Sterben war gestern. Aus dem Leben eines Jugendforschers - Joachim Lottmann - E-Book

Sterben war gestern. Aus dem Leben eines Jugendforschers E-Book

Joachim Lottmann

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Beschreibung

Der Pate der Popliteratur ist wieder da – mit einem Roman über das Hier und Jetzt, über die brodelnde Gegenwart. Ein in die Jahre gekommener Jugendforscher begeistert sich an den Thesen Yuval Hararis, der der Menschheit eine medizinisch-biologische Revolution voraussagt. Alter und Krankheit werden besiegt sein, man wird 120 Jahre alt und dabei auch noch gesünder und fitter als jetzt. Derart euphorisiert, erlebt Dr. Johannes Lohmer die oft schmerzhafte Konfrontation mit den Jugendlichen der ›Generation Greta‹, über die er eine Studie schreiben muss. Er verwickelt sich in Abenteuer, verliebt sich, geht ins Kloster, verliert seine Gesundheit im Fitness-Studio, beginnt plötzlich die Jugendkultur zu hassen und noch mehr die Alten, zu denen auch er bald gehören wird. Dann aber bricht die Corona-Pandemie über das Land herein, und die Karten werden neu gemischt: die Jungen fühlen sich eingesperrt, die Alten sind es wirklich und fürchten den Tod. Für ihn, den »alten, weißen Mann«, der nun Antirassismus-Sticker trägt, steigt der Panik-Pegel immer weiter. Aber dann kommt die Beruhigung und die Entschleunigung doch noch, wenn auch spät ...

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Seitenzahl: 406

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Joachim Lottmann

Sterben war gestern

Aus dem Leben eines Jugendforschers

Roman

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Joachim Lottmann

> Über dieses Buch

> Impressum

> Klimaneutraler Verlag

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

WidmungHinweis zum BuchTextbeginn
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Für Harriet

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Die dargestellten Personen und Ereignisse dieses Romans sind außer den zeitgeschichtlichen Bezügen Fiktion. Darum erhebt der Roman keinen Anspruch, die geschilderten Vorgänge seien wahr oder haben sich so zugetragen.

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Ich fange mit dem Wetter an, denn Romane beginnen immer mit Wetterbeschreibungen. Sogar bei den richtig guten Romanen ist das so, niemand stört sich daran. Ein bisschen nervig ist es allerdings schon, also für mich, aber es muss ja sein. Der Tag war – natürlich – der heißeste 31. August seit Beginn der Wetteraufzeichnungen, richtig orientalisch heiß, nicht nur 34 Grad heiß, sondern unangenehm fremdartig heiß, als liefe man im Hochsommer während der Mittagszeit durch die Straßen von Kairo, nicht durch die Berliner Kastanienallee, die übrigens tatsächlich von Kastanien umgeben ist, was bei der schmalen, holprigen, heruntergekommenen Hippie-Straße rührend wirkt. Ein großer Name, eine kleine Welt. Das ewige Merkel-Berlin, das es immer geben wird. Die Straßenbahn kommt kaum durch, weil alle Hippies unschlüssig auf den Gleisen stehen und ihren Hippie-Kindern tropfende Eistüten in die Hand drücken oder so, ich konnte es nicht genau erkennen, vom Auto aus. Ich saß in meinem Wartburg, der kaum vom Fleck kam, und wollte zur Hausnummer 54. Dort wohnte eine Bekannte aus dem kulturellen Establishment, die mit mir zum großen, legendären, langweiligen Sommerfest fahren wollte. Dazu mussten wir quer durch ganz Berlin fahren, sozusagen durch ganz Kairo.

Wichtig zu wissen ist, erstens, dass ich gerade Yuval Hararis Buch »21 Lektionen für das 21. Jahrhundert« gelesen hatte. Dort beschreibt der Autor unsere nahe Zukunft, in der wir – jedenfalls die Wohlhabenden unter uns – 120 Jahre alt werden und gesund bleiben oder sogar erst werden. Zweitens kam ich gerade aus dem Fitnessstudio. Das wäre keine besondere Nachricht, eher fragt man sich, wie ich da hineinkam, ich, ein Mann in den besten Jahren, der noch alle Tassen im Schrank hatte und am Samstag den SPIEGEL las. Was sollte ein intelligenter Mensch wie ich in solch einem Folterkeller für Gehirnlose?

Meine Frau, eine furchtlose, couragierte Person, die schon in Straßenschlachten Nazis verprügelt hatte, jedenfalls in ihrer Jugend, kannte nur eine Angst, nämlich dass ich vor ihr sterben könnte. Schon kurz nachdem wir ein Paar geworden waren, musste ich ihr hoch und heilig, beim Augenlicht meiner Kinder, mit der Hand auf dem ersten Band von »Das Kapital« schwören, auf keinen Fall vor ihr das Zeitliche zu segnen. Sie hätte das nicht ertragen. Umgekehrt löste auch bei mir die Vorstellung, sie könne sterben, sozusagen vor meinen Augen, und mich allein zurücklassen auf diesem dann leblosen Planeten, Tränenkrämpfe aus. Ich musste dann binnen Sekundenbruchteilen weinen.

Um lange zu leben, musste man sich fit halten, vor allem erst einmal fit werden, dachte meine Frau, und kam auf die Idee, mich bei einem Fitnessstudio anzumelden. Ich ging da natürlich nicht hin, denn wie die meisten von uns hatte ich meine Erfahrungen damit schon hinter mir. Vor zwanzig Jahren, als ewiger Student in Köln und aufstrebender Autor der Musikzeitschrift SPEX, war ich schon einmal in so einen Verein eingetreten, hatte einen unbefristeten Vertrag unterschrieben und war genau ein Mal hingegangen. Ich wusste sofort und für immer: nie mehr. Das war ja das Allerletzte. Ich kündigte den Vertrag auf der Stelle, aber das ging nicht. Ich musste noch bis in alle Ewigkeit die Monatsraten zahlen, was mich irgendwie bedrückte, nicht nur des Geldes wegen. Ich wollte in keinem Zusammenhang mit so etwas stehen. Daher verklagte ich die Firma, und da Köln so eine nette, bürgernahe, eben kölsche Stadt ist, kam es rasch zu einer Verhandlung und ich zu meinem Recht. Die mitfühlende, jugendfreundliche Richterin sah in mir auf Anhieb den aufstrebenden jungen Autor und verdonnerte die Fitness-Firma, mir alles Geld zurückzuzahlen. Wie gesagt, das war ein halbes Leben lang her. Ich erzählte meiner Frau die Geschichte natürlich immer wieder, aber das nutzte nichts. Ich sollte in diesen Fitness-Club, jetzt im 21. Jahrhundert, ich sollte lange leben. Eines Tages überraschte sie mich damit, ich glaube, es war ein Geburtstagsgeschenk, dass sie mich bei dem angesehensten und teuersten Fitness-Verein der Welt angemeldet und die Jahresgebühr von 1600 Euro bereits entrichtet hatte. Meine größte Eigenschaft ist mein Geiz, das wusste sie, und deswegen ging ihre Rechnung auf. Es war mir unmöglich, 1600 Euro einfach wegzuwerfen. Ich machte also notgedrungen mit.

Der erste Tag war nicht nur so scheußlich wie meine Jugenderfahrung in Köln, sondern sogar noch grauenhafter. Jetzt war ich nicht mehr mit halb nackten Unterschichtlern, Knackis und Zuhältern in dieser übel riechenden Turnhalle, dem Vorhof zum Gefängnis, sondern mit Greisen. Konnte es etwas Traurigeres geben? Alte, klapprige, verfallene Körper, die in Zeitlupe und unter größten Schmerzen absurde Reha-Übungen machten und dabei todunglücklich aussahen. Und wie war die Reaktion meines Körpers? Ebenso! Ich bekam den größten Muskelkater meines Lebens, und er ging die folgenden Wochen nicht mehr weg, im Gegenteil. Ich fühlte mich wie verprügelt. Ich konnte vor Schmerzen nicht mehr schlafen. Aber meine Frau sagte, das sei nur am Anfang so. Um mich herum hingen alle möglichen Sportmediziner, Ärzte, Physiotherapeuten, Ernährungswissenschaftler, Lauftrainer und so weiter. Es war ja immerhin der angesehenste und teuerste Schuppen dieser Art, wie ich schon sagte, und der Aufwand war enorm. Blut wurde abgenommen, Röntgenbilder gemacht, auch Krebsvorsorge natürlich, dem Alter der Mitglieder war das durchaus angemessen. Ich war also nun ins Schattenreich des Alters und der Todesvorbereitung eingetreten, viel zu früh, ich hatte doch noch so viel vorgehabt …

Genau vier Wochen hielt ich durch. Das hatte ich mir vorgenommen und abverlangt. In der Zeit hatte ich keinen Satz schreiben, keinen längeren, komplizierteren Satz sagen und keinen neuen Gedanken denken können. Das Gehirn bekam kein Blut mehr, da es in die Muskeln floss. Ich hatte daher auch nicht mehr die Kraft und Eloquenz, meiner Frau mein Aufgeben erklären zu können. Ich ging deswegen erst einmal zu unserer Hausärztin, die mir mit müdem Blick irgendein Placebo-Medikament aufschrieb. Schwach dosierte Ibuprofen, also genau die Pillen, die wir sowieso schon zu Hunderten in der Schublade hatten. Ich nahm es trotzdem, und die Knochen taten nicht mehr weh.

Das war der Durchbruch. Hauptsache schmerzfrei! Ich musste meine Frau nicht enttäuschen. Ich ging weiter brav in das Studio, auch wenn ich zunächst keinerlei Fortschritte machte, sondern eher schwächer wurde und an Gewicht zunahm. Manchmal ein Kilo pro Tag, es war beängstigend. Ich war dennoch guter Dinge, denn es hätte meiner schönen Frau das edle Herz gebrochen, hätte ich aufgegeben. Sie selbst marschierte übrigens mit gutem Beispiel voran und ging jeden Morgen vor der Arbeit schwimmen. Sicher wollen Sie wissen, wie meine Frau mit Vornamen heißt, aber ich werde noch ein paar Seiten damit warten. Es geht ja auch um etwas anderes in dieser Story. Jedenfalls: Es war genau diese Phase der ersten Schmerzfreiheit und katastrophalen Gewichtszunahme, in der diese Geschichte beginnt. Die, die Sie gerade lesen, die mit Lana de Roy.

 

Trotz der Hitze trug ich einen weit geschnittenen, nachtblauen Anzug, und zwar einzig deswegen, weil ich damit noch am ehesten die Gewichtszunahme verdecken konnte.

Ich parkte die Limousine vor der Hausnummer 52 und rief die Bekannte aus dem kulturellen Establishment an. Sie kam kurz darauf auf das Auto zugelaufen. Eine elegante, schlanke, sportliche, im besten Sinne gut aussehende Frau, die mir dennoch und unerklärlicherweise nicht gefiel. Um ehrlich zu sein, sah ich sie zum ersten Mal. Sie war gar nicht meine Bekannte, sondern die Bekannte meiner Freundin Hilka Sinning, was aber auf dasselbe hinauslief. Beide waren alterslos zwischen 35 und 55 Jahren angesiedelt, je nach Tagesform oder kosmetischem Einsatz sahen sie jung oder nicht mehr ganz so jung aus, auf jeden Fall jünger als ihre versoffenen männlichen Alterskollegen, die Pilates für einen römischen Statthalter hielten.

Während wir zum Wannsee fuhren, versuchte ich, und zwar unbewusst, sie zum Lachen zu bringen. Als mir das nicht gelang, versuchte ich, erneut unbewusst, wenigstens mich selbst zum Lachen zu bringen. Das gelang sogar. Ich tat so, als würde der Motor ausgehen. Ich erzählte, erst im hohen Alter den Führerschein gemacht zu haben. Ich erklärte weitschweifig, wie ich das Bio-Gemisch-Benzin für den Motor im eigenen Garten selbst herstellte. Solche Sachen. Ich wurde immer redseliger.

Die Frau war in den Medien tätig und als solche eine grundsätzlich zuhörende Person. Nun bin ich selbst in den Medien tätig und höre auch lieber die Stimme eines anderen als meine eigene. So bat ich sie schließlich explizit, etwas von sich zu erzählen.

Sie sprach von den schwierigen beruflichen Verhältnissen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Das kannte ich nicht nur schon von Hilka Sinning, sondern auch von gefühlt 80 weiteren Bekannten und BekanntInnen aus ARD und ZDF. Man könne nicht machen, was man wirklich wolle, die Kreativität bliebe auf der Strecke, und so weiter. Das Lied wurde wahrscheinlich von Beginn der Menschheitsgeschichte an gesungen. Schon die alten Ägypter haben es sinngemäß so gegospelt, nehme ich an. Oh Lord, die verständnislosen Vorgesetzten haben keine Ahnung von wahrer Kunst und schielen nur nach der Quote.

Ich dachte, es wäre sinnvoller, über Yuval Harari zu reden. Ob sie etwas von dem gelesen habe?

»Ja, hm, irgendwie schon.«

»Ein Schwätzer, eigentlich, nicht wahr?«

»Weiß nicht, hm.«

»Aber trotzdem anregend!«

»Hm …«

Ich erzählte von Hararis These, wir würden 120 Jahre alt werden. Die Bekannte sagte nichts. Machte ich Witze? Wenn ja, fand sie’s nicht lustig. Ich holte etwas weiter aus.

»Weißt du, wenn die Leute merken, dass sie nicht mehr nach zehn Jahren Rente sterben, sondern quasi ewig weiterleben, ändern sich doch die bisherigen Lebensstrategien. Also bei mir ist es so.«

Sie sagte nichts. Es schien sie nicht zu interessieren, wahrscheinlich hielt sie mein Reden für den peinlichen Versuch, sie mit irgendeiner »witzigen« Meinung zu beeindrucken. Mit etwas, mit dem ich schon vorher auf zahllosen Partys Punkte gesammelt hatte, bei dummen jungen Studenten zum Beispiel. Daher redete ich nun für mich selbst weiter.

»Also, meine Lebensstrategie war immer ganz klar. Mein Leben sollte wie eine gute Geschichte ablaufen, das dachte ich schon als Kind, und das Wichtigste einer guten Geschichte ist natürlich das Happy End. Das heißt, dass dem Ende eine zentrale Bedeutung zukommt! Wie geht es aus, das war für mich die alles entscheidende Frage, auch und vor allem, wenn ich mir andere Lebensgeschichten ansah.«

Die Frau tippte Nachrichten in ihr iPhone XS plus.

»Warum enden andere Leben fast immer so entsetzlich? Da stimmt doch etwas mit der Vorgeschichte nicht, mit der gesamten Story, wenn man so will. Also bei mir muss das anders ausgehen.«

Da sie nichts sagte, dachte ich weiter nach. Mir fiel ein, dass Freunde von mir bereits ihre Lebensstrategie geändert hatten. Das waren alles Künstler. Sie verhielten sich neuerdings so, als wüssten sie, dass die alten Abläufe von Jugend, Potenzial, Entfaltung und Selbstzerstörung, mündend im Tod, nicht mehr stimmten. Mein bester Freund Thomas Draschan strotzte vor Kraft. Zweimal im Jahr wechselte er die Freundinnen aus, und er hatte immer drei auf einmal. Jetzt lebte er monogam – mit einer gleichaltrigen Frau mit Festanstellung.

Festanstellung! Das Wort hatte er bisher nicht einmal im passiven Wortschatz gehabt. Das Kalkül war klar. Mit der »wilden Kunst« war es in fünf, spätestens zehn Jahren vorbei. Und mit den Einkünften. Und so lange ging es auch nur weiter, wenn er den destruktiven Lebensstil beibehielt. Und danach? Nach dem Finale von Kraft, Kunst, Sex, Anmaßung und Ruhm? Folgte keineswegs der unbewusst einterminierte Tod! Nein, es ging vierzig Jahre weiter. Dann lieber gleich die verbeamtete Lebensgefährtin mit fetter Endlos-Rente.

Aber dabei konnte es nicht bleiben. Man musste sich auch körperlich, seelisch, intellektuell und erotisch völlig neu justieren. Welchen Sinn machte es jetzt noch, mit einer Bekannten aus dem kulturellen Establishment im Auto zu sitzen und über die Einschränkungen der Kreativität im öffentlich-rechtlichen Fernsehen zu lamentieren? Fernsehen war etwas für Menschen, die sich aufs Sterben eingerichtet hatten, auf Leute mit dem Bewusstsein des letzten Jahrhunderts. Davon sollte man schleunigst die Finger lassen. Wenn ich 120 würde, hätte ich die meiste Lebenszeit noch vor mir, somit eine Zeitspanne, die früher ein ganzes Leben ausgemacht hatte. So gesehen war jeder, der so alt war wie ich, gut beraten, sich noch schnell eine Familie samt Nachwuchs zu organisieren, wenn er das nicht schon hatte …

Oder auch nicht. Ich dachte jetzt an meine Agentin Rebecca Winter. Eigentlich finde ich Agenten so ärgerlich wie Spielerberater. Ich mochte den Fußball nur so lange, wie er das religiöse Fundament unserer Nachkriegsgesellschaft gewesen war, unser einziges verbliebenes Ritual, und das war zeitgleich mit dem Aufkommen der Spielerberater zerfallen. Auch die Literatur war besser gewesen ohne Agenten. Aber egal. Irgendwann habe sogar ich einen Agenten genommen, genauer gesagt eine Agentin, und die hat aus mir einen reichen Mann gemacht. Nun ist diese Agentin, also Rebecca Winter, auch noch die lustigste Person, die ich kenne. Man könnte sie sich gut in Tel Aviv vorstellen. Aber sie lebt in Wien und hat einen 25-jährigen Freund, der besser aussieht als Alain Delon in den early sixties und als angesagter Künstler an der Einkommensgrenze von einer Million kratzt. Übrigens fährt er für sein Leben gern Autos, nämlich englische Sportwagen aus … den early sixties. So einen super Typen kann es in der Wirklichkeit eigentlich gar nicht geben, und ich gäbe viel darum, dass mir ein paar Nachteile von ihm einfielen, damit der Leser nicht glaubt, jetzt wird’s kitschig, jetzt wird’s platt, jetzt bindet uns der Autor einen Bären auf, oder wie es auf Kölsch heißt: »Nu verzällt er ein’ vom Pferd.« Ich muss es versuchen: Vielleicht ist Antony, so heißt er, ein bisschen zu schüchtern, zu verschlossen, zu wenig unterhaltsam, zu energielos, als dass er wirklich der Sechser im Lotto einer Beziehung sein könnte. Meistens sitzt er seltsam antriebsarm auf einem teuren skandinavischen Sofa und betrinkt sich zielgerichtet in einen komatösen Zustand hinein, der es ihm erlaubt, sozusagen bewusstlos, Sex zu haben. Nennen wir es einmal so.

Aber warum dachte ich jetzt an meine Agentin? Weil die Frau im Auto die Kommunikation verweigerte und mir einfiel, dass die Agentin sehr wohl Kinder hatte, was aber niemand glauben mochte. Die Kinder waren so alt wie ihr Freund, aber sie sah gar nicht so aus, als sei sie älter als er. Sie hatte lange vor mir und Yuval Harari erkannt, was passieren würde. Sie hielt sich konsequent an die Jugend und mied die eigene Generation. Wenn ihr von anderen oder älteren Frauen entgegengeschleudert wurde, sie habe gut reden, ohne Kinder sei es schließlich leicht, jüngere Liebhaber zu unterhalten, konnte sie nur still lächeln. Aber interessant an meiner Agentin war auch – und selbst da war sie Yuval Harari voraus –, dass sie frühzeitig auf den Epochenwechsel hingewiesen hatte, den zwei Frauen herbeigeführt hatten, nämlich Greta Thunberg und die Frau von …

»In 19 Minuten sind wir da«, riss mich die Beifahrerin aus den Gedanken. Sie hatte die Strecke auf ihrem Tausend-Euro-Smartphone berechnet.

In der Tat. Kurz darauf bogen wir in die Uferstraße des Wannsees ein, der wie das Mittelmeer zur schönsten Ferienzeit leuchtete, nämlich azurblau, mit dem Glitzern der tief stehenden Sonne auf den Wellen, einem ins Orange changierenden Himmel am Horizont und einem tiefblauen darüber. Die ersten Sterne konnte man in dessen rückwärtiger Hälfte schon ausmachen, kein Wölkchen, kein Lüftchen war weit und breit zu spüren: still glänzte der See, der Wannsee, der gute.

Die Lesungen, die das große Sommerfest dominieren, waren schon seit Stunden im Gang. Diesmal waren es aber eher Umweltaktivisten, die die Bühne gekapert hatten und lieber über die Klimakrise statt über Bücher diskutierten. Meine Begleitung fand das toll, das merkte ich, sie begann jetzt ganz ernsthaft über den Klimawandel und Donald Trump zu reden.

Ich tastete erst mal die Innenseite meines Jacketts ab, irgendwo hatte ich immer ein kleines Fläschchen Campari dabei. Null Komma null vier (oder in Ziffern: 0,04) Liter. Diese Mini-Edition meines Lieblingsgetränks hatte mich schon durch einige obskure Veranstaltungen gerettet. Ich drehte mich unauffällig um, setzte gerade die Flasche an den Mund, als eine laute, fast krächzende, auf jeden Fall weibliche Stimme mich innehalten ließ:

»Der Konsum von mitgebrachten Spirituosen ist hier verboten.«

Ich drehte mich ertappt um, wie ein Schulbursche in Erwartung einer verklemmten Lehrerin, und war umso überraschter, als ich niemand anderes als die deutschlandweit leidlich bekannte Influencerin und Schauspielerin Lana de Roy erblickte. Die sah nun leider wirklich gut aus, also dermaßen gut, dass es schon irritierend war, sozusagen zusätzlich.

Sie brach in lautes Gelächter aus.

»Wie Sie gucken! Krieg ich auch ’nen Schluck?«

Verunsichert reichte ich ihr mein Fläschchen.

»Bitte sehr, ist für dich, ich habe noch eins. Aber bitte nicht siezen!«

Sie nahm mein Geschenk gespielt beeindruckt entgegen, runzelte aber die hohe, noch jugendliche und vermutlich gedankenarme Stirn:

»Danke, nett gemeint, aber ich trinke kein Gebräu, das nur durch tote Insekten seine knallige Farbe bekommt.«

Schon wieder diese Schote mit den Silberraupen oder was das war, die man angeblich im Campari verarbeitete. Ich hörte das immer wieder, wenn über Campari geredet wurde. Beleidigt forderte ich die Flasche zurück:

»Na dann nicht. Außerdem ist das seit 2006 nur noch chemisch«.

»Na dann!«

Sie entriss mir das Fläschchen wieder und stürzte den Inhalt mit einem Mal hinunter.

Scheinheilig fragte ich nach ihrem Namen.

»Wie heißt du?«

»Lana de Roy.«

»Fast möcht ich hinzufügen, und wer bist du?«

»Google mich, dann weißte es, ich bin DIE Lana de Roy, nicht zu übersehen eigentlich. Und wer bist du?«

Ich zückte erst mal mein iPhone und tippte ihren Namen in die Instagram Suchleiste – sofort ploppte ein Profil mit Millionen von Followern auf.

»Nicht schlecht, du bist berühmt und antirassistisch – Hashtag Blackouttuesday – super Sache …«

»Findest du, ja?«

»Klar, man muss viel mehr gegen Diskriminierung tun! Mein Name ist Johannes Lohmer. Ich bin auch berühmt.«

»What?!«

Sie fing auch an, meinen Namen bei Google einzugeben, und das bestätigte dann zum Glück tatsächlich einen gewissen Berühmtheitsgrad meiner Person. Vor Wikipedia sind wir eben alle gleich, dachte ich, aufatmend. Sie war schon echt eine kleine Sensation, mit ihrer Figur, die ich mir nun genauer ansah, leider nicht lange. Lana rief auf einmal:

»Wie, aber mit dem Laub bist du befreundet? Das geht ja GAR NICHT!«

Und schon war die mysteriöse Lana de Roy wieder verschwunden! Ohne mir eine Erklärung zu gestatten. Erstaunt blickte ich ihr nach. Hatte dieses hübsche junge Influencer-Weltwunder gerade mit mir geflirtet? Ich meine, MIT MIR?

»Ist auf jeden Fall aufbaufähig …«, murmelte ich, nun nur zu mir, in Gedanken schon bei der Gegenattacke.

Das Internet war eigentlich toll. Wir kannten uns nun, nach gefühlt zehn Sekunden, wussten quasi alles Wichtige voneinander, leider auch die unguten Dinge wie die blöde Laub-Sache. Das muss ich noch erklären, später einmal.

 

Irgendwann war dann doch der letzte Tag und die letzte Stunde im teuren Fitnessstudio gekommen. Die Ibuprofen-Pillen hatten es auch nicht mehr retten können. Ich war natürlich immer seltener hingegangen, aber die Leute kontrollierten das.

»Warum haben Sie eine Pause von zehn Tagen verstreichen lassen?«, wurde ich gefragt.

»Ich weiß … kommt nicht wieder vor!«

Alles wurde anhand von großen Fragebögen protokolliert, die man, auf eine harte DIN-A4-Platte gespannt, während der Übungen bei sich führte, zusammen mit dem dunkelfarbigen Handtuch, auf das das Logo der Firma gedruckt war. Das Ergebnis einer jeden Übung wurde eingetragen.

Schon am Empfangsbord des Eingangs standen zwei Aufpasser, die einem die Ausweiskarte abnahmen, in den Computer steckten und die Daten abglichen. Diese Leute waren aber noch freundlich. Im Grunde die einzig sympathischen Zeitgenossen in den unmenschlichen Hallen. Einige hatte ich im Laufe der Zeit ein bisschen kennengelernt, in dem Sinne, dass ich mir die Namen merkte, die auf ihren Namensschildern auf der Brust standen. Der eine hieß Jakob Bauer und hatte ein nettes Gesicht. Insgeheim nannte ich ihn immer »der mit dem netten Gesicht«. Ich hielt mich regelrecht daran fest, dass es so einen da gab. Noch besser gefiel mir Nikolaus Hofer. Das war der mir zugeteilte persönliche Trainer. Jung, groß, schlank, locker und wendig, ein extremer Gegensatz zu den Kunden.

Das Karma hier war so unterirdisch, dass es kein Wort mehr dafür gab. Ich schlurfte mit gesenktem Kopf auf dem grauen Linoleumboden den Umkleidekabinen entgegen. Eine totale Kasernenanmutung war das, in den Farben Wehrmachtsgrau und Weiß, und alle Gegenstände bestanden aus Blech: die Spinde, die Verkleidungen der Duschen, die schmalen Sitzbänke, die Gitter vor den Neonröhren. Elendige Erinnerungen an den Turnunterricht in der Schule kamen hoch.

Hier, wo sich die Leute umzogen und noch nackter, schutzloser und erbärmlicher wirkten als an den Geräten, fiel mein Blick wie hypnotisch angezogen auf das überall sichtbare extreme Bauchfett der sich schämenden alten Männer. Wenn ich nun auch so aussah? Das durfte nicht sein, niemals, und deswegen kam man ja her, das wollte man ja durch das Training vermeiden.

Überall waren Spiegel angebracht, um die zahlenden Opfer an ihren Ist-Zustand zu erinnern. Und Bahnhofsuhren. Sie waren der rettende Ruheplatz für die in diesem Elend und dieser Hässlichkeit herumirrenden Augen. Fast alle starrten immerzu auf die nächste Bahnhofsuhr. Damit maß man ja auch die Zeit der jeweiligen Übung. Wanderte das Auge zur Decke, blickte man auf eine Unzahl von Belüftungs- und Heizungsrohren, wie im Heizungskeller eines Kaufhauses. In Berlin war das Fitnessstudio auch wirklich in einer lichtlosen Kelleretage untergebracht. Das Unternehmen hatte Filialen in allen Großstädten der Welt, alle sahen gleich aus, ich hatte mehrere aufgesucht und ausprobiert, zwei in Berlin und eine in Wien. Es wurde schnell klar, dass man in keiner dieser Hallen Freundschaften schloss. Niemand redete miteinander. Der einzige verbale Kontakt unter den dort Verkehrenden war ein schüchternes, eigentlich rührendes, in meinen Ohren aber fast verzweifelt klingendes »Auf Wiedersehen«, wenn einer es hinter sich hatte, sich Gott sei Dank wieder vollständig angekleidet hatte und mit seiner uncoolen Hängebauch-Sporttasche den Umkleidebereich Richtung Ausgang verließ.

Ich hatte es noch nicht hinter mir, an diesem Tag. Meine körperliche Verfassung war seit Wochen schlechter geworden. Es rührte von diesen Übungen im Fitnessstudio her, das wurde mir immer klarer. Man war in seltsame Maschinen eingespannt, die einem Schaden zufügten. Andererseits hatte ich einen Termin, und zwar mit dem Spezialtrainer der sogenannten Rückenmaschine. Da ich diesen Termin schon zwei Mal abgesagt hatte, ging ich nun hin. So funktioniert das Unterbewusstsein nun mal. Auch war ich von den Freunden meiner Frau beeinflusst, die allesamt versicherten, eine »Arbeit« im Fitnessbereich könne definitiv theoretisch wie praktisch nichts Negatives sein. Es war, als hätte ich gesagt, Obst und Gemüse seien eine schlechte Ernährung. Die Gegenrede war gewaltig.

Meine Gesundheitsvorsorge hatte bis dahin ein Leben lang aus Spaziergängen bestanden. Ich bin Hamburger und gehe daher gern spazieren, eben wie alle Hamburger. Früher bin ich um die nahe gelegene Alster gegangen und nun, da mein Lebensmittelpunkt Wien geworden war, um den ebenso nahe gelegenen Prater-Park, immer abends, zur blauen Stunde, mehrmals in der Woche, gern mit meiner schönen Frau. Doch nach dreieinhalb Wochen im Fitnessstudio zog ich mir einen Fersensporn zu. Und der ging nicht weg, sondern wurde schlimmer. Jeder Schritt tat höllisch weh. Es war vorbei mit dem schönen Bummeln am Abend, nach der Arbeit, manchmal Hand in Hand. Die Liebe begann darunter zu leiden.

Zu meinem Erstaunen bestätigte mein persönlicher Trainer meine Befürchtung: ja, es könne daran liegen, dass ich falsch trainiert hätte. Es war sogar wahrscheinlich. Die Maschinen hätten die Muskelbelastungen der Ferse durcheinandergebracht. Genau deswegen müsse ich jetzt eine andere, weitere Spezialmaschine benutzen, die das wieder ins Gleichgewicht brächte. Ich hatte dann ein paarmal dieses Ding benutzt, ohne Besserung.

Ich schlich durch den Hauptraum. Mehrere Tausend Euro hatte meine Frau in ihrer weltfremden Güte dem Unternehmen im Voraus überwiesen. Das Geld war für immer verloren, wenn nicht doch noch eine Wende eintrat. Und selbst wenn sie nicht eintrat, musste ich mindestens sechs Wochen durchhalten, ehe ich kapitulieren durfte. Mit dem Geld hätte man zweimal in die USA reisen können! Das war unser Traum gewesen.

Wie die anderen hatte ich mir in diesen Räumen eine Art Tunnelblick angewöhnt, aber dabei traten die Geräusche verstärkt in den Vordergrund. Es klang wie der hintere Raum einer Restaurant- oder Hotelküche. Irgendwie schien pausenlos irgendein Zeug hin- und hergeschoben, Dinge verrückt und weggeschleppt zu werden, klappernd und polternd, alles Geräusche von Gegenständen, nicht von Menschen.

Nirgendwo ein Lachen, eine befreite Stimmung infolge eines Austobens, das es ja nicht gab. Überall nur graue Bärte, weiße Haare, unsichere Gesichter, kindlich verstörte Mienen: es war, als hätte ein furchtbarer Gott die unglücklichen Pennäler von einst direkt aus dem Turnunterricht herausgeholt und mit einem Schlag sechzig Jahre älter gemacht. Da waren sie nun wieder, unglücklich wie damals, aber nun auch noch verflucht alt.

»Hallo Herr Lohmer … ich bin schon zur Stelle. Wie geht es Ihnen?«

Der Trainer, mit dem ich verabredet war, hantierte bereits mit der sogenannten Rückenmaschine. Es war der Mann mit dem netten Gesicht, Jakob Bauer. Ich freute mich ein bisschen. Ich war acht Minuten zu früh gekommen, aber er war schon da und wirkte beschäftigt. So eine Spezialmaschine musste wohl aufwendig eingestellt werden. Er gab meine Daten in den Computer des Folterinstruments ein.

»Na ja, Herr Bauer, danke schön … ich will Sie ja nicht in Panik versetzen, aber …«

»Passt schon …«

»Ich habe Ihnen ja von meinem, äh, Fersensporn erzählt. Ist schlimmer geworden.«

»Durch die Rückenmaschine?«

»Nein, vorher schon.«

»Dann ist es nicht die Rückenmaschine. Wir geben heute acht Kilo mehr ein.«

»Lieber nicht.«

»Wir versuchen es einfach. Sie sagen dann, ob es passt, Herr Lohmer.«

Er legte zwanzig Schläuche um meinen Körper, zurrte Gurte um meine Beine fest, schraubte Gewichte auf meinen Oberkörper, ließ ihn strecken. Es fühlte sich nicht unbedingt schlecht an, mit einer Ausnahme: die Knie begannen höllisch zu schmerzen. Insgesamt geriet mein Körper, besser gesagt mein Bewusstsein, in eine kleine Alarmstimmung.

Nun musste ich mich nach vorn beugen und 188 Kilo in dieselbe Richtung stemmen oder schieben. Ich versuchte es, kam aber nicht voran. Der Trainer forderte mich auf, endlich zu beginnen.

»Das geht nicht«, sagte ich.

»Doch. Wir waren bei 180 zuletzt. Die acht Kilo mehr schaffen Sie.«

Ich versuchte es noch mal, jetzt mit mehr Kraft. Ich spürte ganz genau, dass dieses Mehr an Kraft zu viel des Schlechten für meine Wirbelsäule war. Ich schaffte nun wirklich zehn Zentimeter nach vorn, dabei registrierte ich, dass mein Rücken schweren Schaden nahm. Ich erinnerte mich nun ganz genau an einen Tag im Jahr 1998, als ich eine Waschmaschine in meine damalige Wohnung im dritten Stock getragen und danach zehn Jahre lang Rückenschmerzen gehabt hatte. Wie oft hatte ich in diesen zehn Jahren dieses idiotische Hochtragen der Waschmaschine verflucht!

Ich ließ mich zurückfallen.

»Geht nicht.«

»Macht nichts. Wir geben vier Kilo runter.«

Herr Bauer bekam schlechte Laune, glaube ich. Oder soll ich sagen, er wurde einfach sachlich, ließ die Freundlichkeit mal kurz weg? Er tat seinen Job, und er wusste über die Maschine nun wirklich gut Bescheid.

»Nein, das ist zu viel«, sagte ich.

»Wir können 180 machen, aber davon haben Sie nichts. Dann hätten Sie im Prinzip gar nicht kommen brauchen. 180 ist keine Steigerung, das bringt für den Muskelaufbau null. Wir versuchen es noch mal, Herr Lohmer.«

Wieder drückte ich meinen Oberkörper sowie die gesamte monströse Apparatur plus 184 Kilo nach vorn. Es fühlte sich total gefährlich an.

Nach nunmehr zwanzig Zentimetern hielt ich inne, fiel langsam unter Schmerzen wieder zurück und öffnete die Augen, die ich während des Stemmens geschlossen gehalten hatte. Mein Gesichtsausdruck hatte dabei wahrscheinlich dieselbe peinvoll verzerrte Fratze ergeben, wie ich sie immer bei den anderen Trainierenden gesehen hatte, zertrümmerte Visagen wie bei Frauen im Kreißsaal nach acht Stunden Geburtsbemühungen …

»Na, wie fühlen Sie sich?«, fragte Jakob Bauer fröhlich. Er hatte seine gute Laune wiederbekommen.

»Es fühlt sich echt absolut gefährlich an«, sagte ich leise.

»Okee, machen wir 180«, sagte er, schon wieder leicht beleidigt.

»Nein!«

»Was?«

»Herr Bauer, ich will Sie nicht … machen Sie sich keine Sorgen, aber machen wir lieber das nächste Mal weiter. Es passt heute nicht.«

»Was passt nicht?«

»Die Maschine … passt heute nicht … irgendwie.«

»Das ist Unsinn, Herr Lohmer. Die Maschine weiß genau, was sie tut, glauben Sie mir. Die hat alle Daten von Ihnen. Die kennt Ihre Probleme besser als Sie selbst!«

Er lachte gutmütig.

»Lieber nächstes Mal. Mir ist schlecht.«

Er starrte mich an. So etwas schien er noch nicht erlebt zu haben. Was sollte er tun? Hilfesuchend sah er zum Desk, zu den Aufpassern.

»Ja, was machen wir denn da …«, sagte er gedehnt, mehr zu sich selbst.

»Binden Sie mich los«, sagte ich.

Er zögerte. Dann fing er sich endlich wieder.

»Klar! Herr Lohmer, aber ich sage Ihnen, wir machen einen Fehler. Aber ich habe schon eine Idee, wie wir vorgehen. Ich streiche die heutige Sitzung einfach und füge eine weitere hinten im Plan an.«

»Ja, das ist lieb von Ihnen, eine gute Idee.«

»Wir waren bei der sechsten Sitzung eigentlich, heute, und Sie hätten noch vier gehabt. Jetzt trag ich das neu ein, so haben Sie noch fünf!«

»Super, Herr Bauer, ist ja voll nett. Danke!«

»Ja, sehen Sie, so machen wir das. Und gehen Sie nachher sofort zum Desk und machen sich die nächsten zwei Termine fest aus, oder am besten gleich alle fünf!«

»Hm, ja, wäre zu machen.«

»Machen Sie es auf jeden Fall, Herr Lohmer!«

Er lockerte die ganzen Seile, Gewichte und Schrauben, wobei er noch einmal beteuerte, wie wichtig die nächsten Verabredungen seien. Zweimal die Woche müsste ich kommen, sonst würde es nicht funktionieren. Dann entließ er mich zu den normalen Übungen, also zu denen, die man ohne Trainer machen konnte und musste.

Ich merkte beim Aufstehen aber, nicht sofort, doch sobald ich gänzlich aus seinem Blickfeld gehumpelt war, dass meine Rückenschmerzen zugenommen, ja sich vervielfacht hatten. Zudem war mein Nacken vollkommen steif geworden.

»Hoffentlich ist das morgen wieder weg«, dachte ich, wollte aber ansonsten nicht darüber nachdenken, nicht in diesem Moment … erst mal raus aus dem Laden!

Das ging aber nicht, Herr Bauer und die Aufseher dachten ja, ich würde jetzt mit dem normalen Training beginnen. Also schlich ich in den hinteren Saal und beobachtete die Leidensgenossen.

Es war schon spät, schon 21 Uhr vorbei, und einer nach dem anderen war fertig und verließ den Raum. Möglichst rasch huschten sie weg, wollten sie vergessen, folgten sie einem Fluchtimpuls. Fast keiner duschte sich noch, was auch daran lag, dass man hier gar nicht schwitzte, sich gar nicht richtig bewegte und ausagierte, sondern nur die blöden Muskeln mit kalten Geräten traktierte. Es gab nicht einmal ein Trimmrad.

Keiner machte sich noch schön – wozu auch –, kämmte sich die Haare – für wen denn – oder redete voller Vorfreude auf den Abend mit anderen. Umkleidekabinenwitze über Frauen, wie Donald Trump sie einmal publik machte, wären hier das Ungewöhnlichste und Unheimlichste der Welt gewesen. Mit todernsten Gesichtern, als hätten sie gerade eine Krebs-Diagnose gekriegt, traten diese eher bürgerlichen Männer ins Freie, und die wenigen Frauen noch nicht einmal damit. Sie, diese, äh, nennen wir sie einmal Karrierefrauen, sahen, um die Schilderung hier einmal gnädig abzukürzen, schlichtweg nur zum Fürchten aus.

Ich sah eine solche Frau auf einer der Beinspreizmaschinen. Gut fünfundzwanzig Mal hatte ich selbst auf so einer »trainiert«. Wozu eigentlich? Wofür war dieses Training gut? Niemals im Alltag musste man diese beinharte Bewegung ausführen. Höchstens in einem alten James-Bond-Film konnte man mit stählernen Spreizmuskeln einen asiatischen Agenten erwürgen.

Den Nacken durchzog ein brennend heißer Blitzstrahl, sobald ich den Kopf drehte. Der Rücken tat fortlaufend weh, auch wenn ich innehielt und mich überhaupt nicht bewegte. Wieder hoffte ich, es wäre nur vorübergehend. Ich war mein ganzes Leben lang immer so gesund gewesen, so zuverlässig gesund. Ich war mir darüber auch immer klar gewesen, hatte dieses Geschenk keineswegs selbstvergessen und undankbar nur hingenommen. Wenn es doch nur so bliebe! Ich wollte doch hundert Jahre alt werden und freute mich nun so auf die nächsten Jahrzehnte. Mit einem kaputten Rücken wurde nichts daraus. Mit der Motorik eines Halbgelähmten konnte ich bei Frauen nicht mehr landen.

Wie kam ich an den Aufpassern am Desk vorbei, ohne dass ich weitere feste Verabredungen mit der Rückenmaschine aufgebrummt bekam? Langsam ging ich zu meinem Spind, holte meine Sachen hervor und zog mich an.

Es ging dann aber doch ganz leicht. Ich wartete ab, bis beide Aufpasser etwas zu tun hatten – sie halfen älteren Frauen beim Einstellen der Galgen, Guillotinen, Streckbänke und elektrischen Stühle –, und huschte, genauso wie vorher die anderen Teilnehmer dieser traurigen Veranstaltung, wortlos und angstgetrieben nach draußen.

Ich habe mich dann nie wieder dort blicken lassen.

 

Inzwischen, so traurig meine Entwicklung auch scheinen mochte, war die Kommunikation mit Lana de Roy in ganz erstaunlicher Weise eskaliert. Ich hätte Mühe, jetzt, in einem Abstand mehrerer Wochen, den genauen Beginn, die exakte Ursache dieser bemerkenswerten »Freundschaft« (sagte man noch so?) zu erinnern oder zu benennen. Ich weiß nur, dass es mit dem Niedergang von Facebook zu tun hatte. Dieses Ur-Netzwerk, Mutter aller sozialen Foren, wurde Ende der Zehnerjahre von Milliarden alter Menschen verstopft. Wer auf sich hielt, machte da nicht mehr mit. Alle meine Freunde hatten Facebook längst verlassen, und auch ich hatte keinen Spaß mehr an dem Meinungskanal, in dem sich die Meinungen der halben Menschheit zu einem Orkan des haltlosen, pathologischen Geschimpfes auswuchsen und austobten. Wer unter vierzig war, wer noch Sex hatte, war auf Instagram. Ich selbst besaß dort natürlich auch einen Account, hatte aber vergessen, wie er funktionierte, was an meinem neuen iPhone Elf Pro lag, bei dem ich ebenfalls nicht wusste, wie es funktionierte. Es verstand sich nicht mit meinem Computer, einem neuen Apple MacBook Air 13 Zoll Retina Display, den ich extra gekauft hatte, damit Handy und Computer sich auf Augenhöhe begegnen konnten. Ich könnte dazu jetzt viel sagen, wie sich denken lässt. Ich könnte von den Schwierigkeiten berichten, die mein alter Computer, ein MacBook Air 11 Zoll, mit dem iPhone Elf Pro gehabt hatte, oder von den Unvereinbarkeiten zwischen den Geräten, die sich ergaben, als ich aus Versehen ein automatisches Update beim Handy geschehen ließ. Das würde der Leser jetzt sicher gern hören. Aber ich bleibe bei Lana de Roy. Es ließ sich nicht länger herausschieben, ich musste wieder auf Instagram gehen. Ein Freund half mir dabei.

Ich solle einfach ein Foto hochladen, riet er mir, nahm mein Smartphone – es hatte tausend Euro gekostet und besaß einen Speicherplatz von 512 Gigabyte, konnte also eine Million solcher Fotos speichern – und führte die Aktion aus. Es war eine Campariflasche, die ich bei dem Fest des Literarischen Colloquiums Berlin fotografiert hatte. Im Hintergrund war Lana de Roy zu sehen. Als der Freund das erkannte, schlug er vor, das Foto gleich auf den Account von Lana zu leiten. Er war ganz aufgeregt. Wieder führte er diverse technische Schritte aus, die ich ziemlich kompliziert und verwirrend fand und auf die ich mich total konzentrierte, um sie mir zu merken. Es war wie bei diesen Wegbeschreibungen, wenn man nach einer Straße fragt, und dann soll man viermal links und sechsmal rechts abbiegen und sich auch noch die zwei Einbahnstraßen, die kleine und die große Kirche und die Ampel am Ende der Unterführung merken. Aber es musste sein. Nie mehr Facebook! Ich hatte Meinungen immer gehasst, mein ganzes Leben lang, schon in der Grundschule. »Die Politik ist ein schmutziges Geschäft«, war so eine Meinung, die ich schon damals hörte, »die lügen alle und stecken sich das Geld hinten und vorne rein.« Mein Vater war Politiker. Wir hatten viel weniger Geld als die anderen Kinder, weil er das Geld, das unser Geschäft abwarf, in die Politik steckte. Jedenfalls waren diese Minuten jetzt wichtig für mein weiteres Leben. Denn ich bekam sofort eine Antwort von Lana!

»Oh, du hast grad a Nachricht kriegt«, sagte der Freund, ein Österreicher. Er zeigte sie mir. Ich sah einen kleinen leuchtenden Punkt rechts oben auf dem Bildschirm. Meine erste Insta-Nachricht! Ich las:

»Ich fühle mich erkannt.«

Oha, das war wohl … witzig gemeint.

»Hast du sie auf dem Foto markiert?«, fragte ich.

Er schüttelte den großen, klobigen Kopf. Als ich weiter bewegungslos auf den Bildschirm starrte, sagte er:

»Am besten antwortest du jetzt einfach.«

Er zeigte mir, wie es geht, und ich überlegte mir gewissenhaft meine Antwort. Wohl zu lange, denn Lana schrieb schon wieder was:

»Fandst du die Party auch so lästig? Krasse Langweiler, erhole mich jetzt noch davon.«

»Literatur-Events sind der Ort, an dem Träume sterben«, tippte ich rasch in den Computer. Wahrscheinlich traf ich damit den richtigen Ton, denn Lana schrieb fast zeitgleich zurück:

»Apropos Träume. Ich habe heute die grausamsten Dinge geträumt.«

Ich antwortete sogleich, schrieb was von Vollmond und dergleichen. Mein Freund war inzwischen auf die Toilette gegangen, und als er wiederkam, tat ich so, als hätte ich den Chat nicht weitergeführt. Ich wollte ihn schnell verabschieden, und zum Glück ließ er sich darauf ein. Ich wollte natürlich nicht, dass er weiterhin seine extrem große Nase in die Sache stecken konnte, denn er war ja auch mit meiner Frau befreundet.

Als ich mit Lana allein war, schrieb ich:

»Besser als jede Lesung: auf Konzerte gehen.«

Und sie so: »Was bist du eigentlich für ein Sternzeichen?«

Und ich: »Keine Ahnung. Die Sterne sind mir alle gewogen.«

Und sie: »Hab dich schon wieder gegoogelt. 6. Oktober, du bist Waage.«

Ich: »Falsch. Die lügen alle auf Wikipedia. Ich bin im Dezember geboren.«

Sie: »Krasse Scheiße.«

Natürlich googelte ich sie auch sofort wieder, erst mal nur die Seite »Lana de Roy Bilder«. Ein Bild sagte schließlich mehr als hundert Wikipedia Fake News. Ich sah auf ein paar stark manipulierte Poser Fotos und erkannte sie nur schwer wieder. Ein mädchenhaftes Wesen mit einem fast schon absurden Kindsgesicht, mehr braunäugiges, großäugiges Tierchen als Frau. Aber ich wusste natürlich, dass im Netz so ein Look den höchsten Image Credit auslöste. So wollten sie heute alle aussehen, wie schön für Lana! Ich schrieb:

»Was ist man denn, wenn man im Dezember geboren ist?«

Ich tat so, als wüsste ich es nicht. Irgendwie war das nicht komplett gelogen, denn ich hatte mich mein ganzes Leben lang gegen astrologische Zuschreibungen gewehrt, so wie gegen alle anderen Zuschreibungen, etwa nationale, ethnische, sexuelle und biologische. Nie wollte ich mein Alter sagen, den »Stamm« meiner Ahnen, meine erotische »Orientierung« und all den übrigen Identitätsmist. Ich wollte ich sein. Bei Lana würde ich damit aber scheitern. So ließ ich mich willig aufklären, dass ich wohl ein Steinbock sei. Ich schrieb:

»Ist das was Schlechtes?«

Und sie so: »Nein, nein, voll geil, meine beiden Brüder sind auch Steinbock«.

Darauf fiel mir nichts mehr ein. Was nun? Sie schrieb aber bald etwas Neues:

»Heute Abend spielen Fettes Brot im Grünen Salon. Hast du Lust, dass wir uns dort treffen?«

Fettes Brot?! Gab es die noch? Über diese Band hatte ich im letzten Jahrhundert für die Popmusik-Zeitschrift SPEX geschrieben, da war Lana noch gar nicht geboren. Da … das konnte, natürlich!, nur mit diesem Freund, mit Matthias Ochsenknecht zu tun haben. Der war ja dreimal so alt wie sie … dann kam der bestimmt mit! Ich schrieb:

»Cool«

Und sie: »Mega«

Und ich so: »Matthias kommt auch?«

Sie: »Nee, mit dem hab ich grad ein bisschen Stress.«

»Oh, tut mir leid.«

Ein paar Minuten war Ruhe im Chat. Das war normal, die Leute ließen den Chat offen und werkelten in ihrer Wohnung herum, machten Tee, telefonierten. So war das Leben in der Nach-Merkel-Ära, die wir gerade betraten. Vielleicht gab es noch irgendwo auf dem Land Menschen der Sechzig-plus-Kategorie, die anders lebten, ich wusste es nicht und wollte es nicht mehr wissen. Ich spürte, dass ich jetzt in jeder Minute meines Lebens jünger wurde. Die Zeitrichtung hatte sich umgedreht. Und irgendwann nach einigen Viertelstunden leuchtete der Punkt wieder auf.

»Hey! Weiß gar nicht, wie ich heut so drauf bin. Hoody und ugly sneakers? … oder doch auf verrückte Gothic Braut? Lets see …«

Sollte ich das jetzt entscheiden, kommentieren? Sie schrieb schon wieder weiter:

»Ha, ich kann mich nicht entscheiden.«

Und dann:

»Ich werde mich wohl selbst überraschen.«

Es kamen jetzt immer mehr Nachrichten, sie schien mit sich selbst zu chatten. Warum tat sie es eigentlich mit mir und nicht mit gleichaltrigen Generation-Y-Hühnern? Ach ja, sie hatte meinen Wikipedia-Eintrag gelesen und festgestellt, dass ich altersmäßig fast schon zu Ochsenknecht passte. Sie mochte offenbar steinalte Promi-Köpfe, dafür hatte sie eine App, also eine Applikation, sprich Qualifikation.

Eine Nachricht klang sehr nach Drogen:

»Meine Nachbarin kam grad mit einer Zigarette vorbei, hihi … bis später.«

Nun war sie länger beschäftigt. Ich klappte den Laptop zu und schnappte etwas frische Luft. Am Nachmittag ging es weiter.

»Krass, ich hab da so ’n neuen Tee. Voll die abgefahrenen neuen Kräuter. Lässt mich bisschen fliege …«

Ich so: »ha ha.«

Sie, zehn Minuten danach: »Umso besser! Und jetzt nur noch die volle Dröhnung SOUND …«

Volle Dröhnung? Schon wieder so ein Wort aus der abgelegten Jugendsprache von früher, es musste an ihrem Liebhaber liegen. Egal. Was genau meinte sie? Sie hatte Musik in ihrer Wohnung aufgelegt?

Sie schrieb dann in schneller Folge weitere, wie soll man es nennen, Selbstentäußerungen, aber vielleicht sollte ich an dieser Stelle Grundsätzliches klären. Der Leser wird sich seit einigen Seiten zweierlei fragen. Erstens: was war zwischen Lana und mir bei dem damaligen Fest des Literarischen Colloquiums Berlin am Wannsee geschehen? Und zweitens, was hatte einer wie ich, die fünfzig schon deutlich überschritten, mit so einem Puppengesicht aus der Generation Y zu tun? Hatte ich nicht eine viel schönere und attraktivere Frau zu Hause?

Das sind drei Fragen, ich beginne mit der letzten. Es ist immer ein bisschen blöd, wenn in einem Buch oder in einem Popsong behauptet wird, eine Frau sei umwerfend schön. Man kann es ja nicht beweisen. Will der Autor sich schmücken, mit der Behauptung angeben? Will er sich selbst attraktiv damit machen? Auf mich wirkt das immer peinlich bis ärgerlich, vor allem dann, wenn das Buch ansonsten glaubhaft und realistisch geschrieben ist. Und doch ist, was soll ich machen, meine eigene Frau, und jetzt können wir auch endlich den Namen sagen, Harriet heißt sie, schön. Also wirklich schön. Natürlich kann ich mich irren, und es liegt an meiner Verliebtheit, aber ändert das etwas? Ich kann sie nicht hässlicher machen, als ich sie sehe.

Deshalb machte die nun anrollende Story mit Lana wenig Sinn, wüsste man nicht, dass ich den Auftrag hatte, über die Lana-Generation zu schreiben. Ein Freund meiner Frau Harriet mit dem lächerlichen und vielsagenden Namen Heinz-Christian Gurkenmeier hatte mich angesprochen. Den Namen habe ich natürlich ändern müssen, aber der wirkliche klang nicht weniger absurd. Der Mann war Jugendforscher, so wie ich, nur offizieller, es stand auf seiner Visitenkarte, und er leitete ein demoskopisches Institut für Jugendforschung, das ihm selbst gehörte. Er war auch so alt wie ich, vielleicht zwei bis drei Jahre jünger, und einer der beiden Männer, die Harriet wirklich bewunderte (der andere war ich).

Dieser Typ hatte ein echtes Problem. Obwohl er natürlich perfekt und durchgehend den sogenannten »Jugendjargon« beherrschte und von sich gab (ich will nicht das Wort ›sprechen‹ verwenden), biss er bei der neuesten Generation auf Granit. Das war, wie gesagt, die Generation Y, auch Generation Greta genannt. Hatte er bei den vorangegangenen Millennials noch fett abräumen können, weil seine Glatze, zerbeulten Jeans und Muscle-T-Shirts von keinem der toleranten Muttersöhnchen wirklich konsequent abgelehnt wurde, stieß er bei den in diesem Jahrhundert Geborenen nicht einmal auf Ablehnung. Er wurde nicht mehr wahrgenommen. So wandte er sich an mich, obwohl er mich nicht leiden konnte. Wahrscheinlich dachte er, ich könne wenigstens gut schreiben, sodass die getürkten Inhalte nicht auffielen. Immerhin hatte ich zehn Jahre zuvor mit dem Roman »Die Jugend von heute« einen vielbeachteten Bestseller gelandet. Obwohl darin alles ausgedacht war, galt ich bei dem Thema damals als Autorität und wurde gern zu Talkshows eingeladen.

Zurück zur zweiten Frage: Warum war es zwischen Lana und mir mehr als nur das unmoralische Abschöpfen einer vermeintlichen Quelle geworden? Warum begann ich sie irgendwann zu mögen? Hatte ich ein verstecktes Woody-Allen-Gen in mir? Dann müsste ich sofort diesen Bericht unterbrechen und zum Nervenarzt gehen. Nein, es hatte mit Lanas Wesen zu tun. Sie hatte eine Art, beim Sprechen ins Schleudern zu kommen, das letzte Wort nicht zu finden, also das Verb meistens, und dann doch eines, das man nicht erwartet hatte, das dem Satz auf einmal zu eindrücklicher Prägnanz verhalf. Sie war auch nicht so puppenhaft simpel, wie ihr Image es nahelegte. Schon der erste Satz in ihrem Wikipedia-Eintrag musste jeden, der das Leben kennt, stutzig machen:

»Lana de Roy, eigentlich Lana Sunshine Pamela Roy (*8. März 1994 in San José, Costa Rica), ist eine deutsche Schauspielerin.«

Das war also ihr wirklicher Name, Roy. Kein kitschiges Disney-Pseudonym. Es geht noch weiter, kommt noch wilder: Aufgewachsen in Brasilien, Vater Belgier, Mutter Schweizerin. Vor diesem Hintergrund erwartet man sehr gutes Portugiesisch, gutes Französisch, passables Englisch, aber nicht das perfekte Bühnendeutsch, das sie sprach, sobald die Kamera lief. In gut zwanzig Filmen hatte sie schon mitgespielt, vom Tatort bis zum ZDF-Historiendrama, seit ihrem zehnten Lebensjahr. Ihre Filmografie war fast länger als die von Ochsenknecht. Der hatte sich da einen Goldfisch geangelt, nicht sie sich ihn.

Aber auch diese Herangehensweise führte und führt nicht weiter. So bemerkenswert dieser Rahmen und so beeindruckend diese berufliche Leistung auch war, machte das noch immer keinen geistig interessanten Menschen, mit dem man sich gut unterhalten konnte. Die Attitüden blieben auch bei ihr die der internetfixierten Zombies ihres Jahrgangs. Aber er reizte mich trotzdem, das näher zu untersuchen. So traf ich mich mit Lana, bis meine Frau dahinterkam.

Ich war selbst schuld. Da mich die 23-Jährige innerlich, geistig, literarisch und erotisch immer mehr beschäftigte, ich zudem gern mit Harriet diskutierte, hielt ich es einfach nicht mehr länger aus und fragte sie, Harriet, einfach nach ihrer Meinung. Wie fand sie die denn, diese junge Schauspielerin? Ich spielte Harriet ein Video vor.

Natürlich roch sie auf der Stelle den Braten und reagierte ohne jede Zeitverzögerung. Höchst negativ. Vielleicht war das noch der beste Ausgang. Es hätte nicht mehr lange dauern können, bis sie zum Beispiel meine Chatverläufe entdeckt hätte. Tagsüber, wenn Harriet in der Redaktion war, ließ ich den Laptop oft stundenlang aufgeklappt, weil Lanas Ergüsse meistens im Viertelstundentakt eintrafen und dazwischen nichts passierte. Manchmal kam meine Frau aber schon nachmittags unangemeldet nach Hause. Wie sah also ihre Reaktion aus? Sie schickte mich ins Kloster.

Echt jetzt. In ein Fasten-Kloster. Es war die Zeit, da ich unter den Folgen des Fitnessstudios litt und als fett gewordener, vorzeitig gealterter Krüppel durch eine eng gewordene Welt humpelte. Harriets neueste Idee, mich wieder ins Leben zurückzuholen, war das Fasten. Das spukte schon seit Wochen in ihrem schönen Rendi-Wagner-Kopf. Ich hatte das natürlich immer abgelehnt. Fasten, da war ich mir sicher, würde mir den Blattschuss versetzen. Die letzten Energievorräte würden dabei verbrannt werden, gehirntot würde ich zurücktaumeln in die eheliche Wohnung und sterben.

Aber ich hatte nicht mehr die Kraft, Harriets unbändigen Willen, entfacht durch das jäh auflodernde Feuer der nur zu berechtigten Eifersucht, zu brechen. Ich musste zum Heilfasten in ein streng katholisches Kloster auf dem Land. Der Begriff Land war noch ein Euphemismus, besser nannte man die Lokalität »das Nichts«. Im Umkreis von gefühlt fünfzig Kilometern war da auf Google Maps kein Haus auszumachen. Außerdem musste ich Harriet hoch und heilig versprechen, jeden Tag aufzuschreiben, wie es mir erging. Vordergründig, weil sie sich »Sorgen machte«. Allerdings waren dort alle elektronischen, weil neuzeitlichen Geräte verboten, Laptops, Computer, Smartphones und elektrische Uhren, sogar das Schreiben selbst war verboten, wie übrigens auch das Sprechen. Es galt bis auf Ausnahmen das Schweigegelübde. Und die beiden Wochen kosteten zudem, als wäre das nicht schon des Leidens genug, auch noch 1500 Euro! Dafür wurde allerdings garantiert, dass man Pfunde verlor. Harriet hatte Freunde, die den Prozess schon hinter sich hatten. Sie wirkten schlank und runderneuert. Sie kündigten anschließend ihre hochdotierten Jobs und konzentrierten sich auf alternative Ernährung. Einer zumindest hatte so gehandelt, und der war vorher Oppositionsführer im österreichischen Parlament gewesen. Ich schloss daraus, dass sich zumindest etwas veränderte, und mir war inzwischen alles recht.

Um Harriet zu schreiben, musste ich das nachts unter der Decke mit einer Lampe tun. Natürlich hatte ich das strikte Handyverbot ein bisschen unterlaufen, indem ich mein ältestes iPhone, nämlich mein vierzehn Jahre altes iPhone 4, unter der Matratze versteckte. Das hatte eine schöne Lampe, und telefonieren konnte es im Prinzip auch noch, hätte es ein Netz gegeben. Ich schrieb einen fortlaufenden Bericht, nicht gerade auf Klopapier, aber doch vergleichbar umständlich. Später, kurz vor der Entlassung, tippte ich die Notizen auf der Klosterschreibmaschine ab, natürlich gestrafft und geschönt. Die hochbockige Maschine hatte schon Joseph Ratzinger bei einem Besuch im April 1953 benutzt.

Harriet dachte natürlich, bei Lana, so einer schnelllebigen jungen Internet-Bitch, wären zwei Wochen eine Ewigkeit, und danach hätte die den digitalen Kurzflirt vergessen. Und das stimmte selbstverständlich. Auch ich würde nach so einer existenziellen Tortur, Pardon, Erfahrung, weiß der Henker, Pardon, weiß Gott andere Gedanken im Kopf haben. Auch das war richtig, Frauen sind klug und irren sich da nicht.