Sterbestunde - Michael Hübner - E-Book

Sterbestunde E-Book

Michael Hübner

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Beschreibung

Ein Menschenleben bedeutet ihnen nichts...

Wegen eines Autounfalls, bei dem ein Pfleger getötet wurde, gerät ein Altenheim ins Visier der Koblenzer Polizei. Kommissar Sven Becker, der die Ermittlungen leitet, stößt auf ein weiteres brisantes Detail: Die Blutprobe einer verstorbenen Heimbewohnerin enthält rätselhafte, HIV-resistente Zellen. Noch bevor der Heimdirektor dafür zur Rechenschaft gezogen werden kann, ist er verschwunden. Und Becker bekommt es mit skrupellosen Gegnern zu tun, denen ein Menschenleben nicht das Geringste bedeutet …

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Buch

 

Ein junger Mann wird Opfer eines brutalen Autounfalls. Der Schwerverletzte wird hilflos am Straßenrand zurückgelassen, wo er qualvoll stirbt. Schon bald geht die Polizei davon aus, dass hier ein Mord vertuscht werden sollte. In unmittelbarer Nähe der Leiche findet sich ein Notizbuch mit rätselhaft codierten Aufzeichnungen. Bei der Überprüfung des Arbeitgebers des Toten – er war Altenpfleger in einem Seniorenheim – stoßen der leitende Kommissar Sven Becker und sein Kollege Dennis Bergmann auf brisante Details. Die Blutprobe einer verstorbenen Heimbewohnerin enthält rätselhafte HIV-resistente Zellen. Doch noch bevor der Heimdirektor dafür zur Rechenschaft gezogen werden kann, ist er verschwunden. Becker und Bergmann bekommen es mit skrupellosen Gegnern zu tun, denen ein Menschenleben nicht das Geringste bedeutet …

 

 

Autor

 

Michael Hübner, Jahrgang 1968, arbeitete als Keramiker, Logistiker und freiberuflicher Webdesigner, bevor er das Schreiben für sich entdeckte. Sein erster Thriller, »Stigma«, war ein großer Lesererfolg und wurde in zahlreichen Foren und Blogs gelobt. Hübners zweite Leidenschaft gilt der Fotografie und dem digitalen Bearbeiten von Bildern. Er lebt mit seiner Frau und drei Töchtern in der Nähe von Koblenz.

Mehr Informationen zum Autor und zu seinen Büchern unter:

www.michaelhuebner.de

 

Von Michael Hübner außerdem bei Goldmann lieferbar:

Stigma. Thriller (47417)

Michael Hübner

Sterbestunde

 

 

Thriller

 

 

 

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Originalausgabe Juni 2012

Copyright © 2012 by Wilhelm Goldmann Verlag,

München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: FinePic ® , München

Redaktion: Marie-Luise Bezzenberger

mb · Herstellung: Str.

Satz: omnisatz GmbH, Berlin

ISBN 978-3-641-07632-0V002

www.goldmann-verlag.de

 

 

 

 

 

 

 

 

Für meine Frau und meine Kinder,

die Lichter meines Lebens

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Wissenschaft ist eine Fackel,

die uns das Dasein der Abgründe zeigt,

aber deren Grund nicht durchleuchten kann.

William Thomson

Zwei Jahre zuvor

 

 

 

 

 

 

 

Wie gelähmt starrte er auf den Leichnam, der von der Decke der alten Scheune herabhing und um den Dutzende von Fliegen kreisten. Trotz des Taschentuchs, das er sich vor Mund und Nase hielt, raubte der Gestank ihm den Atem. Starr folgte sein Blick dem Verlauf des Seils, das um den rissigen Balken geknotet war, bis hinunter zu der Schlinge und dem angeschwollenen, blau verfärbten Gesicht. Milchige Augen quollen aus ihren Höhlen und sahen vorwurfsvoll auf ihn herab, als wollten sie fragen: »Warum?«

Weil du schuldig warst, redete er sich ein, doch dieser Gedanke reichte nicht aus, um sein Gewissen zu entlasten. Sein Blick glitt bis zu den Füßen des Toten hinab, die über dem umgestürzten Melkschemel pendelten. Einer der Hunde, die frei auf dem Hof herumstreunten, hatte sich an dem rechten Fuß zu schaffen gemacht. Das Fleisch war bis auf die Knochen abgenagt. Ganz kurz war Sven Becker überzeugt, dass dies der schrecklichste Anblick in seiner ganzen Laufbahn als Polizist war. Doch dann erinnerte er sich an die toten Kinder, an ihre zerschundenen Körper, die nur notdürftig in einem Waldstück verscharrt gewesen waren, und er zwang sich, erneut in die trüben Augen zu schauen.

Du warst schuldig, wiederholte er in Gedanken, als suche er nach einer Rechtfertigung für diesen Selbstmord. Aber warum kam ihm dieser Anblick dann so falsch vor? Warum fühlte er sich dann so schuldig?

Es sollte zwei Jahre dauern, bis Kommissar Sven Becker darauf eine Antwort bekam. Denn exakt so lange schaffte es sein Gewissen, die Geschehnisse zu verdrängen, die in diesem Freitod ihren traurigen Höhepunkt gefunden hatten. Erst zwei Jahre später zwang ihn eine weitere Serie von Todesfällen dazu, sich erneut damit zu beschäftigen. Und diese Ereignisse, die mit dem Tod eines neunzehnjährigen Zivildienstleistenden begannen und später als gewaltiger Skandal in die Geschichte der Stadt Koblenz eingehen sollten, stürzten ihn in die schwerste Krise seines Lebens und hätten ihn beinahe das Leben gekostet.

1

 

 

 

 

 

 

 

Donner! … Nichts weiter. Nur dieser hohle, blecherne Donner, kurz bevor die Schwerkraft aussetzte und die Welt um ihn herum zu einem rasenden Karussell wurde. Ein abstruser Mischmasch aus Farben und Formen, die in seiner Wahrnehmung stetig tiefer zu einem dunklen Grauton verschmolzen. Dann der Aufschlag – hart, aber fern jeder Realität. Allmählich begann das Grau wieder Gestalt anzunehmen, sich in dunklen Umrissen zu festigen, die wie geisterhafte Schatten in der Dunkelheit vibrierten. Er spürte den warmen Asphalt unter sich, fühlte, wie das Adrenalin seinen Körper betäubte. Ein kurzer Moment zwischen Unterbewusstsein und Wahrnehmung, zwischen Dämmerung und Tageslicht, in dem er noch immer schwerelos war.

Dann setzte der Schmerz ein.

Mit dem Schmerz kam die Erinnerung zurück wie eine tonnenschwere Last. Und als ihm klar wurde, was passiert war, wünschte er sich, er wäre nie aus dieser Schwerelosigkeit erwacht.

Nur widerwillig füllte sich seine Lunge mit Luft; es kam ihm vor, als atme er durch einen Strohhalm. Am meisten Angst jedoch machten ihm seine Beine. Alles an ihnen fühlte sich verdreht an, grotesk, irgendwie – falsch. Wie die losen Glieder einer Marionette, die man achtlos zu Boden geworfen hatte. Eine glühende Masse wabernden Schmerzes. Unmöglich, jetzt noch davonzurennen. Doch das hatte er ohnehin schon lange genug getan.

Obwohl erst wenige Sekunden vergangen waren, konnte er sich nur vage daran erinnern, wie er die Straße mit gesunden, mit richtigen Beinen überquert hatte. Mit Träumen und mit einer Zukunft. Er erinnerte sich nur an den Schock und an die Unfähigkeit zu reagieren. Daran, wie sein Kopf auf die Motorhaube geschlagen war. Danach hatte sein Verstand abgeschaltet, hatte ihm vorenthalten, wie er gegen die Frontscheibe und über das Wagendach geschleudert worden war. Erst nachdem er hier, im grellen Licht einer Straßenlaterne, liegengeblieben war, schien ein Teil seines Bewusstseins entschieden zu haben, ihn wieder an der Situation teilhaben zu lassen. Und diesen bewussten Teil seines Selbst verfluchte er nun, denn er erinnerte ihn daran, wer er war: Erik Jensen, ein Verlierer vor dem Herrn, der um jeden Preis zum Gewinner werden wollte und der nun die Rechnung dafür präsentiert bekam.

Ein Blutschwall schwappte aus seinem Mund, nahm ihm die wenige Luft zum Atmen, die ihm noch blieb. Er röchelte, spie den kupferartigen Geschmack auf die Straße.

Nicht ersticken!, schrie ein panischer Gedanke in ihm, während grelle Punkte vor seinen Augen explodierten. Sein Atem war nur noch ein pfeifendes Rasseln, aber das ständige Auf und Ab seiner Brust ging weiter. Und obwohl ihm klar war, dass er das hier nicht überleben würde, beruhigte er sich wieder, denn es war nicht die Angst vor dem Sterben, die ihn in Panik versetzte. Selbst die Tatsache, dass er schon mit neunzehn Jahren sterben würde, war ihm egal. Er wollte diesen Drecksäcken nur nicht die Genugtuung gönnen, dass er an seinem eigenen Blut erstickte. Und er würde auch nicht um sein Leben betteln. Denn dieses Leben war es nicht wert, dafür zu kämpfen.

Benommen versuchte er sich zu orientieren, doch die Straßenlaterne blendete ihn. Nur undeutlich nahm er wahr, dass er quer auf der steil abfallenden Straße lag. In einiger Entfernung erkannte er die dunklen Umrisse eines Autos. Zwei Bremslichter in der Nacht, die ihn betrachteten wie glühende Augen.

Ich lebe noch, du Scheißkerl! Also leg endlich den Rückwärtsgang ein und tu, wofür sie dich bezahlen!

Sie hatten allen Grund dazu. Er wusste zu viel, war hinter ihr sorgsam gehütetes Geheimnis gekommen. Und vermutlich hatte sie das so überrascht, dass ihnen keine andere Wahl geblieben war. Sie hatten ihn unterschätzt.

Eine weitere Schmerzwoge brach über ihn herein, und er registrierte nur undeutlich, wie der Wagen aufheulend in die Dunkelheit davonraste und all seine Hoffnungen mitnahm. Du hattest es fast geschafft, dachte er benommen. Nur zwei Tage. Zwei gottverdammte Tage! Wenigstens würde er dafür sorgen, dass sie nicht ungeschoren davonkamen.

Nur mit Mühe gelang es ihm, den rechten Arm zu bewegen. Im Gegensatz zum Rest seines Körpers schien dieser den Aufprall halbwegs unbeschadet überstanden zu haben. Schwerfällig tastete sich seine Hand bis zur leeren Brusttasche seines Hemdes vor.

Es war nicht mehr da!

In panischem Schrecken zuckte sein hämmernder Kopf herum, so dass ihm schwarz vor den Augen wurde. Als er sich wieder erholt hatte, sah er es – das kleine blaue Buch, das etwa zwei Meter entfernt am Rande des Lichtkegels lag. Mit fast unmenschlicher Kraft stemmte er sich auf den Ellenbogen und zog sich ein Stück vorwärts, ignorierte den rasenden Schmerz, als seine zerschmetterten Gliedmaßen über den Straßenbelag schrammten. Es gelang ihm, einen flüchtigen Blick auf sein linkes Bein zu werfen. Ein großes Stück Knochen ragte wie ein blutiger Pfahl aus seinem Oberschenkel, und er wandte sich sofort wieder ab. Blut tropfte ihm aus Mund und Nase und bildete kleine Lachen auf dem Asphalt. Erst als seine Hand das kleine Buch zu fassen bekam, sackte er erleichtert zusammen. Sein ganzer Körper bestand nur noch aus Schmerzen. Ein dunkles Tuch legte sich über ihn, hüllte seine Wahrnehmung mehr und mehr ein, aber das war gut so. Er hatte die Dunkelheit immer gemocht, hatte sie stets als seinen einzigen Freund betrachtet. In ihrem Schutz hatte er sich nie vor anderen schämen müssen. Warum sich ihr nicht für immer anschließen?

Nur noch schwach drangen Geräusche zu ihm durch. Er hörte Schritte und Stimmen. Rollläden und Fenster, die geöffnet wurden. Jemand schrie. Das alles war nur wenige Meter entfernt, doch es drang von weit her zu ihm, aus einer Welt, die ihn sein ganzes Leben lang ignoriert hatte, weil sie nur Perfektion akzeptierte.

Seine Hände umklammerten das kleine Buch wie einen seltenen Schatz, während die Geräusche um ihn herum immer schwächer wurden, bis er nur noch leise Schritte wahrnahm, die sich ihm näherten.

Sie kommen dich holen. Fast glaubte er, in blendende Klarheit einzutauchen. Wohin sie dich auch bringen, das Taxi ist soeben eingetroffen.

Blut strömte aus der klaffenden Wunde an seiner Stirn und tauchte diese letzte Vision seines sterbenden Gehirns in leuchtendes Rot.

Dann spürte er nichts mehr.

Der Wagen ruckte kurz, als er abrupt an einer Kreuzung zum Stehen kam. Um ein Haar hätte er den Motor abgewürgt. Ihn ein weiteres Mal kurzzuschließen hätte unnötig Zeit gekostet. Also ermahnte er sich, Ruhe zu bewahren, während die Scheibenwischer über das gesprungene Glas schrubbten, um die Blutspritzer zu entfernen, die ihm die Sicht nahmen. Ein Stück Kopfhaut klebte an einem Wischblatt, hob und senkte sich mit ihm. Lange, dunkelbraune Haare sprossen daraus hervor. Hektisch schaute der Fahrer sich um, doch es war niemand zu sehen. Er bog auf die Hauptstraße ein, die geradewegs durch die kleine Stadt führte und sie wie ein Fluss in zwei Ufer teilte. Erst jetzt schaltete er den einen Scheinwerfer ein, der noch intakt war, und folgte dem Verlauf einer lang gezogenen Rechtskurve.

War er tot?, fragte er sich. War der Kerl auch wirklich tot?

Natürlich war er tot. Teile seines verdammten Schädels klebten an der Scheibe. Niemand hätte diesen Aufprall überlebt!

Aber du bist nicht sicher. Du hättest dich vergewissern müssen.

Das war doch lächerlich. Er hatte genug Erfahrung, um zu wissen, wann jemand tot war und wann nicht. Und dieser Kerl war tot!

Er suchte im Rückspiegel nach Verfolgern. Doch da waren nur spärlich beleuchteter Asphalt und ein Teil seines Gesichts. Eine dunkle Schirmmütze, die er tief in die Stirn gezogen hatte, verdeckte die schwarzen Haare, und der aufgeklebte Oberlippenbart ließ seine südländischen Züge wenigstens fünf Jahre älter erscheinen. Es war nur eine spärliche Tarnung, doch sie würde genügen. Den Rest würde die Dunkelheit verbergen. In einem Provinznest wie diesem war um diese Zeit ohnehin nicht mit Zeugen zu rechnen. Irgendwie bedauerte er das sogar, denn üblicherweise musste er sich mehr Mühe geben, sein Äußeres zu verändern. Er konnte sich älter oder jünger oder unsichtbar machen, wobei ihn stets eine fast kindliche Euphorie überkam, die beinahe die Lust am Töten überwog. Aber vermutlich war es die Kombination aus beidem, die diesen Rausch heraufbeschwor. Dieses freudige Prickeln, wie es Schauspieler kurz vor ihrem Auftritt verspüren. Nur lag sein Bestreben nicht darin, die Leute zu unterhalten, sondern ihnen eine Lektion zu erteilen, und zwar eine endgültige.

Du hättest dich vergewissern müssen!

Zum Teufel damit! Sein verdammter Perfektionismus brachte ihn noch um den Verstand. Aber das war nun einmal nötig, denn ein gelungener Auftritt hing von guter Vorbereitung, exaktem Timing und präziser Ausführung ab.

Sein Künstlername: Mohamed. Seine Vorliebe: Dramen mit tödlichem Ausgang. Doch trotz seiner außergewöhnlichen Begabung blieb ihm gebührende Anerkennung versagt. Ein Aspekt seiner Arbeit, der ihm zunehmend missfiel.

Er fuhr an alten Fachwerkhäusern und parkenden Autos vorbei, die zu beiden Seiten die schmale Straße säumten. Noch immer war niemand zu sehen. Es war fast schon zu leicht. Das Einzige, was ihm jetzt noch gefährlich werden konnte, war eine Begegnung mit einer Polizeistreife. Doch auch für diesen unwahrscheinlichen Fall hatte er vorgesorgt. Die Schnellfeuerwaffe, die er jederzeit griffbereit mit Klebeband an der Lehne des Beifahrersitzes angebracht hatte, würde ihm die nötige Durchsetzungskraft verschaffen.

Die Häuserreihen lichteten sich, und erst als das gelbe Ortsschild der kleinen Westerwälder Gemeinde Hillscheid am Seitenfenster vorbeiraste, entspannte er sich. Der Vorhang war gefallen, die Vorstellung vorbei. Und sie war ihm unter den gegebenen Umständen gut gelungen. Nicht perfekt, aber zufriedenstellend. Und manchmal musste das eben reichen. Es hatte wie ein Unfall aussehen sollen. Das war die einzige Bedingung gewesen, und er hatte sie erfüllt.

Vor ihm erstreckte sich ein riesiges Waldgebiet, in dem sich die Straße im Nichts verlor. Ein düsteres Lächeln umspielte seine Lippen, und in seinem Innern hörte er den tosenden Applaus eines unsichtbaren Publikums.

2

 

 

 

 

 

 

 

Etwa eineinhalb Stunden später hielt ein silberfarbener Opel an der Unfallstelle. Der Fahrer blieb noch einige Minuten sitzen und betrachtete das geschäftige Treiben im künstlichen Licht der Straßenbeleuchtung. Polizeiwagen säumten die Bordsteine, und etwa ein Dutzend Beamte in Uniform und Zivil waren dort zugange. Schaulustige aus den umliegenden Häusern hatten sich in kleinen Gruppen am Straßenrand versammelt oder betrachteten das Geschehen aus den Fenstern ihrer Wohnungen. Blaulicht kreiste über ihre Gesichter und an den Häuserwänden entlang und tanzte durch die Bäume der Vorgärten.

Sven Becker hatte auf all das ebenso viel Lust wie auf eine Wurzelbehandlung beim Zahnarzt. Seine Kopfschmerzen waren schlimmer geworden, was aber durchaus Vorteile hatte. Denn durch den pochenden Schmerz, der wie eine wütende Katze in seinen Ohren fauchte, hörte er die Stimme in seinem Kopf nicht mehr. Die Stimme der Vergangenheit, die ständig von den guten Zeiten schwärmte und ihn daran erinnerte, wie schlecht die Gegenwart war. Seit acht Tagen hatte er seine Wohnung nicht mehr verlassen. Und er bereute es bereits, dieses sichere Versteck aufgegeben zu haben, auch wenn es voraussichtlich nur für ein paar Stunden war.

Müde betrachtete er sich im Rückspiegel, sah die dunklen Ringe unter seinen Augen, die der fehlende Schlaf der letzten Wochen dort hinterlassen hatte. Seine Haut wirkte grau und schlaff, und seine braunen Haare hingen ihm strähnig und ungewaschen ins Gesicht. Es war das Abbild eines fünfunddreißigjährigen Mannes, dessen Leben aus den Fugen geraten war. Als der Anruf ihn vor gut zwanzig Minuten aus seiner Schlaflosigkeit gerissen hatte, hätte er eigentlich froh sein müssen. Jetzt jedoch wäre er am liebsten wieder umgedreht. Es dauerte eine Weile, bis er sich dazu durchrang, aus dem Wagen zu steigen.

Augenblicklich schlug ihm die schwüle Nachthitze ins Gesicht und trieb ihm den Schweiß auf die Stirn. Langsam bahnte sich ein grauer Leichenwagen einen Weg durch die Absperrung, als Sven sich den Beamten näherte. Ein junger Polizist trat ihm in den Weg.

»Sie können hier nicht durch«, sagte er streng. »Polizeieinsatz.«

Sven Becker blieb stehen und betrachtete den jungen Mann in seiner Uniform. »Tatsächlich?«, fragte er gereizt, während er seinen Dienstausweis aus der Gesäßtasche seiner verwaschenen Jeans zog. »Und ich dachte schon, Sie halten hier ’ne Parade ab.«

Der junge Polizist schielte auf den Ausweis und zupfte verlegen an seiner Uniformjacke. »Kripo Koblenz?«, fragte er und betrachtete irritiert Svens Hemd.

»Lassen Sie ihn durch!«, rief eine dröhnende Stimme im Hintergrund, die Sven sofort erkannte. Sie gehörte zu einem Mann, der etwa zehn Meter entfernt bei einer Gruppe Schaulustiger stand. In der einen Hand hielt er einen kleinen Notizblock, mit der anderen winkte er Sven energisch zu sich.

»Kann ich jetzt meine Arbeit machen?«, fragte Sven Becker bissig.

»Natürlich, Herr Kommissar. Entschuldigen Sie.«

Sven verstaute seinen Ausweis wieder und ging auf den Mann zu, dessen Zuruf ihm wahrscheinlich eine längere Auseinandersetzung mit diesem Jungspund erspart hatte. Dennis Bergmann hatte seine dunkelblonden Haare wie üblich mit Gel zurückgekämmt, und sein markantes Gesicht war glatt rasiert.

»Nimm’s dem Jungen nicht übel«, sagte er, nachdem er Sven eingehend gemustert hatte. »In dieser Aufmachung wirkst du nicht gerade wie ein Gesetzeshüter.«

Verwundert sah Sven an sich herab und begriff erst jetzt. In der Unordnung und dem Halbdunkel seines Schlafzimmers hatte er sich das erstbeste Hemd übergestreift, das greifbar gewesen war. Dabei musste ihm entgangen sein, wie zerknittert es war. »Das trägt man jetzt so«, erwiderte er.

»Na, den Trend hab ich wohl verpasst.« Dennis betrachtete Svens geschwollene Augen. »Sind die auch modern, oder machst du jetzt einen auf Herr der Ringe?«

»Ich habe einfach in letzter Zeit schlecht geschlafen.« Sven wischte sich über die schweißnasse Stirn. »Und das lag nicht an dieser verdammten Hitze.«

»Ich dachte, du hättest dir ein paar Tage frei genommen.«

»Ja, das dachte ich auch, bis vor zwanzig Minuten.«

Dennis sah ihn mitfühlend an. Dann griff er in die Innentasche seines Sakkos und zog einen Streifen Kaugummi heraus. »Scotch oder Bourbon?«

»Was?«, fragte Sven irritiert.

»Na ja, für einen überzeugten Biertrinker riecht dein Atem erstaunlich hochprozentig.« Er reichte Sven den Kaugummi. »Die Trennung von deiner Frau setzt dir ziemlich zu, was?«

»Ich will nicht darüber reden, okay?«, ging Sven wie gewohnt in Deckung.

»Schon gut«, wiegelte Dennis ab. »Glaub mir, ich hätte dich nicht rufen lassen, wenn ich das hier nicht für wirklich wichtig halten würde.«

»Sag mir, wenn ich mich irre, aber liegt dieses Kaff nicht außerhalb unseres Zuständigkeitsbereichs?«

»Ja, aber die Kollegen sind zurzeit mächtig unterbesetzt und haben uns um Hilfe gebeten. Angeblich haben wir auch mehr Erfahrung mit Mordfällen.«

»Mord?«, fragte Sven.

»Ja, es spricht einiges dafür.«

»Hm, dann klär mich mal auf, mit deiner unendlichen Erfahrung.«

Sie gingen langsam die Straße hinunter, während Dennis in seinen Notizen blätterte. »Laut seinem Ausweis handelt es sich bei dem Toten um einen gewissen Erik Jensen, neunzehn Jahre alt. Wohnt in dem alten Backsteinhaus dort drüben.« Er deutete auf ein mehrstöckiges Gebäude an der linken Straßenseite. »Er wurde da unten an der Baustelle von einem Auto erfasst, als er die Straße überquerte. Die Anwohner haben sofort den Notarzt gerufen, aber der konnte zehn Minuten später nur noch den Tod feststellen. Vom Unfallwagen und dem Fahrer fehlt jede Spur.«

Die beiden schoben sich an mehreren Zivilbeamten vorbei auf den Rand der Absperrung zu.

»Hallo, Sven«, grüßte einer der Männer. »Schickes Hemd.«

Sven winkte genervt ab. Das Letzte, wonach ihm der Sinn stand, war ein Schlagabtausch mit einem geistigen Tiefflieger wie Klaus Rathke. »Wo ist der Haken?«, fragte er und wandte sich wieder Dennis zu.

»Na ja, da wäre zunächst einmal die Vergangenheit des Opfers. Bei den Kollegen von der Trachtengruppe war Jensen kein Unbekannter. Ständige Kontakte zur Drogenszene, wurde mehrfach wegen Besitzes von Haschisch verhaftet. Außerdem noch Anzeigen wegen Körperverletzung und Diebstahl. Mehrere Jugendstrafen.« Dennis blätterte eine Seite seines Notizblockes um. »Am Tatort wurden keinerlei Reifenspuren gefunden. Wie mir die Jungs von der Spurensicherung bestätigten, wäre das bei einem Unfall ziemlich ausgeschlossen. Selbst wenn der Wagen ABS hat, würde eine Vollbremsung Spuren hinterlassen. Dann sind da noch Teile des Wagens, die wir gefunden haben. Zusammen mit den Lackspuren an Jensens Kleidung lassen sie darauf schließen, dass es sich bei dem Wagen um einen anthrazitfarbenen VW Golf handelt, vermutlich neueres Baujahr. Und nun rate mal, was für ein Auto bei den Kollegen vor etwa einer Stunde als gestohlen gemeldet wurde.«

Sie blieben vor Jensens Leichnam stehen, der noch immer quer zur Fahrbahn lag. Er wurde von einem weißen Tuch verdeckt, das sich um den Kopf herum blutrot verfärbt hatte. Ein Polizeifotograf schoss emsig Fotos vom Tatort. Das grelle Blitzlicht zuckte durch die Dunkelheit und verwandelte die Umgebung für Sekundenbruchteile in ein farbloses Gemälde.

»Ziemlich riskante Methode, jemanden aus dem Weg zu räumen, findest du nicht?« Es fiel Sven schwer, sein Desinteresse zu verbergen.

»Nicht, wenn man will, dass es wie ein Unfall aussieht«, vertrat Dennis beharrlich seinen Standpunkt. »Kein Mord, keine Ermittlungen. Vielleicht will jemand vermeiden, dass wir im Fall Erik Jensen zu viele Fragen stellen.«

Der gleichgültige Ausdruck in Svens Augen war noch immer da. »Vielleicht, klingt aber ziemlich unwahrscheinlich«, knurrte er halbherzig, wie jemand, der mit seinen Gedanken woanders war.

Dennis seufzte enttäuscht. »Ich merke schon, es war ein Fehler, dich aus deinem Versteck zu holen«, gab er schroff zurück. »Wahrscheinlich willst du einfach, dass es unwahrscheinlich ist, damit du dich wieder in deine Höhle verkriechen kannst, um weiter deinen Kummer runterzuspülen.«

Einen Moment lang herrschte Stille. Die Hitze im Blick der beiden Männer schien die in der Luft noch zu übertreffen.

»Entschuldige«, lenkte Dennis schließlich ein. »Liegt bestimmt daran, dass ich seit Tagen nicht mehr geraucht habe.«

»Schon gut, vergiss es.«

»Das mit dir und Sandra tut mir wirklich leid. Ich weiß, du machst schwere Zeiten durch, und glaub mir, ich brauche dich hier. Oder glaubst du etwa, ich bin scharf darauf, mir das Wochenende mit diesem Blindgänger von Rathke um die Ohren zu schlagen? Aber ich kann verstehen, wenn du dich im Moment lieber raushalten willst.«

»Nein, das ist es nicht«, erwiderte Sven, und seine Stimme verlor wieder an Kraft. »Vielleicht bin ich seit dem Heibel- Fall einfach nur vorsichtiger geworden.«

Jedes Mal, wenn Sven diesen Namen aussprach oder auch nur an ihn dachte, verspürte er einen Druck in der Magengegend und glaubte, den Geruch von verfaultem Fleisch riechen zu können, der sich seit jenem Tag in der alten Scheune in den Tiefen seines Gewissens festgesetzt hatte.

Dennis seufzte. »Das ist jetzt fast zwei Jahre her.«

»Ja«, bestätigte Sven, während er an die vernichtenden Berichte von damals dachte, »aber du weißt ja, die Presse hat deswegen einen ziemlichen Rummel gemacht, und ich sehne mich nicht gerade danach, wieder in die Schlagzeilen zu kommen.«

»Das würde Ihre berufliche Laufbahn wohl auch nicht noch einmal verkraften«, ließ sich eine sachliche Stimme vernehmen. Der Mann, zu dem sie gehörte, war groß und stämmig und hatte mittellange, dunkelblonde Haare. Sein Gesicht wirkte weich, aber dennoch entschlossen, und das breite Kinn wies ein kleines Grübchen auf, das ihn fast sympathisch erscheinen ließ. Verachtung legte sich wie ein dunkler Schatten über Svens Miene, als er sich umdrehte und den Mann erblickte, der wenige Meter entfernt hinter der Absperrung stand.

»Koschny«, fauchte er. »Wenn man vom Teufel spricht.«

»Freut mich auch, Sie zu sehen, Herr Kommissar. Sie sind doch noch Kommissar, oder?«, fügte der Mann sarkastisch hinzu.

»Was wollen Sie, Koschny? Hier ist nichts passiert, was die Leser Ihres Klatschblattes interessieren könnte.«

Koschny grinste selbstgefällig, wodurch sich das Grübchen an seinem Kinn etwas glättete. »Also, ich denke nicht, dass eine solche Umschreibung für den Rhein-Mosel-Kurier angemessen ist.«

»Hm, dann haben Sie es also doch geschafft, aus Ihren Verleumdungen von damals Kapital zu schlagen. Was streben Sie denn diesmal an, den Posten des Chefredakteurs?«

»Ich bin bloß hier, um meine Arbeit zu machen.«

»Tja«, erwiderte Sven abfällig, »dann müssen Sie wohl noch ein bisschen warten, denn ich bin hier mit meiner Arbeit noch nicht fertig.« Demonstrativ kehrte er dem Reporter den Rücken zu.

»Ich hoffe, Sie übersehen in Ihrer Selbstgefälligkeit nicht, dass es sich hier um einen Mord handelt«, sagte Koschny.

Sven stutzte einen Moment und sah Dennis fragend an, der jedoch abwehrend den Kopf schüttelte.

»Der Tote heißt Erik Jensen, nicht wahr?« Koschny hob das rot-weiße Kunststoffband an und trat hinter die Absperrung. »Er war neunzehn Jahre alt und einschlägig vorbestraft.« Kurz vor Sven blieb er stehen. »Und er war nicht gerade der Traum jeder Schwiegermutter.«

»Na schön«, fauchte Sven erbost, »mit wem haben Sie gesprochen?«

»Mit niemandem«, beteuerte Koschny. »Ich habe selbst recherchiert.«

»Und was hat Sie dazu veranlasst?«

Koschny betrachtete die zugedeckte Leiche. »Jensen hat mich vor etwa zwei Wochen in der Redaktion angerufen. Er klang ziemlich aufgeregt und hat behauptet, er hätte Informationen für mich.«

»Informationen?«, fragte Dennis. »Was für Informationen?«

»Damit wollte er nicht herausrücken. Er meinte, er könne mir im Moment noch nicht mehr sagen und ich müsse mich noch ein paar Tage gedulden.«

»Hat er Ihnen auch einen Grund dafür genannt?«

»Nein. Er hat nur gesagt, es wäre die Story meines Lebens.«

»Und da haben Sie natürlich gleich angebissen«, brummte Sven verächtlich.

»Nein«, erwiderte Koschny gelassen. »Eigentlich habe ich das Ganze für ziemlichen Blödsinn gehalten.«

»Und warum haben Sie dann Nachforschungen angestellt?«, wollte Dennis wissen.

»Weil ich gerne weiß, wer mich an der Nase herumführen will.« Wieder betrachtete Koschny den Leichnam. »Aber so, wie es aussieht, war an der Sache wohl tatsächlich etwas dran.«

Sven winkte ab. »Hör nicht auf diesen Wichtigtuer.«

»Nein, warte mal«, beharrte Dennis. »Sie glauben also, Jensen wurde ermordet, weil er Informationen an Sie weitergeben wollte?«

»Oder weil er auf etwas gestoßen ist, das nicht für ihn bestimmt war.«

»Ja, und das Ihnen die Story Ihres Lebens beschert, nicht wahr? Nur darum geht es Ihnen doch.«

»Wenn Sie meinen. Ich wollte nur helfen.«

»O bitte, tun Sie nicht so gönnerhaft«, sagte Sven. »Ich weiß genauso gut wie Sie, was Ihre wahren Motive sind.«

Koschny trat einen Schritt auf ihn zu. »Tja, dann wissen Sie ja sicher auch, dass Jensen in demselben Pflegeheim gearbeitet hat wie Ihre Frau.« Mit gespielter Bestürzung hielt er sich die Hand vor den Mund. »Uups«, hauchte er und sah Sven unverwandt in die Augen. »Oder sollte ich lieber sagen: Ihre zukünftige Exfrau?«

Sven wollte auf ihn losgehen, doch Dennis gelang es in letzter Sekunde, ihn zurückzuhalten.

»Schwingen Sie Ihren Arsch sofort hinter die Absperrung, Koschny«, zischte Sven, »oder ich lasse Sie auf der Stelle verhaften.«

»Tja, wie’s aussieht, sind Sie immer noch ziemlich voreilig, was Verhaftungen betrifft. Aber keine Bange«, meinte Koschny, »ich sehe keinen Grund, noch länger hierzubleiben. Denn anscheinend weiß ich ohnehin mal wieder mehr als Sie, Herr Kommissar.«

Dennis hatte alle Hände voll zu tun, Sven im Zaum zu halten, während Koschny hinter die Absperrung trat und zwischen den Schaulustigen verschwand.

»Jetzt reg dich ab«, sagte Dennis. »Er ist weg.«

»Lass mich«, schnappte Sven und riss sich los.

»Hey, es gibt keinen Grund, auf mich sauer zu sein«, verteidigte sich Dennis.

»Ach nein? Ist dir vielleicht irgendwie entfallen, mir zu sagen, dass der Tote in dem Pflegeheim gearbeitet hat?«

»Nein«, entgegnete Dennis gereizt. »Das wusste ich selbst nicht.«

»Na toll!« Sven ging geradewegs auf die Leiche zu und kniete neben ihr nieder. Er schlug das rot befleckte Tuch zurück – und einen kurzen Moment lang glaubte er, in das aufgequollene Gesicht von Edmund Heibel zu blicken, war sich beinahe sicher, das geflochtene Seil zu erkennen, das noch immer um seinen Hals geschlungen war. Erschrocken fuhr er zurück, bis sich das Trugbild schlagartig auflöste und er in Erik Jensens blutverschmiertes Gesicht blickte. Die Augen waren geschlossen. An seiner Stirn klaffte eine tiefe Platzwunde, und seine langen braunen Haare klebten blutgetränkt an dem zerschmetterten Schädel.

»Ziemlich hässlicher Kerl, was?«, sagte Dennis. »Kennst du ihn etwa?«

»Nur flüchtig«, erwiderte Sven, aus dessen Blick alle Gleichgültigkeit verschwunden war. Er bedeckte das Gesicht des Toten wieder und erhob sich. »Als Sandras Wagen vor zwei Monaten zur Inspektion war, habe ich ihn öfter im Heim gesehen, wenn ich sie manchmal abends von der Arbeit abgeholt habe. Hat nicht gerade einen sympathischen Eindruck gemacht.«

»Laut den Aussagen der übrigen Hausbewohner war er das auch nicht«, sagte Dennis. »Jensen galt als unfreundlich und rücksichtslos. Es gab mehrfach Beschwerden wegen zu lauter Musik aus seiner Wohnung. Als der Vermieter ihn vor ein paar Tagen darauf angesprochen hat, soll Jensen ihm sogar mit Prügel gedroht haben.«

»Ideale Voraussetzungen, um in einem Pflegeheim zu arbeiten«, bemerkte Sven sarkastisch.

»Ja, irgendwas passt hier nicht zusammen.«

»Was ist mit Angehörigen?«

»Bis jetzt konnten wir noch keine finden«, sagte Dennis.

»Was denn, der Junge war erst neunzehn. Da muss es doch irgendwelche Verwandten geben.«

»Seine Akte wird uns sicher mehr Auskunft geben. Aber die Nachbarn beschreiben Jensen als Einzelgänger. Keinerlei Hinweise auf Freunde oder sonstige Kontakte. Bis auf das hier.« Er zog einen Plastikbeutel aus der Innentasche seines Sakkos und reichte ihn Sven. »Ich habe vorhin nichts davon erwähnt, wegen Koschny.«

Sven betrachtete den Gegenstand in dem Beutel. »Ein Notizbuch?«

»Ja. Wir haben es bei dem Toten gefunden. Er hat es so fest umklammert, dass wir ihm beinahe die Finger brechen mussten. Hatte fast den Eindruck, er wollte, dass wir es finden.«

»Demnach war er nicht auf der Stelle tot.«

»Nein. Er hat sich sogar noch ein Stück die Straße runtergeschleppt, was bei der Schwere seiner Verletzungen beinahe unmöglich erscheint.«

»Steht denn was Verwertbares darin?«

»Sag du’s mir. Keinerlei Eintragungen bis Ende Juni diesen Jahres, aber dann wird’s umso merkwürdiger. Sieh selbst.«

Sven nahm das blutverkrustete Notizbuch und schlug es etwa in der Mitte auf. Rasch überflog er die krakelige, fast kindliche Handschrift unter den Datumsangaben:

Montag, 26. Juni

CD8/13-CP

Code?

Angestrengt folgten Svens Augen den schwer leserlichen Zeilen. Er war eindeutig zu erschöpft für solche Rätsel. Trotzdem packte ihn die Neugier, und er las weiter:

Donnerstag, 29. Juni

Passwort: »Levy«

Columbus-Projekt??

Verwirrt blickte er auf.

Dennis zuckte lediglich die Schultern. »Es wird noch merkwürdiger.«

Sven senkte den Blick wieder auf das Notizbuch:

Montag, 2. Juli

21:00 N.N. – Inesco!

Mittwoch, 11. Juli

WWSG368 – Umbra.

Freitag, 13. Juli

RMK: 90500 Coeo.

Samstag, 28. Juli

1492!

Dieser letzte Eintrag war doppelt unterstrichen. Sven blätterte einige Seiten vor, konnte jedoch keine weiteren Notizen finden.

»Samstag, 28. Juli«, flüsterte Sven. »Das ist übermorgen.«

»Kannst du dir einen Reim auf das Ganze machen?«, fragte Dennis.

»Nein.« Kopfschüttelnd reichte Sven ihm das Notizbuch zurück. »Aber du hast mich überzeugt. Lass uns ein paar Fragen stellen.«

»Gut«, sagte Dennis und gab sich dabei Mühe, nicht zu triumphierend zu klingen. »Dann fangen wir morgen früh gleich mit dem Altenheim an.«

Sven schaute nachdenklich zu Boden.

»Soll ich das lieber allein erledigen?«

»Nein, ist schon gut«, winkte Sven ab. »Ich komme mit. Wird sich auf Dauer ohnehin kaum vermeiden lassen, dass wir uns über den Weg laufen.«

»Ruf sie doch einfach an, und versuch, das Ganze wieder ins Lot zu bringen«, schlug Dennis vor.

»Das würde ich vielleicht sogar tun, wenn ich wüsste, wo sie ist. Vermutlich hängt sie bei diesem religiösen Verein rum, bei dem sie in letzter Zeit ständig ist.« Sven stieß einen tiefen Seufzer aus und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Er war müde und sehnte sich danach, diese fremd gewordene Welt für ein paar Stunden zu verlassen. »Ich verschwinde jetzt besser«, sagte er und rieb sich die Augen. »Werde versuchen, noch ein wenig Schlaf nachzuholen. Wir sehen uns dann morgen.«

»Ist das deine charmante Art zu sagen: ›Kümmere du dich um den Bericht‹?«

»Gut übersetzt«, schmunzelte Sven. »Das hier ist deine Show.«

»Na schön«, gab sich Dennis geschlagen. »Kannst du mich wenigstens morgen früh abholen? Mein Auto hat den Geist aufgegeben.«

»Kein Problem«, sagte Sven.

»Prima. Aber tu mir bitte einen Gefallen.«

»Klar, was denn?«

»Verbrenn vorher das Hemd.«

Sven winkte lächelnd und ging zurück zu seinem Wagen. Während die Stimmen hinter ihm langsam verhallten, überkam ihn plötzlich Angst vor der Einsamkeit seines Schlafzimmers. In diesem Moment hätte er lieber die ganze Nacht hindurch Berichte geschrieben.

3

 

 

 

 

 

 

 

Der nächste Tag schien noch heißer zu werden. Als Sven am Morgen seinen Wagen vor Dennis’ Haus abstellte, war die Luft bereits zum Schneiden. Wie schon die Nächte zuvor hatte er schlecht geschlafen, und seine Augäpfel schienen zu eng in ihren Höhlen zu liegen.

Dennis wohnte in einem kleinen Einfamilienhaus in einem Dreihundert-Seelen-Dorf. Ein kurzes Glockenspiel erklang, als Sven auf die abgewetzte Klingel neben dem kaum leserlichen Namensschild drückte.

»Sven?«, ertönte es dumpf aus einem kleinen Kellerfenster links neben dem schmalen Treppenabsatz. »Bist du’s?«

»Wen hast du denn erwartet, das Playmate des Monats? Hast du etwa vergessen, dass ich dich abholen sollte?«

»Nein. Mir ist hier unten nur was – na ja, dazwischengekommen«, rief Dennis und schob den Kopf aus der schmalen Fensteröffnung. »Komm rein, die Tür steht auf Drücker.«

Als Sven das Haus betrat, war er zum wiederholten Male überrascht, wie groß es wirkte. Helle Farben und spärliches, überwiegend rustikales Mobiliar ließen es von innen geräumiger erscheinen, als auf den ersten Blick zu vermuten war. Er ging den kleinen Korridor entlang, an dessen Ende sich eine halboffene Tür befand. Dahinter führte eine Steintreppe in den hell erleuchteten Keller hinab. Ein säuerlicher Geruch stieg Sven in die Nase, als er die Stufen hinabstieg. Nur mit Sportshorts bekleidet kniete Dennis an der hinteren Wand vor einem grauen Kasten und hantierte mit einem Schraubenschlüssel in dessen Innenleben herum.

»Willkommen in meiner Gruft«, sagte er, als er Sven erblickte. »Komm ruhig runter, es dauert noch einen Moment.«

»Was zum Henker treibst du da?«

»Ach, irgendwas stimmt mit diesem verdammten Heizungskasten nicht. Dieses klapprige Fossil stand vermutlich schon da, als sie den Grundstein für das Haus gelegt haben. Ich wette, die haben die Hütte um dieses Scheißding herumgebaut.«

»Wo liegt denn das Problem?«, wollte Sven wissen.

»Der Brenner geht immer wieder aus. Nicht dass es mir bei dieser Hitze viel ausmachen würde, jeden Morgen eiskalt zu duschen, aber das Fatale an der Sache ist, dass die Gaszufuhr nicht unterbrochen wird. Liegt bestimmt am Ventil, oder was auch immer das hier sein soll.«

»Vielleicht solltest du lieber einen Fachmann holen.«

Dennis lachte laut auf. »Hast du mal versucht, während der Ferienzeit einen Handwerker aufzutreiben? Da stehen deine Chancen besser, den Heiligen Gral zu finden. Ich hab den Kasten jetzt erst mal lahmgelegt. Das sollte mich vor weiteren Gasattacken schützen. Für alle Fälle lasse ich aber immer das Kellerfenster offen.« Er legte den Schraubenschlüssel beiseite und drehte sich zu Sven um. »Und wie war dein Morgen?«

»Seit gestern hat sich nicht viel geändert.«

»Na, ich weiß nicht.« Er zeigte auf Svens Hemd. »Wie ich sehe, hast du das Ding nicht verbrannt.«

»Nein, aber gebügelt.«

»Vielleicht hättest du das auch mit deinen Augen machen sollen.«

»Wahnsinnig witzig«, knurrte Sven grimmig.

»Mach dir nichts draus«, meinte Dennis. »Meine Nacht war auch ziemlich kurz. Zuerst habe ich noch bis zirka zwei Uhr an dem Bericht gesessen, und heute Morgen hat mich diese Antiquität hier auf Trab gebracht. Ich sage dir, es gibt kein besseres Mittel, um morgens den Kreislauf in Schwung zu bringen, als den betörenden Duft von ausströmendem Gas. Ich schätze, ich hab vorhin den inoffiziellen Weltrekord im Treppenlaufen ohne festes Schuhwerk hingelegt.«

»Du hast also tatsächlich gestern noch den Bericht geschrieben?«

»Na ja, nach der ganzen Aufregung hätte ich sowieso nicht schlafen können. Warum also die Zeit nicht sinnvoll nutzen?«

»Das sieht dir ähnlich«, bemerkte Sven, für den Dennis’ ungeduldiger Enthusiasmus nichts Ungewöhnliches war.

»Hast du schon gefrühstückt?«

»Nein«, erwiderte Sven. »Ich habe morgens nicht sonderlich viel Appetit.«

»Was hältst du dann von einer Tasse Kaffee? Dürfte uns beiden guttun. Dabei können wir uns auch gleich Jensens Akte vornehmen.«

»Was denn, die ist hier bei dir?«

»Ja, ich dachte, das erspart uns eine Menge Zeit und unnötige Fahrerei.«

»Gibt es eigentlich Momente, wo du mal entspannst?«

»Nur, wenn ich rauchend neben einer Frau im Bett liege.« Dennis grinste auf seine ganz eigene Art; dabei sah er immer aus wie ein betrunkener Heiliger.

»Ich dachte, du wolltest es dir abgewöhnen. Das Rauchen, meine ich.«

»Danke, dass du mich daran erinnerst. Ich könnte für eine einzige Zigarette jemanden umbringen.« Dennis verstaute Schraubenschlüssel und Zangen geräuschvoll in einem Werkzeugkasten und deponierte ihn unter einer kleinen Werkbank. »Also gut«, verkündete er voller Tatendrang, »an die Arbeit. Ich brauche etwas, das mich ablenkt.«

»Geht mir ähnlich.« Sven musste plötzlich feststellen, dass Liebe und Zigaretten eines gemeinsam hatten: Beides verursachte starke Entzugserscheinungen. »Tu mir nur einen Gefallen«, fügte er hinzu. »Bevor wir gleich in dieses Altenheim fahren, ruf bitte im Präsidium an und sag denen, dass wir uns an die Sache von gestern Abend dranhängen, damit wir wenigstens so etwas Ähnliches wie einen dienstlichen Auftrag haben.«

»Mach ich.« Dennis schloss die Klappe des grauen Heizungskastens und wischte sich die Finger an einem Lappen ab. »Ach, übrigens: Däumling hat heute Geburtstag.«

»Martin Daum, der Leiter der Spurensicherung?«

»Kennst du noch einen Däumling? Die Jungs und ich haben gesammelt und eine kleine Überraschung besorgt. Machst du mit?«

»Klar«, sagte Sven. »Solange das Ganze nicht wieder ausartet wie bei Rathkes Geburtstag.«

»Die Nummer mit dem Stripper ist doch bombig angekommen.« Dennis konnte sich das Grinsen nicht verkneifen. »Hast du Rathkes gierigen Blick nicht gesehen, als der Kerl ihm seinen Tanga über den Kopf gestülpt hat?«

»Ja«, feixte Sven. »Und dann sein Gesicht, als der Alte aufgetaucht ist … Das wird schwer zu toppen sein.«

»Komm, lass uns endlich aus diesem Loch verschwinden«, sagte Dennis. »Im Gegensatz zu dir habe ich nämlich morgens einen Bärenhunger. Und nach dem Frühstück statten wir Jensens Arbeitgeber einen kleinen Besuch ab. Irgendwie hab ich das Gefühl, dass wir nicht willkommen sein werden.«

Etwa zwanzig Minuten nach neun fuhren Sven und Dennis auf den Parkplatz des Pflegeheimes. Die Sonne heizte die Landschaft auf, als läge sie unter einer unsichtbaren Kuppel. Die aufsteigende Hitze ließ die Luft flimmern, so dass die Wälder und Wiesen, die sich kilometerweit in jede Richtung erstreckten, nur undeutlich zu erkennen waren.

Das Heim wirkte in der naturbelassenen Umgebung wie ein Fremdkörper. Es war ein modernes, kantiges Gebäude mit zwei mächtigen Seitenflügeln, die mit Dutzenden von Giebeln und Balkonen versehen waren. Die riesige Anlage lag etwas abseits der abfallenden Landstraße und war an drei Seiten von blühendem Grün umgeben.

Sven schloss den Wagen ab und ließ den Blick hinter der Sonnenbrille nervös über den Parkplatz gleiten. Sandras blauer Renault war nirgends zu entdecken. Ein Teil von ihm war erleichtert.

Sie gingen zum Haupteingang in der Mitte des U-förmigen Gebäudes. Die weiße Fassade und die vielen Fenster reflektierten das grelle Sonnenlicht, und Dennis kniff trotz Sonnenbrille die Augen zusammen, als er auf das Schild neben der kleinen Treppe blickte.

SENIOREN- UNDPFLEGEZENTRUMWALDESRUH.

Als sie die kleine Empfangshalle betraten, wurde das Geräusch ihrer Schritte augenblicklich von dem weichen dunkelgrauen Teppichboden verschluckt, und angenehme Kühle schlug ihnen entgegen. Svens Blick fiel auf einige Bilder, die an den rau verputzten Wänden hingen und für seinen Geschmack etwas zu modern für ein Altenheim waren.

Auf der rechten Seite befand sich ein kleiner, halbrunder Empfangstresen, hinter dem eine rundliche Frau in weißer Schwesterntracht stand. Ein Namensschild an ihrem mächtigen Busen wies sie als Schwester Kathrin aus. Als sie Sven erblickte, lächelte sie. »Hallo, Herr Becker. Sie habe ich ja schon lange nicht mehr hier gesehen.« Sie schob die Unterlagen, die sie studiert hatte, beiseite. »Ich hoffe, Sie wollen nicht zu Ihrer Frau. Die hat sich heute frei genommen, wegen einem Termin. Aber was rede ich denn da?« Sie wischte mit der Hand durch die Luft, als wollte sie den Satz wieder ausradieren. »Das wissen Sie ja sicher.«

»Äh, ja, natürlich«, beteuerte Sven und versuchte seine Verlegenheit zu überspielen. Anscheinend hatte sich noch nicht herumgesprochen, wie es um seine Ehe stand. Was Sven ziemlich überraschte, da Koschny bereits davon wusste. »Nein, wir sind dienstlich hier. Das hier ist mein Kollege, Kommissar Bergmann. Wir würden gerne mit dem Heimleiter sprechen.«

»Ach, Sie meinen Herrn Hofer.« Schwester Kathrins Stimme klang freundlich und sanft, es schien sie nicht im Geringsten zu interessieren, um was es ging. »Die Verwaltung ist im Hauptgebäude, in der obersten Etage«, sagte sie. »Gehen Sie einfach weiter den Gang entlang, da finden Sie die Aufzüge.«

Auf dem Korridor, der an den Flur eines Luxushotels erinnerte, kamen ihnen einige ältere Leute entgegen, manche im Rollstuhl, andere mit Krücken oder Gehhilfen. Während die beiden auf einen der Fahrstühle warteten, studierte Dennis fasziniert den Grundriss des Gebäudes, der gegenüber auf einer zwei mal drei Meter großen Bildwand zu bestaunen war. Den Erläuterungen zufolge war das Heim vor vier Jahren eröffnet worden und bot Platz für 194 Bewohner, die in den Seitenflügeln untergebracht waren. Etwa ein Viertel der Heimbewohner waren Pflegefälle. Dem Grundriss nach waren die Räume für die medizinische und physiotherapeutische Betreuung der Patienten im Mittelteil des Gebäudes zu finden.

»Ganz nett hier, was?«, stellte Dennis nüchtern fest.

»Kann man so sagen«, brummte Sven.

»Kostet bestimmt ein Vermögen.«

»Nein. Sandra hat gesagt, die Unterbringungskosten unterscheiden sich kaum von denen anderer Heime.«

»Schwer vorstellbar«, meinte Dennis.

Ein leises elektronisches Klingeln kündigte die Ankunft des Fahrstuhls an. Wenige Augenblicke später standen beide im Vorzimmer von Hofers Büro. Seine Sekretärin, die sich als Sonja Winter vorstellte, kündigte sie an.

Dennis fiel es schwer, den Blick vom wohlgeformten Körper der jungen Frau abzuwenden, der von einer weißen Bluse und einem engen, knielangen Rock reizvoll zur Schau gestellt wurde.

»Sie müssen sich noch einen Augenblick gedulden«, sagte die Sekretärin höflich. »Bitte nehmen Sie doch einen Moment Platz.« Sie deutete auf eine kleine Sitzgruppe vor einer Wand aus farbigen Glasbausteinen in der linken Ecke des Raumes. »Kann ich Ihnen einen Kaffee anbieten?«, erkundigte sie sich, während die beiden sich setzten.

Dennis bejahte die Frage.

»Wie hätten Sie Ihren Kaffee denn gern?«

»Am liebsten heiß«, scherzte Dennis. »Und in einer Tasse, das wäre nicht schlecht.«

Sie schenkte ihm ein atemberaubendes Lächeln und verschwand in einem kleinen Nebenraum. Gleich darauf kam sie zurück.

»Bitte sehr«, sagte sie lächelnd und reichte Dennis eine Tasse mit dampfendem Kaffee, während er den Blick im Ausschnitt ihrer Bluse umherwandern ließ.

Sven dachte über das bevorstehende Gespräch mit Hofer nach. Jensens polizeiliche Akte hatte nur weitere Fragen aufgeworfen, und Sven war gespannt auf die möglichen Antworten.

Kurz darauf ertönte undeutlich eine kratzige Stimme aus der Sprechkonsole neben dem Telefon.

»Sie können jetzt hineingehen«, sagte die Sekretärin.

»Allmählich komme ich mir vor, als hätten wir einen Termin beim Schah von Persien«, raunte Dennis seinem Kollegen zu, als sie sich erhoben.

Peter Hofer kam strahlend auf sie zu und gab ihnen die Hand. »Becker?«, wiederholte er, nachdem sie sich vorgestellt hatten. »Woher kenne ich den Namen?«

»Ich nehme an, von meiner Frau, Sandra Becker«, antwortete Sven und wunderte sich, dass ihm der Name so leicht über die Lippen ging. »Sie arbeitet bei Ihnen, als Ernährungsberaterin.«

»Ja, richtig«, fiel es Hofer wieder ein. »Schön, Sie endlich einmal persönlich kennenzulernen. Tut mir leid, dass Sie warten mussten, ich hoffe, meine Sekretärin hat sich um Sie gekümmert.«

»Sie macht ausgezeichneten Kaffee«, bemerkte Dennis.

Sven wunderte sich über Hofers dürftige Erscheinung. Er hatte einen hochgewachsenen, selbstsicheren Geschäftsführer erwartet. Stattdessen stand ihm ein nervöser, hektischer Mann mit Halbglatze und der Statur eines Magersüchtigen gegenüber.

Hofer führte sie an einen runden Tisch, und sie setzten sich.

»Nun, meine Herren, was führt Sie zu mir?«

»Es geht um einen Ihrer Mitarbeiter, Erik Jensen«, erklärte Sven. »Wie aus seinen Unterlagen hervorgeht, arbeitet er für Sie.«

»Nun, so würde ich es vielleicht nicht direkt bezeichnen«, meinte Hofer. »Er leistet hier seinen Zivildienst ab. Zu meinem Bedauern wird er wohl einer der Letzten sein, nachdem die Politik uns diese Unterstützung gestrichen hat.« Er bemerkte die ernsten Mienen der beiden Polizeibeamten. »Was ist denn mit Jensen?«, fragte er besorgt. »Ich hoffe, er hat nicht wieder irgendeine Dummheit angestellt.«

Sven wechselte einen kurzen Blick mit Dennis, dann wandte er sich wieder dem Heimleiter zu. »Wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass Erik Jensen tot ist. Er wurde gestern Abend vor seiner Wohnung von einem Auto erfasst.«

Hofers glatte Gesichtszüge wirkten plötzlich wie versteinert. Entsetzt huschte sein Blick zwischen Sven und Dennis hin und her. »O mein Gott, das … das ist ja … das ist ja furchtbar«, brachte er nur stotternd heraus. »Bitte entschuldigen Sie mich, ich …«

Er stand auf und eilte in die Toilette neben dem Büro.

Sven und Dennis sahen ihm verwundert nach. Kurz darauf war das Geräusch eines laufenden Wasserhahns durch die halboffene Tür zu vernehmen. Wenig später betrat Hofer wieder den Raum. In den Händen hielt er ein weißes Frotteehandtuch, mit dem er sich das Gesicht abtrocknete. Er entschuldigte sich abermals.

»Alles in Ordnung?«, fragte Sven.

»Ja, es geht schon wieder, danke.« Hofers Gesicht war kreidebleich.

»Ihrer Reaktion nach zu urteilen, haben Sie und Jensen sich näher gekannt«, mutmaßte Dennis.

Hofer legte das Handtuch über eine Stuhllehne und ging zu seinem Schreibtisch. Er öffnete eine Schublade und kramte nervös darin herum. »Wissen Sie, es … es ist nur der Schock. Nach all diesen Problemen in seiner Vergangenheit schien er endlich auf dem richtigen Weg zu sein, und nun das.«

»Nun, ehrlich gesagt wundern wir uns ein bisschen, was einer wie er hier verloren hatte.«

»Einer wie er? Sie meinen, ein vorbestrafter Halbstarker?« Hofer kam an den Tisch zurück. In seiner Hand hielt er ein silbernes Etui. Er klappte es auf und hielt es den beiden hin.

»Nein, danke«, sagte Sven. »Ich rauche nicht.«

Gierig starrte Dennis die Zigaretten an. »Und ich versuche gerade, es mir abzugewöhnen.«

»Dann stört es Sie doch hoffentlich nicht? Normalerweise rauche ich im Büro nicht, aber jetzt kann ich wirklich eine Zigarette vertragen.«

Sven bemerkte, dass Hofers Hand leicht zitterte, als sie das Feuerzeug betätigte.

»Also«, sagte Hofer, während er Rauchschwaden in die klimatisierte Luft blies, »um auf Ihre Frage zurückzukommen: Jensen war sicher kein Unschuldslamm, aber er konnte arbeiten. Und er hat sich hier den alten Leuten gegenüber immer korrekt verhalten, darauf habe ich persönlich geachtet.«

»Das entspricht nicht gerade dem Bild, das wir von Erik Jensen haben«, entgegnete Dennis. »Seine Nachbarn haben ihn als egoistisch und unfreundlich beschrieben. Sogar seine ehemaligen Lehrer sagten, er wäre oft zu spät gekommen und hätte regelmäßig den Unterricht gestört.«

»Weil er dort nicht ausreichend gefordert wurde, wenn Sie mich fragen.« Hofer machte eine Pause und zog ausgiebig an seiner Zigarette, als suche er nach den passenden Worten, um seine These zu untermauern. »Sehen Sie, im Gegensatz zu dem, was die meisten Leute von ihm dachten, war Erik Jensen ein sehr intelligenter junger Mann. Sein Problem lag eher darin, dass die Leute ihm nichts zugetraut und ihn für einfältig gehalten haben. Deshalb war er vielleicht etwas … nun ja, unbeherrscht. Vermutlich brauchte er einfach eine anspruchsvollere Beschäftigung. Wissen Sie«, fuhr er fort, »ich bin sozial ein sehr engagierter Mensch, wie Sie an meiner Arbeit erkennen können, und ich versuche immer, das Gute in einem Menschen zu sehen. Und was das anging, schien mir Erik Jensen eine Menge Potenzial zu haben; er war im Grunde kein schlechter Mensch.«

»Dagegen spricht die Anzeige wegen schwerer Körperverletzung in seiner Akte«, konterte Dennis.

»Davon ist mir nichts bekannt.«

»Tja, anscheinend war er wohl doch nicht so ausgefüllt, wie Sie dachten. Einen Mann derart zu verprügeln, dass er anschließend mit der Schnabeltasse ernährt werden muss, spricht nicht gerade für einen gutmütigen Charakter. Eher untypisch für einen Kriegsdienstverweigerer, finden Sie nicht?«

»Entschuldigen Sie«, sagte Hofer, »aber wie war doch gleich Ihr Name, Herr Kommissar?«

»Bergmann.«

»Nun, Herr Bergmann, ich bin nicht verantwortlich dafür, was meine Mitarbeiter in ihrer Freizeit tun. Ich habe auch nie behauptet, dass er ein Heiliger war. Mir waren weder sein soziales Umfeld noch seine Gepflogenheiten bekannt. Ich denke, es waren wohl eher seine persönlichen Umstände, die es Jensen schwer gemacht haben, sich anzupassen.«

»Sie meinen seine familiären Verhältnisse?«, fragte Sven.

»Ja. Sein Vater hat die Familie kurz nach seiner Geburt verlassen, und seine Mutter war stark depressiv. Sie hatte wohl nicht viel für ihn übrig. Er war zwei Jahre im Heim. Na ja, Sie wissen ja, wie das ist.«

»Es würde mich interessieren, was genau Erik Jensen hier eigentlich gemacht hat«, bemerkte Dennis, nachdem er Hofer einige Zeit eingehend betrachtet hatte.

Erneut zog Hofer an seiner Zigarette. »Nun, in erster Linie Aushilfsarbeiten. Er hat bei der Essensausgabe geholfen und war für die Sauberkeit im Labor verantwortlich. Aber er wurde auch zur Patientenbetreuung eingesetzt, meistens bei den Pflegefällen. Natürlich immer unter der Aufsicht von geschultem Personal.«

»Natürlich.«

»Was sollen eigentlich all diese Fragen?« Nervös drückte der Heimleiter seine Zigarette in dem großen Marmoraschenbecher aus. »Stehe ich etwa unter Verdacht?«

»Niemand steht hier unter Verdacht«, beschwichtigte Sven. »Wir versuchen lediglich, mehr über Jensens Umfeld in Erfahrung zu bringen. Da die Umstände seines Todes noch nicht eindeutig geklärt sind und Jensen keine uns bekannten Angehörigen oder Freunde hatte, müssen wir uns an Sie als seinen Arbeitgeber wenden. Das ist reine Routine.«

»Ungeklärte Umstände?« Hofers Nervosität nahm merklich zu. Er zündete sich eine neue Zigarette an. »Sie haben doch vorhin gesagt, Jensen wäre angefahren worden.«

»Das ist richtig«, bestätigte Sven. »Es gibt da allerdings noch einige Ungereimtheiten.«

»Und eine davon ist Jensens Verbindung zu Ihrem Heim«, fügte Dennis hinzu.

»War es denn ein Unfall?«, fragte Hofer, als hätte er die Bemerkung nicht gehört. »Ich meine … haben Sie den Fahrer?« Er rollte die Zigarette nervös zwischen den Fingern hin und her.

»Nein«, sagte Sven. »Der Fahrer des Wagens ist noch immer flüchtig.«

»Entsetzlich. Eine wirklich schlimme Sache«, beteuerte Hofer mit Nachdruck. Trotzdem schien ihn diese Antwort eher zu beruhigen.

Sven stand auf und ging einige Schritte in dem geräumigen Büro umher. »Hatte Jensen sonstige Verwandte?«

»Nein. Jedenfalls sind mir keine bekannt.«

»Freunde oder Bekannte, mit denen er sich getroffen hat?«

»Wie schon gesagt, sein Umfeld war mir nicht bekannt. Bei einem Mann wie ihm ist das auch schwer zu sagen. Er war ein Einzelgänger, schwer zu durchschauen.«

Sven betrachtete Hofers Schreibtisch. Es war der ordentlichste Arbeitsplatz, den er je gesehen hatte. Bis auf eine einzelne Computer-CD, die neben dem Monitor lag, war alles an seinem Platz und farblich aufeinander abgestimmt. Selbst die schwarze Schreibunterlage aus Leder schien auf den Millimeter genau ausgerichtet worden zu sein. Kein Staub, keine Tassenränder. Nicht einmal ein Fingerabdruck war auf der dunklen Tischplatte zu erkennen.

Er trat vor das große Giebelfenster, von dem aus man den Parkplatz sehen konnte. Rechts und links wurde das Blickfeld durch die mächtigen Seitenflügel des Gebäudes eingegrenzt, die sich wie zwei riesige kantige Roboterarme schützend um den Parkplatz legten.

»Wirklich eine beeindruckende Anlage, die Sie hier betreiben«, bemerkte Sven.

»Ja, nicht wahr?«, stimmte Hofer zu und trat neben ihn ans Fenster. »Wir dürfen uns nicht zu Unrecht als größte und modernste Einrichtung dieser Art im ganzen Westerwald bezeichnen.« Seine Stimme überschlug sich beinahe. »Wir sind bestrebt, den Bewohnern das Gefühl zu vermitteln, dass sie hier in einem Hotel untergebracht sind, nicht in einem Altenheim. Es soll den alten Menschen hier an nichts fehlen. Vom Spezialitätenrestaurant bis zum hauseigenen Schwimmbad steht ihnen alles zur Verfügung. Und für unser eigens entwickeltes medizinisches Betreuungs- und Versorgungsprogramm haben wir schon mehrere Auszeichnungen erhalten.« Er deutete auf drei Urkunden an der rechten Wand.

Sven nickte beeindruckt. »Gibt es unter diesen ganzen medizinischen Programmen auch ein Projekt namens Columbus?«, fragte er, ohne Hofer anzusehen.

Einen Augenblick lang war nur das leise Summen der Klimaanlage zu hören. Es war, als wäre Sven allein im Raum.

»Hm … nein. Jedenfalls ist mir nichts dergleichen bekannt. Was soll denn das für ein Projekt sein?«

Sven drehte sich wieder zu Hofer um. Der Mann musste mindestens Mitte vierzig sein, doch mit seinen großen fragenden Augen und dem fast knabenhaften Körperbau sah er aus, als wäre er gerade eben alt genug, sich selbst ein Bier zu bestellen. »Nun, wir hatten eigentlich gehofft, dass Sie uns das sagen können.«

»Und wie kommen Sie darauf?«

»Wir haben ein Notizbuch bei Jensen gefunden, in dem er ein Projekt dieses Namens erwähnt. Wir dachten, es hätte vielleicht etwas mit seiner Arbeit hier zu tun.«

»Da muss ich Sie leider enttäuschen«, bedauerte Hofer lächelnd. »Wir haben hier zwar einige herausragende Experten, aber der Entdecker eines neuen Kontinents war bislang noch nicht darunter.«

Sven war zwar nicht nach Lächeln zumute, doch er tat es aus Höflichkeit. »Nur aus reiner Neugier: Wie viele Angestellte beschäftigen Sie?«

»Na ja, so ganz genau weiß ich das selbst nicht. Neben den üblichen Verwaltungsangestellten und dem Küchenpersonal arbeiten hier etwa dreißig Schwestern und Pfleger. Außerdem beschäftigen wir natürlich eine ganze Reihe von hoch qualifizierten medizinischen Fachkräften, unter anderem einen Arzt für Allgemeinmedizin, der sich auf Wunsch um die kleineren Wehwehchen unserer Heimbewohner kümmert.« Hofer strahlte. »Tja, und natürlich Ihre Frau. Sozusagen die gute Seele unseres Hauses. Sie hat maßgeblich zum Erfolg des Heimes beigetragen. Hat sie Ihnen nie davon erzählt?«

Sven hätte Hofer für diese indiskrete Frage am liebsten auf der Stelle erwürgt. Doch je mehr er darüber nachdachte, desto klarer wurde ihm plötzlich, dass er nichts über Sandras Tätigkeit wusste oder über die Menschen, mit denen sie zusammenarbeitete. Sicher, sie hatte ihm oft von ihrer Arbeit mit alten Menschen und von diesem Heim erzählt. Doch er hatte es nie für nötig gehalten, ihr zuzuhören. Und allmählich musste er sich eingestehen, dass er ihr eigentlich nie richtig zugehört hatte.

»Doch … natürlich«, sagte er und schlug die Augen nieder. »Aber das alles wirkt noch wesentlich beeindruckender, wenn man es mit eigenen Augen sieht.«

Hofer nickte und grinste zufrieden.

Nun erhob sich auch Dennis. »Tja, dann wollen wir Sie nicht länger aufhalten«, sagte er ein wenig enttäuscht und sah zu Sven herüber. »Es sei denn, mein Kollege hat noch Fragen.«

Sven rührte sich nicht. Wie versteinert starrten seine braunen Augen auf einen Punkt auf Hofers Schreibtisch.

»Sven?«

»Hm!« Erschrocken fuhr er auf.

»Hast du noch Fragen? Sonst lass uns gehen.«

»Äh … ja«, stammelte er geistesabwesend, »nur noch eins.« Er wandte sich an Hofer und wirkte plötzlich wesentlich lebendiger. »Wann genau hat Erik Jensen bei Ihnen angefangen?«

Hofer dachte einen Moment nach. »Das müsste vor etwa neun Wochen gewesen sein, wenn ich mich recht erinnere.«

»Wäre es möglich, die Dienstpläne der letzten zwei Monate einzusehen?«

»Ja … natürlich«, antwortete Hofer verstört. »Aber warum?«

»Nun, wie gesagt, reine Routine.«

»Wenden Sie sich bitte an meine Sekretärin. Sie wird Ihnen Kopien der Pläne aushändigen.« Er begleitete sie zur Tür.

Sven bedankte sich bei Hofer, während Dennis wortlos den Raum verließ. Als er ihm folgen wollte, hielt er plötzlich inne und drehte sich noch einmal um. »Da wäre noch etwas. Ich muss wissen, wo Sie gestern Abend zwischen 22 und 23 Uhr waren.«

Ohne zu zögern, antwortete Hofer: »Meine Frau und ich waren bis etwa halb zwölf bei Freunden. Ich bitte Fräulein Winter, Ihnen die Adresse herauszusuchen, falls Sie die Angaben überprüfen wollen.«

Sven bedankte sich erneut und verließ das Büro.

Die Sonne stand mittlerweile fast senkrecht am blauen Himmel und strahlte so gnadenlos, dass man hätte meinen können, sie wollte die Erde verbrennen. Eine schwache Brise bahnte sich einen Weg durch die vibrierende Luft, doch sie reichte nicht aus, um die Hitze zu lindern.

Als Sven und Dennis das Gebäude verließen, schlug ihnen die schwüle Mittagshitze wie eine Faust ins Gesicht.

»Was willst du eigentlich mit den Dienstplänen?«, fragte Dennis und betrachtete neugierig die beiden Kopien, die Sven in der Hand hielt.

»Das erkläre ich dir, wenn wir wieder im Präsidium sind«, erwiderte Sven knapp.

»Na schön, Mister Geheimnisvoll.« Als sie am Auto angekommen waren, warf Dennis einen strengen Blick über das Wagendach. »Was ist los?«, fragte er. »Du hast im Fahrstuhl kein einziges verdammtes Wort gesagt. Ich gebe ja zu, dass das Gespräch mit Hofer nicht gerade viel gebracht hat. Wahrscheinlich hast du recht, und das Ganze war tatsächlich ein Unfall.«

»Nein, war es nicht.«

Dennis sah ihn entgeistert an. »Hab ich gerade irgendwas verpasst? Was zum Teufel war denn da oben los mit dir?«

»Ich habe in Hofers Büro etwas gesehen, das meine Meinung geändert hat. Steig ein, ich erklär’s dir später.«

Hofer stand am Fenster seines Büros und sah beklommen zu, wie der silberne Opel den Parkplatz verließ. Als der Wagen außer Sichtweite war, wandte er sich ab und ging zurück zu seinem Schreibtisch. Seine schmalen Hände stützten sich Halt suchend auf die massive Tischplatte. Er schloss seine Augen und atmete ein paarmal tief durch.

Plötzlich fuhr er hoch, griff nach der pyramidenförmigen Tischuhr und schleuderte sie mit voller Wucht gegen die Urkunden an der Wand. Zwei der Rahmen zersprangen mit einem dumpfen Klirren und fielen scheppernd zu Boden.

»Verdammt!«, schrie Hofer den kleinen Trümmerhaufen an, als hoffte er, den Schaden dadurch noch verschlimmern zu können.

Die Tür wurde aufgerissen, und seine Sekretärin kam hereingestürzt. »Ist alles in Ordnung?«, fragte sie verängstigt. Ihr verstörter Blick wanderte von Hofers zornigem Gesicht zu den Urkunden, die zerrissen auf den Glasscherben lagen.

»Bitte gehen Sie!« Hofer schnaufte wie ein wütender Stier. »Ich will nicht gestört werden. Und sagen Sie all meine Termine ab.«

»Ja … aber …«

»Raus!«, fuhr Hofer sie an.

Nachdem seine Sekretärin das Büro verlassen hatte, sank er auf den schwarzen Ledersessel hinter seinem Schreibtisch und vergrub das Gesicht in den Händen.

Es hatte angefangen. Und jetzt war es nicht mehr aufzuhalten.

4

 

 

 

 

 

 

 

Die Polizeidienststelle lag unmittelbar an der Bundesstraße 9, die aus dem Zentrum von Koblenz zu den Autobahnen führte. Das Einzige, was den grauen Betonklotz äußerlich von den umliegenden Hotels und Versicherungsgebäuden unterschied, war ein unübersichtlicher Wald aus mächtigen Funkantennen, die wie riesige Stacheln auf dem Dach in den Himmel ragten.

Das Büro von Dennis und Sven war ein heller Raum mit zwei cremefarbenen Schreibtischen und mehreren kopfhohen, vollgestopften Aktenschränken, neben denen ein Flipchart stand. Ein paar Fahndungsplakate und eine große Landkarte der Umgebung hingen an den weißen Wänden.

Sven saß an seinem Schreibtisch, der in puncto Sauberkeit und Ordnung nichts mit dem von Hofer gemein hatte, und studierte die Dienstpläne, die Hofers Sekretärin ihm kopiert hatte.

»Und?« Ungeduldig nippte Dennis an seinem Kaffee.

»So wie’s aussieht«, sagte Sven, »war Jensen die meiste Zeit einem Pfleger namens Thomas Milenz zugeteilt. Jensens Arbeitszeit richtete sich somit nach dessen Schicht.«

»Und was sagt uns das?«, wollte Dennis wissen.

»Das sagt uns, dass wir diesem Milenz mal ein paar Fragen stellen sollten.«

»Du denkst, er kann uns mehr über Jensen sagen?«

Sven nickte. »Aber vielleicht weiß er auch, was genau in diesem Altenheim vorgeht.«

Dennis sah ihn fragend an. »Wie meinst du das?«

»Erinnerst du dich an diese Formel, die Jensen in seinen Aufzeichnungen erwähnt hat?«

Zwischen Dennis’ Augenbrauen wölbten sich zwei kleine Falten auf. »Ja, ich glaube, es war so was wie CL-6 …«

»CD8/13-CP«, korrigierte Sven.

»Und?«

»Wenn ich Jensens Notizen richtig interpretiere, muss die Formel mit diesem Projekt in Zusammenhang stehen. Und wenn dem wirklich so ist, hat Hofer gelogen.«

»Und wie kommst du darauf?«, fragte Dennis gespannt.

»Ich habe auf Hofers Schreibtisch eine CD gesehen, auf der genau die gleiche Bezeichnung stand: CD8/13-CP.«

»Bingo!« Beinahe hätte Dennis sich den Kaffee auf die Hose geschüttet. Er konnte es durch eine geschickte Ausgleichbewegung gerade noch verhindern und stellte den Becher vorsichtshalber auf dem Tisch ab. Dann stand er wie elektrisiert auf und fing an, rastlos hin und her zu wandern. »Ich wusste es! Der Mistkerl war viel zu nervös. Glaubst du, an Koschnys Verdacht ist was dran? Ich meine, dass Jensen auf etwas Illegales gestoßen war?«

Sven stützte die Ellenbogen auf das Durcheinander aus Papieren und Ordnern, das den größten Teil seines Schreibtischs bedeckte. »Ich fürchte, ja.« Er deutete auf zwei Kopien der Einträge aus Jensens Notizbuch. »Jensen schreibt hier von einem Code und einem Passwort. Ich denke, er hat in diesem Heim die Nase in Sachen gesteckt, die nicht für ihn bestimmt waren.«

»Und was ist hiermit?« Dennis tippte auf den Eintrag vom 2. Juni: 21:00 N.N. »Vielleicht hat er sich mit jemandem getroffen?«, überlegte er.

»Ja, das wäre möglich. Ich habe die Uhrzeit mit den Dienstplänen verglichen. Jensen hatte an diesem Tag Frühschicht. Das heißt, er hatte abends frei.«

»Tja, dann müssen wir jetzt nur noch herausbekommen, wer N.N. ist«, bemerkte Dennis sarkastisch. »Inesco. Vielleicht ist das ein Treffpunkt.«

Sven zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Aber ich bin mir fast sicher, dass ich dieses Wort schon einmal gehört habe.«

»Das da könnte immerhin ein Nummernschild aus der Gegend sein«, meinte Dennis und deutete auf den vierten Eintrag. WWSG368.

»Hab ich schon überprüft«, berichtete Sven. »Das Kennzeichen gibt es tatsächlich, und es ist als gestohlen gemeldet.«

»Seit wann?«

»Seit etwas mehr als zwei Wochen.«

»Das käme zeitlich hin.«