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Laura versucht nach der Scheidung von ihrem gewalttätigen Ex-Mann, ihr Leben wieder in geordnete Bahnen zu lenken. Doch das Schicksal hat andere Pläne mit ihr. Da ist zum einen ihr Neukunde Michael Harris, der mehr Interesse an ihr als an ihren Immobilien zu haben scheint und ein nicht greifbares, düsteres Gefühl in Laura verursacht. Zum anderen hat ihr Ex-Mann Bobby, kaum aus dem Gefängnis entlassen, nichts Besseres zu tun, als ihr das Leben erneut zur Hölle zu machen. Sein Hass auf sie ist allumfassend und wurzelt tief, doch Laura ist es nie gelungen, seine Ursache zu ergründen. Bis jetzt…
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Seitenzahl: 437
Veröffentlichungsjahr: 2025
Inhalt
Cover
Titel
Prolog
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Impressum
Bettina Maaß-Münster
STERBEN MUSST DU
Mystery-Thriller
Er wusste es. Er hatte es schon lange gewusst, seit vielen Jahren. Und dann hatte er sie gesehen, sie sofort wiedererkannt.
Es waren die Augen. Unverwechselbar. Tiefe Seen voller Unschuld. Wie ahnungslos sie doch war.
Auch jetzt, als sie vor dem Schaufenster eines Schmuckgeschäfts stand und gedankenverloren die Auslage betrachtete, nicht ahnend, wie nahe er ihr war.
Aber dieses Mal würde es anders sein. Abgrundtiefer Hass schoss durch seinen Körper. Er genoss das Gefühl, kostete seine Kälte aus, die jede Faser seines Seins erfüllte.
Ein tiefer Zug aus der Zigarette, dann schnippte er den Stummel achtlos auf die Straße und blies langsam den Rauch aus. Sah ihm zu, wie er sich verspielt in den Wirbeln der Sommerluft auflöste.
Er grinste böse in sich hinein und schlenderte lässig auf sie zu, ein charmantes Lächeln im sonnengebräunten Gesicht.
Sie hatte keine Wahl.
September 2014
Laura schrie auf! Todesangst durchflutete sie wie heiße Säure und ließ ihr Herz verzweifelt hämmern. Sein Gesicht schwebte dicht über ihr, sein Atem stank nach Brandy und billigen Chips. Die feisten, von roten Adern durchzogenen Wangen fielen ihr entgegen und widerten sie mehr an, als sie in Worte fassen konnte, ließen sein Gesicht aufgedunsen und ungesund aussehen. Der bösartige Blick aus seinen kalten Augen nagelte sie förmlich am Boden fest, während er bäuchlings auf ihr saß und es genoss, wie sie sich wehrte, mit völlig sinnlosen Bewegungen ihrer kleinen Fäuste versuchte, die Kabelbinder zu lösen, mit denen er sie an einem Tischbein des Esstisches festgebunden hatte.
Die linke Hand stützte er neben ihrem Kopf ab, um sich ganz nahe zu ihr hinunterbeugen zu können. Um sie seine Wut körperlich spüren zu lassen, deren Ursache sie nie hatte ergründen können.
Flüchtig registrierte sie den stinkenden gelben Schweißrand am Shirt unter seiner Achsel und versuchte erfolglos, ihm auszuweichen.
»Hast du wirklich geglaubt, du könntest mir entkommen?«
Die Klinge des Messers, das er kampfbereit in der Hand hielt, blitzte kurz im Licht der Wohnzimmerlampe auf. Verzweifelt durchkämmte Laura ihr Gehirn nach einer Lösung. Noch blieben ihr Minuten, vielleicht auch nur Sekunden, bis seine Stimmung umschlagen würde. Es war wichtig, sein Verhalten im Blick zu behalten. Es konnte ihr das Leben retten. Solange er wütend war, würde ihr nichts passieren. Wirklich schlimm wurde es erst, wenn die Wut einer vollkommenen, emotionslosen Kälte wich. Dann war er wirklich gefährlich, wie sie aus Erfahrung wusste. Ihr Geist raste, ging alle Möglichkeiten durch.
Doch schon flackerte sein Blick, entspannten sich seine Züge. Es war zu spät.
»NEEEEEIIIIN!«
Sie fuhr im Bett hoch, der Pyjama schweißnass an ihr klebend. Die Bettdecke lag am Fußende, in blanker Angst weggestrampelt, während Laura geträumt hatte. Keuchend setzte sie sich auf, fuhr sich mit der Hand über das schweißnasse Gesicht. Wieder einmal fragte sie sich, wann diese Albträume enden würden, wann die Vergangenheit endlich aufhören würde, sich an ihr festzubeißen wie ein allzu hartnäckiges Insekt.
Mit zitternden Händen griff sie nach dem Wecker auf ihrem Nachttisch. Es dauerte einen Augenblick, bis aus den verschwommenen Zeichen der Digitalanzeige rote Zahlen wurden, die ihr sagten, dass es neun Uhr war, ein Samstagmorgen.
Wie an jedem Morgen seit ihrer Trennung machte sich sofort nach dem Aufwachen, wenn die Welt in ihr Bewusstsein drang, noch bevor sie die Augen aufschlug, der Stein in ihrem Magen bemerkbar, der ihr immer wieder hartnäckig mitteilte, dass etwas in ihrem Leben nicht stimmte. Dass die Hölle, durch die sie gegangen war, noch immer in ihr tobte und sie von innen verzehrte, und dass der Frieden, der ihr Leben nun ausmachte, nur oberflächlich war. Nichts hatte bislang die Leere zu füllen vermocht, die in ihr herrschte. Eine Leere, die sie anfangs tatsächlich als Erleichterung empfunden hatte, da sie an die Stelle unendlicher Angst – Todesangst – getreten war. Angst war ermüdend, lähmend. Leere fühlte sich im ersten Moment dagegen beinahe harmlos an. Feine Unterschiede, über die sie sich früher niemals den Kopf zerbrochen hätte, von denen sie nicht einmal geahnt hatte, dass sie existierten. Geschweige denn, wie sie sich anfühlen würden.
Doch Leere, das wusste sie inzwischen, war nicht friedlich oder harmlos. Leere war geschwängert von Misstrauen, Angst und unliebsamen Erinnerungen, die einfach nicht weichen wollten, von zu vielen Emotionen, bis die Seele ausgelaugt war und einem den Dienst verweigerte. Hoffnung, Vertrauen und der Mut, wieder frisch voran zu gehen … all das entbehrte diese Leere und machte sie zu einem schwarzen Loch, das zu füllen der Seele die Kraft fehlte.
Mühsam schob sie ihre bleischweren Beine aus dem Bett, schälte sich angewidert aus dem klammen Schlafanzug und stellte sich kurz darauf noch immer benommen unter die heiße Dusche. Mit einem erschöpften Seufzer lehnte sie die Stirn gegen die kühlen Fliesen der Duschkabine und schloss die Augen, als der harte Strahl des heißen Wassers auf ihre Schultern traf und langsam die letzten Reste des Alptraums fortspülte. Gurgelnd verschwanden sie mit dem nach Lotusblüten duftenden Schaum der Duschlotion im Abfluss, während Laura sich abseifte und das Gefühl des weichen Schaums auf der Haut genoss. Er fühlte sich so sauber an, so rein. Ein krasser Gegensatz zu ihrem Inneren. Was hätte sie dafür gegeben, auch von innen duschen zu können. All die furchtbaren Erinnerungen einfach aus sich herausspülen zu können, bis sie sich frisch und erholt fühlte und bereit war, jemand anders zu sein. Jemand, der nicht durch die Hölle gegangen war.
Nach einer Viertelstunde fühlte sie sich endlich wieder wohl in ihrer Haut, cremte sich ausgiebig mit Bodylotion ein, bis sie von Kopf bis Fuß in einen feinen Vanilleduft gehüllt war, schlüpfte in ihren Wohlfühl-Hausanzug aus dunkelblauem Nickistoff, ließ die feuchten Haare offen über ihre Schultern fallen und ging hinunter in die Küche, um sich einen Kaffee zu machen.
Während das appetitliche Aroma langsam durch den Raum zog, blieb sie am Küchenfenster stehen und sah gedankenverloren in den kleinen Garten hinaus. Normalerweise vermochte sein Anblick ihr Seelenleben zu beruhigen, sodass der Stein in ihrem Magen vorübergehend weniger schwer wog. Nach dem neuerlichen Alptraum ging ihr Plan an diesem Morgen aber nicht ganz auf. Das Gefühl, einen Teil ihres Lebens noch immer nicht im Griff zu haben, sich selbst nicht im Griff zu haben, blieb. Die alten konditionierten Ängste kamen immer wieder hoch, saßen trotz Therapie noch immer wie lästige, eingetrocknete Flecken in ihrem Gehirn fest.
Laura ließ ihren Blick über die mit Gänseblümchen und Löwenzahn gesprenkelte Rasenfläche gleiten, die satt und grün in der milden Morgensonne lag, vorbei an blühenden Blumenbeeten, in denen duftende Rosen und lila und weiß blühende Hortensien sich alle Mühe gaben, Lauras Stimmung zu heben, bis hin zu der dicht gewachsenen Buchsbaumhecke im rückwärtigen Teil des Grundstücks, die langsam vor sich hin wucherte. Sie hatte sie gemeinsam mit ihrem Ex-Mann gepflanzt. Damals, als sie sich noch eingeredet hatte, glücklich zu sein.
Ich muss die Hecke dringend rausreißen, dachte sie, goss sich eine Tasse Kaffee ein und nippte genüsslich daran. Eine Zeitlang hatte sie sich darum bemüht, das Haus zu verkaufen, um einen kompletten Neuanfang zu wagen, hatte dann aber feststellen müssen, dass Häuser, in denen sich eine Tragödie abgespielt hatte, so gut wie unverkäuflich waren. Also hatte sie getan, was als Alternative übrig blieb, und sich eingeredet, dass dies ihr Zuhause war und sie es eigentlich gar nicht verkaufen wollte, auch wenn sie es weiterhin auf dem Markt anbot. Dass es nur darauf ankam, es mit genügend positiven Erinnerungen zu füllen, bis die dunklen Schatten der Vergangenheit irgendwann verschwunden sein würden.
Die Finger ihrer rechten Hand ruhten auf der kühlen Keramikoberfläche des Spülbeckens, ihr Zeigefinger kratzte in unbewusst gewohnter Weise an einer winzigen Erhebung im Material. Ein kleiner Fehler der Produktion, den Laura je nach Stimmungslage als störend oder tröstend empfand.
Die Erinnerung an einen Samstagmorgen vor zwei Jahren, an dem sie, mit einer alten Zahnbürste bewaffnet, einen winzigen getrockneten Blutfleck von dem Knubbel geschrubbt hatte, war beinahe verdrängt. Ebenso wie die stummen Tränen, die ihr dabei heiß die Wangen hinuntergeflossen waren. Damals hatte sie sich selbst die Schuld für alles gegeben. Für die vielen kleinen Anlässe, die ihn aus der Haut hatten fahren lassen. Sie hatte sich einreden lassen, dass ein Mann nun mal gelegentlich wütend wurde. Dass das normal war, und dass es ihre Schuld gewesen war. Dass sie ihn mit ihrem Verhalten dazu gebracht hatte.
Dass er gar nicht anders konnte, als ihr einen kräftigen Stoß zu verpassen, nachdem sie versehentlich gegen ihn gestolpert und der heiße Tee aus seiner Tasse über sein Handgelenk geschwappt war. Dass Laura dabei ausgerechnet mit der Oberlippe gegen das Keramikbecken gefallen war und sich eine Platzwunde zugezogen hatte – dafür konnte er nun wirklich nichts, was sie damals noch zu glauben bereit war. Da ihn keine Schuld getroffen hatte, war es ihm nur natürlich erschienen, dass sie die Misere allein wieder aufwischte - den vergossenen Tee und natürlich das Blut, das aus ihrer Lippe geflossen war wie Wasser aus dem Hahn.
Das Nachrichtensignal ihres Handys riss sie jäh aus ihren düsteren Gedanken. Erschrocken zuckte sie zusammen, stellte ihre Kaffeetasse auf der Arbeitsplatte ab und griff nach dem Smartphone.
Es war eine E-Mail ihres Chefs:
Schau dir den Anhang an. Die Denton Corp. erteilt uns den Alleinauftrag zu einer dringenden Objektsuche. Du hast wohl jemanden sehr beeindruckt – man hat ausdrücklich darum gebeten, dass DU das übernimmst.
Termin Montagmorgen, es eilt. Ansprechpartner ist Michael Harris.
Ich verlasse mich auf dich.
Laura runzelte die Stirn und seufzte tief. Eigentlich hatte sie sich darauf gefreut, an diesem Wochenende ein paar Dinge zu tun, die nichts mit dem Job zu tun hatten. Doch wenn sie es sich recht überlegte und den Knoten des Unwohlseins in ihrem Bauch bedachte, war es vielleicht gar nicht so verkehrt, sich mit Arbeit ablenken zu können. Wie üblich, gestand sie sich selbst ein.
Als sie das Büro am Montagmorgen betrat und die Handtasche achtlos auf ihren Schreibtisch fallen ließ, eine Hand bereits am Computer, um ihn hochzufahren, kam ihre Sekretärin Louisa im Sturmschritt hinter ihr her.
»Guten Morgen Laura! Es ist schon kurz vor zehn!«
»Ich weiß! Ich musste heute Morgen noch kurz die Präsentation für die Denton Corporation überarbeiten. Dieser Harris oder wie der heißt hat mich das ganze Wochenende gekostet. Karierte Maiglöckchen haben wir nämlich leider nicht im Angebot.«
Die Frustration in ihrer Stimme war kaum zu überhören. Louisa hätte ihre Kollegin gern besänftigt, musste jedoch noch Öl ins Feuer gießen: »Es tut mir leid, aber du wirst deine Wut darüber leider fürs erste runterschlucken müssen. Mister Harris ist bereits da. Er wartet seit fünf Minuten im Konferenzraum.«
»Scheiße. Auch noch überpünktlich. So was kann ich ja leiden. Gib mir eine Sekunde. Biete ihm einen Kaffee an! Ich bin gleich da.«
Laura atmete tief ein und aus und strich mit den Handflächen glättend über den schwarzen eleganten Baumwollrock, der, gepaart mit einer hellblauen, eng geschnittenen Bluse und schwarzen Wildlederpumps, an diesem Morgen ihr Outfit bildete. Ein weiterer tiefer Atemzug und sie war bereit, ihr Profi-Gesicht aufzusetzen.
Kurz darauf betrat sie den Konferenzraum, der größtenteils von einem großen ovalen Glastisch ausgefüllt wurde. Der Mann, der dort auf sie wartete und sich nun von dem Stuhl erhob, auf dem er bereits Platz genommen hatte, reichte ihr mit kräftigem, selbstbewusstem Druck die Hand.
»Miss Sands, nehme ich an. Es freut mich sehr, Sie kennenzulernen.« Rauchig und dunkel rollten die Worte über seine Lippen.
Beiläufig nahm sie zur Kenntnis, dass Michael Harris nicht unattraktiv war - schlank, drahtig und mit leichtem Grauansatz in den kurzen schwarzen Haaren. Seine graublauen Augen blitzten freundlich und wurden von dezenten Lachfältchen betont. Er musste Anfang Fünfzig sein und sein Mund schien ständig leicht anzüglich zu lächeln, während er Laura ohne Eile musterte und seinen Blick beinahe lasziv über sie gleiten ließ. Mangelndes Selbstbewusstsein gehörte definitiv nicht zu den Problemen dieses Mannes!
Laura räusperte sich und bedeutete dem Mann, sich wieder zu setzen.
»Hat meine Assistentin Ihnen schon etwas zu trinken angeboten, einen Kaffee, einen Tee?«
Noch immer mit diesem eigentümlichen Lächeln auf den Lippen erwiderte er: »Sie hat bereits gefragt, ja. Danke.«
Während sie sich ebenfalls setzte, lehnte Mr Harris sich entspannt zurück und streckte seine Füße unter dem Tisch aus. Laura wusste nicht, ob sie das sympathisch oder dreist finden sollte. Intuitiv hob sich ihre Augenbraue, huschte für einen Sekundenbruchteil ein konsternierter Ausdruck über ihr Gesicht, bevor sie sich wieder im Griff hatte und sich endlich dem Geschäftlichen zuwandte.
»Nun, Mister Harris … Mister Thomson hat mir bereits einen groben Überblick davon gegeben, was Ihre Firma benötigt. Ich habe mir anhand der Informationen zwei Objekte herausgesucht, die Ihren Bedürfnissen entsprechen könnten, sowohl von der Quadratmeterzahl als auch von der Aufteilung her.«
Harris grinste sie herausfordernd an. Seine Augen blitzten gut gelaunt. »Sie haben am Wochenende gearbeitet? Extra für mich?«
Laura nahm den zweideutigen Unterton leicht verärgert zur Kenntnis. Gerne hätte sie erwidert, dass sie wohl kaum eine andere Wahl gehabt hatte, verkniff sich diesen Kommentar allerdings und antwortete kühl lächelnd: »Natürlich. Das gehört zu unserem Kundenservice.«
Mit einem Knopfdruck auf die Fernbedienung schaltete sie den Beamer ein. Sofort wurde die rückwärtige Wand des Raumes von einem Rechteck aus weißem Licht geflutet.
»Sehr wohlformulierte Antwort«, erwiderte er grinsend und zwinkerte sie herausfordernd an.
Er macht sich über mich lustig!
Laura spürte plötzlich, wie unwohl sie sich zu fühlen begann. Flirten, Zweideutigkeiten … all das hatte in ihrem Leben keinen Platz mehr. Sie hatte diesen unbeschwerten Teil ihrer Persönlichkeit abgestreift wie eine Schlange ihre alte Haut. Solche Verwicklungen brachten immer nur Probleme mit sich, und davon hatte sie nun wirklich mehr als genug durchlebt, so viel, dass es für mehrere Leben reichte. Auf der Straße oder in einem Café konnte sie einen Mann abweisen, so grob sie wollte. Aber einen Kunden … das war eine erheblich sensiblere Angelegenheit, die ihr Unbehagen verstärkte.
Starte einfach die Präsentation.
Mit plötzlich fahrigen Fingern suchte sie in den Papieren auf dem Tisch die Fernbedienung, bis Mr Selbstbewusst ihr unvermittelt das gesuchte Stück entgegenhielt. »Suchen Sie diese?«
Sie musste einen unangenehmen Schauer unterdrücken, als sich ihre Finger versehentlich berührten, während sie ihm das flache Stück Kunststoff aus der Hand nahm. Es war lange her, seit sie männliche Nähe als angenehm empfunden hatte.
»Wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich gern direkt mit der Präsentation beginnen.«
Ein Nicken, dann wandte er seinen Blick endlich der Projektionsfläche an der Längsseite der Wand zu.
Sachlich, ruhig und strukturiert stellte sie Michael Harris die Grundrisse, Fotos und Fakten der beiden ausgewählten Lager- und Gebäudekomplexe vor, wobei sie ihn so selten wie möglich ansah.
Als die Präsentation zu ihrem unweigerlichen Ende kam, sah sie sich in der Pflicht, ihm ihre Aufmerksamkeit wieder zuzuwenden.
»Sie haben sich gut vorbereitet, Miss Sands. Ich schätze das sehr. Mir gefallen bislang beide Komplexe.«
»Wenn Ihr Unternehmen auch die Option in Erwägung zieht, statt eines Kaufes selbst zu bauen, hätte ich noch ein geeignetes Grundstück im Angebot. Ich habe mir den Grundriss bereits besorgt, muss allerdings zugeben, dass die Infrastruktur in diesem Stadtteil nicht ganz so gut …«
Er unterbrach sie mit einer Handbewegung. »Sehr eifrig.«
Wieder dieses zweideutige Grinsen. Er machte sich tatsächlich über sie lustig! Bevor sie es ihm übelnehmen konnte, fuhr er fort: »... aber ein Bau kommt für uns nicht in Frage. Trotzdem vielen Dank für Ihre Mühe. Wann kann ich mir die beiden Komplexe ansehen?«
»Ich vereinbare gleich entsprechende Besichtigungs- termine mit dem Hauswart und rufe Sie nachher an. Wäre das in Ordnung?«
Er erhob sich und lächelte charmant, schaute ihr tief und etwas zu lange in die Augen.
»Das wäre sogar sehr in Ordnung, Laura.«
Der Klang ihres Namens aus seinem Mund ließ ein eiskaltes Prickeln ihren Nacken hinunterwandern. Instinktiv trat sie einen kleinen Schritt zurück. Um sich nicht anmerken zu lassen, dass er sie aus dem Konzept gebracht hatte, sah sie ihn plötzlich forschend, beinahe trotzig an und fragte: »Warum haben Sie eigentlich explizit um die Betreuung durch mich gebeten? Unsere Agentur hat erfahrenere Makler als mich.«
Er lächelte, ein wenig berechnend, wie sie fand. »Sie wurden mir wärmstens empfohlen.« Sein Blick ließ keinen Zweifel daran, dass er nicht vorhatte, den Namen des Gönners auszuplaudern, und sie hatte nicht vor, ihn in den Genuss einer weiteren allzu überlegenen Antwort zu bringen.
»Gut, dann melde ich mich später wieder, Mister Harris«, erwiderte sie und streckte ihm ihre Hand hin. Er hielt sie einen Moment lang fest in seiner, bis seine Wärme intensiv und schleichend ihren Arm hochkroch und sie sich der ineinander gelegten Handflächen allzu bewusst wurde. Was zum Teufel sollte das werden?
»Bitte, nennen Sie mich Michael.«
Sie lächelte gequält und entzog ihm ihre Hand, als bestünde die Gefahr einer ernsthaften Verletzung, wenn sie sie noch länger in seiner Obhut ließe. Als er endlich im Aufzug verschwunden war, atmete sie erleichtert auf und ging in ihr Büro zurück, um sich von seiner Nähe zu erholen.
Eine halbe Stunde später griff sie zum Telefon, um den versprochenen Anruf zu tätigen, nachdem sie mit dem Hauswart des ersten Gebäudes einen Termin vereinbart hatte. Der Hörer lag plötzlich bleischwer in ihrer Hand. Irgendetwas ließ sie zögern, auch wenn sie nicht hätte benennen können, was es war. Sie atmete einmal tief durch, dann riss sie sich zusammen und wählte endlich Michael Harris‘ Nummer.
»Harris.«
»Mister Harris, hier spricht Laura Sands.«
Eine Sekunde lang herrschte Stille in der Leitung, bevor sein heiseres Lachen zugegebenermaßen ziemlich sexy in ihr Ohr rollte.
»Ich hatte Sie, wenn ich mich richtig erinnere, vorhin erst gebeten, mich Michael zu nennen.«
Er lächelte hörbar. Laura erstickte den kleinen Flirt im Keim und erwiderte: »Das stimmt … ich habe gute Neuigkeiten für Sie! Ich habe für das zweite Objekt, das ich Ihnen gezeigt habe, einen Besichtigungstermin für übermorgen Mittag arrangieren können. Wäre vierzehn Uhr für Sie angenehm?«
Sie hörte, wie Papier raschelte und ein Kugelschreiber mehrmals geräuschvoll klickte. Das Gefühl jagte ihr unvermittelt einen eiskalten Schauer über den Rücken. Zu präsent war noch immer das stete Klicken, das ihr Ex-Mann bei der Scheidung vor Gericht mit seinem Kugelschreiber produziert hatte.
Klickklick. Klickklick.
Der Richter hatte ihn nach einer Weile genervt darum gebeten, diese Störung zu unterlassen, woraufhin ihr Ex-Mann ihn provokant angesehen und das Spiel hämisch grinsend wiederholt hatte, nur um den Richter zu reizen und ihm seinen fehlenden Respekt zu verdeutlichen.
Klickklick. Klickklick.
Erst als man ihm mit einer verlängerten Haftstrafe drohte, wenn er die Anweisungen des Gerichts weiter missachtete, verstummte der Kugelschreiber. Das Geräusch und die damit verbundenen Gefühle waren jedoch für immer in Lauras Gedächtnis eingebrannt.
Klickklick. Klickklick.
Sie verscheuchte die Erinnerung und versuchte, sich wieder auf das Gespräch zu konzentrieren. Oder vielmehr auf die Stille, die nun schon viel zu lange in der Leitung herrschte.
»Mister Harris? Passt Ihnen vierzehn Uhr am Mittwoch?«
Ein Räuspern.
»Wenn ich ehrlich bin, passt mir zwölf Uhr besser. Kennen Sie das Adamo?«
»Ja, ich kenne das Restaurant. Aber was …?«
»Ich möchte gerne mehr über Sie erfahren. Ich weiß gern, mit wem ich es zu tun habe.«
Ach du Schande.
»Ich weiß nicht, ob das nötig …«
»Ich freue mich schon darauf! Haben Sie noch einen schönen Tag!« Bevor Laura reagieren konnte, hörte sie, wie es leise klickte. Die Leitung war tot.
Am Mittwochmorgen starrte Laura düster ihr Spiegelbild an, das von der verspiegelten Tür des Kleiderschranks genauso grimmig zurückstarrte, unfähig, die Fragen zu beantworten, die ihr im Kopf herumschwirrten. Warum wollte dieser Mann mit ihr essen gehen? Aber noch viel wichtiger: Warum wollte er sie besser kennenlernen? Er suchte eine Gewerbeimmobilie und sie konnte sie anbieten. Es war nicht nötig, mehr voneinander zu wissen!
Die Größe des Auftrags allein hatte sie dazu bewogen, ihre Zustimmung zu dem Essen zu geben. Wenn man überhaupt von Zustimmung sprechen konnte. Genau genommen hatte Michael Harris sie überrumpelt. Sie hatte sich also vielmehr bewusst entschieden, diese Überrumplung zuzulassen. Dieses eine Mal. Fürs Geschäft.
Tief in Gedanken zog sie ihren dunkelblauen Hosenanzug an und mit ihm das Gefühl, die Situation im Griff zu haben. Als würde sie ein Kostüm anziehen, eine Verkleidung, mit deren Hilfe sie jemand anderes wurde. Eine Frau, die den Erfolg nach außen trug, sich nicht beirren ließ. Und vor allem niemals Angst hatte.
Während sie sich die Bluse zuknöpfte, strich sie einen Moment lang nachdenklich mit dem Finger über die kleine Narbe oberhalb ihrer linken Brust - eine hellrote Wulst, ungefähr zwei Zentimeter lang. Die Haut war an dieser Stelle taub, Laura spürte die Berührung ihres Fingers nicht einmal. Die Narbe verblasste zwar langsam, würde aber doch als ewige Erinnerung an die furchtbarsten Momente ihres Lebens bleiben, ebenso wie die etwas größere Narbe rechts neben ihrem Bauchnabel. Erinnerungsfetzen schossen durch ihren Kopf – an ihre gefesselten Hände, die im Licht aufblitzende Klinge. Nie würde sie den Schmerz vergessen, diesen alles verzehrenden Schmerz, der ihr den Atem genommen hatte, und die nackte Angst vor dem Tod, der so plötzlich und unmittelbar vor ihr gestanden und sie böse angelächelt hatte. Sie hatte schon vor langer Zeit entschieden, dass sie bereits genug Angst für zwei Leben durchgestanden hatte und dass dieses Gefühl in ihrem weiteren Leben keine Berechtigung mehr hatte. Bevor das mittlerweile vertraute dumpfe Gefühl in der Brust sich in ihr ausbreiten konnte, knöpfte sie die Bluse entschlossen fertig zu, schob die dunklen Gedanken beiseite und betrachtete prüfend ihr Spiegelbild.
Bist du bereit? Dann geh und trete der Welt gegenüber!
»Laura! Pünktlich auf die Minute!« Harris kam auf sie zu, griff beherzt nach ihrer Hand. Er strahlte so offen, dass sie beinahe versucht war, seine Freude zu erwidern. Sie ließ es zu, dass ein vorsichtiges Lächeln über ihre Züge huschte und sie für einen Augenblick weich machten.
Doch plötzlich fröstelte sie: Tief in ihrem Inneren hatte sie unvermittelt das Gefühl, ihn von irgendwoher zu kennen. Obwohl sie sich sicher war, dass das unmöglich sein konnte. Sie war dem Mann noch nie begegnet, bevor er ihr Büro betreten hatte. Das kurze Gefühl der Vertrautheit war so überwältigend, dass es ihr den Atem nahm. Wobei Vertrautheit der falsche Begriff war.
Intimität. Es ist, als würde ich ihn schon seit Ewigkeiten auf intimste Weise kennen. Sofort spürte sie, wie sich alles in ihr dagegen wehrte.
Er bemerkte ihren flackernden Blick, während sie das Restaurant betraten.
»Geht es Ihnen nicht gut, Laura?«
Sie lächelte verkrampft und schob das seltsame Gefühl energisch weg, verbannte es in die dunklen Tiefen der Existenzlosigkeit.
»Doch, es ist alles in Ordnung. Ich hatte gerade nur … eine Art Déjà-vu.«
Während sie auf die Getränke warteten, blickte sich Laura verstohlen um. Es war lange her, seit sie das letzte Mal hier gegessen hatte. Damals hatten sie an einem großen Ecktisch gesessen. Sie bemerkte, dass dort nun statt des Tisches eine Spielecke für Kinder eingerichtet war. Auf einem dicken bunten Spielteppich saß ein etwa zweijähriger Junge und spielte konzentriert mit einer Motivationsschleife, schob die verschiedenen Formen den Kurven folgend über die bunten Drähte.
Erinnerungsfetzen glitten durch ihr Bewusstsein und verschwanden wieder. Das Steak, das Bobby hatte zurückgehen lassen, weil es angeblich schlecht gewürzt war. Die Rechnung, die zu zahlen er sich weigerte, weil … Laura fiel der Grund nicht mehr ein. Sie wusste nur noch, dass ihr Ex-Mann lautstark eine Szene gemacht hatte, die ihr Vater schließlich beendete, indem er verschämt die Rechnung an sich nahm und sie wortlos beglich, obwohl Bobby ihre Eltern eigentlich eingeladen hatte. Es war ihr Kennenlern-Dinner gewesen. Diese Szene hatte danach immer zwischen ihnen gestanden, wie so viele andere Kleinigkeiten, die einen normalen Umgang miteinander ausschlossen. Laura wusste nicht mehr, warum sie ihm trotzdem ihr Ja-Wort gegeben hatte. Sie hatte es, wie so viele andere schmerzhafte Erinnerungen, verdrängt.
»Vielleicht gehe ich mal nachfragen, wann sie uns die Karte bri…« Laura verlor den Faden. Sie hatte angesetzt, sich zu erheben, doch Michael Harris drückte sie an der Schulter sanft zurück auf die Sitzfläche. Die dominante Geste ließ sie innerlich erschaudern. Die Wärme seiner Hand durchflutete sie und brachte ihr Herz zum Hämmern, bevor sie es hätte verhindern können, während der Fluchtinstinkt in ihr sich brüllend bemerkbar machte.
»Schauen Sie, die Bedienung ist schon auf dem Weg. Entspannen Sie sich.«
Nach der Aufgabe ihrer Bestellungen nahm das Gespräch zu Lauras Erleichterung eine professionelle Wendung. Sie holte ihren Block heraus und machte sich Notizen, während Michael mehr über die Denton Corporation, ihre Geschichte und Zukunftspläne erzählte. Bis der Salat aufgetischt wurde, hatte sie Details über die benötigte Lager- und Produktionsfläche sowie die voraussichtliche Zahl der Mitarbeiter in Erfahrung gebracht und konnte die Vorspeise entspannt genießen.
Als die Kellnerin zum Hauptgang dampfende Formen mit Lasagne vor ihnen abgestellt und ihnen einen guten Appetit gewünscht hatte, war sie bereits sehr zufrieden mit dem Verlauf des Geschäftsessens.
»Und was machen Sie, wenn Sie nicht gerade Immobilien verkaufen?«
Michael rührte seine Lasagne nicht an, musterte seine Tischdame stattdessen aufmerksam. Kurz erwiderte sie den Blick, bemerkte das Graublau seiner Augen, die Lachfältchen, die sich beinahe bis zu den Schläfen zogen, die feinen senkrechten Falten, die seine blassen Wangen betonten. Zu schnell schluckte sie ein Stück zu heißer Nudel herunter und bereute es, ihm in die Augen gesehen zu haben. Ohne sich den Schmerz in der Speiseröhre anmerken zu lassen, erwiderte sie: »Na ja, was man halt so tut. Ich habe ein Haus, da gibt es immer was zu tun.«
»Wohnen Sie allein?«
Sein interessierter Tonfall ließ sie aufhorchen.
Wow. Okay. Jetzt wird es wohl persönlich.
Sofort versteifte sie sich innerlich und startete den Versuch, von sich abzulenken.
»Und Sie? Verheiratet?«
»Sie sind genauso neugierig wie ich«, lachte Michael und tupfte sich kurz mit der Serviette den Mundwinkel ab. »Sie haben meine Frage nicht beantwortet.«
Er ist verdammt hartnäckig.
Sie zögerte. Es machte einen großen Unterschied, ob man als Frau allein wohnte oder nicht.
»Sie meine auch nicht«, wich sie der Antwort mit bemühtem Lächeln und dem Versuch eines Zwinkerns aus.
Während Laura noch überlegte, wie sie das Gespräch elegant auf die anstehende Besichtigung lenken konnte, wurde plötzlich die Tür des Restaurants aufgerissen. Von dem Geräusch alarmiert drehte sie sich zur Tür – und erstarrte.
»Bobby…« Es war nur ein Flüstern, für mehr schien ihr plötzlich die Kraft zu fehlen.
Ihr Ex-Mann entdeckte sie beinahe sofort und stürmte wütend auf ihren Tisch zu! Instinktiv sprang Laura von ihrem Stuhl auf und brachte den Tisch zwischen sich und den Mann. Auch Michael erhob sich und stellte sich instinktiv schützend vor sie, auch wenn er die Situation nicht erfassen oder ihre Bedeutung erahnen konnte.
»WAS MACHST DU HIER?«, bellte der Mann Laura an, die bereits sichtlich zitterte.
Mit vor Angst weit aufgerissenen Augen drückte sie sich an die Wand hinter sich, bis sie den Bilderrahmen des dort hängenden Kunstdrucks in ihrem Rücken spürte.
»Du darfst gar nicht hier sein«, hauchte sie, so atemlos, als wäre sie lange gerannt. »Hast du mich verfolgt? Beschattest du mich etwa?«
Wie ein Tiger pirschte ihr Ex-Mann sich an sie heran, kam Schritt für Schritt mit lauerndem Blick um den Tisch herum. Michael reagierte geistesgegenwärtig und rief der Kellnerin, die geschockt mit zwei dampfenden Tellern in der Hand mitten im Raum stehengeblieben war, zu: »Rufen Sie die Polizei, dieser Mann bedroht meine Begleitung!«
Hektisch stellte sie die Teller auf einem freien Tisch ab und rannte zur Theke zurück, nahm den Telefonhörer ab.
In der Gewissheit, dass Hilfe unterwegs und Michael direkt neben ihr war, straffte Laura sich und sah Bobby wütend an. »Dann bist du also tatsächlich wieder draußen. Wenn es nach mir gegangen wäre, wärst du in der Zelle verrottet! Du darfst dich mir nicht nähern, hast du das schon vergessen? Also verschwinde, sofort!«
»Glaubst du, das juckt mich?« Der Hass in seiner Stimme berührte sie beinahe körperlich, wie die Hitze eines Feuers sich ausbreitete, lange bevor die Feuersbrunst selbst einen verbrennen konnte.
Michael warf ihr einen besorgten Blick zu. Bobbys Gebrüll hatte das ganze Restaurant lahmgelegt, sämtliche Gespräche waren verstummt, die Blicke teils neugierig, teils erschrocken auf die Szene gerichtet.
»Bobby, das hier ist ein Geschäftsessen. Geh einfach.«
»Ach wie nett. Und mit wem isst du da?« Seine widerwärtige Stimme und seine bedrohliche Präsenz ließen ihre Hände feucht werden. Mit zitternden Fingern strich sie sich eine Haarsträhne hinter das rechte Ohr. In ihren Therapiestunden hatte sie unter Anleitung gelernt, nicht in Panik zu geraten, wenn sie seine Stimme hörte oder ihn sah, und sich nicht verunsichern zu lassen. Ihr Mund wurde staubtrocken, während sie versuchte, Ruhe zu bewahren. Kurz klebte die Zunge an ihrem Gaumen, bevor es ihr mühsam gelang, genug Speichel aufzubringen, um sie wieder zu lösen. Zwei tiefe Atemzüge später hörte sie sich selbst sagen: »Geh mir aus den Augen und halt dich von mir fern.«
Sie zuckte zusammen, als er erneut brüllte: »Du SCHLAMPE! Hast du wirklich geglaubt, du kannst mich einfach aus deinem Leben streichen? Mich verarschen und dann abhaken? Das wirst du bereuen, du Miststück!«
Als das Geräusch der Polizeisirene durch die Fenster drang, drehte er sich auf dem Absatz um und rannte zur Hintertür. Sekunden später war der Spuk vorbei, und Laura sank leichenblass auf ihren Stuhl zurück, die Lippen fest zusammengepresst.
Jeder Glanz war aus ihren Augen gewichen. Der köstliche Duft der Lasagne zog unbemerkt an ihrer Nase vorbei. Erst als Michaels warme Hand sich fest um ihre eiskalte schloss, erwachte sie aus ihrer Starre und blinzelte ihn mit angsterfülltem Blick an.
Die Drohung ihres Ex-Mannes hatte sich wie eine eiserne Klammer um ihren Brustkorb gelegt. Was hatte er damit gemeint - sie würde es bereuen? Sie wusste, dass er ihr rein rechtlich nichts anhaben konnte. Allerdings war ihr auch klar, wie wenig die Rechtsprechung ihn interessierte. Sein Auftritt hier trotz der einstweiligen Verfügung, die ihn zu 100 Metern Abstand zu ihr zwang, war der beste Beweis dafür.
Sie erinnerte sich lebhaft an den Gerichtstermin, der das Ende ihrer Ehe besiegelt hatte: Auf ihren Wunsch hin hatte man einen Polizeibeamten zu ihrem Schutz abgestellt. In diesem Punkt hatte sie aus der Erfahrung gelernt und sich geweigert, den Gerichtssaal ohne diese Maßnahme zu betreten.
Der gesamte Raum hatte von Bobbys bösartiger Ausstrahlung vibriert, und Laura hatte sich resigniert gefragt, warum ihr das erst zu einem so späten Zeitpunkt ihrer Ehe aufgefallen war, und wie sie es allen Ernstes fertiggebracht hatte, sich in diesen Menschen zu verlieben. Und all die kleinen, eigentlich offensichtlichen Signale ignoriert hatte. Er war einfach zu lange ein zu guter Schauspieler gewesen.
Die Scheidung hatte viele gute Gründe gehabt, und genau diese machten Laura jetzt Angst. Bobby war, seit seine Maske damals gefallen war, paranoid, perfide, brutal und wurde immer unberechenbarer.
Mit aller Macht verdrängte sie die dunklen Erinnerungen, die immer wieder hochzukommen drohten. Sie hatte ein Geschäft abzuschließen und war nicht bereit zuzulassen, dass ihr Ex-Mann ihr dazwischenfunkte.
»Laura.«
Michaels tiefe Stimme hüllte sie wie eine warme Decke ein. Plötzlich nahm sie seine Hand auf ihrer deutlich wahr, das Gefühl seiner weichen Haut, seine intensive Wärme. Es fühlte sich gut und tröstend an. Es fühlte sich … nach Nähe an. Schnell zog sie ihre Hand zurück, als hätte sie sich verbrannt, und räusperte sich.
»Ja … wo … wo waren wir stehen geblieben?«
Michael verstand den Wink und bewies, dass er ein vollendeter Gentleman war, indem er erwiderte: »Ich wollte Ihnen gerade sagen, dass ich noch nie mit einer so hinreißenden jungen Dame Lasagne gegessen habe.«
Ihr Lächeln war verhalten, aber aufrichtig. Sie sah ihn dankbar an und spürte plötzlich wieder dieses unsichtbare Band zwischen ihnen, wie bei dem Déjà-vu von vorhin. Sofort erstarb das Lächeln auf ihren Lippen, und sie vertiefte sich schnell in ihre Lasagne.
Etwas später brachen sie mit vollen Mägen auf, auch wenn die Stimmung noch etwas gedrückt war. Michael hatte nach Bobbys Auftritt besorgte Fragen gestellt, doch sie hatte sich darauf beschränkt, ihm zu sagen, dass Bobby eine Haftstrafe abgesessen hatte, und ihn gebeten, nicht weiter nachzubohren, um keine Wunden aufzureißen.
Michael hatte Verständnis gezeigt, allerdings vorsichtig bemerkt, dass wohl kaum er es war, der an diesem Tag eine Wunde aufgerissen hatte. Er hatte darum gebeten, gemeinsam zu dem Gewerbekomplex zu fahren, damit sie sich während der Fahrt unterhalten und die dunklen Wolken des Tages vertreiben konnten. Es war Laura eigentlich nicht recht, aber um des guten Geschäftsabschlusses willen hatte sie zugestimmt, wie sie sich einredete. Er hatte recht, diese Bombe konnte man nicht einfach so stehenlassen, ebenso wenig wie die seltsame Stimmung zwischen ihnen. Irgendetwas hatte sich verändert, und Laura war sich noch nicht im Klaren darüber, was es war.
Nun saß sie in seinem Mercedes, dessen Innenraum angenehm nach Leder duftete, und dirigierte ihn zu der Besichtigung. Er lächelte sie von der Seite an, während seine Hände ruhig auf dem Lenkrad lagen.
»Sie sehen entspannt aus.«
Laura sah unverwandt auf die Straße. »Mit vollem Magen ist man meistens entspannt. Die Lasagne war wirklich köstlich.« Sie betete, dass er das Gespräch nicht erneut auf Bobby lenkte. Sie wollte diese Begegnung nur noch hinter sich lassen, und er tat ihr den Gefallen. Stattdessen hielt er an einer roten Ampel an und schaute ihr tief in die Augen, als sie ihn reflexartig kurz ansah.
»In der Tat, das war sie. Ebenso wie die Gesellschaft beim Essen.«
Seine Augen ruhten unverwandt auf ihr, musterten ihre feinen Züge und hielten ihren Blick fest, der mit jedem Atemzug gequälter aussah. Die Zeit schien still zu stehen. Ein einzelnes Haar klebte, von ihr unbemerkt, an Lauras Oberlippe. Michael konnte dem Drang, es mit dem Daumen zur Seite zu schieben, kaum widerstehen.
Plötzlich hupte der Fahrer hinter ihnen und zerbrach den intensiven Moment. Michael gab Gas und schüttelte über sich selbst den Kopf. Er hatte mehrere Sekunden an der inzwischen grünen Ampel gestanden, ohne es zu bemerken.
Laura war erleichtert, als sie schließlich auf das moderne Bürogebäude des Industriekomplexes zugingen. So konnte sie etwas Abstand gewinnen und sich auf die Arbeit konzentrieren. Michael hatte etwas an sich … es war eine ungeheure Anziehungskraft, allerdings gepaart mit etwas Dunklem, das sie innerlich vor Kälte erstarren ließ. Vielleicht waren es auch nur die Schatten der Vergangenheit, die sie allzu vorsichtig gemacht hatten, und die Nachwirkung der Begegnung mit Bobby.
Als Michaels Finger nur Sekunden später beim Gehen ihre Hand streiften, durchfuhr es sie wie elektrisiert. Sie hoffte inständig, dass die Berührung ein Zufall gewesen war.
Während Laura Michael durch das Gebäude führte, war sie voll in ihrem Element und genoss ihr Handwerk sichtlich.
»Wie Sie sehen, sind die Tore an den Schmalseiten der Halle groß genug, um Waren aller Art hinauszubringen. Auch mit größeren Maschinen werden Sie hier keinerlei Probleme haben. Die Stützpfeiler sind alle tragend. Dafür hat man sich auf ein Minimum beschränkt, um zu gewährleisten, dass großzügige Produktionslinien Platz finden. Die Notausgänge befinden sich dort und da hinten.« Sie zeigte auf zwei graue Metalltüren an beiden Seiten der Halle.
»Zusätzlich haben Sie dort hinten einen kleinen Anbau mit Büroflächen zur Verfügung. Der Raum umfasst circa zehn Quadratmeter und eignet sich sehr gut, um zum Beispiel das Büro des Produktionsleiters unterzubringen, damit er einen direkten Blick auf die Anlagen hat. Das gesamte Gelände ist im Zuge der Sanierung übrigens gemäß der aktuellen Brandschutz- und Energiesparverordnungen modernisiert worden. Aber das können wir noch im Detail besprechen, falls Sie sich für dieses Objekt entscheiden sollten.«
Laura ließ Michael einen Moment Zeit, um alles auf sich wirken zu lassen.
»Wenn Sie keine Fragen haben, schlage ich vor, dass wir uns gleich das Bürogebäude ansehen.«
Sie gingen durch ein helles, modernes Treppenhaus und betraten ein Großraumbüro, das direkt über der Halle lag.
»Hier können natürlich bei Bedarf Wände eingezogen werden, wenn Sie eine kleinere Raumaufteilung bevorzugen.«
Sie kalkulierte laut, wie viele Personen untergebracht werden konnten, brach aber plötzlich mitten im Satz ab. Michael hatte ihr unbewusst, auf den Inhalt ihrer Worte konzentriert, eine feine Haarsträhne aus dem Gesicht gestrichen und dabei sanft ihre Wange berührt.
Instinktiv trat Laura einen Schritt zurück, ordnete ihr Haar und sah ihn kalt an. »Bitte lassen Sie das.«
Er erwiderte ihren Blick, ließ ein charmantes Lächeln über seine Lippen huschen.
»Ich könnte schwören, dass es Ihnen gefallen hat.«
Dann drehte er sich plötzlich um und schlenderte einige Meter durch den riesigen Raum, als würde er in Gedanken bereits die Einrichtung planen.
»Wann kann ich mir das zweite Objekt ansehen?« Seine Stimme hallte vom anderen Ende des Raumes zu ihr hinüber.
»Warten Sie. Ich werde direkt versuchen, einen Termin zu bekommen.« Sie kramte das Handy mit fahrigen Bewegungen aus ihrer Handtasche, während ihr Herz von der unerwarteten Berührung noch immer heftig klopfte, und wählte die Nummer des Verwalters. Dabei widerstand sie dem Reflex, ihm entgegenzugehen. Wenn er den Termin haben wollte, ohne dass sie durch das ganze Büro brüllen musste, würde er sich wieder auf sie zubewegen müssen. Die Tür befand sich sowieso direkt hinter ihr.
Michael stieg auf das kleine Machtspielchen ein und kam mit schlaksigen Schritten ohne Eile wieder auf sie zu, während sie sich gefühlte Stunden dem Freizeichen hingab. Die Hände hatte er entspannt in den Taschen seiner Blue Jeans vergraben, seine Augen blitzten vergnügt.
»Ist schon okay. Sie können es später noch einmal probieren und mich dann anrufen.«
Plötzlich lag seine Hand auf ihrem Arm, sein Daumen strich behutsam über den Stoff ihres Blazers. Wie gelähmt starrte sie auf den Finger, spürte, wie sich Panik leise in jedem Winkel ihres Körpers ausbreitete.
Mit unendlicher Selbstdisziplin wand sie sich aus seinem Griff und bewegte sich zielstrebig auf die Tür zu.
»Dann war das wohl für den Moment alles.«
Mit rasendem Herzen verließ sie vor Michael das Gebäude und spulte in Gedanken das Procedere ab, das ihre Therapeutin ihr im Fall einer Panikattacke eingebläut hatte. Schau dich nach fünf Gegenständen in deiner Umgebung um. Konzentriere dich darauf.
Ihr Atem wurde wieder regelmäßiger.
Konzentriere dich auf vier Gerüche. Michaels Aftershave kroch intensiv in ihre Nase, als er sich genau in dieser Sekunde direkt neben sie stellte, und beendete den Versuch ihrer Selbsttherapie.
»Kommen Sie, ich fahre Sie zurück zu Ihrem Auto.« Er zog den Autoschlüssel aus seiner Hosentasche. Laura sah auf die Uhr, während sie ihm zum Parkplatz folgte. Es war bereits viertel nach vier. Spontan beschloss sie, direkt nach Hause und nicht mehr ins Büro zu fahren.
Wieder vor dem Restaurant angekommen, verabschiedete sich Laura überhastet von ihrem Kunden, stieg in ihr Auto und ließ ihre Tasche erleichtert auf den Beifahrersitz fallen. In Gedanken bereits auf der Couch, drehte sie den Schlüssel im Zündschloss. Der Wagen blieb stumm.
»Was ...«
Sie startete einen zweiten und dritten Versuch, erfolglos.
»Verdammter Mist!« Wütend landeten ihre Fäuste auf dem Lenkrad.
Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Michael wieder aus seinem Wagen ausstieg und vor ihrer Motorhaube stehenblieb. »Machen Sie bitte mal auf.«
Laura tat ihm den Gefallen, stieg aus und sah mit in den Motorraum, obwohl sie nicht einmal ansatzweise zu sagen gewusst hätte, was sie dort sah. Bei einem Seitenblick auf Michael stieg allerdings der Verdacht in ihr auf, dass es ihm nicht viel besser ging, auch wenn er es geschickt überspielte.
»Ihre Batterie sieht nicht gut aus. Sie werden den Wagen abschleppen lassen müssen.«
Sie sah auf die verklebten, feucht glänzenden Spuren auf dem Batterieblock. Sogar als Laie wusste sie, dass das kein gutes Zeichen war. Sie seufzte.
»Großartig. Genau, was man mal eben zwischendurch braucht.«
Michael lächelte sie aufmunternd an. »Bleiben Sie ruhig. Solche Dinge passieren halt. Sie sind es nicht wert, sich darüber aufzuregen. Haben Sie eine Werkstatt in Ihrer Nähe? Dort kann man Ihnen bestimmt einen Leihwagen zur Verfügung stellen. Kommen Sie ... ich fahre Sie nach Hause.«
»Ist schon okay, ich rufe mir ein Taxi. Trotzdem danke.«
Seine Verblüffung wich schnell einem belustigten Gesichtsausdruck. »Ich verspreche, ich beiße nicht. Mein Wagen steht hier. Auf ein Taxi müssten Sie erst warten, und billig ist es auch nicht. Was meinen Sie?«
War sie einfach nur mit gesunder Vorsicht gesegnet oder tatsächlich paranoid, dass sie sich so dagegen wehrte, mit ihm allein zu sein? Schon vor langer Zeit hatte sie das Gefühl dafür eingebüßt, was man in einer funktionierenden Gesellschaftsstruktur normal nannte und wo die Grenzen lagen. Seit ihr Leben so weit jenseits jeder gesunden Grenze abgerutscht war. Seit sie sich mit der letzten Grenze, dem Tod selbst, konfrontiert gesehen hatte und ihm nur knapp entronnen war.
Laura blieb stehen, wo sie war, und verschränkte abwehrend die Arme vor der Brust, während sie überlegte. Michael sah sie ernst und lange an.
»Ich möchte mich nicht aufdrängen, Laura. Es wäre einfach praktisch. Aber es ist natürlich Ihre Entscheidung.«
Eine gute Stunde später parkte Michael seinen Mercedes gegenüber von Lauras Haus. Es war eine überraschend angenehme Heimfahrt gewesen. Nachdem sie einen Abschleppwagen geordert, ihn zu der nächsten Werkstatt kommandiert und sich dort einen Leihwagen für den nächsten Morgen reserviert hatte, war Laura zunächst in Schweigen verfallen und hatte gedankenverloren aus dem Fenster geschaut, dem vorbeiziehenden Verkehr zugesehen. Ihre profes-sionelle Beredsamkeit hatte sich in Luft aufgelöst, während sie versuchte, das ungute Gefühl zu verdrängen, das sich in ihrer Magengrube breitgemacht hatte. Während sich die Fahrt in die Länge zog, hatte Michael sie schließlich in ein Gespräch über Bücher, Filme und andere Alltagsdinge verwickelt. Als sie erst einmal festgestellt hatten, dass sie dieselben Genres lasen, war die Fahrt schnell kurzweilig geworden.
Laura hatte trotzdem kurz darüber nachgedacht, sich schon eine Straße vorher absetzen zu lassen, damit Michael nicht wusste, wo sie genau wohnte, verwarf den Gedanken aber schließlich. Irgendwann musste sie in ein normales Denk- und Verhaltensmuster zurückfinden. Warum nicht heute damit anfangen. Er war schließlich keine Bekanntschaft, die sie irgendwo aufgegabelt hatte, sondern ein Kunde, mit dem sie durch ein seriöses Geschäft verbunden war.
Als sie die Beifahrertür öffnete und zu ihrem Haus hinübersah, blieb ihr allerdings das Herz stehen und machte ihren Vorsatz eines normalen Lebens in Sekundenbruchteilen zunichte.
»Was …?«
Michael machte sofort den Motor aus und stieg ebenfalls aus. »Was haben Sie?«
Da sie schwieg, folgte er ihr ihrem Blick zu der wunderschön gearbeiteten Eichenholztür auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Die Tür war aufgebrochen und aus der unteren Angel gerissen worden, die eingesetzte Ornament-Glasscheibe zerbrochen. Durch den klaffenden Spalt in der Tür konnte man erahnen, wie es innen aussah.
Mit eiskalten Händen stand Laura da, während Erinnerungen ihr Gehirn fluteten, bis sie am liebsten geschrien hätte. Seine Faust, die ihren Wangenknochen traf und sie fast in die Bewusstlosigkeit schickte. Ihre Lippe, aufgeplatzt und blutend. Kaputtes Geschirr. Heißer Kartoffelbrei auf ihren bloßen Füßen. Das Messer, das ihre Haut durchdrang, zweimal. Brennende Schmerzen. Gefesselte Handgelenke. Todesangst.
Sie war zu geschockt, um zu bemerken, dass Michael sein Handy herausgeholt hatte und die Polizei rief. Hypnotisch starrte sie auf ihre aufgebrochene Haustür. Sie wollte hineingehen, ihr Eigentum beschützen. Das Haus beschützen, das sich seitdem nicht mehr wie ein Zuhause anfühlte. Das sie seit Monaten so verzweifelt zu verkaufen versuchte, um all dem zu entkommen. Um ihm zu entkommen. Was, wenn er noch da drin war?
»Warum lässt er mich nicht endlich in Ruhe?« Sie bemerkte gar nicht, dass sie die Frage laut aussprach.
Weil er krank ist. Weil er eine kranke Denkweise hat. Weil er sich rächen will, wofür auch immer.
Das war die eine Sache, die sie verstanden hatte, während er sie immer wieder misshandelte: dass er sie abgrundtief hasste, sich rächen wollte. Sie hatte nur nie begriffen, wofür.
Laura hätte am liebsten laut aufgeschluchzt, schaffte es aber, sich zu beherrschen. Zusammenbrechen konnte sie später immer noch, wenn sie allein war.
Michael entging nicht, dass sie schluckte, sich straffte. Dass sich ihre Gesichtszüge verhärteten, als hätte sie eine Schutzmaske aufgesetzt. Er wollte tröstend einen Arm um sie legen, überlegte es sich dann aber anders und blieb einfach reglos stehen.
»Meinen Sie Ihren Ex-Mann? Vielleicht war es auch jemand anderes. Vielleicht ist einfach ›nur‹ eingebrochen worden.«
Laura wandte sich ihm zu und sah ihm fest in die Augen. »Wie wahrscheinlich ist das wohl, nach seinem Auftritt heute. Nein, das hier ist kein Zufall. Ich bin sicher. Und Sie auch.«
Er nickte, ließ den Vorwurf in der Stille der Straße hängen. Diese wurde auch nicht von dem Streifenwagen unterbrochen, der sich kurze Zeit später dem Haus näherte. Das Blaulicht zuckte geräuschlos über die hellgelb gestrichene Fassade, bis ein Polizist es abschaltete und der Spuk verebbte. Einzig das Wissen, dass in ihrem Haus der Teufel getobt hatte und vielleicht noch dort war, ließ Lauras Nackenhaare zu Berge stehen. Ihr wurde übel, als sie zusehen musste, wie die Beamten mit gezogenen Waffen so leise wie möglich ihr Haus betraten und sicherten. Wenige Minuten später kam einer der uniformierten Police Constables wieder heraus.
»Es ist niemand mehr hier. Aber wer immer das war, hatte eine ziemliche Wut.«
Laura erbleichte, obwohl es sie nicht überraschte. Nicht wirklich. Zögernd stieg sie die Treppen zu ihrem Haus hinauf.
»Madam, haben Sie eine Ahnung, wer sich hier ausgetobt haben könnte?«
Sie erhaschte einen flüchtigen Blick auf das Chaos im Flur. »Oh Gott.«
»Miss Sands?« Der Police Constable sah sie fragend an. »Das hier sieht nach einer gezielten Aktion aus. Gibt es jemanden, der...«
»Ja. Das ist die Handschrift meines Ex-Mannes, Bobby Kearney. Unverkennbar. Und es passt zu seiner Drohung heute Mittag.«
»Er hat Ihnen gedroht? Wann war das genau?«
Laura berichtete dem Polizisten, was passiert war. »Er hat mich in das Restaurant verfolgt, in dem ich ein Geschäftsessen hatte. Er weigert sich zu akzeptieren, dass ich einen Schlussstrich unter alles gezogen habe. Er hat mir gedroht.«
»Ach, das waren Sie, im Adamo, wo unsere Kollegen hinbeordert wurden?«
Sie nickte und fuhr sich müde mit der Hand über das Gesicht. »Was wird jetzt passieren?«
Der Constable machte sich eine kurze Notiz auf einem kleinen Block und steckte diesen anschließend in die Brusttasche seiner Uniform zurück.
»Die Spurensicherung ist gleich da und wird sich zuerst durch Ihr Haus arbeiten. Das kann einige Zeit in Anspruch nehmen. Es wäre gut, wenn Sie heute Nacht woanders unterkämen. Außerdem müssen Sie natürlich Anzeige erstatten. Wenn ich mir das hier ansehe … Hausfriedensbruch, Vandalismus, eventuell auch Diebstahl. Die Staatsanwaltschaft leitet ein Ermittlungsverfahren ein. Wir werden Ihre Nachbarn befragen müssen. Der Einbruch ist am helllichten Tag passiert. Das sollte jemand mitbekommen haben. Es wäre auch zu klären, warum niemand Ihrer Nachbarn uns schon eher verständigt hat.«
Laura sah grimmig auf das Chaos und sagte, mehr zu sich selbst: »Setzen Sie Psychoterror mit auf die Liste.«
Der Constable runzelte die Stirn. »Da Sie Ihren Ex-Mann verdächtigen, müssen wir ihn ebenfalls befragen. Bitte schauen Sie nach, ob etwas gestohlen wurde. Ach so, und vergessen Sie bitte nicht, meinem Kollegen noch Ihre Fingerabdrücke zu geben. Zum Abgleich.« Laura nickte überfordert.
»War Ihr Ex-Mann früher schon einmal gewalttätig?«
Michael, der sich bislang im Hintergrund gehalten hatte, beobachtete aufmerksam Lauras Reaktion. Ihr Blick wurde leer, als wäre sie in Gedanken weit entfernt, ihr Gesicht bleich.
»Ja.« Ihr fester Tonfall ließ keinerlei Zweifel zu. Das kleine Wort stand im Raum wie hingezimmert, als müsste man es umrunden, um das Haus betreten zu können.
Der Police Constable zog überrascht die Augenbrauen hoch, beschloss aber, für den Moment nicht näher darauf einzugehen. Die Details würden die Polizeiakten hergeben, falls es zu einer früheren Festnahme gekommen war.
»Sie können gleich kurz mit reinkommen und eine Tasche für die Nacht packen. Halten Sie sich bitte außerdem weiter zur Verfügung. Haben Sie die aktuelle Adresse und Telefonnummer Ihres Ex-Mannes?«
Laura schüttelte den Kopf. »Er ist noch nicht lange wieder draußen. Mir wurde gesagt, dass er wohl eine kleine Wohnung gemietet hat, so ein Übergangsding. Aber das war‘s dann auch schon. Ich war nicht scharf drauf zu wissen, wo er genau wohnt. Je weniger ich von diesem Monster weiß, desto besser.«
Beklommen machte sie ein paar vorsichtige Schritte in den Flur hinein. Bunte Scherben knirschten unter ihren Füßen. Sie sah sich um, nahm die Bilder der Zerstörung in sich auf. Der ovale Wandspiegel, ein Erbstück ihrer Großmutter, hing schief, das Glas darin war zerschmettert und gab den Blick auf die hölzerne Rückseite frei. Der goldene Rahmen war mit schwarzer Sprühfarbe befleckt.
Die blauweiße Vase, die auf der niedrigen Eichenholzkommode darunter gestanden hatte, lag in Scherben zu ihren Füßen, ebenso das Glas der gerahmten Fotos, die nun umgeworfen auf der Kommode verteilt waren. Laura nahm eines der Fotos in die Hand und betrachtete es gedankenverloren. Es war ein Familienfoto mit ihren Eltern und ihrem kleinen Bruder. Sie war fünfzehn gewesen, ihr Bruder elf. Ihr Vater hatte einen Spaziergänger gebeten, das Foto zu machen, als sie gemeinsam einen Tag am Strand verbracht hatten. Damals war ihre Welt noch heil gewesen. Vor Glück strahlend hatte sie in die Kamera gelacht. Laura kam es vor, als gehörte das Lachen einem fremden Menschen, als wäre das Mädchen auf dem Foto eine Unbekannte. Oder irgendjemand, den sie früher einmal gekannt hatte. Ein halbes Jahr, nachdem die Aufnahme gemacht worden war, war ihr Bruder bei einem Unfall ums Leben gekommen. Es war das letzte Foto mit ihm.
Jemand hatte mit einem spitzen Gegenstand einen Riss quer durch das Bild gezogen und sein Gesicht zerfetzt. Der Anblick zerriss ihr für einen Augenblick das Herz, bevor sich die rettende Resignation wieder über den Schmerz legte. Der Schutzschild, der ihr Herz einhüllte und vor mehr Schaden beschützte, als sie ertragen konnte.
Fast beiläufig legte sie das Foto zurück und betrat das Wohnzimmer. Bobby hatte hier nicht ganz so wild gewütet, wie sie überrascht zur Kenntnis nahm. Als sie sich gerade umdrehen und ins obere Stockwerk gehen wollte, blieb ihr Blick an etwas hängen.
Ihr Atem stockte. »Was zum Teufel…«
Sie lag wieder am Boden, an das Tischbein gefesselt, sein aufgedunsenes Gesicht über ihr schwebend, während sein stinkender Atem über ihre Haut wehte, und versuchte abzuschätzen, wie viel Zeit ihr blieb, bis es zu spät war.
»Miss Sands?«
Der Constable riss sie aus ihrem Wachtraum. Zögernd zeigte sie auf ein Bein ihres Esstisches. Eine rote Geschenkschleife war mit viel Sorgfalt darumgebunden worden. Der Constable beschloss, dass es Zeit war, der Geschichte dieser Ehe auf den Grund zu gehen.
Eine halbe Stunde später saßen Laura und Michael erneut in seinem Wagen und waren auf dem Weg zu ihrer Freundin Susan. Sie hatte sofort zugestimmt, als Laura um eine Übernachtungsmöglichkeit gebeten hatte. Zwar war sie noch in ihrem Restaurant beschäftigt, aber die Freundinnen hatten seit langem die Schlüssel der jeweils anderen, für Notfälle wie eben diesen.
Seufzend lehnte sie sich mit dem Kopf gegen die kühle Scheibe der Beifahrertür und schaute hinaus in das schwindende Licht des Tages. Die Straße vor ihnen glänzte feucht. Kurz nachdem sie losgefahren waren, hatte es zu nieseln begonnen, und ein feiner feuchter Film legte sich langsam auf Autos, Gehwege und Grünstreifen. Jedes vorbeifahrende Auto gab ein leises Rauschen von sich, wenn die Reifen die nassen Spuren auf der Straße durchpflügten.
Die eiskalten Hände ineinander verkrampft, starrte Laura eine Weile auf die Scheibenwischer, die in regelmäßigen Abständen über die Windschutzscheibe glitten und den Sprühregen fortwischten wie unerwünschte Tränen. Unvermittelt drehte sie den Kopf leicht zu Michael, der ruhig und konzentriert auf die Straße sah. Er hatte die ganze Zeit kaum ein Wort gesagt, war ein stiller Beobachter der Geschehnisse gewesen, von dem Moment abgesehen, in dem er ihr angeboten hatte, sie zu ihrer Freundin zu fahren. Er hatte heute einen weitaus größeren Einblick in ihr Leben bekommen, als ihr lieb war. Ein Teil von ihr nahm es ihm übel, auch wenn sie nicht hätte sagen können, warum. Er hatte sich schließlich nicht einen Moment lang aufgedrängt, sondern war einfach nur die Hilfsbereitschaft in Person gewesen.
»Warum tun Sie das eigentlich für mich? Sie hätten sich auch einfach verabschieden und fahren können.«
Er bedachte sie mit einem merkwürdigen Seitenblick, runzelte die Stirn. »Sicher. Wenn ich ein Arsch wäre, hätte ich das getan.«
Wider Willen verzog sich Lauras Mund zu einem schiefen Grinsen. »Das hat nichts mit Arsch oder nicht zu tun. Es ist nicht…« Sie rang um Worte.
Er half ihr auf die Sprünge: »Es ist nicht meine Angelegenheit, meinen Sie? Weil wir nur Geschäfts-partner sind?«
Er bedachte sie mit einem tiefen Blick, der keinen Zweifel daran ließ, dass er den Begriff Geschäftspartner eigentlich nicht passend fand, und der dafür sorgte, dass sich eine angespannte Stille zwischen Ihnen ausbreitete. Eine Antwort blieb er ihr schuldig.
Die Decke bis zum Kinn hochgezogen lag sie auf Susans Sofa, lauschte in die Stille hinein. Die Uhr an der Wand tickte enervierend gleichmäßig vor sich hin. Es war ein Stück der Skyline von London, in Plastik gebannt und mit Zeigern versehen, die mitten in einer Miniaturausgabe von Big Ben verschraubt waren.
Tick tick tick ...