Sterben lernen:  Christoph Schlingensiefs autobiotheatrale Selbstmodellierung im Angesicht des Todes - Johanna Zorn - E-Book

Sterben lernen: Christoph Schlingensiefs autobiotheatrale Selbstmodellierung im Angesicht des Todes E-Book

Johanna Zorn

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Beschreibung

In seinen letzten, nach der Krebsdiagnose im Jahr 2008 entstandenen Inszenierungen rückte der Theaterregisseur Christoph Schlingensief das persönliche Aufbegehren gegen den eigenen Tod in das Zentrum seines Schaffens. Die Publikation widmet sich dieser totalen künstlerischen Ich-Geste und stellt Schlingensiefs theatrale Selbstinszenierung dabei einerseits in den Horizont autobiographischer Selbstkonstruktion und beleuchtet andererseits die Relevanz der philosophischen Formel des Sterbenlernens für seine letzten Bühnenarbeiten.

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Seitenzahl: 446

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Johanna Zorn

Sterben lernen: Christoph Schlingensiefs autobiotheatrale Selbstmodellierung im Angesicht des Todes

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

 

 

© 2017 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen www.francke.de • [email protected]

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

 

ePub-ISBN 978-3-8233-0048-9

Inhalt

Die vorliegende Publikation wurde ...Einleitung1 Zu Christoph Schlingensiefs „Krebs-Trilogie“Das Fluxus-Oratorium ‚Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir‘‚Der Zwischenstand der Dinge‘Die ReadyMadeOper ‚Mea Culpa‘1.4 Individuelle Mythologie als Paradoxie im Ich2 Von der Autobiographie zur Autobiotheatralität2.1 Autobiographische Wahrhaftigkeit2.1.1 Die hermeneutische PerspektiveAugustinus’‚Confessiones‘Jean-Jacques Rousseaus ‚Confessions‘Johann Wolfgang von Goethes ‚Dichtung und Wahrheit‘2.2 Exkurs zum Denken des Subjekts – Von der Selbsterkenntnis zur Selbstverkennung2.3 Autofiktionalität – Literarische Ich-Komposition aus Fragmenten2.4 Paradigmen der Erinnerung2.4.1 Philosophisch-ästhetische Gedächtnismetaphern im 20. Jahrhundert2.4.2 Automediale Erinnerungskonfigurationen2.5 Schlingensiefs Autobiotheatralität‚Eine Kirche der Angst‘ – Anrufung der Mytheme von Anfang und Ende3.1 Einführung3.2 „Protokoll einer Selbstbefragung“ (1. Teil)3.2.1 Erste Sequenz3.2.2 Zweite Sequenz3.3 Die Verwandlung3.4 Die Messe (2. Teil)3.4.1 Das künstlerische Schmerzens-Ich3.4.2 Die autobiotheatrale Übermalung des liturgischen Ablaufs3.5 Sich nach außen stemmen – Das narzisstische Begehren des Ichs‚Mea Culpa‘ – Künstlervita und Sündenbiographie4.1 EinführungDie autofiktionale Fabel von ‚Mea Culpa‘Von der Drehbühne des ‚Parsifal‘ zum abgekühlten AnimatographenDie Bühne des Bayreuther ‚Parsifal‘ als Chiffre des nunc stans4.3.2 Die Animatographen4.3.3 Das externalisierte Gedächtnis des abgekühlten Animatographen4.4 Die Automythographie der Kundry‚Mea Culpa‘ vor der Folie der europäischen Bekenntnistradition5 Sterben lernen?Gewandelte Vorzeichen in ‚Sterben lernen!‘5.2 Nachdenken über den Tod – Die philosophische Formel des Sterbenlernens5.3 Kunst als Können des Nichtkönnens5.3.1 Theatrales Sterbeexperiment des Anderen5.3.2 Das interpassive SterbenlernenDas Ich, das Andere, das Man– ‚Sterben Lernen!‘ vor der Folie der Thanatologie im 20. Jahrhundert6 Ausblick: Schlingensiefs sozialkünstlerisches Vermächtnis - Auf der Suche nach dem universalen BethausVerzeichnis der zitierten Quellen

Die vorliegende Publikation wurde im Jahr 2015 als Dissertation am Institut für Theaterwissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München angenommen. Mein besonderer Dank gilt daher Prof. Dr. Christopher Balme, der mein Promotionsprojekt betreute und in wertvollen Gesprächen begleitete. Ebenso danke ich dem Promotionsprogramm ProArt, das mir einen regen und impulsreichen Austausch mit den beteiligten HochschullehrerInnen und DoktorandInnen ermöglichte.

Der Universität Bayern e.V. sowie der FAZIT-STIFTUNG danke ich für die Unterstützung meines Projekts durch Forschungsstipendien, Johannes Reichle für die großzügige Finanzierung der vorliegenden Publikation.

Mein herzlicher Dank gilt schließlich all jenen mir nahestehenden Personen, die den Prozess der Promotion über die Jahre hinweg begleiteten und die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit wesentlich mitgestalteten.

Einleitung

Der antike Dichter Homer gestaltete im zwölften Gesang der von Horkheimer und Adorno als „Grundtext der europäischen Zivilisation“1 bezeichneten Odyssee einen Zentraltopos über das ambivalente Verhältnis von Verführung und Widerstand aus, der mit der Thematik der Einübung in den Tod eng verbunden ist. Der betörende Gesang der Sirenen offenbare, so erzählt es Homer, seinen Adressaten eine Wahrheit, die kein Mensch zu ertragen im Stande sei. So muss derjenige, der der bloßen Verheißung, durch den bis dahin unerhörten Gesang eines Geheimnisses habhaft zu werden, nicht widerstehen kann, unweigerlich untergehen. Odysseus und seine Gefährten nun, die auf ihren Irrfahrten auch die Heimat der Sirenen passieren, entkommen der vokalen Verlockung der rätselvollen Mischwesen jedoch, ohne ihr recht eigentlich zu widerstehen. Während Odysseus die Besatzung des Schiffes, dem Rat der Seherin Kirke folgend, vorsorglich in den Zustand der Anästhesie versetzt, indem er die Ohren der Männer mit Wachs stopft und somit vor der Verführung schützt, wagt es der Held des Epos, sich dem verhängnisvollen Gesang im Modus des Als-ob zu stellen. Von seinen Männern an einen Pfahl festgebunden, hört er dem Gesang zwar zu, vermag es aber nicht, sich aus eigener Kraft von seinen Fesseln zu lösen, so sehr er es auch versucht.2

Diese beiden, von Homer reflektierten, unterschiedlichen Strategien des Entzugs basieren auf zwei verschiedenen Weisen, es mit der Verführung aufzunehmen. Die eine besteht in der Technik des psychophysiologischen Sich-Verschließens vor der Wahrheit: Indem Odysseus das Vordringen des erregenden Gesangs an die Ohren seiner Besatzung unterbindet, löscht er selbstredend nicht dessen Existenz aus, sondern verschließt lediglich das Wahrnehmungsorgan der Schiffsleute. Existentiell betrachtet, befindet sich die Besatzung nach wie vor im Bedrohungsgebiet der Sirenen. Lediglich phänomenal, durch die Versiegelung des Gehörsinns, wird sie von jeglicher äußeren Einwirkung abgeschirmt. Die den Männern von Odysseus aufgezwungene Haltung gegenüber der Verführung beruht auf der Entscheidung, sich dem Geheimnis des Gesangs von vornherein zu entziehen. Die Logik dieser Wahl besagt, wer sich auf sinnlicher Ebene nicht öffnet, kann der Verführung auch nicht erliegen.

Odysseus hingegen begegnet der möglichen stimmlichen Blendung durch die Sirenen in der Haltung eines Wissen-Wollenden und Erfahrungssuchenden. Der Held möchte die Verheißung, die ihm die Entdeckung eines ihn selbst vernichtenden Geheimnisses in Aussicht stellt, keinesfalls ignorieren, sondern, ganz im Gegenteil, er will zu diesem Arcanum vordringen. Allerdings ist Odysseus nicht dazu bereit, die Offenbarung mit seinem Tod zu bezahlen. Gemäß einer dem Mythos unauflösbar zugrunde liegenden Aporie ist das Eine (die sinnliche Erfahrung der Wahrheit) nicht ohne das Andere (den Tod) zu haben. Odysseus, der sich über diese Bedingung hinwegsetzen will, greift zu einem Trick, um eben doch das Eine ohne das Andere zu gewinnen. Indem er den mythisch verbürgten Pakt, der Wissen und Tod konditional und unzertrennlich miteinander verbindet, hintergeht, überschreitet er symbolisch das die Fabel präformierende (Natur-)Gesetz und setzt die Logik des Epos außer Kraft. Aufgrund seiner Hybris – seiner die Natur bezwingenden instrumentellen Vernunft – wurde der Überwinder Odysseus in der Lektüre des Epos durch Horkheimer und Adorno schließlich zum „Urbild […] des bürgerlichen Individuums“3, das sich durch List die Gesetze unterwirft.

Horkheimers und Adornos Rede vom falschen Spiel des bürgerlichen Individuums unterschlägt allerdings die existentielle Radikalität von Odysseus’ erprobtem Übertritt als einem von Naivität und Hochmut gleichermaßen gekennzeichneten Versuch, sich der Wahrheit des Todes auszusetzen, ohne die Konsequenzen dafür tragen zu müssen. Dabei fußt Odysseus’ Strategie bei genauerem Betrachten auf zwei kontradiktorischen Einstellungen. Einerseits leugnet der Held letztlich jene Macht, die größer und stärker ist als er selbst, andererseits trotzt er diesem selbstauferlegten Denkverbot und ist gewillt, hinter die Grenzen des rational Erfassbaren zu schauen. So zeigt sich im Kern der Sirenen-Episode eine Parabel über den Wunsch des Menschen, in einer Vorläufigkeit zur aletheia vorzudringen, um das Geheimnis des Lebens und des Todes momenthaft zu erblicken, die Sphäre des Unerfahrbaren allerdings sogleich wieder zu verlassen. Odysseus gelingt dieses Vordringen, das außerhalb des mythisch-fiktionalen Rahmens grundsätzlich versagt bleiben muss, da jede Rückkehr versperrt wäre, allerdings nur um den Preis seiner Amnesie, die seine Erinnerung an das Gehörte zu seinem eigenen Schutz im Nachhinein löscht. Die letzte Wahrheit bleibt das hapax legomenon schlechthin, das „nur einmal gehörte Wort“.

Trotz der physischen Unerfahrbarkeit des Todes richtet der Mensch freilich seit jeher seinen Blick in die Zukunft, setzt sich selbst dabei unweigerlich in ein Verhältnis zur eigenen Endlichkeit und füllt den unbeschreitbaren Raum des Jenseits im Denken prospektiv mit Vorstellungen aus. Aus der „ureigenste[n] Bildlosigkeit des Todes“4 evolvieren dabei je individuelle Metaphern, die eine symbolische Ordnung konstituieren. Sie halten der Unsagbar- und Darstellungslosigkeit des Todes als nackter Wahrheit, der man, mit Nietzsche, den Schleier nicht abziehen könne, sondern die man verhüllen müsse,5 ein imaginäres Konstrukt entgegen. Die Fülle an Versuchen, den Tod metaphorisch zu umspielen, die aus der abendländischen Kulturgeschichte eine Geschichte des prospektierten Todes gemacht hat, legt Zeugnis darüber ab, dass dessen „Unvorstellbarkeit […] keine Resignation, sondern vielmehr einen gewaltigen Sturm von Bildern und Visionen ausgelöst“6 hat. So begünstigte die rationale wie empirische Ratlosigkeit angesichts des Todesgedankens die Genese einer mannigfaltigen thanatologischen Metaphorik. Die spezifische Rhetorik, die das Phänomen des Todes in die Sphäre der Darstellbarkeit hebt, war und ist im Laufe der Geschichte einer erheblichen Dynamik unterworfen.

Franz Kafkas Deutung des im Sirenengesang verborgenen Geheimnisses lässt sich in diesem Sinne als erhellende Fußnote zur Entwicklungsgeschichte des abendländischen Todesbedenkens und der damit verbundenen Metaphorik lesen. In seinem 1917 entstandenen kurzen Prosatext Das Schweigen der Sirenen unterzieht er den Homerischen Mythos vom unwiderstehlichen Gesang der Sirenen einer grundlegenden Re-Lektüre. Ausgehend von der poetischen Konstruktion Homers wagt Kafka das Gedankenexperiment, dass das Furchtbare der Sirenen nicht in deren Gesang, sondern ganz im Gegenteil, in deren nihilistisch-verführerischem Schweigen liegen könnte. „Nun haben aber die Sirenen eine noch schrecklichere Waffe als den Gesang, nämlich ihr Schweigen“7, lässt Kafka seinen Erzähler sagen. In seiner Version weicht selbst Odysseus vor dem verheißungsvollen Gesang zurück, indem auch er seine Ohren mit Wachs versiegelt, aus Angst davor, die Sirenen schweigen zu hören. Den Gedanken, dass die Wahrheit der Sirenen nicht in ihrem alles offenbarenden Gesang, sondern in dem das eigentliche Nichts entbergenden Schweigen gründe, komponiert Kafka seinem Text in der Möglichkeitsform ein: „Vielleicht hat er [Odysseus], obwohl das mit Menschenverstand nicht mehr zu begreifen ist, wirklich gemerkt, dass die Sirenen schwiegen“8. In betont utopischem Gestus urteilt der Erzähler: „Es ist zwar nicht geschehen, aber vielleicht denkbar, dass sich jemand vor ihrem Gesang gerettet hätte, vor ihrem Schweigen gewiss nicht.“9

In seiner Fortschreibung fügt Kafka der Sirenen-Episode somit eine entscheidende zeichentheoretische Novität hinzu. Während Homer den Gesang der Sirenen als Verheißung chiffriert und die Überwältigung, die von ihrem Geheimnis ausgeht, in einem den Zuhörer überfordernden Zeichenüberschuss verortet, geht die Erschütterung in Kafkas Version, im Gegenteil, von der vollkommenen Abwesenheit des Zeichens aus. Der beunruhigenden Ahnung vom Nichts, so lautet die weitreichende handlungstheoretische Konsequenz, kann der moderne Held nur mehr begegnen, indem er sich durch akustische Anästhesie als Unwissender maskiert und die möglicherweise tatsächlich erschreckende Erkenntnis über die fundamentale Abwesenheit eines Dahinterliegenden erspart. Obwohl Kafkas Held nicht auf der Grundlage seiner Erfahrung wissen kann, was ihn erwartet, provoziert allein der Gedanke an das Nichts eine Schutzhandlung in ihm. Der Erzähler von Das Schweigen der Sirenen stimmt mit Sigmund Freud darin überein, dass der moderne Mensch die Tendenz habe, „den Tod beiseite zu schieben, ihn aus dem Leben zu eliminieren“10.

Wenngleich die poetischen Konstruktionen in Homers Hypotext und Kafkas Hypertext freilich keinen Zweifel daran lassen, dass der Mensch das hinter der Grenze liegende Geheimnis niemals erfahren wird, reflektieren die Autoren unterdessen offensichtlich zwei einander diametral entgegengesetzte Jenseitsvorstellungen. Beide Entwürfe setzen der Unvorstellbarkeit des Todes eine Phantasie entgegen und revoltieren gegen „die Unsagbarkeit dieses leeren Begriffs, dem keine Anschauung korrespondiert“11, mit einer Strategie der substituie­renden Bilder, Worte und Symbole. Dem im diesseitigen Leben unverträglichen Stimmengewimmel aus der Odyssee steht eine die menschliche Vorstellungskraft überfordernde Leere in Kafkas Erzählung gegenüber. Solcherart vom Tod als Frage „Ohne-Antwort“12 kündet schon das Gilgamesh-Epos als eine der ältesten schriftlich fixierten Dichtungen. Durch den Tod seines Freundes Enkidu wird sich Gilgamesh seiner eigenen Sterblichkeit gewahr. Die Angst, die sich in sein Herz eingeschlichen hat, begleitet ihn fortan auf seiner Wanderung durch die Welt, die ihm weder das Rätsel des Lebens noch das des Todes entbergen kann.13

Die aus der offenen Frage des Todes im Laufe der Geschichte evolvierende Disparatheit künstlerischer Topoi lässt sich an nur wenigen Beispielen verdeutlichen: In den Totentänzen des Mittelalters (dances macabres) etwa reiht sich der Tod als musizierendes Skelett oder verwesender Leichnam unter die Lebenden und fordert sie zum letzten Tanz.14 Im epischen Text Der Ackermann aus Böhmen (Entstehung um 1400) wiederum, mit dem Johannes von Tepl am Übergang von Mittelalter zu Neuzeit ein literarisches Streitgespräch des Ichs mit dem Tod inszeniert, tritt der Sensenmann als „[g]rimmiger tilger aller leut, schedlicher durchechter aller werlt, freissamer mörder aller menschen“15 auf. Shakespeare weist die beruhigende Vorstellung vom Tod als Bruder des Schlafes im Hamlet als trügerisch aus und reflektiert damit die in der griechischen Mythologie festgehaltene Verwandtschaft zwischen Thanatos, dem Gott des Todes, und seinem Bruder Hypnos, dem Gott des Schlafes. Die insgesamt fünf Fassungen von Arnold Böcklins Die Toteninsel (1886) malen den Bezirk der Toten als schauerliche und isolierte Unorte aus. Rainer Maria Rilke fasst den Tod im Buch der Bilder (1902) schließlich in die Gestalt der schweigenden Engel.

Die abendländische Ideengeschichte künstlerischer Todesreflexionen, deren vollständige Erfassung zu endlosen Aufzählungen führen würde, bewahrt nicht nur ein breites Spektrum an Metaphern und konventionalisierten Topoi auf, sondern übermittelt verschiedenste „intersubjektive Todesdeutungen“16, die objektivitätsorientierte mit subjektiven Reden über den Tod verschränken. Künstlerische Metaphern des Todes als ästhetische Kommunikations- und Diskursivierungsangebote sollen freilich nicht die sprichwörtlichen letzten Fragen des Menschen beantworten. Vielmehr fällt ihnen die Aufgabe zu, den Gedanken an den Tod aus lähmender Sprachlosigkeit zu befreien und ihm im Sinne Jan Assmanns „handlungsermöglichende Funktion“17 zu erteilen.

An den Anfang seiner umfassenden Studie zur Todesmetaphorik stellt Thomas Macho folgerichtig die Frage: „Worüber sprechen wir, wenn wir vom Tod sprechen?“18 Mit der permanenten Wiederholung dieser Frage im Rahmen seiner Ausführungen verweist der Autor eindringlich auf den endlosen Aufschub im Zentrum des Todesdiskurses. Da der Tod im mimetischen Sinne nicht abbildfähig ist, erfüllt seine metaphorische Reflexion stattdessen die Funktion, empirische Leerstellen innerhalb der begrifflichen Vorstellungswelt zu substituieren. Metaphern gehen mit den Gegenständen, die sie auszudrücken oder zu ersetzen versuchen, so lange ein Verhältnis des Als-ob ein, bis irgendwann der Gegenstand selbst hinter der Metapher verschwindet. In der Rede vom Tod übernimmt die Metapher als „Wort für ein anderes“19 in vielleicht radikalster Form die Aufgabe, einen Signifikanten zu übermalen, für den es keine Referenz gibt. Diese grundlegende Referenzlosigkeit macht die Todesmetapher zum Gegenbild von Blumenbergs absoluter Metapher. Gemäß dem vom deutschen Philosophen geprägten Neologismus leistet die absolute Metapher nämlich eine „Übertragung der Reflexion über einen Gegenstand der Anschauung auf einen ganz andern Begriff, dem vielleicht nie eine Anschauung direkt korrespondieren kann“20. Dagegen übergibt die Metapher des Absoluten (des Todes) der Anschauung einen Gegenstand, der der Wahrnehmung nicht zugänglich sein kann.

Die Geschichte der Metaphorologie des referenzlosen Absoluten lehrt deren Betrachter, dass die Bilder des Sterbens und des Todes keinesfalls kontingent sind, sondern wesensmäßig auf den Wandel in der Einstellung des Menschen zum Sterben zurückführen. Der Tod, der aufgrund seiner unausweichlichen Faktizität zunächst als transhistorische Größe erscheinen mag, offenbart in seinen unterschiedlichen künstlerisch-metaphorischen Codierungen eine geradezu prozessual-dynamische Struktur, die begrifflich nur schwer unter Kontrolle zu bringen ist. Die durch zahlreiche historische Dispositive sich wan­delnden Todesreflexionen in ritualisierten Formeln, volkstümlich-bildhaften Konventionen und künstlerisch-philosophischen Artefakten haben eine komplexe thanatologische Metaphorik herausgebildet, die gerade nicht die Essenz eines letalen Phänomens, sondern vielmehr die diskursive und kulturstiftende Funktion des Erdachten freilegt. Da der Mensch naturgemäß nicht entdecken kann, was die Welt im Innersten zusammenhält, bleibt ihm, in den Worten Blumenbergs, nur „die Welt seiner Bilder und Gebilde, seiner Konjekturen und Projektionen, seiner ‚Phantasie‘“21. In den metaphorischen Entwürfen des Todes baut sich der Mensch nicht die Welt als Bild, sondern er errichtet vielmehr – im Geist des poststrukturalistischen Konstruktionsdispositivs von Sprache – aus den Bildern seine Welt. Die Annäherung an die Frage, worüber wir sprechen, wenn wir vom Tod sprechen, führt demnach notwendigerweise über die Frage, wie wir vom Tod sprechen, auf jene nach der metaphorischen Konstruktion unserer Wirklichkeit. Die Art und Weise, wie das Sterben und der Tod entweder zum Fluchtpunkt des Lebens gemacht oder ausgeklammert werden, lässt uns erkennen, wie wir über den Tod denken, was er für uns bedeutet. Die „Unmöglichkeit, die plötzlich zur Wirklichkeit wird“22, wie Goethe sagt, wird erst im Transfer der „strukturelle[n] Endlichkeit des individuellen menschlichen Lebens“23 in eine „symbolische Sinnstruktur“24 erfassbar. Ob der Tod als Feind in Form des grausigen Skeletts oder als verheißungsvolle Gestalt in Form des Jünglings Thanatos imaginiert wird, ob der Vorgang des Sterbens als willkürliches Herausreißen vor der Zeit oder als Auswanderung und Heimreise codiert ist und somit entweder die Vorstellung eines gewaltsamen oder eines sanften Sterbens evoziert,25 ob das Jenseits einen verheißungsvollen Ort gesteigerten und gerechten Lebens darstellt, in den man hinübergeht, ob man in ihm nie endende Qualen zu erwarten hat, ob er schließlich überhaupt nicht als Ort vorstellbar ist –, diese Fragen sind Produkte von bildlichen Symbolisierungsprozessen, die trostspendende oder furchterregende Funktionen erfüllen.

Als der Regisseur Christoph Schlingensief im Jahr 2008 an Krebs erkrankte und mit der Vorstellung des eigenen Todes unmittelbar konfrontiert wurde, löste auch er seine persönliche Frage in mythisch-metaphorische Vorstellungskomplexe auf. Der ernüchternden Aussicht auf das Ausbleiben einer Antwort entgegnete er mit einem überbordenden Akt der Selbstvergewisserung, den er auf der Theaterbühne, in Blogs, in Fernsehauftritten und Interviews sowie mit der Veröffentlichung seines Krankentagebuchs durchexerzierte. Die Sehnsucht nach der hin- und hergleitenden Überschreitung der Grenze, die dem Homerischen Odysseus durch List gelingt, agierte Schlingensief im geschützten Rahmen des Theaters aus, als wollte er sicherstellen, dass der Tod solange ein Mythos bleibt, bis er eingetreten ist, und zugleich darauf hindeuten, dass es der Kunst vorbehalten bleibt, den Kampf mit dem Leben und dem Tod aufzunehmen.

Bereits im Jahr 1998 brachte der Theaterregisseur mit einem ins chiastische Sprachbild eingelassenen Programm sein grundlegendes theatrales Darstellungsparadigma eines die Dualismen verschränkenden künstlerischen Metabolismus zur Sprache: „Ich will das Leben überzeugen, dass es zum großen Teil inszeniert ist, und das Theater, dass es ohne das Leben überhaupt nicht auskommt.“26 In seinen letzten, nach seiner Krebsdiagnose im Jahr 2008 entstandenen Inszenierungen erhielt dieses Konzept von Totalkunst existentielle Tragweite. Mit insgesamt fünf Inszenierungen, in denen er sein ‚Ich bin‘ von der Grenze des bevorstehenden Todes her fasste, trieb der Theatermacher seinen kompromisslos offenen Kunstbegriff ins Extrem, widersetzte sich dem christlich-religiösen Diktum, dass das Sterben als letzte Handlung des Lebenden „still, lautlos, wortlos und handlungslos“27 vor sich zu gehen habe und umspielte den Topos des Todes stattdessen lautstark mit den Mitteln der Kunst.

Im Zeichen einer „neuen Sichtbarkeit des Todes“28 redete der todkranke Künstler in Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir (2008), Der Zwischenstand der Dinge (2008), Mea Culpa (2009), Sterben lernen! – Herr Andersen stirbt in sechzig Minuten (2009) und Remdoogo – Via Intolleranza II (2010) auf der Theaterbühne gegen sein Sterben an und bekräftigte auf diese Weise seinen Glauben an die Untrennbarkeit von Kunst und eigenem Leben. Gemäß der Devise, dass nicht gestorben werden könne, solange noch gesprochen würde, nutzte er überdies sämtliche ihm zur Verfügung stehenden Kommunikationskanäle für eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod vor den Augen der Öffentlichkeit. Schlingensief vertraute Trauer und Wut über seine Erkrankung während eines längeren Krankenhausaufenthalts einem Diktiergerät an und machte seine Angst vor dem drohenden letzten Übertritt durch die Veröffentlichung dieses Selbstgesprächs als Tagebuch einem gesellschaftlichen Diskurs zugänglich. War schon dieses über Monate hinweg sich erstreckende Soliloquium, das den Arbeiten Eine Kirche der Angst,Der Zwischenstand der Dinge,Mea Culpa und Sterben lernen! in unterschiedlichen Gewichtungen als Text zugrunde liegt, auf die abendländische Tradition des Bekenntnisses bezogen, das der Idee nach ein analytisch beobachtendes vom affektiv betroffenen Ich abspaltet, so dienten seine zahlreichen Fernsehauftritte und Interviews sowie letztlich auch seine Homepage Geschockte Patienten – Wege zur Autonomie29, die ein interaktives Therapieangebot für an Krebs erkrankte Menschen bereitstellen sollte, einer extravertierten Befestigung seines durch Krankheit bedrohten Selbst. Die auf der Homepage angeführten Rubriken „Medizin“ und „Religion“ strich er kurzerhand durch, um als Dr. Schlingensief stattdessen Einblicke in „seine neuesten und dringlichsten Gedanken zu Krebs, Angst und zum Patientendasein“30 zu geben.

Die vorliegende Arbeit widmet sich dieser totalen Ich-Geste, die Schlingensief mit dem inklusiven, Leben und virtuellen Tod subsumierenden Kunstverständnis in seinen letzten Inszenierungen auf die Spitze getrieben hat. Der Zwischenstand der Dinge, der eine theatrale Skizze zu Eine Kirche der Angst darstellt, sowie Remdoogo – Via Intolleranza II, in dem die extensive Ich-Perspektivierung zur künstlerischen Reflexion eines Vermächtnisses führt, vergegenständlicht in den Plänen zum Bau eines afrikanischen „Operndorfes“, stehen dabei nicht im Zentrum des analytischen Interesses. Stattdessen fokussieren die Ausführungen zu Schlingensiefs Inszenierungspraxis im Angesicht des eigenen Todes die Arbeiten Eine Kirche der Angst,Mea Culpa und Sterben lernen! (vgl. Abb. 1) und folgen dabei einem spezifischen Erkenntnisinteresse. Die Erörterung basiert auf der grundlegenden Annahme, dass Schlingensief in den genannten Inszenierungen sein gegenwärtiges und sein vergangenes Ich von der Grenze des Todes her entwirft. Dieser thanatographische (griech. thanatos, Tod; graphein, schreiben, ritzen) Grundgestus mobilisiert seinerseits eine Fülle an Selbstäußerungspraktiken, die auf den Fluchtpunkt der Autobiographie zulaufen und nach Maßgabe der zur Verfügung stehenden theatralen Mittel in das intermediale Darstellungsdispositiv der Autobiotheatralität verwandelt werden.

Abb. 1: Chronologische Auflistung der thanatographischen Inszenierungen Schlingensiefs

Die Arbeiten Eine Kirche der Angst und Mea Culpa stellen das Resultat einer umfassenden rückschauenden Lebensbetrachtung im Medium Theater dar. Im Fluxus-Oratorium Eine Kirche der Angst setzte Schlingensief auf der Grundlage seines Tagebuchs zu einer Bilanzierung seines Lebens an. Dabei hob er die Trennlinie zwischen Kunst und Leben im Geist des titelgebenden Fluxus programmatisch auf. In der darauffolgenden ReadyMadeOper Mea Culpa begab er sich dann im Zuge einer krankheitsgenetischen Spurensuche hauptsächlich in seine künstlerische Vergangenheit und versuchte seinem Selbst durch die theatrale Funktionalisierung des katholischen Schuldbekenntnisses die verloren gegangene Autonomie zurückzuerstatten. Die Produktion Sterben lernen! markiert schließlich einen Wendepunkt, mit dem das Verhältnis zwischen der Thematisierung des Ichs und der Reflexion des Sterbens eine gegenüber den vorangegangenen Inszenierungen andere Gewichtung erhält. Der Referenzrahmen der Autobiographie bleibt darin zwar virulent, wird allerdings nicht, wie in den vorigen Inszenierungen an der leidenden Figur Schlingensiefs durchgespielt, sondern am sprichwörtlich Anderen exemplifiziert. Da Schlingensief der baldige Tod aufgrund seines zwischenzeitlich verbesserten gesundheitlichen Zustandes während der Produktionsphase nicht mehr unausweichlich gegenüberzustehen schien, tritt die pseudo-autobiographische Geste der Befestigung des Subjekts darin zugunsten einer analytisch distanzierteren Metareflexion des Lebens als Einübung in den Tod in den Hintergrund. Konstitutiv für diese Inszenierung ist neben der theatralen Camouflierung von Identitätskonzepten vor allem das Philosophem des melete thanatou, des Todesbedenkens.

In ihrer theatralen Ästhetik zeigen die Arbeiten sowohl Verbindungs- als auch Trennungslinien zu Schlingensiefs früherem Schaffen auf, als deren zentraler Angelpunkt die ästhetische Inkorporation von Paradoxa und Widersprüchlichkeiten gelten mag. Zu den immer wiederkehrenden Bausteinen des Labels Schlingensief-Theater gehörten seit jeher die doppelte Besetzung der Positionen des Autorregisseurs und des Performers, die Gleichzeitigkeit kontradiktorischer Sinnschichten, die Durchlässigkeit der Grenzen zwischen Ernst und Spiel, Fakt und Fiktion; der weitgehende Verzicht auf einen konsistenten dramatischen Rahmen, die ästhetische Verdichtung von Trash und philosophischem Anspruch, die Einlassung radikaler politischer Kunst in popularmediale Darstellungskonventionen; schließlich der Wechsel zwischen ironischem und ernst­haftem Tonfall, der Ausbruch aus dem Theaterraum auf die Straße sowie die kontinuierliche Arbeit mit Laiendarstellern. Hatte schon die Suche des Filmregisseurs Schlingensief nach neuen Darstellungsformen zum ästhetisch spannungsgeladenen Aufeinandertreffen des europäischen Autorenfilms mit den amerikanischen Exploitation- und Splattergenres geführt, so wurde der ästhetisch forcierte Widerstreit unterschiedlicher Bildordnungen für seine Theaterarbeiten geradezu konstitutiv. Die Einflechtung von intermedialen Bezügen aus Film und Fernsehen sowie die Kombination von Alltagsjargon mit politischen und philosophischen Diskurseinheiten machten die Medienkollision in seinem hypermedialen Theater zum elementaren Darstellungsprinzip. Die aus der theatralen Aneignung der filmischen Montagetechnik erwachsenen szenischen Collagen zeigen deutlich, dass sich sein Verständnis einer transposition d’art nicht auf die Synthese einer wechselseitigen Erhellung der Künste,31 sondern vielmehr auf eine Montage des Bruchs bezog, die maßgeblich dafür verantwortlich war, dass Schlingensiefs Theater zu einem eingehend wie kontrovers diskutierten Gegenstand der deutschsprachigen Theaterkritik avancierte.

Demgegenüber zeichnete sich schon mit der ersten thanatographischen Inszenierung Eine Kirche der Angst ein verändertes ästhetisches Profil ab. Wesentlich blieb darin die Schichtung von heterogenen medialen Materialien als kunstphilosophische Sinneinheiten. Das politisch agitatorische Moment jedoch, der Ausbruch aus dem Raum des Theaters und die Rolle des Regisseurs als Störfaktor seiner eigenen Inszenierung sind weitestgehend hinter das emphatische Ich-Bekenntnis des faktualen wie fiktionalen Sujets „Schlingensief“ getreten.

Mit der für die Inszenierungen grundlegenden wechselseitigen Bedingtheit von Ich-Darstellung und Todesbedenken rekurrierte der Regisseur auf einen traditionsreichen kulturgeschichtlichen Topos, der durch zahlreiche Wandlungen hindurch bis in die zeitgenössische Kunstproduktion hinein wirksam geblieben ist. So bildet das inszenierte vis-à-vis mit dem Tod eines der großen „Rahmenthemen“32 des Selbstbildnisses, dem seit der Renaissance das gestaltende Spiel mit der Identität und mithin der Maskierung des Ichs zu Eigen ist. Von Albrecht Dürers Selbstbildnis mit der Binde (1492) über Arnold Böcklins Selbstbildnis mit fiedelndem Tod (1872) bis hin zu Arnulf Rainers Face Farces (1969–1971) etwa, die der Künstler selbst als „Reproduktionen des mir noch nicht bekannten Ichs“33 bezeichnete, zeigt sich ein enger Konnex zwischen Schmerzensdarstellung und Todesreflexion des künstlerischen Individuums einerseits und dessen Selbstmodellierung andererseits.

Die im Selbstporträt momenthaft eingefrorene Auseinandersetzung des Ichs mit Schmerz und Tod schlägt im Umfeld der Aktionskunst und Performance Art in den 1960er und 1970er in das masochistische Exerzitium am lebendigen Körper um. Neben den schmerzevokativen Performances, in denen Künstler wie Marina Abramović, Vito Acconci, Chris Burden oder Günter Brus ihre Körper zum form- und bearbeitbaren Material für selbstverletztende Gesten nutzten, existieren seither eine Reihe von Arbeiten, mit denen die Subjekte ihren eigenen Tod einer öffentlichen Verhandlung zugänglich machten. So stellte etwa Bob Flanagan seine erblich bedingte Erkrankung an Mukoviszidose und somit seine unmittelbare Nähe zum Tod ins Zentrum seines künstlerischen Schaffens. Das an Aids erkrankte Mitglied der Wooster Group Ron Vawter schlüpfte in seinem Solo Roy Cohn/Jack Smith (1993) in die Doppelrolle des titelgebenden US-Politikers Cohn einerseits und des Camp-Künstlers Smith andererseits, die beide an Aids starben, und thematisierte so die persönliche Bedrohung durch den Tod. Der an Leberkrebs leidende ungarische Künstler Péter Halász wiederum ersann ein Szenario, um seiner eigenen Trauerfeier noch zu Lebzeiten beizuwohnen, und ließ sich dafür kurz vor seinem Tod im Jahr 2006 in der Kunsthalle Budapest in einem Glassarg aufbahren. Der Münchner Aktionskünstler Günter Saree verkaufte signierte Röntgenbilder seines Tumors an eine Kunstsammlung und dokumentierte sein Hadern mit dem bevorstehenden Ende auf Tonbandaufzeichnungen. Gregor Schneider wiederum treibt das fingierte Begräbnis Halászs noch einen provokativen Schritt weiter und möchte nicht lediglich sein Sterben als letztes Kunstwerk und öffentliches Ereignis in seinem „Sterberaum“ zeigen, sondern auch anderen dazu verhelfen, ihren Tod im künstlerischen Raum selbst zu gestalten.34

Unabhängig davon machten Performance-Künstler vermehrt ihre eigene Lebensgeschichte zum Gegenstand von Kunst. Im zeitlichen Horizont der 1970er brachten vor allem weibliche Künstlerinnen wie Laurie Anderson, Rachel Rosenthal und Carolee Schneemann zugleich mit den performativen Selbstentwürfen ihre Vergangenheit auf die Bühne und thematisierten auf diese Weise das feministische Credo „The Personal Is Political“35. Den sogenannten „autobiographical performances“36 ist ein forciertes Spiel von Zeigen und Verbergen zu Eigen, das instabile Identitätskonzepte hervorbringt. Die zentralisierende Instanz des erzählend agierenden Ichs zerstäubt sich zusehends in eine Mehrzahl an heterogenen personae. Die Montage des szenischen Materials schließlich löst die lineare Narration von Lebensetappen in multiperspektivische Geflechtstrukturen auf. Mit der Dezentrierung des Subjekts und der Abspaltung in verschiedene Ich-Fragmente wird dabei die Rollenhaftigkeit menschlichen Lebens ebenso ausgestellt wie die Unverfügbarkeit des eigenen Selbst.37 Aufgrund ihres Changierens zwischen Selbstentblößung und Selbstkonstruktion verweisen die performativ hervorgebrachten Lebensgeschichten ihrerseits wiederum auf eine im Ausdrucksfeld der literarischen Autobiographie über Jahrhunderte hinweg etablierte Begrifflichkeit. Der Gestus von Inszenierung, den Wolfang Iser „als Institution menschlicher Selbstauslegung“38 begreift, da er „das Paradox ermöglicht, das Sich-nicht-haben-Können als solches zu haben“39, haftet dabei selbstverständlich nicht erst den theatral-performativen Aneignungen der rückschauenden Lebensbetrachtung an.

Der Blick in die Geschichte der Autobiographie lehrt vielmehr, dass sich die literarische Gattung seit ihren Anfängen aus dem Zwiespalt zwischen transparenter Selbstäußerung und medialer Inszenierung und mithin aus Simulacren von Selbstpräsenz speist. Die Diagnose Erika Fischer-Lichtes, wonach „die Problematisierung der Vorstellung eines stabilen, mit sich selbst identischen Selbst“40 in der autobiographischen Performance erstmals zu einer „Demontage der Kategorie des Selbst“41 geführt habe, unterschlägt den Umstand, dass sich implizit schon lange zuvor in den autobiographischen Schriften Metarefle­xionen über die Figuration des vergangenen Ichs jenseits von faktualer Lebensdarstellung finden lassen, bis sie durch Serge Doubrovsky in den 1970ern explizit als poetologisches Programm der Autofiktion ausformuliert wurden. In Konsequenz der im Umfeld des Nouveau Roman propagierten Abkehr von realistischen Romanstrukturen im Geiste Balzacs machte Alain Robbe-Grillet mit seiner Nouvelle Autobiographie gar ein literarisches Darstellungsdispositiv stark, das die Phantasmen totalisierender und zentralisierender Ich-Geschichten abstreift, um das Ich stattdessen in zerstückelte, mehrschichtige Gestalten zu multiplizieren und dem Leser die Unauffindbarkeit des Subjekts als multifokales Verwirrspiel vor Augen zu führen. Nicht nur im Umfeld der Nouvelle Autobiographie geriert sich literarische Selbstkonstruktion seither vornehmlich als mise en abyme, die das Ich sprichwörtlich in den Abgrund schickt, um es von dort aus in gewandelten Gestalten sprechen zu lassen.

Trotz der augenscheinlichen medial bedingten und mithin darstellungsästhetischen Differenz zwischen der literarischen Selbstbeschreibung und den thanatographischen Inszenierungen Schlingensiefs bieten Geschichte und Theorie der Autobiographie den intermedial erhellenden, erforderlichen theoretischen Referenzrahmen für Schlingensiefs Darstellungsstrategie, die mit dem theaterwissenschaftlich ubiquitär gebrauchten Begriff der Selbstinszenierung nur unzureichend zu erfassen ist. Mit dem Verhältnis zwischen dem Erscheinen-Wollen und Sich-nicht-zeigen-Können des Ichs fokussieren die in Rede stehenden Inszenierungen nicht nur die elementare Spannung der performativen Subjektkonstitution im Theater,42 sondern vor allem auch die zentrale Problematik der „retroaktive[n] Lebensbeschreibung“43 in der abendländischen Autobiographie seit ihren Anfängen. So bewahren bereits die monumentalen Ich-Bekenntnisse von Augustinus, Rousseau und Goethe die Einsicht über die Undarstellbarkeit des eigenen Lebens aufgrund der Unzugänglichkeit der eigenen Vergangenheit auf und inszenieren ein mehr oder weniger gebrochenes Selbst. Dass es sich bei diesen Fluchtpunkten des europäischen Kanons der Autobiographie um Stilisierungen von Identität auf der Grundlage von Maskierungen des Selbst handelt, blieb weiten Teilen der geisteswissenschaftlichen Forschung allerdings bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts zur Gänze verborgen. Die Autobiographieforschung kreiste lange Zeit um das Symptom der Wahrhaftigkeit, bis die Summe der Gegenargumente der Möglichkeit einer transparenten Ich-Darstellung in der rückschauenden Lebensbetrachtung schließlich vollends den Boden entziehen sollte. Dem im populären Medienbereich nach wie vor gebräuchlichen Paradigma der Selbsttransparenz, denen das in Talkshows und Life-Doku-Soaps erprobte Seelenstriptease unterliegt, steht mittlerweile das autobiographietheoretische Postulat gegenüber, dass der Kern des Selbst im Akt der medialen Transformation nicht zu erfassen sei. Die literaturwissenschaftliche Erkenntnis, wonach es sich bei der rückblickenden Lebenserzählung nicht um ein historisch verbürgtes Dokument, sondern um ein Erfindung und Konstruktion verschränkendes Kunstwerk handelt, schärfte ein Bewusstsein dafür, dass die implizite und zuweilen gar explizite Reflexion über die nicht darstellbare Unmittelbarkeit dem selbstschreibenden Vorgang als „performativem Akt“44 seit jeher eingeschrieben war.

Der gegenwärtige Forschungshorizont autobiographischer Theoriebildung vermittelt dementsprechend zwischen den Fragen, auf welche Weise und unter welchen Voraussetzungen es überhaupt möglich sei, das Selbst im ästhetischen Gebilde durchscheinen zu lassen, inwieweit also die Autobiographie beredtes Zeugnis über das Leben ihres Schöpfers abzugeben imstande ist, und derjenigen nach der jedem selbstschreibenden Akt zugrunde liegenden literarischen Fiktionalität, die dem Wunsch des Verfassers nach der Ablegung eines authentischen und unmittelbaren Zeugnisses grundsätzlich zuwiderläuft. In Analogie zur geisteswissenschaftlichen Paradigmenverschiebung von hermeneutischen Theorien hin zu rezeptionsästhetischen, diskursanalytischen und dekonstruktivistischen Dispositiven lässt sich dabei eine sukzessive Abkehr vom essentialistischen Ideal der medial-mimetischen Abbildung von Wirklichkeit ablesen. Das Medium der Schrift wird nicht mehr als Vermittler, sondern als Bildner des Lebens gesehen.

Im Zuge dieser wissenschaftlichen Revision der autobiographischen Diskurse waren schlussendlich auch die auf den Imperativ einer wahrhaftigen Selbstoffenbarung rekurrierenden autobiographischen Topoi der Beichte, des Bekenntnisses und der Verteidigungsrede unter dem Lemma der sprachlichen Vorgängigkeit als Konstruktionen entlarvt, wie das Leben selbst, das es im Schreiben zu vermitteln gilt, als Täuschung ausgewiesen. Denn auch die Vorstellung vom Gedächtnis als einem auffüll- und abrufbaren Speicher wurde von der Denkfigur der Erinnerung als erfundenem Leben abgelöst. Mit dem Wandel der Blickrichtung von der Autobiographie als literarisch ausgestaltetem historischen Zeugnis zu einem mit den Mitteln der Sprache konstruierten Erinnerungswerk rückten die poetologischen und rhetorischen Bedingungen der rückschauenden Lebensbetrachtung schließlich in dem Maße in den Vordergrund, dass heute vielmehr von geschriebenen als von beschriebenen die Rede sein kann.

Während Schlingensief in seiner posthum erschienenen literarischen Autobiographie Ich weiß, ich war’s (2012) am Phantasma eines in der rückschauenden Betrachtung beschreibbaren Lebens und damit zugleich am Konzept von Identität festhält, tönt durch seine autobiotheatralen Inszenierungen hindurch flächendeckend der die poststrukturalistische Gewissheit über die Fiktionalität des selbstbeschreibenden Ichs präformierende Aphorismus Nietzsches zur Selbstreflexion hindurch: „Versuchen wir den Spiegel an sich zu betrachten, so entdecken wir endlich Nichts, als die Dinge auf ihm. Wollen wir die Dinge fassen, so kommen wir zuletzt auf Nichts, als auf den Spiegel.“45 Der Theaterregisseur Schlingensief errichtet ein solches fiktionales Spiegelkabinett des Ichs: Er zitiert eine Fülle an topologischen loci communes der literarisch-narrativen Auto-Konstitution, die das Verborgene des eigenen Lebens maskieren. In der Übersetzung dieser Topoi in theatrales Rollenspiel und technisch-mediale Erinnerungsarbeit stellt er den Vorgang der Selbstkonstruktion ostentativ aus. Im Unterschied zu den Protagonisten der autobiographischen Performances erzählt er die Geschichte seines Lebens dabei größtenteils allerdings nicht als leiblich Anwesender, sondern lässt seine Ich-Fragmente in erster Linie durch Stimmen anderer Darsteller und somit als autofiktional gebrochene Spiegel- und Projektionsgestalten zu Wort kommen. Die strukturelle Inkorporation der Fremdheit übersetzt das durch Krankheit zugespitzte Moment der Alterität im Ich letztlich in das szenische Spiel. Aus dem Verhältnis zwischen der medial-theatralen Konstruktion eines multiplen Ichs, das sich in der augenfälligen inszenatorischen Überlagerung verschiedener Identitätsschichten zeigt, und der nichtsdestoweniger offenkundig egozentrierten Besetzung der eigenen Subjektposition ergibt sich für die autothematischen Strukturen in Eine Kirche der Angst,Mea Culpa und Sterben lernen! folgende Diagnose: Die Bühnenwerke changieren vexierbildartig zwischen Be- und Entgrenzung des Ichs. Einem inklusiven Konzept, verdichtet im Anspruch auf entblößende Lebensdarstellung, steht das Prinzip der Montage gegenüber, das das Ich parzelliert und in eine Vielzahl von Bildern projiziert, die nur mehr indexikalische Verweisfunktion übernehmen. Für diese Spannungskonstellation zwischen Ich-Konzentration und -Diffundierung bleibt in modifizierter Weise der Konnex zwischen Todesbedenken und Selbsterforschung aus dem Selbstporträt grundlegend. Durch seine Abspaltung in einen beobachtenden und viele beobachtete Teile funktionalisiert Schlingensief aber vor allem genuin autobiographische Narrative für den therapeutischen Zweck der Bewältigung von Todesangst, des Aufbegehrens gegen den Tod. Der im Rahmen der vorliegenden Studie erstmals verwendete Terminus „Autobiothea­tralität“ weist darauf hin, dass die szenische Darstellung des eigenen Lebens in Schlingensiefs Arbeiten autobiographische Redefiguren auf die Theaterbühne transferiert, um die Spannung zwischen Fakt und Fiktion, eigenen und fremden Lebens, mit nichtliterarischen Mitteln auszuagieren.

Intrinsisch im Analysegegenstand angelegt sind somit die beiden theoretischen Rahmen der vorliegenden Arbeit. Es handelt sich zum einen um die Geschichte der Autobiographie und Autobiographieforschung bis hin zu der im 20. Jahrhundert aufkommenden Spielart der Automedialität und zum anderen um die abendländische Kulturgeschichte des Todes, die eine Vielzahl an symbolischen Konstrukten herausgebildet hat, die dem Lebenden eine Einstellung zum Sterben vermitteln sollen. Beide Rahmungen sind seit den Anfängen der Autobiographie, die als Manifest des Lebens vom Tod her konzipiert ist, untrennbar miteinander verwoben. Aufgrund einer Zuordnung der drei Inszenierungen zu den theoretischen Referenzrahmen weist die Arbeit eine Zweiteilung auf, die dem Umschlag in der Perspektive Schlingensiefs zwischen Mea Culpa und Sterben lernen! Rechnung trägt: Der erste theoretische Kontext wird vor allen Dingen den Inszenierungen Eine Kirche der Angst und Mea Culpa unterlegt, die in ihrem lebensbilanzierenden Gestus sowie aufgrund der theatral-medialen Aneignung der Topoi von Beichte, Bekenntnis, Bekehrung und Verteidigungsrede an zahlreiche Ausdrucksgesten der Autobiographie alludieren. Das Augenmerk der Analyse liegt dabei auf der Transformation von autobiographischem Schreiben in die theatral-figurale und technisch-mediale autobiotheatrale Praxis. Bei der Betrachtung von Sterben lernen!, in dem die Inszenierung eigenen Lebens als Anreden-gegen-den-Tod aufgrund des nunmehr gesundheitlich stabilen Zustands des Regisseurs tendenziell verblasst und sich stattdessen die theatral-philosophische Einübung in den Tod des sprichwörtlich „Anderen“ zeigt, tritt der Rahmen der Autobiographie hinter jenen der abendländischen Geschichte des Todes mitsamt der bestimmenden philosophischen Formel des Sterbenlernens zurück.

Der Interpretationshorizont der Autobiographie mit ihrer eigenen Verwicklung von auktorialer Geste und den sich im medialen Aufschub verselbstständigenden Redefiguren soll nicht zuletzt eine Abkehr von jener metaphorisie­renden Umspielung der theatralen Ich-Darstellung Schlingensiefs ermöglichen, die (auch) in der wissenschaftlichen Rede über Schlingensief grundlegend ist. Zwar existieren erhellende Aufsätze zum Korpus der Inszenierungen, die Schlingensiefs letzte Arbeiten unter anderem auch auf den Komplex der Autobiographie perspektivieren.46 Eine grundlegende Aufarbeitung der Rollenmuster, die Schlingensief als Sujet seiner Inszenierungen entwirft und dabei eine Fülle an Bezugspunkten zu den historisch sich wandelnden autobiographischen Narrativen kreiert, wurde bislang allerdings nicht vorgenommen. Die nachfolgenden Ausführungen unternehmen den Versuch, diese Lücke zu schließen und über den Dualismus von leiblicher Präsenz und semiotischer Repräsentation hinauszugehen, um die Heterogenität der Ich-Darstellungsmodi Schlingensiefs in den Blick zu nehmen. Damit ist nicht zuletzt das Anliegen verbunden, jene Dispositive, die der Regisseur selbst in seinen zahlreichen Interviews vorgegeben hat, kritisch zu reflektieren. Der beobachtbaren Tendenz, wonach ein beträchtlicher Teil der Schriften zu Schlingensiefs Werken bislang innerhalb des vom Regisseur vorgegebenen Analyse- und Deutungsrahmens verbleibt und seine programmatischen Intentionen und ästhetischen Innovationen größtenteils sensu proprio auslegt, versucht der vorliegende Beitrag entgegenzusteuern, indem er die Theaterarbeiten einer topologischen Lektüre autobiographischer Narrative unterzieht.

Da Schlingensief sein Leben in seinen autobiotheatralen Arbeiten als Künstlervita inszeniert, führen die Ausführungen stets auch auf jene ästhetischen und kunstphilosophischen Fluchtpunkte zurück, die seiner Physiognomie als Film- und Theaterregisseur in seinen Augen Kontur verliehen hatten und die er darum in seinen vom bevorstehenden Tod her realisierten Arbeiten zitiert. Neben den avantgardistischen Strömungen des Surrealismus und Dadaismus, den neoavantgardistischen Positionen des Fluxus, des Happenings, der Aktionskunst und insbesondere Joseph Beuys’, prägte ihn vor allen Dingen seine Auseinandersetzung mit Wagners Parsifal als Regisseur anlässlich der Bayreuther Festspiele 2004 bis 2007. In der Ästhetik des Gesamtkunstwerks liegt letztlich das Verbindende der künstlerischen Referenzen von Wagner bis hin zum Neoavantgardismus, dessen Vertreter die Kunst in lebensweltlich-relevanter Umformung der romantischen Kunstphilosophie als „direktes Geschehen […], nicht Wiedergabe von Geschehen“47 begriffen. In dieser neoavantgardistischen Formel klingt der Gedanke an, dass die Kunst selbst die Bewegung des Lebens inkorporiere; sie zeigt die durchgreifende Stoßrichtung des eingangs vorgestellten Diktums Schlingensiefs, wonach das Theater ohne das Leben nicht auskomme. In Konsequenz dieses Parallelismus zwischen Leben und Kunst ergibt sich der eigentümliche Umstand, dass Schlingensiefs thanatographische Inszenierungen unter geeignetem Blickwinkel als Inversionsfigur erscheinen: Sie kippen von einer Kunst der Verarbeitung des möglicherweise bevorstehenden Todes in eine Kunst über die künstlerische Ideengeschichte seit Wagner, die sich aus Fluktuationen des Lebens generiert. In geradezu widersprüchlichem Verhältnis zu ihrer ursprünglichen Zweckbestimmung, das Leben und den Tod zu reflektieren, verbleiben die Inszenierungen unterdessen bisweilen also im innerästhetischen Rahmen und geben sich auf diese Weise erst recht als Modellfall Schlingensiefscher Ideenpraxis zu erkennen, in fortwährender Transformation von eigenem und fremdem künstlerischen Material Kunst über Kunst zu machen.

1Zu Christoph Schlingensiefs „Krebs-Trilogie“

In den im Zentrum der Ausführungen stehenden letzten Theaterarbeiten Christoph Schlingensiefs, entstanden nach seiner Krebsdiagnose im Jahr 2008, spannt sich über die persönliche Auseinandersetzung des Regisseurs mit der eigenen Erkrankung und dem möglicherweise bevorstehenden Tod ein aufgrund seiner intertextuellen und -medialen Dichte bisweilen unentwirrbares Netz aus künstlerischen, philosophischen und religiösen Motivzusammenhängen. Zwar verkörperte der Regisseur bereits vor der tiefgreifenden Zäsur durch seine Krebsdiagnose den Typus eines totalen Künstlers, der die Oszillation zwischen Leben und Werk einmal ironisch distanziert, dann wieder ostentativ emphatisch zur Grundlage seiner Arbeiten machte, doch erst die Krankheit riss die ohnehin seit je instabile Grenze zwischen der Person und dem Künstler Schlingensief vollends ein. Die existentielle Bedrohung, die der „Eindringling Krebs“1 für ihn bedeutete, wirkte sich fortan in der Art einer conditio sine qua non nach dem Motto: „Ich bin, weil ich krank bin“2 auf seine künstlerische Tätigkeit aus, sodass die letzten Inszenierungen vor seinem Tod ganz im Dienst des Dialogs mit sich selbst standen. In den auf diese Weise generierten theatralen Selbstbefragungen agierte Schlingensief nicht wie in vielen seiner früheren Arbeiten als ein Mit-Spieler unter den Schauspielern, sondern ist, in Radikalisierung seiner Doppelfunktion als Autor-Regisseur und Protagonist, zum eigentlichen Sujet der Inszenierungen geworden. Die Besetzung des Zentrums seiner Theaterprojekte liegt diesen Arbeiten durch die Fokussierung auf seinen persönlichen Umgang mit der Krankheit intrinsisch zugrunde.

Zu dem seit je in vielen seiner Bühnenarbeiten herrschenden Spiel mit den Kategorien von Authentizität und Wahrhaftigkeit sowie seinem Versprechen der unbedingten „Haftbarkeit“3 für seine eminent politische, gesellschaftliche und künstlerische Perspektive, die er als strikten Gegensatz zum Verfahren einer künstlerischen Distanzierung qua Provokation auffasste,4 trat nun eine der Realität seiner Krankheit geschuldete brutale Faktizität hinzu. Das Bestreben, das eigene Schicksal zum Ausgangspunkt seiner künstlerischen Reflexionen zu machen und zugleich den Blick auf das Leben wie auf die Kunst durch die Brille der eigenen existentiellen Situation zu werfen, erfolgte in Konsequenz seiner Überzeugung von der unbedingten Rückbindung seiner künstlerischen Tätigkeit an den eigenen psychischen wie physischen Zustand und stellte das gesamte öffentliche Handeln des Künstlers im Zeitraum der Jahre 2008 bis 2010 in einen auf Selbstinszenierung hin angelegten, autobiotheatral kommentierten Zusammenhang. Die Rezensionen zur sogenannten „Krebs-Trilogie“5Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir,Der Zwischenstand der Dinge und Mea Culpa etablieren in dieser Hinsicht eine Reihe an Motiven, die für eine analytische Durchleuchtung der Sterbe-Inszenierungen Schlingensiefs vor der Folie der literarisch-autobiographischen Praxis fruchtbar zu machen sind.

1.1Das Fluxus-Oratorium Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir

Schlingensief war sich bereits am 20. Februar 2008 darüber bewusst, dass er die Auflehnung gegen sein mögliches Ende in Kunst überführen müsse und hielt unter diesem Datum in seinem Krebstagebuch So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein den Wunsch fest, Fragmente seines Ichs in eine Inszenierung zu montieren: seine Gedanken in szenische Bilder zu transformieren, sich an seinem Freund Beuys abzuarbeiten und mit seinen Lieblingen auszusprechen, seine Altäre aufzubauen und den Leuten, die er verehre, zu huldigen.1 Schon im Juni 2008 inszenierte er als Recherchearbeit zu seinem Fluxus-Oratorium im Studio des Berliner Maxim Gorki Theaters einen zunächst lediglich seinem privaten Umfeld zugänglichen Abend, der im November desselben Jahres unter dem Titel Der Zwischenstand der Dinge einer breiteren Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Seine erste öffentliche theatrale Auseinandersetzung mit dem Tod stellt allerdings die Inszenierung Eine Kirche der Angst im Rahmen der Ruhrtriennale dar. Im Fluxus-Oratorium als einem komplexen „Gewebe von Zitaten“2 bildeten neben Werken von Joseph Beuys und Richard Wagner, der Gattungsbezeichnung entsprechend, auch jene von Fluxus-Künstlern die Grundierung seiner theatralen Collage. Einem Gedanken Ciceros entsprechend, wonach das Alter Ego als zweites Selbst die Position eines katalysatorischen Gegenübers einnimmt, dienten Schlingensief die künstlerischen Vorbilder als Reflexions- und Projektionsflächen seiner eigenen Gedanken.3 Sowohl die Konfrontation mit als auch die Projektion auf verschiedene/n Alter Egos ermöglichte es ihm, nicht nur in seinem eigenen Namen von sich zu erzählen, sondern seine Geschichte als diejenige Anderer zu imaginieren. Die seinen Theaterarbeiten von Anbeginn zugrunde liegende, in den letzten Inszenierungen jedoch um die Dimension seiner prekären Existenz zugespitzte ästhetische téchne des Zusammentragens und -setzens von heterogenem künstlerischen Material bezog er dabei letztlich, entgegen seinem in der Tagebuchnotiz erklärten Programm, nunmehr umfassend auf die Thematisierung seines Ichs. Seiner existentiellen Vagheit hat er auf diese Weise ein ästhetisches Äquivalent abgerungen, das sein Ich in immer andere und neue Kontexte einwob.

Der Zuschauer, der sich im Jahr 2008 in die Gebläsehalle des Landschaftsparks Duisburg Nord aufmachte, begab sich der Idee nach sowohl in einen theatral behaupteten Kindheitsraum des Regisseurs, nämlich in den Nachbau der Herz-Jesu-Kirche Oberhausen, wo Schlingensief als Messdiener tätig war, als auch in eine seiner künstlerisch prägenden Etappen zurück, an den Drehort seines Films Terror 2000. Unter dem von Beuys entlehnten Motto der Inszenierung, „Wer seine Wunde zeigt, wird geheilt. Wer sie verbirgt, wird nicht geheilt“4, hielt Schlingensief darin eine Kunst-Messe ab. Im Zentrum stand das theatral umgeformte liturgische Moment der von ihm selbst als Priester vollzogenen Wandlung, die den Transformationsprozess vom leidenden zum autonomen Subjekt markieren sollte. Mit seiner Kirche der Angst griff der Regisseur expressis verbis auf das Programm seiner im Jahr 2003 sich firmierenden Church of Fear zurück. Die im Rahmen der Biennale in Venedig gegründete und durch zahlreiche Aktionen bespielte Anti-Kirche verfolgte das selbsterklärte Ziel, die Mechanismen zur Instrumentalisierung von Ängsten durch übergeordnete Sinngebungssysteme wie etwa Kirchen und Religionsgemeinschaften, aber auch durch Politik und Wirtschaft offenzulegen und den Institutionen des Glaubens durch eine Gemeinschaft von Nicht-Gläubigen entgegenzutreten. Die Parallele zu Wagners Vision einer die Religion inkorporierenden Kunst zeigt sich dabei deutlich. Wie Wagners, in der Regenerationsschrift Religion und Kunst (1880) erdachte ästhetische Kontrafaktur einer Kirche,5 die mit dem Bayreuther Festspielhaus in eine Kirche der Kunst mündete, so stand Schlingensiefs Church of Fear entgegen ihrer autonomen Programmatik nichtsdestoweniger im Zeichen einer fundamentalen religiösen Heteronomie. Schlingensiefs Kirche löste ihr alternatives Versprechen, die Anhänger nicht durch Dogmen zu binden, sondern Menschen zu versammeln, „denen das Glauben misslungen ist“6, nämlich nicht ein, sondern gab den Glaubenden gleichwohl einen dogmatischen Imperativ als Handreichung mit: „Habt Angst!“7 lautete das Gebot der Church of Fear.

In seiner Duisburger Kirche der Angst richtete Schlingensief diesen Appell nunmehr in erster Linie an sich selbst. Zwar blieb dabei die ästhetische Funktionalisierung der betont paradoxen Überschreibung von Kirche als Ort des Glaubens mit dem Gefühlszustand der Angst auch unter den gewandelten Vorzeichen von Schlingensiefs persönlichem Zustand konstitutiv. Die Negation von Glaubensdiktaten, die in der Church of Fear noch durch die ostentative Umkehrung von religiösen Tröstformeln wie „Fürchtet euch nicht“ in „fear is the answer“ zum Vorschein kam, trat im Fluxus-Oratorium allerdings in deutlich zurückgenommener Form in Erscheinung. Der Regisseur nutzte sowohl die Wirkungssphäre des Sakralen als auch das dramaturgische Gerüst des Gottesdienstes, um auf deren Basis das religiöse Glaubenssystem und dessen Riten szenisch nachzustellen und zu hinterfragen. Dementsprechend geriet das theatrale Setting regelrecht überbordend: Die Gebläsehalle bot sowohl Kirchengestühl für die Zuschauer wie einen Altarraum für szenische Aktionen auf. Ein Mittelgang wurde für Ein- und Auszüge des singenden Messpersonals verwendet. Kirchenfenster, religiöse Insignien und der Geruch von Weihrauch intensivierten die sakrale Atmosphäre. Konterkariert wurde der kirchliche Pomp durch Bezugnahmen auf eigene und fremde künstlerische Referenzen sowie ironische Kreu­zungen religiöser und persönlicher Devotionalien.

Die Verwandlungen des Bühnenraums, der einmal Krankenzimmer, dann wieder Apsis und doch beides nie ausschließlich war, die Filme, Bilder und Texttafeln, die auf mehrere Leinwände projiziert wurden und das Geschehen auf der Bühne sowohl rahmend kommentierten als auch widersprüchlich übermalten, kreierten ein multimedial codiertes, dissonantes Panoptikum der Schlingensiefschen Existenz. Auf der Grundlage seiner Tagebuchaufzeichnungen, die von verschiedenen Darstellerinnen gelesen wurden, der Einspielung von persönlichen Tonbandaufzeichnungen, dokumentarischen Kinderfilmen sowie Filmen, mit denen er die für ihn künstlerisch prägenden Erlebnisse offenlegte, verknüpfte Schlingensief seinen von Zukunftsangst besetzten gegenwärtigen Zustand mit einer Fülle an vergangenen und fingierten Ichs.

An den Kritiken zu Eine Kirche der Angst zeigt sich paradigmatisch die Schwierigkeit, die Schlingensiefschen Spezifika der ästhetisch wie topologisch „ausstreuenden“ (disseminativen) Inszenierungspraxis und der Evokation des Absoluten im Zeichen der Wiederaufnahme romantischer Kunstphilosophie in einen strukturiert urteilenden Kritiker-Jargon zu überführen. Der Regisseur selbst legte durch die Gattungsbezeichnung des „Fluxus-Oratoriums“ zumindest die Spur zu dem von der Kritik problematisierten Charakteristikum des Montierens von heterogenem Erinnerungsmaterial in den religiösen Rahmen. Die durch den Titel programmatisch angekündigte und im Laufe der Inszenierung tatsächlich vollzogene Vermischung des dynamisch-spielerischen Moments (Fluxus) mit der dem Sakralen eigenen statuarischen Feierlichkeit (lat. oratorium, Bethaus) führte den Großteil der Kritiker zu einer gewissen Unentschiedenheit darüber, ob sie einer überbordenden medial-theatralen Arbeit ansichtig wurden, oder vielmehr an einer parareligiösen Kunst-Messe teilgenommen hatten, die die Rezipienten unweigerlich in den Status von Kirchgängern versetzte. Um diesem eigentümlichen Mischungsverhältnis rhetorisch beizukommen, übernahm das Gros der Rezensenten die im Titel implizierten Terminologien des Fluxus und des (Kunst-)Religiösen, die durch inszenatorische Verweise auf die zentralen spiritus rectores Beuys und Wagner ohnehin deutlich angezeigt waren, und gruppierte die Besprechungen um die semantischen Felder des Schrill-Bunt-Assoziativen und des Andächtig-Rituell-Feierlichen, ohne die Verkettung der beiden Ebenen begrifflich auflösen zu können. Die der Inszenierung zugrunde liegende Verflechtung von Widersprüchlichem wurde von der Kritik folglich ebenso als Leitmotiv aufgegriffen wie die privatreligiöse Aufladung von Kunst.

In den Augen des Kritikers Matthias Heine glich das von Schlingensief inszenierte Weltbild in Eine Kirche der Angst mehr denn je demjenigen einer „Kunstreligion“8. Er sah eine „wilde, synkretistische Messe“9, deren quantitative Dichte an Zeichen sich dem Zuschauer allein deshalb verschloss, weil die Aufführungen „keine Fußnoten“10 hatten. Die Fülle an künstlerischen Referenzen, die Schlingensief im Laufe seiner theatralen Messe aufgeboten hatte, wurde mit unterschiedlichen Implikationen von der Kritik ebenso einhellig aufgegriffen wie die ästhetische Konstruktion von Widersprüchen. So war Dirk Pilz, der die Produktion für NZZ und Berliner Zeitung rezensierte, der Auffassung, dass „das Sakrale und das Profane, das Blasphemische und das Heilig-Ernste“11 in der Tat bis zur Ununterscheidbarkeit ineinander übergegangen waren und sah den Abend regelrecht „aus dem Geist des Synkretismus“12 entstehen. Anders als Heine allerdings qualifizierte er gerade die vorgeführte „Kunst der Maßlosigkeit“13 zum Prozess der Sinnstiftung. Auch Dorothea Marcus versuchte auf nachtkritik.de die Vereinigung der Gegensätze durch ein kontradiktorisches sprachliches Etikett in den Griff zu bekommen und beobachtete eine „blasphemische Gottessuche, ein ketzerisches und ebenso tiefgläubiges Ritual“14. Ähnlich argumentierten die Kritiker für Spiegel und Tagesspiegel: Wolfgang Höbel verfolgte eine „schrille, herzergreifende […] Totenmesse“15, während Rüdiger Schaper gar ein „bizarres, aufwühlendes Hochamt“16 erlebte, das er rhetorisch in die für Schlingensiefs Arbeitsweise charakteristische paradoxe Trias von „Kitsch, Kampf, Kommunion“17 verkürzte. Andreas Rossmann beurteilte das Vorhaben des Regisseurs, die „eigene Krankheit szenisch-musikalisch zu reflektieren“18, gar als „egomanisch, exhibitionistisch, blasphemisch, kitschig und privat […], aber auch anrührend, beeindruckend, authentisch, experimentell und mutig“19. Mit seiner Auffassung, dass „[d]er Abend […] das alles – einerseits und andererseits, zugleich und zusammen“20 war, verwies er auf die dem compositum-Prinzip Schlingensiefs grundlegende und in den Augen der Kritiker nur schwer zu durchdringende Verknüpfung von selbstinszenatorischem Gestus mit künstlerischer Genuinität und gesellschaftskritischem Auftrag.

Mit Rossmanns Formel der Egomanie war zugleich die künstlerische Selbstthematisierung, in der die Aspekte der Wahrheit, Unmittelbarkeit und Authentizität widersprüchlich in Szene gesetzt wurden, und damit ein weiterer zentraler Angelpunkt der feuilletonistisch-kritischen Auseinandersetzung mit der Inszenierung angesprochen. Die Rezensenten schlossen dabei das Motiv der Nacktheit mit den Themen des Schmerzes, des Leids und des Todes zusammen. Für Dorothea Marcus etwa eröffnete Eine Kirche der Angst eine „neue Dimension des Authentischen auf der Bühne“21. Nie habe sich Schlingensief „[p]rivater und persönlicher, nackter und trauriger“22 gezeigt und die „Inszenierung seines Lebens“23 auf diese Weise zu einer „Inszenierung um sein Leben“24 ausgestaltet. Auch aus der Sicht Peter Michalziks war der Arbeit deutlich abzulesen, dass da „einer die Wahrheit über sich selbst wissen“25 wollte und dabei nur mehr einen kleinen Schritt von der göttlichen Selbststilisierung entfernt blieb. Aufgrund seiner exhibitionistischen Selbstdarstellung geriet der Theatermacher in seiner „Krebs-Messe und Selbstsuche“26 letztlich allerdings zum „Priester in eigener Sache“27. Rüdiger Schaper deklarierte Schlingensief doppeldeutig zum „Performer vorm Herrn“28 und betonte, dass sich der Regisseur „[m]it seiner gesamten Existenz“29 in eine Produktion hineingeworfen habe, die zugleich „sein radikaler Lebensbeweis“30 war.

Für Wolfgang Höbel hätte der Künstler, um aus der eigenen Krankheit, aus seinem Zorn, aus seiner Hilflosigkeit einen ergreifenden Theaterabend zu machen, allerdings „kein Fluxus-Brimborium“31 gebraucht, da die Kraft des Abends einzig „aus der Sprache von Schlingensiefs Krankenakte, manchmal auch aus dem Kitsch“32 gekommen sei. Höbel bewertete die christlich-rituelle Rahmung als Akzidens, das dem primären Ansinnen Schlingensiefs nach faktualer Lebensdarstellung auf der Basis autobiographischer Dokumente recht eigentlich zuwidergelaufen sei. Die Arbeit, so die Diagnose, habe durch die intermediale Verflechtung nicht an perspektivischer Vielfalt gewonnen, sondern sei ihrer möglichen Klarheit verlustig gegangen. Der Umstand, dass die medizinische Anamnese des Krankentagebuchs im Rahmen der Inszenierung einerseits über Tonbanddokumente zugänglich wurde, was einer nachdrücklichen wie irreführenden Suggestion von Authentizitätseffekten gleichkam, und andererseits durch die Lektüre von Schauspielern verfremdend zur Darstellung gelangte, warf nahezu flächendeckend die Frage auf, ob und inwiefern es sich bei Eine Kirche der Angst um Kunst, Leben oder beides zugleich gehandelt habe. Damit war ebenso zum wiederholten Mal das Bestreben einer ersatzreligiösen Erbauung wie die problematische künstlerische Funktionalisierung der „nackten Wahrheit“ angesprochen –, ein Topos, den schon Nietzsche ganz grundsätzlich in Abrede stellt und Hans Blumenberg im metaphorischen Feld von Bekleidung und Verkleidung verortet, da sich Wahrheit notwendigerweise in die Phänomene des Durchschautseins, der Maskierung und der schamverletzenden Enthüllung differenziert.33 Auf der Grundlage des ästhetisch problematischen Zusammenschießens von Authentizitätsanspruch und Selbststilisierung stellte sich Ulrich Seidler die Fragen, ob es dem Künstler Schlingensief überhaupt möglich war, beides gleichzeitig zu vertreten und, ob sich die Rezipienten seines Fluxus-Oratoriums auf der Seite seiner Kunst und seines Lebens zugleich aufhalten konnten, und gelangte dabei zu einem eindeutig negativen Urteil:

Bei Schlingensief sind die Grenzübergänge zwischen Kunst und Leben vielleicht schlechter bewacht, erlauben ein reges Hin-und-her und ziehen inzwischen einen Großteil der interpretatorischen Aufmerksamkeit auf sich. Aber man kann sich dennoch nicht – auch nicht bei Schlingensief – gleichzeitig auf beiden Seiten aufhalten.34

Peter Kümmel wiederum bezeichnete die theatrale Umspielung der eigenen Krankheit unter dem von Elias Canetti entlehnten Motto „Ihn brennt der Tod“35 als logische Konsequenz des künstlerischen Ansatzes Schlingensiefs, der das Lavieren zwischen Realität und Fiktionalität, zwischen wahrhaftiger Aussage und inszenierter Behauptung schon vor der Krebsdiagnose zum künstlerischen Credo stilisiert hatte:

Er hat sich stets geweigert, zwischen Kunst und Leben zu unterscheiden, er war zu dieser Trennung gar nicht fähig, und so war klar, dass seine verheerende Krebserkrankung, die im Januar öffentlich wurde und die ihn einen Lungenflügel kostete, Teil seines Werkes werden würde.36

Durch die Rede vom Einbrennen verwies Kümmel über den Autor Canetti zugleich auf die philosophisch-ästhetische Topologie des Schmerzes, die der selbstvergessenen Erfahrung von Lust die bewusstseinsfördernde Funktion des Schmerzes entgegenstellt. In diesem Sinne bezeichnet bereits Kant die Pein als „Stachel der Tätigkeit“37, durch die „wir allererst unser Leben“38 fühlen. Sigmund Freud wiederum verortet den Schmerz, in dem das zunächst allumfassende Ich sich in das „enge und schärfer umgrenzte […] Ich-Gefühl“39 zusammenziehe, im konstitutiven Bereich der Subjektwerdung. Nietzsche stellt in der Genealogie der Moral (1887) gar einen Konnex zwischen Schmerz und Erinnerung her, indem er das gewaltsam aufgezwängte Mal als die ewig im Gedächtnis bleibende Spur definiert: „Man brennt Etwas ein, damit es im Gedächtniss bleibt: nur was nicht aufhört, weh zu thun, bleibt im Gedächtniss.“40

Von der in das Leben des Regisseurs eingebrannten Wunde des bevorstehenden Todes wurde man auch als Zuschauer des künstlerischen Lebensbe­weises tingiert. Der Journalist Dirk Pilz fand angesichts der Theatralisierung des Schmerzens-Ichs Schlingensief in diesem Sinne wieder zum „Kinderglauben“41 zurück, wonach „Kunst noch direkt ins Zuschauerleben eingreifen, es verändern und verwandeln“42