist nicht entscheidungsfähig.17 Weitaus höher ist natürlich der Anteil auf Intensivstationen, in Palliativeinrichtungen oder in Pflegeheimen, den Orten, an denen solche Entscheidungen über Leben und Tod zumeist getroffen werden müssen. Lebenserhaltende Maßnahmen sind ja erst dann nötig, wenn der betreffende Patient sich in einer lebensbedrohlichen Situation befindet, und dann sind meist auch die kognitiven Funktionen beeinträchtigt. Gewiss gibt es auch die Dialysepatienten, die im geistig klaren Zustand ihre Dialyse beenden, oder die Tumorpatienten, die sich wachen Verstandes entschließen, auf die lebensrettende Operation zu verzichten. Aber oft sind es eben auch die Patienten, die mit einer Blutvergiftung, einer schweren Hirnblutung oder einem Herzinfarkt nach der Wiederbelebung ins Krankenhaus eingewiesen werden und bei denen sich dann irgendwann die Frage stellt, ob lebenserhaltende Maßnahmen weitergeführt werden sollen.

Verantwortungsvolles Entscheiden

Wir stehen also vor der Notwendigkeit, über das Wann und Wie des Sterbens zu entscheiden – und das nicht nur uns selbst, sondern, vielleicht mehr noch, andere betreffend. Dabei ist diese Aufgabe nicht auf Ärzte oder Mitarbeiter im Gesundheitswesen beschränkt: Die meisten von uns werden als Angehörige sogar mehrmals im Leben über das Sterben anderer entscheiden müssen. Es mag darum gehen, ob die demenzkranke Großmutter noch eine Magensonde bekommt, ob der herzkranke Ehemann noch einmal eine riskante Herzkatheter-Therapie erhalten oder gar das eigene Kind nach einem schlimmen Verkehrsunfall weiter maschinell beatmet werden soll.

In solchen Situationen brauchen wir viel Verantwortungsbewusstsein, Einfühlungsvermögen und Entscheidungsstärke. Es wird uns etwas abverlangt, was man geradezu eine Kunst des Entscheidens nennen kann. Im ausgehenden Mittelalter lehrte die Kirche den Gläubigen eine »Ars moriendi«, eine Kunst zu sterben. Das 1415 verfasste Buch eines nicht namentlich überlieferten Dominikanermönchs war eines der ersten Bücher, das nach Erfindung des Buchdrucks in zahlreichen Ausgaben über ganz Europa verbreitet und gleichsam einer der ersten Bestseller auf dem internationalen Büchermarkt wurde. Gerade in Deutschland war das Buch lange populär. Es behandelte ausführlich, wie sich der Mensch auf das eigene Sterben vorbereiten und wie er sich am Sterbebett eines anderen verhalten solle.

Heute müsste in einem solchen Buch auch ein Kapitel über das Sterbenlassen enthalten sein. Der Ars moriendi müsste eine Ars morte decernendi, eine Kunst, über das Sterben zu entscheiden, zur Seite gestellt werden. Um zu skizzieren, wie eine solche Kunst aussehen könnte, werde ich zunächst anhand einer eigenen Untersuchung der Sterbepraxis auf Intensivstationen auf die Probleme, Ängste und Unsicherheiten eingehen, die dabei auftauchen. Schließlich werden sich daraus die für die Entscheidungen am Ende des Lebens wesentlichen Faktoren ergeben: Das sind die Rechtssicherheit, die ethischen Kriterien des Patientenwohls und der Patientenselbstbestimmung (was auch zur Frage der Suizidhilfe führt), die Palliativversorgung und der ethische Dialog.

2. Von Ängsten und Wissenslücken

Angst als dominierendes Thema

Es gibt eine Leitmelodie, die alle Debatten über das Sterbenlassen durchzieht, gleichsam eine Art Basso continuo mit schaurig düsteren und dissonanten Akkorden: die Angst. Man hört sie überall: auf den onkologischen oder neurologischen Stationen, in den Pflegeheimen und Familien, auf den Tagungen der Akademien, in den Gerichtssälen, den Hörsälen oder dem Plenarsaal des Parlaments. Sie ist allgegenwärtig, wo es um Sterben und Sterbenlassen geht.

Das mag kaum verwundern und ist, wie wir noch sehen werden, nicht ohne Rechtfertigung. Angst kann förderlich, ja notwendig sein. Aber Ängste können auch lähmen, malträtieren, Entscheidungen behindern, Beziehungen zerstören, Menschen unglücklich und krank machen. Diese schädlichen, abträglichen Ängste werden von vielfältigen Ursachen angefacht. Da spielen die Persönlichkeit und die biografische Erfahrung eine Rolle, vieles resultiert aus Vereinsamung und Kommunikationsmängeln, aber vieles ist auch der Unwissenheit, Ignoranz und Inkompetenz geschuldet. Deshalb soll hier neben den Ängsten vor allem die Unwissenheit genauer unter die Lupe genommen werden sowie in einem späteren Kapitel die Rolle der Kommunikation.

Die Ängste betreffen ausnahmslos alle beteiligten Personen: natürlich in vorderster Linie die Patienten, die Kranken und Sterbenden selbst, aber auch die Angehörigen, die Ärzte und Pflegenden sowie die verschiedenen Sterbebegleiter. Bei jeder dieser Gruppen stehen unterschiedliche Arten von Ängsten im Vordergrund, hinzu kommen die individuellen Unterschiede und Schwankungen im Verlauf eines Lebens. Aber kaum einer kann, wenn er nur ehrlich zu sich selbst ist, leugnen, dass ihn bei diesem Thema Ängste beschleichen. Einen Menschen ohne Ängste habe ich noch nicht getroffen – und was könnte dem Menschen mehr Angst einjagen als Tod und Sterben?

Angst vor dem Tod

Man sollte sich bemühen, bei einer solchen Betrachtung stets Tod und Sterben sorgfältig zu unterscheiden. Dieses Buch handelt vom Sterben und vor allem vom Sterbenlassen, nicht aber vom Tod. Das Sterben ist eine Lebensphase, sogar eine besonders intensive Lebensphase, und zugleich die Selbstrücknahme des Lebens. Wann das Sterben beginnt, ist eine notorisch strittige und problematische Frage. In der Natur herrscht ja ein dauerndes »Stirb und Werde«, wie Goethe es nannte.18 Man könnte sich auf den Standpunkt stellen, dass in gewisser Weise das Sterben eines Menschen bereits mit der Geburt oder gar in utero beginne, denn schon hier befindet er sich im Strom der Zeit, altert, lebt Tag für Tag seinem Tod entgegen. Physiologisch betrachtet kann man den Sterbebeginn auch in den Jahren zwischen zehn und 30 ansetzen, da in dieser Zeit viele physiologische Parameter und Leistungsfunktionen ihren Höhepunkt erreichen, um nach und nach wieder abzufallen.19 Danach schrumpft der Mensch allmählich, die Fruchtbarkeit nimmt ab, die sportliche Leistungsfähigkeit lässt nach, sogar die geistige Kreativität flaut eher ab. Rein evolutionsbiologisch betrachtet ergibt es durchaus einen Sinn, wenn der Mensch in ein paar wenigen fruchtbaren Jahren Nachkommen zeugt. Im Anschluss ist seine Existenz in dieser Betrachtungsweise nur noch eingeschränkt vonnöten, namentlich für die Zeit der Erziehung seiner Kinder.

Glücklicherweise haben wir eine kulturelle Welt entwickelt, in der die Menschen auch viele Jahrzehnte nach ihrer physiologischen Blüte noch aktiv und sinnvoll leben können. Aber wenn sich irgendwann, sei es durch Krankheit oder hohes Alter, das Leben dem Ende zuneigt, beginnt das Sterben. Die Etymologie des Wortes »sterben« führt uns etwas in die Irre, da das westgermanische Verb »sterban« und die ihm zugrunde liegende indoeuropäische Wortwurzel »(s)terp-« so viel bedeuten wie »erstarren, steif werden«, damit also eher auf die Entwicklung der Leichenstarre nach dem Todeseintritt statt auf den Prozess davor hinweisen.20 Medizinisch sinnvoll kann man eigentlich nur von dem unmittelbaren Sterbeprozess sprechen, im medizinischen Jargon oft auch »Terminalphase« genannt.21 Das sind die letzten Stunden vor dem Tod, die manchmal nur eine, manchmal bis zu 100 Stunden sein können. Sie sind charakterisiert durch ein schrittweises Versagen mehrerer Organfunktionen. Der Sterbende kann sich in der Regel nicht mehr aus dem Liegen aufrichten, ist oft nur noch eingeschränkt kontaktfähig. Schon die griechischen Ärzte der hippokratischen Schule übten sich in der Kunst, das unmittelbare Sterben an bestimmten äußeren Zeichen vorhersagen zu können. Die spitze Nase, die eingefallenen Wangen, die eingesunkenen Schläfen, die hohlen Augen, die blasse Gesichtsfarbe waren dementsprechend Zeichen des nahenden Todes und gingen als »Facies hippocratica« in die Medizingeschichte ein.22

Irgendwann im Lauf des weiteren Prozesses, nach gesellschaftlich vereinbarten Kriterien, wird der Mensch dann für tot erklärt. Ärzte stellen den Tod fest, entweder als Herz-Kreislauf-Tod oder als Hirntod. Der Tod selbst ist gleichsam der Nachfolger des Sterbens, die Kehrseite des Lebens. Er wirft seine Schatten auf das Leben voraus, und doch können wir wenig, fast nichts über den Tod sagen, geschweige denn ihn begreifen. Die Angst vor dem Tod wurde von manchen Philosophen als Urangst angesehen, als die Angst, die allen anderen Ängsten letztlich zugrunde liegt; Martin Heidegger sah in ihr sogar die Grundlage von Selbst- und Welterkenntnis.23 Wovor genau hat man aber Angst? Sicher vor der radikalen Ungewissheit darüber, was der Tod ist und was mit einem passiert, wenn man gestorben ist. Menschen haben deshalb seit jeher versucht, diese Ungewissheit mit Bildern vom Jenseits zu füllen und sich durch den Glauben daran zu beruhigen. Selbst die abstrakte Vorstellung, man falle aus der raumzeitlichen Welt in eine andere, ewige Wirklichkeit, kann immer nur eine Glaubenssache sein. Diese Angst vor der Ungewissheit des Todes zwingt uns also zum Glauben, sei es ein theistischer oder atheistischer Glaube.

Doch die Angst vor dem Tod ist nicht allein durch die Ungewissheit erklärt. Hinzu tritt die Möglichkeit der kompletten Vernichtung des Menschen, die Angst vor dem Nichts, der Horror vacui, wie ihn der dänische Philosoph Søren Kierkegaard beschrieben hat.24 Kann es für uns Menschen etwas Beängstigenderes geben als die Bedrohung, dass unser Ich, unsere Person, unser ganzes Leben zu nichts verpuffen, sich spurlos auflösen könnte? Die materialistische Tröstung, dass der Körper natürlich nicht zu Nichts wird, sondern neue materielle Formen annimmt, geht am Wesentlichen vorbei. Es geht uns ja um unser ganzes Ich, unser Selbst, das wir erhalten wollen. Wenn man die gänzliche Vernichtung unserer Person im Tod konsequent weiterdenkt, so stellt dies jeden Augenblick unserer Gegenwart, unser gesamtes Leben, mithin unsere ganze Welt radikal in Frage.25 Im Grunde wäre das Leben dann gar nicht auszuhalten, wenn man nicht entweder verdrängte oder sich an einen Glauben klammerte.

Einige Formen des Glaubens können dagegen die Angst vor dem Tod sogar noch verstärken. Der Glaube an eine Hölle beispielsweise tauscht die Angst vor dem Nichts gegen die Angst vor der ewigen Verdammnis ein. Er mag zwar in unserer Gesellschaft nicht mehr weit verbreitet sein, doch angesichts der Jahrhunderte währenden kirchlichen Lehre nagt der Zweifel sicherlich noch in vielen Köpfen, ob nicht doch im Tod ein Strafgericht und danach ein schmerzendes Fegefeuer oder gar eine qualvolle Hölle droht.

Angst vor dem Sterben