Sterntaler - Kristina Ohlsson - E-Book
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Sterntaler E-Book

Kristina Ohlsson

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Beschreibung

Manche Geheimnisse sind so grausam, dass sie einen verstummen lassen … Der dritte Fall für Fredrika Bergman.

Seit vielen Jahren hat die einst gefeierte Kinderbuchautorin Thea Aldrin mit niemandem mehr gesprochen. Doch jeden Samstag schickt ihr ein Fremder einen Strauß Blumen und eine Karte, auf der ein einziges Wort steht: Danke. Dann besucht eine Studentin sie im Pflegeheim – und verschwindet kurz danach spurlos. Zwei Jahre später wird die Leiche der jungen Frau in einem Waldstück in Midsommarkransen gefunden. Daneben: eine weitere Leiche, die schon deutlich länger tief in der Erde liegt. Und schließlich: eine dritte. Welches Geheimnis verschweigt die stumme Autorin?

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Kristina Ohlsson

Sterntaler

Thriller

Deutsch von

Susanne Dahmann

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Die Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel

»Änglavakter« bei Piratförlaget, Stockholm.

Copyright © 2011 der Originalausgabe by Kristina Ohlsson

Published by agreement with Salomonsson Agency

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2013

by Limes Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-08900-9V003

www.limes-verlag.de

Für Pia.

Möge 2011 für Dich und Deine Familie

ein richtig gutes Jahr werden!

»In film murders are always very clean.

I show how difficult it is

and what a messy thing it is to kill a man.«

Alfred Hitchcock

Damals

Premiere

ALSDERFILMANFÄNGT, HATsie keine Ahnung, was sie zu sehen bekommen wird. Ebenso wenig weiß sie, welche schrecklichen Konsequenzen für ihr weiteres Leben der Film und die Entscheidungen haben, die sie hinterher treffen wird.

Sie hat den Projektor auf den Sofatisch gestellt. Die Leinwand hat sie aus der Abstellkammer hervorgekramt und mitten im Zimmer aufgestellt. Damit der Projektor im richtigen Winkel steht, hat sie ein Buch unter den vorderen Teil des Apparats gelegt. Es ist Ira Levins »Der Kuss vor dem Tode«. Sie hat es von einer Freundin zu Weihnachten geschenkt bekommen und sich immer noch nicht getraut, es zu lesen.

Der Projektor zieht den Film ein, und es klingt wie Hagel, der gegen eine Fensterscheibe schlägt. Im Zimmer ist es dunkel, sie ist allein. Warum hat dieser Film sie neugierig gemacht? Sie kann es sich nicht erklären; vielleicht weil sie sich nicht daran erinnern kann, ihn schon einmal gesehen zu haben. Oder weil sie spürt, dass dieser Film nicht ohne Grund vor ihr versteckt worden ist.

Das erste Bild zeigt einen Raum, der ihr bekannt vorkommt. Das Licht ist gedämpft, das Bild nicht ganz scharf. Vor die Fenster des Raumes sind Tücher gehängt; trotzdem findet das Tageslicht seinen Weg hinein. Es sind viele Fenster, und sie scheinen bis zur Decke zu reichen. Der Film läuft weiter, das Bild wird klarer. Eine Tür geht auf, eine junge Frau ist zu sehen. Sie zögert auf der Schwelle, scheint etwas zu sagen. Sie sieht in Richtung Kamera und lächelt unsicher. Das Bild hüpft. Offensichtlich steht die Kamera nicht auf einem Stativ. Jemand scheint sie in der Hand zu halten.

Die Frau betritt das Zimmer und drückt die Tür hinter sich zu.

Als die Tür sich schließt, erkennt sie endlich, wo der Film aufgenommen wurde: im Gartenpavillon ihrer Eltern. Ohne zu wissen, warum, hat sie plötzlich Angst. Sie will den Projektor ausschalten, schafft es aber nicht.

Dann geht die Tür des Pavillons erneut auf, und ein maskierter Mann tritt ein. Er hält eine Axt in der Hand. Als die Frau ihn erblickt, schreit sie und weicht zurück. Sie verschwindet in einem der Tücher, doch der Mann packt sie, damit sie nicht durchs Fenster in den Garten fällt. Er zieht sie in die Mitte des Raumes. Die Kamera wackelt ein wenig.

Dann kommen Bilder, die sie nicht versteht. Der Mann schwingt seine Axt und schlägt sie in die Brust der Frau. Einmal, zweimal. Einmal gegen den Kopf. Dann macht er mit einem Messer weiter und… o mein Gott… Sie liegt leblos auf dem Boden.

Der Film läuft noch ein, zwei Sekunden, dann ist er vorbei. Der Projektor schnattert ungeduldig und verlangt, dass sie ihn ausschaltet und den Film in die Kassette zurückspult.

Doch das kann sie nicht. Ihr Blick bleibt auf die Leinwand geheftet. Was hat sie da gesehen?

Mit steifen Fingern schaltet sie den Projektor ab. Spult den Film zurück. Spielt ihn noch einmal ab. Und noch einmal.

Sie ist sich nicht sicher, ob er echt ist, doch das ist eigentlich ohne Bedeutung. Der Inhalt ist widerlich, und den Mann hinter der Maske hat sie bereits beim zweiten Ansehen erkannt.

Wann wurde er aufgenommen? Wer ist die Frau? Und wo waren ihre Eltern, als jemand in ihren Gartenpavillon eindrang, Tücher vor sämtliche Fenster hängte und dort einen Gewaltfilm drehte?

Es wird Abend, ehe sie einen Entschluss fasst. Sie hat mehr Fragen als Antworten, doch das ändert nichts mehr. Als er den Schlüssel in die Tür steckt und »Hallo, Liebling!« ruft, hat sie sich längst entschieden.

Sie wird nie wieder irgendjemandes Liebling sein.

Und ihr Kind wird niemals einen Vater haben.

Jetzt

2009

aus der Vernehmung des Zeugen ALEXRECHT, 01.05.2009

»Ich habe mehr als mein halbes Leben als Polizist gearbeitet. Das hier ist definitiv der widerlichste Fall, mit dem ich je auch nur im Entferntesten zu tun hatte. Es ist ein Albtraum, ein Inferno des Bösen. Ein Märchen ohne Happy End.«

Dienstag

1

ALSJÖRGENZUMERSTENMAL einen toten Menschen sah, war die Sonne noch nicht einmal eine Stunde am Himmel. Die andauernden Schneefälle des Winters und all die Regenschauer des Frühjahrs hatten die Erde aufgeweicht und die Bäche steigen lassen. Wind und Wetter hatten sich mit vereinten Kräften durch eine Schicht Erde nach der anderen gearbeitet, die die Leiche bedeckte, und schließlich hatte sich zwischen Steinen und Bäumen ein kleiner Krater gebildet.

Dennoch war die Leiche nicht offen sichtbar gewesen. Der Hund war es, der sie ausgrub. Und Jörgen stand wartend im Dickicht.

»Komm, Svante.«

Es war ihm schon immer schwergefallen, sich Gehör zu verschaffen und Respekt einzufordern. Sein Chef hatte darauf in unzähligen Personalgesprächen hingewiesen, und seine Frau hatte ihn aus genau diesem Grund verlassen. »Du machst dich so verdammt klein, dass du unsichtbar wirst«, hatte sie an dem Abend, als sie auszog, zu ihm gesagt.

Und nun stand er in einem ihm fremden Wald mit einem Hund, der ihm nicht gehörte. Seine Schwester hatte darauf bestanden, dass er bei ihr einzog, solange er auf Svante aufpasste. Es drehe sich schließlich nur um eine Woche, und Jörgen könne es doch eigentlich egal sein, wo er in dieser kurzen Zeit wohnte.

Doch darin hatte sie sich getäuscht, das spürte Jörgen mit jeder Faser seines Körpers. Es war überhaupt nicht egal, wo man wohnte. Weder er noch Svante schienen mit diesem Arrangement besonders glücklich.

Zwischen den Bäumen drangen schwache Sonnenstrahlen hindurch und erleuchteten die morgendlich feuchten Bäume zu goldenen Säulen. Still und friedlich. Das Einzige, was störte, war das ewige Wühlen von Svante in dem Erdhaufen. Die Vorderbeine schlugen wie Trommelschlägel auf den Boden, und die Erde spritzte in alle Richtungen.

»Komm schon«, versuchte Jörgen es erneut.

Das klang schon etwas strenger, doch der Hund war taub für seine Bitten und begann vor Eifer oder Frustration zu jaulen. Jörgen seufzte. Mit müden Schritten ging er zu Svante hinüber und tätschelte ihm linkisch den Rücken.

»Hör mal, wir müssen jetzt nach Hause. Schließlich waren wir gestern auch schon hier. Und morgen kommen wir wieder.«

Er wusste genau, wie er sich anhörte. Als redete er mit einem kleinen Kind. Doch Svante war kein Kind, er war ein fast dreißig Kilo schwerer Schäferhund, der die Witterung von etwas aufgenommen hatte, das weitaus interessanter war als der in einem Mooshaufen vor sich hin stampfende müde Bruder seines Frauchens.

Jörgen streckte wieder seine Hand aus, diesmal, um den Hund an die Leine zu nehmen. Sie würden jetzt nach Hause gehen, und wenn er Svante den ganzen Weg zum Haus hinter sich herziehen müsste.

»Du musst ihm zeigen, wer der Chef ist«, hatte seine Schwester gesagt. »Deutlich sein.«

Vogelgezwitscher ließ Jörgen aufschauen. Plötzlich hatte er das unangenehme Gefühl, dass jemand in der Nähe war.

Mit einem Klick war Svante an der Leine, und als sich Jörgen gerade für den letzten Kampf bereitmachen wollte, den Hund nach Hause zu zerren, sah er den Plastiksack, den Svante freigelegt hatte.

Die Kiefer des Hundes gingen auf, die Zähne schlugen durch das Plastik, bissen, zerrten und rissen ein großes Stück heraus.

Eine Leiche?

Ein toter Mensch in der Erde?

»Svante, aus!«, brüllte Jörgen.

Der Hund erstarrte mitten in der Bewegung und trat den Rückzug an. Zum ersten und einzigen Mal gehorchte er seinem zeitweiligen Herrn.

Vernehmung der Zeugin FREDRIKABERGMAN, 02.05.2009, 13:15 Uhr (Tonbandaufnahme) anwesend: Urban S., Roger M. (Vernehmungsleiter 1 und 2), Fredrika Bergman (Zeugin)

US: Können Sie uns von den Ereignissen am späten Nachmittag des 30. April auf Storholmen berichten?

Bergman: Nein.

(Zeugin wirkt verärgert)

US: Nein? Und warum nicht?

Bergman: Ich war nicht dabei.

RM: Aber von den Hintergründen der Ereignisse sollten Sie uns doch berichten können.

(Schweigen)

US: So wie die Dinge liegen, verstößt es gegen das Gesetz, nicht mit uns zusammenzuarbeiten, Fredrika.

(Schweigen)

RM: Im Grunde wissen wir bereits alles, zumindest glauben wir das.

Bergman: Wozu brauchen Sie mich dann noch?

US: Sie wissen genau, Fredrika: Glauben hat in der Polizeiarbeit nichts zu suchen. Und Peder Rydh ist für uns alle drei ein Kollege. Wenn es irgendwelche mildernden Umstände gibt, dann wüssten wir gern davon. Und zwar jetzt.

(Zeugin sieht müde aus)

RM: Die letzten Wochen waren die Hölle für Sie, wir wissen das. Ihr Mann saß in Untersuchungshaft, und Ihre Tochter…

Bergman: Wir sind nicht verheiratet.

RM: Wie bitte?

Bergman: Spencer und ich sind nicht verheiratet.

US: Egal, diese Ermittlung war jedenfalls verdammt anstrengend, und…

Bergman: Sie sind doch bescheuert, verdammt noch mal! Mildernde Umstände? Wie viele davon braucht ihr denn noch? Sein Bruder Jimmy ist tot. Tot! Kapiert?

(Schweigen)

RM: Wir wissen, dass Peders Bruder tot ist. Und wir wissen, dass Peder sich in einer Gefahrensituation befand. Aber die Verstärkung war unterwegs, und nichts weist darauf hin, dass er die Lage nicht unter Kontrolle gehabt hätte. Warum hat er dann geschossen?

(Zeugin weint)

RM: Wollen Sie uns nicht die ganze Geschichte von Anfang bis Ende erzählen?

Bergman: Aber Sie wissen doch schon alles.

US: Nicht alles, Fredrika. Wenn es so wäre, würden wir nicht hier sitzen.

Bergman: Wo soll ich anfangen?

US: Am Anfang.

Bergman: Mit dem Auffinden von Rebecca Trolle?

US: Ja, das wäre ein guter Anfang.

(Schweigen)

Bergman: Dann fange ich da an.

2

KRIMINALKOMMISSARTORBJÖRNROSSSTANDREGLOS unter den Bäumen bei der Waldlichtung. Gerader Rücken, die Füße in warm gefütterten Gummistiefeln. Ein kalter Frühlingswind schlich vorbei, Sonnenstrahlen sickerten durch die Bäume. Bald würde es Zeit sein, das Boot aus dem Winterlager zu holen.

Torbjörn betrachtete den makabren Fund, den sie gemacht hatten, nachdem die beiden Plastiksäcke aufgeschnitten worden waren. Ein Rumpf und ein Unterkörper.

»Wie lange hat sie hier schon gelegen?«, fragte er den Rechtsmediziner.

»Unmöglich, das hier vor Ort genau zu sagen. Aber ich würde mal sagen, um die zwei Jahre.«

Torbjörn pfiff durch die Zähne. »Zwei Jahre!«

»Das ist nur geraten.«

Neben Torbjörn räusperte sich ein Polizeiassistent. »Wir können Hände und Kopf nicht finden.«

»Der Fundort ist verhältnismäßig alt«, murmelte Torbjörn. »Ich will, dass wir die Umgebung durchkämmen und nachsehen, ob die anderen Körperteile in der Nähe liegen. Nehmt die Hunde, und seid vorsichtig.«

Er ging davon aus, dass sie weder Hände noch Kopf finden würden, wollte sich seiner Sache aber sicher sein. Derartige Fälle zogen gern ein großes Medienspektakel nach sich. Da war der Spielraum für Fehler sehr gering.

Er wandte sich wieder dem Rechtsmediziner zu. »Was glauben Sie, wie alt sie ist?«

»Ich kann derzeit nur sagen, dass sie jung war.«

»Und kein Stückchen Stoff am Leib?«

»Nein, ich sehe hier keine Spuren von verrotteter Kleidung.«

»Ein Sexualmord.«

»Oder ein Mord, bei dem es wichtig war, dass das Opfer nicht sofort identifiziert wird.«

Torbjörn nickte gedankenverloren. »Das könnte auch sein.«

Der Rechtsmediziner hielt ihm ein kleines Objekt hin. »Sehen Sie mal!«

»Was ist das?«

»Ein Bauchnabelpiercing.«

»Igitt!«

Er hielt das Schmuckstück zwischen Daumen und Zeigefinger. Ein silberner Ring an einem kleinen Steg. Torbjörn rieb ihn am Jackenärmel. »Da steht was.« Er kniff die Augen zusammen, drehte sich aus dem Licht. »Ich glaube, da steht ›Freiheit‹.« Als er das Wort aussprach, glitt ihm der Ring aus der Hand und verschwand in der Erde. »Verdammte Scheiße!«

Der Rechtsmediziner sah traurig aus.

Torbjörn nahm den Ring wieder auf und zog eine Beweismitteltüte aus der Tasche. Die Identifizierung dürfte mithilfe dieses Schmuckstücks kein größeres Problem darstellen. Seltsam, dass ein Mörder, der ansonsten große Sorgfalt an den Tag gelegt hatte, ein so entscheidendes Detail übersah.

Die Leichenteile wurden mit großer Vorsicht auf eine Bahre gehoben, zugedeckt und davongetragen. Torbjörn blieb zurück und tätigte noch einen Telefonanruf. »Alex«, sagte er, »entschuldige bitte, dass ich dich so früh am Morgen störe, aber ich habe hier einen Fall, der garantiert auf deinem Tisch landen wird.«

Langsam war es Zeit fürs Mittagessen. Eigentlich hatte Spencer Lagergren keinen Hunger, aber weil er um eins einen Termin hatte und nicht wusste, wie lange es dauern würde, wollte er lieber vorher noch etwas zu sich nehmen.

Im Restaurant Kung Krål am Gamla torget in Uppsala brachte man ihm Hühnchen und Reis, und danach spazierte er in flottem Tempo durch die Stadt zur Carolina Rediviva hinauf an der majestätischen Bibliothek vorbei und dann weiter zum Engelska parken, in dem die Gebäude des Instituts für Literaturwissenschaft lagen. Wie oft war er diesen Weg schon gegangen? Manchmal meinte er, ihn mit verbundenen Augen zurücklegen zu können.

Auf der Hälfte des Weges begannen das Bein und die Hüfte zu schmerzen. Die Ärzte hatten ihm versprochen, dass er nach dem Autounfall seine volle Beweglichkeit wiedererlangen würde, und er übte sich in Geduld. Aber zu Anfang hatte er doch sehr mit sich gehadert. Es war so verdammt knapp gewesen. Was für eine teuflische Ironie es gewesen wäre, ausgerechnet in dem Moment zu sterben, als gerade alles im Begriff war, sich zu ordnen. Nach Jahrzehnten des Unglücklichseins hatte Spencer sich am eigenen Schopf packen und endlich alles richtig machen wollen. Doch daraus war nur noch mehr Unglück entstanden.

Mehrere Monate lang war er krankgeschrieben gewesen. Als er zum ersten Mal Vater wurde, hatte er gerade erst wieder zu gehen gelernt. Während der Geburt hatte er nicht gewusst, ob er sitzen oder stehen sollte. Die Hebamme hatte ihm angeboten, eine Pritsche für ihn in den Kreißsaal zu rollen. Doch das hatte er freundlich, aber bestimmt abgelehnt.

Mit dem Kind kamen neue Energie und die Kräfte zur Erholung, und auch die Trennung von Eva gestaltete sich in keiner Weise so dramatisch, wie er befürchtet hatte. Sein Umzug wurde zwar von dem Autounfall überschattet, der ihn fast das Leben gekostet hatte, doch seine Exfrau sagte kein Wort, als die Umzugsleute stundenlang seine Habseligkeiten aus ihrem gemeinsamen Haus trugen. Spencer selbst war zugegen, um dafür zu sorgen, dass alles ruhig vonstattenging, und beobachtete die Umzugsarbeiten von seinem Lieblingssessel aus. Als der Laster gepackt war, fühlte es sich wie eine symbolische Handlung an, sich aus dem Sessel zu erheben und ihn als letztes Packstück hinaustragen zu lassen.

»Pass auf dich auf«, sagte er, als er in der Tür stand.

»Du auch«, erwiderte Eva.

»Wir hören voneinander.« Er hob die Hand zu einem zögerlichen Abschiedsgruß.

»Ja, das tun wir.« Sie lächelte, als sie das sagte, doch ihre Augen glänzten von Tränen. Und als er gerade die Eingangstür hinter sich zuziehen wollte, hörte er sie flüstern: »Aber manchmal hatten wir es auch gut, oder?«

Er zeigte ihr mit einem Nicken, dass er der gleichen Meinung war, doch der Kloß im Hals war zu dick, als dass er etwas hätte sagen können. Er schloss die Tür zu dem Haus, das fast dreißig Jahre lang ihr gemeinsames Zuhause gewesen war, und ließ sich von einem der Umzugsleute die Treppe hinunterhelfen.

Das war jetzt fast zehn Monate her, und er war seither nicht ein einziges Mal dorthin zurückgekehrt.

Doch das Leben nach dem Autounfall hatte so manche andere Rückkehr für ihn bereitgehalten. Zum Beispiel die Rückkehr zur Arbeit. Das Gerücht, dass der geschätzte Professor Ehefrau und Haus verlassen hatte, um in Stockholm mit einer jungen Frau zusammenzuleben, die soeben ihr gemeinsames Kind zur Welt gebracht hatte, verbreitete sich wie ein Lauffeuer an der Fakultät. Dass die Leute nicht wussten, ob es sich schickte, ihm zu seiner Vaterschaft zu gratulieren, quittierte er mit einem Lächeln.

Das Einzige, was ihm, abgesehen von der eingeschränkten Beweglichkeit, in seinem neuen Leben schwerfiel, war der Umzug nach Stockholm. Irgendwie fühlte sich plötzlich alles fremd an. Und immer wenn sein Zug in Uppsala ankam, wollte er am liebsten nie wieder nach Stockholm zurückfahren. Uppsala machte nicht nur beruflich, sondern auch privat einen großen Teil seiner Identität aus. Stockholm lag ihm dagegen nicht so sehr. Er vermisste Uppsala mehr, als er zugeben wollte.

Inzwischen hatte er die Universität erreicht. Der Leiter des Instituts für Literaturwissenschaft, Erland Malm, und Spencer kannten einander, seit sie frisch bestellte Doktoranden gewesen waren. Sie hatten sich nie besonders nahegestanden, waren aber auch nie Feinde, nicht einmal Konkurrenten gewesen. Man konnte sagen, dass die Beziehung gut war, aber auch nicht mehr.

»Setz dich, Spencer«, sagte Erland.

»Danke.«

Es tat Beinen und Hüfte gut, nach dem Marsch auszuruhen. Der Stock durfte an der Armlehne des Stuhls stehen.

»Ich fürchte, ich habe eine etwas beklemmende Information für dich«, sagte Erland.

Beklemmend?

»Erinnerst du dich an Tova Eriksson?«

Spencer dachte nach. »Die habe ich im letzten Herbst betreut, und zwar zusammen mit der neuen Doktorandin, Malin. Das war kurz nachdem ich angefangen hatte, halbtags zu arbeiten.«

»Wie hast du die Zusammenarbeit mit Tova Eriksson in Erinnerung?«

Ein Geräusch vom Flur erinnerte sie daran, dass die Tür zu Erlands Zimmer offen stand. Erland erhob sich und schob sie zu.

»Meiner Erinnerung nach war die Zusammenarbeit unproblematisch.« Spencer hob kurz die Hände. Er wünschte, er hätte eine Tasse Kaffee bekommen. »Sie war allerdings nicht sonderlich ehrgeizig, und sowohl Malin als auch ich fragten uns, warum sie ein derart kompliziertes Thema für ihre Arbeit gewählt hatte. Es war nicht leicht, sie aufs richtige Gleis zu setzen, und am Ende fiel sie durchs Abschlussseminar.«

»Hattest du viele Treffen mit ihr?«

»Nein, nur ein paar. Um den Rest hat sich Malin gekümmert. Ich glaube, das hat Tova verärgert. Sie wollte keine Doktorandin als Betreuerin.«

Der Stock drohte umzukippen. Spencer lehnte ihn an Erlands Schreibtisch.

»Worum geht es hier eigentlich?«

Erland räusperte sich. »Sie sagt, du habest sie bei ihrer Abschlussarbeit behindert. Und du habest dich geweigert, ihr zu helfen, wenn sie nicht…«

»Wenn sie nicht…?«

»Sexuelle Handlungen ausführe. An dir.«

»Wie bitte?« Spencer lachte kurz auf, dann durchfuhr ihn der Zorn. »Wie bitte? Das nehmt ihr doch wohl nicht ernst, oder? Ich hatte kaum etwas mit ihr zu tun. Habt ihr mal mit Malin gesprochen?«

»Wir haben mit Malin gesprochen, und sie sagt das Gleiche wie du. Aber gleichzeitig gibt sie auch an, dass sie bei den wenigen Treffen zwischen dir und Tova nicht zugegen war.«

Der letzte Satz blieb in der Luft hängen.

»Erland, zum Teufel, das Mädchen kann nicht ganz bei Sinnen sein. Ich habe mich meinen Studenten gegenüber niemals schlecht verhalten, das weißt du genau.«

Erland schien peinlich berührt. »Verdammt, du hast ein Kind mit einer ehemaligen Studentin! Es gibt so manch einen an diesem Institut, der das bemerkenswert findet. Ich nicht, das weißt du hoffentlich, aber andere.«

»Wer denn?«

»Also, nun wollen wir uns nicht groß aufregen, ohne…«

»Wer?«

»Barbro und Manne. Zum Beispiel.«

»Barbro und Manne? Derselbe Manne, der mit seiner eigenen Stieftochter zusammenlebt?«

Erland schlug frustriert mit der Hand auf den Tisch. »Im Moment reden wir aber von dir! Das mit Manne war ein schlechtes Beispiel, das nehme ich zurück.« Er seufzte tief. »Eine andere Studentin hat gesehen, wie du Tova bei einer Gelegenheit umarmt hast.«

»Sie hat mir erzählt, dass ihr Vater einen Herzinfarkt gehabt habe und sie sich deshalb nicht konzentrieren könne. Weil sie so viel Zeit an seinem Krankenbett…«

»Spencer, ihr Vater ist tot. Er war Gemeinderat hier in der Stadt. Er ist schon vor Jahren an Leukämie gestorben.«

Der Stock fiel um. Spencer ließ ihn liegen.

»Bist du dir sicher, dass du sie deshalb umarmt hast?« Spencer sah ihn an, und Erland versuchte es noch einmal. »Ich meine, eine Umarmung ist ja nichts Schlimmes, solange man weiß, weshalb sie erfolgt ist.«

»Erland, sie hat gesagt, ihrem Vater gehe es schlecht. Das hat sie gesagt.«

Erland wand sich. »Wir können das hier nicht auf sich beruhen lassen, Spencer.«

Die Aprilsonne bahnte sich einen Weg ins Zimmer und ließ die Schatten der Blumen am Fenster auf dem Boden tanzen. Bald war Walpurgis. Die Studenten würden ihre Feste feiern. Picknicks im Park, Bootsrennen auf dem Fyrisån.

»Spencer, hörst du überhaupt, was ich sage? Die Sache ist ernst. Tovas beste Freundin ist gerade zur Vorsitzenden im Gleichstellungsausschuss der Studentenvertretung gewählt worden. Wenn wir das, was Tova Eriksson sagt, nicht ernst nehmen, dann kann das böse ausgehen.«

»Und was ist mit mir?«

Er sehnte sich nach Fredrika.

»Du hattest ein hartes Jahr. Nimm dir eine Weile frei.«

»Wenn das deine letzten Worte in dieser Sache sind, dann besteht die Gefahr, dass ich nicht wiederkomme.«

Erschrecken auf der anderen Seite des Schreibtischs. »Jetzt hör mir mal zu. Die Sache wird vorbei sein, noch ehe der Sommer kommt. Mädchen wie Tova fliegen immer auf, wenn sie die Unwahrheit sagen.«

»Wenn sie die Unwahrheit sagen?« Spencer erhob sich mit einem Schnauben. »Ich hätte mehr von dir erwartet, Erland.«

Der Institutsleiter schwieg, ging um den Schreibtisch herum und nahm Spencers Stock auf.

»Grüße an Fredrika.«

Ohne zu antworten und voller Wut verließ Spencer das Zimmer. Doch er war nicht nur wütend, sondern auch besorgt. Wie würde diese Sache weitergehen?

»Es ist Rebecca Trolle.«

»Woher willst du das wissen?«, fragte Torbjörn Ross.

»Weil ich die Ermittlungen geleitet habe, als sie vor zwei Jahren verschwand.«

»Und ihr habt sie nie gefunden?«

Alex Recht starrte den Kollegen an. »Offensichtlich nicht.«

»Es fehlen Hände und Kopf, und der Körper ist übel zugerichtet. Sie wird schwer zu identifizieren sein, aber das kann man natürlich über die DNA machen, sofern wir Vergleichsmaterial haben.«

»Haben wir. Aber du kannst die offizielle Identifizierung als eine Formalität betrachten. Ich weiß, dass es Rebecca ist, die ihr gefunden habt.«

Alex spürte den Blick des Kollegen. Im letzten halben Jahr hatte er mehr solcher Blicke bekommen, als er zählen konnte. Fragende Blicke, die Mitgefühl ausdrücken sollten, in Wirklichkeit aber nichts anderes als Zweifel aussandten. Kommt er klar?, schienen sie zu fragen. Schafft er es, jetzt da seine Frau tot ist?

Die Personalchefin Margareta Berlin war eine Ausnahme gewesen. »Ich verlasse mich darauf, dass Sie mir die Signale senden, die ich brauche«, hatte sie gesagt. »Zögern Sie nicht, um Unterstützung zu bitten. Und zweifeln Sie nicht daran, dass ich hinter Ihnen stehe, denn das tue ich. Zu hundert Prozent.«

Erst da hatte Alex nachgegeben und um unbezahlten Urlaub gebeten.

»Keine Krankschreibung? Ich kann das arrangieren.«

»Nein, Urlaub. Ich will verreisen.«

Nach Bagdad, hätte er hinzufügen können, doch das klang zu spektakulär, als dass er es laut hätte sagen können.

Alex hielt den Piercingring vor sich.

»Ihre Mutter hat ihr diesen Ring zum Abitur geschenkt. Deshalb weiß ich, dass sie es ist.«

»Na, das ist ja vielleicht ein Geschenk.«

»Außerdem hat sie fünfundzwanzigtausend Kronen als Startkapital für ihr Studium bekommen. Rebecca war die Erste in der Familie, die zur Uni ging, und ihre Mutter war sehr stolz auf sie.«

»Hat jemand sie benachrichtigt? Also, die Mutter?«

Alex hob den Blick von dem Ring. »Noch nicht. Ich wollte es morgen machen.«

»Nicht heute?«

»Nein, ich will erst sehen, ob wir im Laufe des Tages noch den Kopf und die Hände finden. Es gibt keinen Anlass zur Eile. Die Mutter hat schon so lange gewartet, da kommt es auf einen Tag mehr oder weniger nicht an.«

Noch während er das sagte, spürte er den Schmerz. Ein Tag konnte eine Ewigkeit bedeuten. Er würde zehn Jahre seines Lebens hergeben, um nur einen weiteren Tag mit Lena zusammen sein zu können. Einen einzigen Tag.

Dass Sehnsucht so wehtun kann.

Mit leicht zitternden Händen steckte Alex den Ring wieder in die Tüte.

»Wie ist dein Team derzeit besetzt? Könnt ihr einen derart großen Fall übernehmen?«, fragte Torbjörn.

»Ich denke schon.«

Torbjörn sah ihn fragend an. »Ist Rydh noch dabei?«

»Ja, das ist er. Und Bergman, aber die ist momentan noch in Elternzeit.«

»Stimmt, verdammt.« Der Kollege grinste. »Die hat sich anscheinend von einem alten Professor ein Kind machen lassen.«

Das Grinsen verging ihm, als er Alex’ Gesichtsausdruck sah.

»Derartiges blödes Gerede musst du mit jemand anderem teilen. Das interessiert mich wirklich nicht.«

Torbjörn ruderte zurück. »Sie müsste aber doch bald wieder zurückkommen, oder?«

»Natürlich. Ich habe zwar noch andere Ermittler, die ich in Anspruch nehmen könnte, aber es wäre großartig, Fredrika wieder dabeizuhaben. Lieber heute als morgen.« Alex lächelte schwach.

»Man weiß nie«, sagte Torbjörn, »vielleicht ist sie es ja leid, zu Hause zu sitzen.«

»Vielleicht«, sagte Alex.

3

»MORGEN?«, FRAGTEFREDRIKABERGMAN.

»Warum nicht?«, erwiderte Spencer.

Erstaunt ließ sie sich am Küchentisch nieder. »Ist irgendetwas passiert?«

»Nein.«

»Hör schon auf, Spencer!«

Der Herd klickte, als er das Gas einschaltete, um Wasser für den Tee zu kochen. Der Anblick seines Rückens sagte ihr alles. Irgendetwas stimmte nicht.

Sie war einverstanden gewesen, dass sie die Elternzeit nicht zwischen sich aufteilen würden. Die Voraussetzungen waren glasklar gewesen: Spencer war weiterhin mit Eva verheiratet, und Fredrika war verantwortlich für die Versorgung des Kindes, das sie erwarteten. Doch dann kam alles anders.

Nach und nach hatte Spencer seine Geschichte erzählt. Ein Schwiegervater, der den Schwiegersohn erpresste. Eine Ehefrau, die einen Lebensstil pflegte, den er nicht länger finanzieren konnte. Ein Fehler in seiner Jugend, der letztendlich sein ganzes Leben bestimmt hatte. Und dann– aus dem Nichts– die Kraft, sich loszumachen.

»Wenn du willst«, hatte er gesagt, als sie ihn nach dem Autounfall im vorigen Winter im Krankenhaus besucht hatte.

»Wenn ich was will?«

»Wenn du mit mir leben willst. Ganz richtig.«

Aus verschiedenen Gründen war es ihr schwergefallen, sofort mit Ja zu antworten. Spencer und sie waren mehr als zehn Jahre lang insgeheim ein Paar gewesen. Es würde Zeit brauchen, sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass er ihr jetzt ganz gehören sollte.

Will ich das?, hatte sie sich gefragt. Will ich wirklich mit ihm leben, oder habe ich das nur geglaubt, solange er unerreichbar für mich war?

Die Frage ließ ihr Herz stocken.

Ich will. Ich will, ich will, ich will.

Seine Behinderung nach dem Unglück hatte ihr Angst gemacht. Er durfte nicht noch schneller altern, als er es ohnehin schon tat. Er durfte keine Belastung werden, wenn sie sich gleichzeitig um ein kleines Kind kümmern musste.

Vielleicht spürte er ihre Angst, denn er arbeitete mit irrsinniger Kraft daran, wieder gesund zu werden. Den Stock hatte er immer noch dabei, doch auch den würde er bald ablegen.

Das Mädchen erwachte aus seinem Mittagsschlaf und fing an, im Kinderzimmer Laute von sich zu geben. Spencer kam Fredrika zuvor und nahm es auf den Arm. Saga weinte nur selten, wenn sie aufwachte. Sie redete stattdessen. Oder brabbelte und gab kleine Spuckebläschen von sich. Sie war Fredrika so ähnlich, dass es fast unheimlich war.

Spencer kam wieder in die Küche, die lächelnde Saga im Arm. »Du hast doch gesagt, dass du gern wieder arbeiten würdest.«

»Ja, natürlich habe ich das gesagt, aber so etwas muss man doch planen. Wie lange willst du denn zu Hause sein?«

»Einen Monat«, antwortete Spencer. »Maximal zwei.«

»Und dann?«

»Dann geht sie in die Tagesstätte.«

»Den Platz in der Tagesstätte haben wir erst ab August, Spencer.«

»Genau. Und vorher machen wir Urlaub. Das passt doch ausgezeichnet, wenn ich bis zum Sommer zu Hause bin.«

Fredrika verstummte und betrachtete sein zerfurchtes Gesicht. Sie hatte gesehen, wie die Liebe zu Saga ihn überrascht hatte, wie erstaunt er darüber gewesen war, dass man für ein Kind derart starke Gefühle haben konnte. Aber er hatte kein einziges Mal Interesse daran gezeigt, Elternzeit zu nehmen.

»Was ist passiert, Spencer?«

»Nichts.«

»Lüg mich nicht an.«

Seine Pupillen weiteten sich. »Im Institut ist der Wahnsinn los«, sagte er schließlich.

Sie runzelte die Stirn und erinnerte sich daran, dass er von einem Streit zwischen zwei Kollegen gesprochen hatte. Da hatte es aber nicht so gewirkt, als wäre er ein Teil des Problems.

»Derselbe Konflikt wie schon einmal?«

»Ja, nur noch schlimmer. Die Stimmung ist schlecht, und es greift schon auf die Studenten über.«

Er verzog das Gesicht und setzte Saga auf den Boden. Fredrika sah, dass die Bewegung ihn schmerzte.

»Schaffst du es denn, ganze Tage mit Saga allein zu sein? Ich könnte vielleicht in Teilzeit anfangen…«

Er nickte. »Gute Idee. Ich werde ja trotzdem noch nach Uppsala fahren und an einer Reihe von Sitzungen teilnehmen müssen.«

Er wich ihrem Blick aus. Es gab irgendein Geheimnis, das er ihr vorenthielt, das spürte sie deutlich.

»Okay«, sagte sie schließlich.

»Okay?«

»Ich werde mit Alex reden. Heute Nachmittag fahre ich im Büro vorbei und frage ihn, was er davon hält. Vielleicht hat er gerade eine neue Ermittlung am Laufen.«

Eine zerstückelte Leiche in zwei Plastiksäcken. Nach Alex’ Ansicht handelte es sich um Rebecca Trolle.

Peder Rydh sah misstrauisch auf die Körperteile hinab. Kopf und Hände fehlten, aber Alex hatte den Schmuck erkannt, den sie im Nabel gehabt hatte. DNA-Proben würden diese Theorie entweder bestätigen oder widerlegen. Peder hatte Zweifel. Sicherlich war das Schmuckstück ungewöhnlich, vor allem mit dem Text auf dem kleinen Steg, doch dieses Ding konnte wohl kaum allein zur Identifizierung genügen.

Die feuchte Erde und das Plastik hatten das ihrige getan, um die Leiche zu erhalten, doch nach den Fotos zu urteilen, konnte man sich nur schwer vorstellen, wie die Frau einmal ausgesehen hatte, als sie noch lebte. War sie dick oder eher schlank gewesen? Hatte sie einen geraden Rücken gehabt, oder war sie so eine gewesen, die immer die Schultern ein wenig zu hoch zog und deshalb beinahe bucklig aussah?

Peder schlug die Akte auf, die er von Alex bekommen hatte. Darin lag ein Bild von Rebecca Trolle, kurz bevor sie verschwunden war. Süß. Frisch. Sommersprossen und ein breites Lächeln für die Kamera. Ein pflaumenfarbener Pullover, der das Blau in ihren Augen verstärkte. Dunkelblonde Haare, zu einem Pferdeschwanz gebunden. Selbstsicher.

Und jetzt tot.

Sie hatte viele Eisen im Feuer gehabt. Dreiundzwanzig Jahre alt, auf dem besten Wege hin zu einem Abschluss in Literaturwissenschaft an der Universität Stockholm. Nach dem Abitur hatte sie ein Jahr in Frankreich gelebt, war Mitglied in einem französischen Buchzirkel gewesen. Hatte im Kirchenchor gesungen und abends einen Babyschwimmkurs geleitet.

Peder seufzte. Wie schafften diese jungen Menschen es nur, so verdammt viele Sachen gleichzeitig zu unternehmen? Diese Tausendsassa, immer auf dem Weg zu einer neuen Aktivität.

Zum Zeitpunkt ihres Verschwindens war sie Single gewesen. Es gab eine Exfreundin, die die Polizei mehrmals verhört hatte, und es war das Gerücht von einer neuen Beziehung umgegangen, doch hatte sich niemand gemeldet, und die Polizei hatte keinen Namen herausfinden können. Sie hatte einen großen Freundeskreis gehabt, und es schien, als wären alle mindestens einmal von der Polizei verhört worden. Das Gleiche galt für ihre Tutoren an der Universität, die Kollegen im Schwimmbad und die Mitglieder des Kirchenchors.

Die Ermittlungen hatten in einer Sackgasse geendet, und Peder war erleichtert, nicht ein Teil dieses trostlosen Falles gewesen zu sein. Er überflog Alex’ Notizen und ahnte, dass die Lage verzweifelt gewesen sein musste. Am Ende hatten die Polizisten darüber nachgedacht, ob sie vielleicht freiwillig verschwunden sein könnte. Hatte ein Streit mit der Mutter sie verärgert und ihre Pläne konkretisieren lassen, eine Zeit lang ins Ausland zu gehen? Der Vater wohnte nicht mehr in Stockholm, sondern war nach Göteborg gezogen, als Rebecca zwölf gewesen war. Die Polizei hatte auch ihn verhört.

Rebecca Trolle war an einem ganz normalen Werktag auf dem Weg zu einem Mentorenfest an der Universität verschwunden. Gegen achtzehn Uhr hatte sie noch mit ihrer Mutter telefoniert und von dem Fest erzählt. Danach hatte sie einen Anruf von einem Handy mit nicht registrierter Prepaidkarte entgegengenommen. Um neunzehn Uhr war ihr Nachbar im Studentenwohnheim Nyponet am Körsbärsvägen ihr im Flur begegnet. Da hatte sie einen Mantel angehabt und angeblich unter Stress gestanden. Um Viertel nach sieben hatten Zeugen sie in einem Bus der Linie 4 gesehen, der zum Radiohaus fuhr. Das hatte die Polizisten nachdenklich gemacht, denn die Universität lag in der entgegengesetzten Richtung. Die Freunde, die auf dem Fest auf sie warteten, berichteten, dass sie dort nie ankam. Und niemand wusste, wohin sie mit dem Bus Nummer 4 unterwegs gewesen sein könnte.

Kurz vor halb acht wurde sie noch einmal gesehen, als sie aus dem Bus ausstieg und in Richtung Gärdet ging. Danach gab es keine Zeugen mehr, und Rebecca blieb wie vom Erdboden verschluckt.

Peder zog eine Karte hervor, die bei der Ermittlung benutzt worden war. Sämtliche Personen, die in irgendeiner Weise mit der Ermittlung in Berührung gekommen waren und die in der Nähe des Radiohauses wohnten, waren auf dem Plan markiert worden. Niemand von ihnen war verdächtig gewesen. Es handelte sich um eine Handvoll Personen, und sie alle hatten ein glaubhaftes Alibi. Niemand von ihnen war an jenem Abend mit Rebecca verabredet gewesen. Niemand hatte sie seither gesehen. Bis jetzt– wenn sie es denn tatsächlich war, die in den Plastiksäcken lag.

Der Fundort lag am Rand des in den Fünfzigerjahren errichteten Wohngebiets Midsommarkransen. Wer in dem Fall hatte eine Verbindung zu diesem Stadtteil? Wahrscheinlich nicht viele, aber dennoch wäre es wert, das zu kontrollieren.

Potenzielle Täter waren in der gesamten Ermittlung zu Rebeccas Verschwinden Mangelware gewesen. Die Analyse ihrer Handyaktivitäten hatte nichts erbracht, die letzte Verbindung zum Sendemast bestätigte nichts anderes, als dass sie sich in der Nähe des Radiohauses befunden hatte, und dann verlief sich jegliche Spur. Man hatte keine dezidierten Feinde ausmachen können, aber das musste nicht heißen, dass es keine gab. Rebeccas Mutter hatte sich an einen Konflikt mit einem Arbeitskollegen im Schwimmbad erinnern können, doch diese Spur war schnell abgekühlt. Der Kollege war ehrlich erstaunt über die Information und nannte den Konflikt eine Bagatelle. Außerdem hatte er ein Alibi für den Abend, an dem Rebecca als vermisst gemeldet wurde.

Peder hielt inne. Wer vermisste eine alleinstehende junge Frau noch am selben Abend, an dem sie verschwand?

Der erste Bericht, der in der Sache geschrieben worden war, besagte, dass ein befreundeter junger Mann gegen elf Uhr abends die Polizei angerufen hatte. Rebecca war nicht wie versprochen zu dem Fest gekommen, und sie ging auch nicht ans Telefon. Die Reaktion der Polizei war zunächst eher kühl. Routinemäßig rief man die Eltern an, die auch nichts von ihr gehört hatten. Ihre Mutter war zunächst nicht einmal besorgt, sie meinte, ihre Tochter könne selbst auf sich aufpassen.

Um zwei Uhr war die Lage dann eine andere. Die Mutter hatte herausbekommen, dass ihre Tochter sich nach wie vor nicht bei ihren Freunden gemeldet hatte und dass ihr Telefon ausgeschaltet war.

Am frühen Morgen ging dann die Vermisstenanzeige raus, und damit war die Ermittlung eröffnet.

Håkan Nilsson hieß der Typ, der zuerst die Polizei angerufen hatte. Warum die Polizei und nicht die Eltern? Vielleicht weil er die Eltern nicht kannte. Aber warum hatte er nicht den nächsten Tag abgewartet, weshalb hatte er sich Sorgen gemacht?

Peder blätterte ein Dokument nach dem anderen durch. Håkan Nilsson war der Polizei im Grunde die ganzen Ermittlungen hindurch behilflich gewesen. Ein Kommilitone, der das Verschwinden des Mädchens unerträglich fand und gern helfen wollte. Aber warum ausgerechnet er– und warum mehr als die anderen Freunde? Håkan hatte Handzettel gedruckt und sich von der Studentenzeitung interviewen lassen. Er redete immerzu davon, dass »wir« besorgt seien, es war jedoch nicht festzustellen, wer hinter dem »wir« steckte.

Peder beschloss, die Sache mit Alex zu besprechen. Er öffnete das Polizeiregister im Computer und rief Håkan Nilsson auf. Er hatte im selben Studentenwohnheim gewohnt wie Rebecca. Inzwischen war er in der Tellusgatan gemeldet. In Hägersten. Sprich: Midsommarkransen.

Peder starrte auf den Bildschirm. Wenn da wirklich Rebecca Trolle in den Plastiksäcken lag, dann war Håkan Nilsson ihnen eine Erklärung schuldig.

Als Fredrika Bergman bei Alex anklopfte, saß dieser mit tiefen Falten in der Stirn zusammengesunken auf seinem Bürostuhl. Fredrika war ihm erst ein paarmal begegnet, seit er Witwer war, und hätte am liebsten geweint, als sie sah, wie sehr er in den wenigen Monaten gealtert war. Es widerstrebte ihr einzugestehen, dass sie das Gleiche auch bei Spencer bemerkt hatte. Beide Männer hatten in der jüngsten Zeit Dinge durchgemacht, die deutliche Spuren hinterlassen hatten.

Sie zwang sich zu einem Lächeln.

»Fredrika«, sagte Alex, als er sie erblickte. Ein warmes Lächeln zog über sein Gesicht, und sie entspannte sich. Nach kurzem Zögern stand er auf, umrundete seinen Tisch und umarmte sie. Starke Arme um ihren Körper. Sie merkte, wie sie rot wurde.

»Alles in Ordnung?«

Alex zuckte mit den Schultern. »Geht so«, erwiderte er.

Sie setzten sich.

»Wie geht es deiner Tochter?«

»Saga? Der geht es ausgezeichnet. Sie kann fast schon laufen.«

»So früh?«

»Eigentlich nicht, bald wird sie ein Jahr alt.«

Fredrika ließ den Blick durch den Raum schweifen. An der Wand hinter ihm hing eine Reihe Fotos von seiner Familie und von seiner Frau, die es nicht mehr gab.

Life’s a bitch and then you die.

»Wir haben heute schon von dir gesprochen«, sagte Alex.

»Ehrlich?«

»Du fehlst uns. Wir hoffen, dass du bald zurückkommst, vielleicht schon zum Sommer.«

Fredrika kam sich ein wenig lächerlich vor. »Äh… Ich würde gern früher zurückkommen.«

»Herrlich! Wann denn?«

Sollte sie es ihm erzählen? Sollte sie erzählen, dass ihr Lebensgefährte urplötzlich darauf verfallen war, dass er doch eine Zeit lang mit Saga zu Hause bleiben wollte? Dass er Stress im Beruf hatte und deshalb nicht mehr dort hingehen mochte?

Und erstmals stellte sie sich selbst die Frage, ob sie überhaupt wieder arbeiten wollte. Die Zeit mit Saga war wunderschön. Ihre Schwangerschaft war mit der von mehreren Freundinnen zusammengefallen, und sie waren während der Elternzeit fast jede Woche zusammen gewesen. Ihre Freundinnen würden sie für verrückt erklären, wenn sie ihnen sagte, dass sie so plötzlich wieder anfangen wolle zu arbeiten.

»Ich könnte in Teilzeit wieder anfangen. Zum Beispiel fünfundsiebzig Prozent.«

»Und ab wann?«

Sie zögerte.

»Morgen?«

Die Personalchefin Margareta Berlin empfing Fredrika ein Weilchen später. Eigentlich befasste sie sich nicht mit Routineangelegenheiten, aber als ihr klar wurde, dass es hier um die Personalsituation in Alex Rechts Gruppe ging, rief sie Fredrika zu sich.

»Schön, dass Sie kommen konnten.«

Fredrika begrüßte die Personalchefin und setzte sich. »Ich war fast schon auf dem Heimweg.«

»Es wird nicht lange dauern.«

Die Personalchefin schob ein paar Papierstapel zusammen und legte sie in den Schrank, der hinter ihr stand. Sie war hochgewachsen und kräftig. Oder eher kraftvoll. Man konnte sie nicht dick nennen, aber sie machte einen stämmigen Eindruck.

»Wie geht es Ihnen?«, fragte sie.

Die Frage allein ließ Fredrika Unrat wittern. »Gut. Danke.«

Margareta nickte. »Das sieht man Ihnen an. Ich wollte es eigentlich nur noch mal bestätigt haben. Und wie geht es Alex?«

»Das müssen Sie ihn schon selbst fragen.«

»Jetzt frage ich aber Sie.«

Es wurde still, und Fredrika dachte einen Moment lang nach. »Ich glaube, es geht ihm gut. Oder zumindest besser.«

»Das glaube ich auch. Aber eine Zeit lang stand es auf der Kippe, das muss ich zugeben.« Sie beugte sich über den Schreibtisch. »Ich kenne Alex jetzt seit über zwanzig Jahren, und ich will nur sein Bestes.« Sie machte eine Pause. »Aber wenn er sich im Dienst ungünstig verhalten würde, ich meine, wenn er sich als untauglich für seine Aufgabe erweisen würde, dann müsste ich gewisse Schritte unternehmen.«

»Wer hat denn gesagt, dass er sich ungünstig verhält?«, fragte Fredrika und klang verwirrter, als sie wollte.

»Niemand. Aber ich habe unter der Hand erfahren, dass er gewissen Mitarbeitern gegenüber ungehalten gewesen sein soll. Unverhältnismäßig hart. Dass er sozusagen meinen Job gemacht hat.« Sie lachte verhalten.

Fredrika lachte nicht. Sie hegte großen Respekt für Margareta Berlin, nicht zuletzt weil sie einst den hässlichen Angewohnheiten von Peder Rydh ein Ende gesetzt hatte. Doch Fredrikas Loyalität galt Alex, und das war für sie kein Widerspruch.

»Wie auch immer«, sagte Margareta. »Ich will Ihnen nur signalisieren, dass meine Tür offen steht, wenn Sie in der Zukunft das Gefühl haben, reden zu müssen.«

»Über Alex?«

»Oder über etwas anderes.«

Das Treffen war beendet, und Fredrika machte sich bereit zu gehen.

»Dieser neue Fall«, begann Margareta, als Fredrika schon in der Tür stand.

»Ja?«

»Ich erinnere mich, dass Alex die Ermittlungen leitete, als Rebecca Trolle verschwand.«

Fredrika sah sie unverwandt an.

»Er war wie besessen. Es war der letzte Fall, den er betreute, ehe er den Auftrag bekam, die Sonderermittlergruppe zu bilden, der Sie und Peder jetzt angehören. Es hat ihn schwer getroffen, dass wir das Mädchen damals nicht gefunden haben.«

»Und jetzt, da sie endlich aufgetaucht ist, haben Sie Angst, dass die Sache aus dem Ruder laufen könnte?«

»So in der Art.«

Fredrika zögerte, schloss die Hand um die Türklinke. »Ich werde ein Auge auf ihn haben«, versprach sie.

Mittwoch

4

ESWAREINFACHEINFANTASTISCHER Frühling, stellte Malena Bremberg fest, während sie sich um die Blumen kümmerte, die eine der Heimbewohnerinnen von ihrem Sohn bekommen hatte. So viele Sonnenstunden nach dem langen Winter!

Sie kehrte mit der Vase in das Zimmer der alten Dame zurück.

»Sehen Sie nur, wie schön sie sind«, sagte sie.

Die alte Frau lehnte sich vor und inspizierte die Blumen.

»Die gelben mag ich gar nicht.«

Es fiel Malena schwer, nicht loszulachen, als sie hörte, wie die Alte die Worte »gar nicht« betonte.

»Ach, nicht? Das ist aber schade! Was sollen wir denn jetzt tun?«

»Schmeißen Sie den Scheiß weg.«

»Aber nicht doch! So schöne Blumen und dann von so einem hübschen jungen Mann.«

»Piepegal, der kommt doch nur wegen des Geldes. Nehmen Sie die Blumen mit, geben Sie sie Egon. Der kriegt eh nie Besuch.«

Als Malena wenig später die schlanke Vase in die Küche trug, blickte ihre Kollegin, die gerade dabei war, die Spülmaschine auszuräumen, auf. »Heute auch nicht?«, fragte sie.

Beide lachten.

»Sie hat gesagt, dass ich den Scheiß wegschmeißen soll.«

Die Kollegin schüttelte den Kopf.

»Ich verstehe nicht, weshalb er Woche für Woche wiederkommt, obwohl sie so garstig ist.«

»Sie meinte, er komme nur wegen des Geldes.«

»Und ich sage, es ist aus Liebe.«

Malena stellte die Vase auf einen der Tische.

»Ob sie die Blumen wohl wiedererkennt, wenn sie zum Abendessen kommt?«, fragte sie die Kollegin.

»Auf keinen Fall. Ihr Gedächtnis wird immer schlechter. Vielleicht fragen wir besser schon mal nach, ob sie da oben einen Platz für sie frei haben.«

Da oben. Die vorsichtige Umschreibung für die Geschlossene Demenzabteilung im oberen Stockwerk. Dort endeten viele früher oder später. Die schweren Türen der Abteilung machten Malena Angst. Sie hoffte bei Gott, niemals selbst dement zu werden.

Der Fernseher in der Küche lief, und Malena hörte, wie ein Nachrichtensprecher berichtete, dass in einem Waldstück in Midsommarkransen eine Frauenleiche gefunden worden sei. Die Polizei schwieg sich über die Details aus, doch der Mann, der die Leiche gefunden hatte, hatte sich interviewen lassen.

»Der Hund hat sie gefunden«, sagte er und richtete sich auf. »Mehr kann ich leider nicht verraten.«

»Wie sah sie denn aus?«, fragte der Reporter.

Der Mann wirkte ratlos. »Das darf ich nicht sagen.«

»War sie bekleidet?«

Das Selbstvertrauen des Mannes war wie weggeblasen. »Ich muss jetzt gehen«, sagte er. »Komm, Svante.«

Und dann verschwand er mit seinem Hund im Schlepptau aus dem Blickwinkel der Kameras.

In ihrem Arbeitskittel klingelte das Handy. Diese hässlichen Klamotten, die das Heim für seine Angestellten bereitstellte, hatten den einen einzigen Vorteil, dass die Taschen ausreichend groß waren, um Handys und Hustenbonbons und alles Mögliche andere darin zu verwahren.

Sie erstarrte, als sie sah, wer anrief. So lange war es her, und doch war die Erinnerung nicht verblasst. Er rief immer wieder an, forderte immer wieder. Drohte und überredete.

»Hallo.«

»Malena, wie geht’s?«

Sie verließ die Küche und zog sich in den Flur zurück. Hoffte, dass ihre Kollegin das Gespräch nicht würde hören können.

»Was wollen Sie?«

»Dasselbe wie immer.«

»Wir hatten ein Abkommen.«

»Ja, und das gilt immer noch. Ich würde es sehr bedauern, wenn du was anderes gedacht hättest.«

Sie atmete schwer und spürte die Panik in sich aufsteigen wie Kohlensäure in einer Limonadenflasche.

»Es war niemand hier.«

»Niemand?«

»Nicht eine Menschenseele.«

»Gut. Ich melde mich wieder.«

Nachdem sie das Gespräch beendet hatte, stand sie noch lange im Flur. Sie würde niemals frei sein. Manche Schuld konnte man ganz einfach nicht abarbeiten.

5

»GEHENWIRNICHTINDIE Löwengrube?«

Peder hielt inne, als er Fredrikas Frage nach dem Besprechungsraum des Teams hörte.

»Da können wir nicht rein, weil die Klimaanlage kaputt ist und es im ganzen Flur stinkt. Solange das nicht behoben ist, leihen wir uns den Raum von den anderen aus.«

Die anderen, dachte Fredrika. Eine interessante Art, von seinen Kollegen zu reden, die auf demselben Stockwerk arbeiteten, aber nicht Alex’ Team angehörten.

Peder warf ihr einen Blick zu. »Verdammt, wie schnell du wiedergekommen bist! Quasi über Nacht.« Als Fredrika zunächst nicht antwortete, beeilte er sich zu sagen: »Klasse, dass du wieder da bist.«

»Danke«, sagte Fredrika. »Zu Hause hat es ein paar Veränderungen gegeben, und so kam es, dass ich früher wieder anfangen konnte.«

Peder sah immer noch fragend aus, aber da konnte Fredrika ihm nicht helfen. Sie war selbst verwirrt. Der Schritt vom allmählichen Vermissen der Arbeit und dem Wunsch nach einer Rückkehr in Teilzeit zum tatsächlichen Wiederbeginn war schneller erfolgt, als sie es sich je hätte vorstellen können. So überraschend schnell. Und eigentlich war sie noch nicht wirklich wieder richtig zurück. In den kommenden drei Wochen würde sie Teilzeit arbeiten, und dann… Sie musste ganz einfach warten und sehen, was sich am besten anfühlte.

Alex wartete in dem neuen Besprechungszimmer auf sie, das fast genauso aussah wie die Löwengrube. Das Gespräch mit Margareta Berlin hatte bei Fredrika einen unangenehmen Nachgeschmack hinterlassen. Sie hatte ihr versprochen, sich zu melden, wenn Alex bei seinen Führungsaufgaben verstört oder unzulänglich erschien. Doch es gab kaum etwas Schlimmeres, als sich von der Personalleitung als Spionin anheuern zu lassen. Aber ganz freiwillig war es ja nicht gewesen.

Es ist, weil ich mir Sorgen um dich mache, Alex.

Fredrika hatte von der Reise ihres Chefs in den Irak gehört und geweint, als ihr berichtet wurde, was der Grund dafür gewesen war. Keine Worte konnten beschreiben, was sie fühlte, wenn sie an jene gute Tat dachte. Um die halbe Welt zu reisen, um einer Frau ihren Verlobungsring zu bringen, die, ohne zu wissen, wie und warum, ihren Geliebten verloren hatte.

Fast wäre ich allein gewesen, Spencer.

Sie setzten sich um den Tisch herum. Fredrika, Alex, Peder und ein paar Leute, die Fredrika nicht kannte. Neue Ermittler, Gäste in der Gruppe, alle hier wegen einer zerstückelten Leiche in Plastiksäcken.

Rebecca Trolle. Die DNA-Tests hatten verifiziert, dass es sich um sie handelte. Alte DNA, aus einem fast vermoderten Körper gewonnen. Ein Prozess, der durch die ungewöhnlichen Umstände beschleunigt worden war: Vorfahrt beim Forensischen Institut SKL und auch bei allen anderen Stellen, wo es notwendig gewesen war.

Alex, der keinerlei Zweifel an der Identität der Leiche gehabt hatte, wollte sofort durchstarten. »Wir haben vor weniger als einer Stunde den Bescheid vom SKL bekommen. Es geht nichts an die Medien, ehe Rebeccas Mutter informiert ist.«

»Überbringen wir ihr die Todesnachricht?«, fragte Peder.

Die Todesnachricht. Hieß das so, wenn man jemandem mitteilte, dass ein Mensch, der seit zwei Jahren vermisst gewesen war, tot aufgefunden wurde?, fragte Fredrika sich und kam zu dem Schluss, dass es wohl so sein musste. Denn auch wenn der Tod der einzig logische Schluss war, gab es keinen Grund, je die Hoffnung aufzugeben. Nicht wenn man denjenigen, der verschwunden war, wirklich liebte, nicht wenn man die Hoffnung so bitter benötigte. Wie viele Jahre müsste Saga vermisst sein, ehe Fredrika die Hoffnung aufgeben würde? Hundert? Tausend?

»Wir teilen ihr mit, dass ihre Tochter tot aufgefunden worden ist«, bestimmte Alex. »Ich werde das Gespräch selbst übernehmen, wenn wir mit dieser Besprechung fertig sind. Fredrika wird mich begleiten.«

»Ich hätte eine Frage, die ich gern mit ihr besprechen würde«, wandte Peder ein. »Also, mit der Mutter.«

»Es wird noch viele Gelegenheiten geben, mit ihr zu reden, Peder. Ich habe seit 2007 den Kontakt zu ihr gehalten und bin sicher, dass die Todesnachricht ihr letztendlich Seelenfrieden schenken wird. Sie hat immer geahnt, dass ihre Tochter tot ist, möchte es aber bekräftigt sehen. Und dann will sie natürlich wissen, was passiert ist.« Alex holte Luft. »Die exakte Todesursache ist schwer festzustellen, weil die Leiche so lange in der Erde gelegen hat. Es gibt nichts, was auf Schussverletzungen oder andere physische Traumata–Rippenbrüche oder Ähnliches– hinweist. Sie könnte erdrosselt worden sein, aber das ist nicht sicher.« Er schlug eine Aktenmappe auf und holte eine Reihe Fotografien heraus. »Allerdings konnte der Rechtsmediziner feststellen, dass sie zum Zeitpunkt ihres Todes schwanger war.«

Fredrika hob entsetzt den Kopf. »Wussten wir davon?«

»Nein, nicht in einem einzigen Verhör, das wir während der Ermittlungen geführt haben, ist das zur Sprache gekommen. Und wir haben damals mit buchstäblich jedem Menschen geredet, den Rebecca kannte, mit dem sie je auch nur telefoniert hat. Wir haben jeden einzelnen Kontakt ausfindig gemacht, den sie in ihrem Mailkonto hatte, aber nicht ein Einziger hat ausgesagt, dass sie schwanger war.«

»Also wusste es wahrscheinlich niemand«, sagte Fredrika.

»Es macht ganz den Eindruck«, stimmte Alex zu. »Und wir müssen uns fragen, warum. Warum erzählt ein junges Mädchen nicht, dass es im vierten Monat schwanger ist?«

»Im vierten Monat?«, echote Peder. »Und da hat man nichts gesehen?«

»Das hätten wir erfahren«, sagte Alex.

»Sie muss sich doch irgendjemandem anvertraut haben«, meinte Fredrika.

»Vielleicht dem Vater des Kindes?«, schlug Peder vor, »der sich über die Nachricht nicht allzu sehr freute und sie erschlug?«

»Und dann die Leiche zerstückelte«, sagte Alex. Er berührte die Fotografien. »Wenn jemand einen Menschen, den er ermordet, auch noch zerstückelt, dann tut er dies in der Regel aus zwei Gründen. Entweder er möchte die Identifizierung erschweren, oder er ist ein krankes, sadistisches Aas. Aber dann vergräbt man wahrscheinlich alles an einem Ort.«

»Vielleicht trifft ja auch beides gleichzeitig zu«, gab Fredrika zu bedenken.

Alex sah sie an.

»Das könnte sein. Und in dem Fall haben wir richtig Pech.«

»Wenn wir die Schwangerschaft in unsere Hypothese mit hineinnehmen, dann wird es persönlich«, sagte Peder.

»Unbedingt, und deshalb setzen wir genau da an«, sagte Alex. »Wer war der Vater des Kindes, und warum wusste niemand, dass sie es erwartete?«

»Wie sah es denn in der damaligen Ermittlung aus?«, fragte Fredrika. »Ist es euch gelungen, irgendwelche Verdächtigen einzukreisen?«

»Wir haben wie die Verrückten nach dem neuen Freund gesucht, von dem die Rede war, haben ihn aber nie ausfindig machen können. Das war von Anfang bis Ende eine seltsame Geschichte. Wir konnten nirgends eine Spur von ihm finden, weder in ihren Telefondaten noch in ihren E-Mails. Niemand kannte seinen Namen, aber mehrere behaupteten, von ihm gehört zu haben. Er schwebte wie ein unseliger Geist über der ganzen Ermittlung, aber wir konnten ihn nicht finden.«

Peder runzelte die Stirn. »Es gab auch eine Exfreundin.«

»Daniella.«

»Genau, aber warum hatte Rebecca Trolle jetzt plötzlich einen Freund?«

Alex sah müde aus. »Ich habe keine Ahnung. Ihre Mutter hat sie als eine Suchende beschrieben. Sie war mit mehreren Jungs zusammen, aber nur mit einem Mädchen.«

»War die Freundin je verdächtig?«, fragte Fredrika.

»Eine Zeit lang war das eine Arbeitshypothese«, antwortete Alex. »Aber sie hatte ein Alibi, und wir konnten auch kein wirkliches Motiv finden.«

»Håkan Nilsson«, sagte Peder, »was war mit dem?«

Ein Lächeln spielte über Alex’ Gesicht, verlor sich in den Falten und verschwand wieder. Dieses knappe Lächeln war zum Signum der Trauer geworden.

»Håkan haben wir uns gründlich angesehen. Nicht zu Anfang, aber doch, als wir keine anderen Spuren mehr hatten, um die wir uns kümmern konnten. Sein Eifer, behilflich zu sein, seine Kampagne, dass sie um jeden Preis gefunden werden müsse– das roch nach mehr als Freundschaft und wirkte fast manisch. Als die anderen Freunde schon lange nicht mehr konnten, stand allein Håkan noch immer da und suchte weiter.«

»Wer am meisten zu verbergen hat…«

»…will am meisten zeigen, dass er sich kümmert, ich weiß. Aber ich glaube nicht, dass es in Håkans Fall so war.«

Als Alex verstummte, sagte Peder: »Er wohnt in Midsommarkransen, Alex. Wir müssen uns ihn noch mal vornehmen.«

Alex richtete sich auf. Das war neu für ihn. »Allerdings«, bekräftigte er dann. »Wir müssen uns sie alle noch einmal ansehen, aber vor allem Håkan. Aber wir holen ihn uns nicht gleich.«

»Warum nicht?«

»Weil ich sehen will, wie er reagiert, wenn die Neuigkeit in den Medien ist. Setz jemanden auf ihn an, damit wir sehen, was er tut.«

Alex sah zu Fredrika. »Und wir fahren jetzt und besuchen Diana Trolle, Rebeccas Mutter.«

Sie sprachen kaum auf dem Weg zu Diana Trolle. Alex spürte Fredrikas Fragen– wie es ihm gehe, über die Einsamkeit und wie es sei, wieder zur Arbeit zu gehen. Und auch er selbst hatte Fragen. Wie ging es Saga? Schlief sie nachts durch, oder hielt sie ihre Eltern wach? Aß sie richtig, hatte sie schon Zähne? Aber er bekam nichts heraus. Er fühlte sich wie eine fest verschlossene Muschel. Eine Muschel, die leicht weggespült werden konnte.

Der Weg nach Spånga war nicht weit. Er war schon viele Male dort gewesen, aber das war jetzt lange her. Er erinnerte sich daran, dass er Diana Trolle gemocht und sie attraktiv gefunden hatte. Eine Künstlerseele, die in einem öden Job am Landgericht verschlissen wurde.

Zu Anfang, während die Suche noch voranging, war sie immer voller Hoffnung gewesen. Alex hatte ihr ehrlich zu verstehen gegeben, dass die ersten Tage entscheidend seien. Wenn die Tochter in der Zeit nicht gefunden würde, dann war die Wahrscheinlichkeit, sie noch einmal lebend zu sehen, sehr gering. Sie hatte seine Worte mit großer Ruhe aufgenommen– nicht weil die Tochter in ihrem Leben nicht bedeutungsvoll gewesen wäre, sondern weil sie für sich beschlossen hatte, das Elend nicht vorwegzunehmen.

Diese Haltung hatte sie sich lange bewahrt. »Solange sie nicht tot ist, lebt sie«, hatte sie gesagt und Alex damit einen Satz an die Hand gegeben, den er in vergleichbaren Fällen anwenden konnte.

Doch jetzt war es eine Tatsache. Rebecca war tot. Ihr Nabelschmuck ruhte in Alex’ Sakkotasche. Es gab nichts Barmherziges in dem, was Alex und Fredrika jetzt überbringen mussten. Vielleicht war da die Möglichkeit eines Abschlusses, aber dies auch nur, wenn sie erklären konnten, was zu Rebeccas Tod geführt hatte. Doch so weit waren sie noch nicht.

Noch bevor sie klingeln konnten, machte sie die Tür auf. Alex war es, der die Todesnachricht überbrachte, nachdem sie eingetreten waren und sich im Wohnzimmer niedergelassen hatten.

Diana saß in einem großen Sessel und weinte. »Wie ist sie gestorben?«

»Wir wissen es noch nicht, Diana. Aber ich verspreche Ihnen, dass wir es herausfinden werden.«

Alex sah sich um. Rebecca lebte in der Wohnung ihrer Mutter weiter. Auf Bildern zusammen mit ihrem Bruder, auf einem Gemälde, das ihre Mutter anlässlich ihrer Konfirmation selbst gemalt hatte.

»Ich wusste es, als ich Sie aus dem Auto steigen sah. Aber natürlich habe ich trotzdem gehofft, dass Sie etwas anderes zu erzählen hätten.«

Fredrika stand auf. »Ich könnte Tee oder Kaffee machen, wenn Sie möchten. Wenn es in Ordnung ist, dass ich in Ihrer Küche herumfuhrwerke.«

Diana nickte stumm, und Alex musste unwillkürlich darüber nachdenken, ob er Fredrika je etwas Vergleichbares hatte anbieten hören. Wohl kaum.

Er hörte den Wasserkocher starten und das Klappern von Geschirr auf einem Tablett.

Alex wählte seine Worte mit Bedacht. »Wir nehmen die Ermittlungen mit voller Kraft wieder auf. Ich hoffe, Sie denken nichts anderes.«

Diana lächelte unter Tränen. Feuchte Tropfen auf den hohen Wangenknochen. Dunkle Augen unter wilden Haaren. Hatte die Trauer um die verschwundene Tochter sie altern lassen? Er fand nicht.

»Sie haben den, der das getan hat, nie gefunden«, erinnerte sie ihn.

»Nein, das haben wir nicht«, gab Alex zu. »Aber die Situation ist jetzt eine andere.«

»Inwiefern?«

»Jetzt haben wir einen Fundort, einen geografischen Punkt, mit dem wir den Täter verknüpfen können. Wir hoffen, Spuren desjenigen zu finden, der das getan hat, aber…«

»Es ist ziemlich viel Zeit vergangen.«

»Wir schaffen es trotzdem.«

Seine Stimme war vor Wut und Überzeugung angespannt. Es tat weh, die Hoffnung verlieren zu müssen, die der Verzweiflung voranging. Niemand wusste das besser als Alex.

Wir schaffen es trotzdem. Alles andere ist inakzeptabel.

Das hatte er auch zu Lena gesagt, häufiger, als sie es hören wollte. Am Ende hatte er so viel Zeit darin investiert, eine Rettung zu finden, dass er nicht einmal mehr merkte, dass es ihr immer schlechter ging.

»Mama stirbt«, hatte seine Tochter irgendwann gesagt. »Und du bist nicht dabei, Papa.«

Dass Erinnerungen so wehtun konnten! So verdammt teuflisch wehtun konnten!

Sein Gesichtsfeld wurde von Tränen verwischt.

Fredrika kehrte mit dem Kaffeetablett zurück und rettete ihn, ohne es zu wissen. »So«, sagte sie sanft. »Milch?«

Sie tranken schweigend und ließen sich von der Stille umfangen.

Alex hatte die genaueren Umstände des Leichenfunds nicht erwähnt. Dass sie zerstückelt und in Plastiksäcken unter die Erde gebracht worden war. Er zögerte, ehe er davon erzählte. Er hasste diesen Teil seines Jobs.

Mit weit aufgerissenen Augen hörte Diana ihm zu. »Ich verstehe das nicht.«

»Wir auch nicht, aber wir tun, was wir können, um diese Geschichte aufzuklären.«

»Wer ist denn so krank, dass…«

»Denken Sie nicht darüber nach! Denken Sie nicht so.« Alex schluckte. »Es gibt noch ein Detail, von dem ich Sie in Kenntnis setzen möchte. Oder eigentlich zwei. Damit Sie es nicht aus der Presse erfahren.« Und dann erzählte er, dass Hände und Kopf fehlten. Sachlich und distanziert. Gleichzeitig übergab er den Nabelschmuck.

Diana nahm ihn entgegen, ohne etwas dazu zu sagen. »Und das andere? Sie haben gesagt, es seien zwei Sachen.« Ihre Stimme war heiser vor Anspannung. Die Tränen wollten nicht versiegen.

»Sie war schwanger.«

»Was sagen Sie da?«

»Sie wussten es also nicht?«

Sie schüttelte den Kopf, zitterte am ganzen Körper.

»Wir müssen den Vater des Kindes identifizieren«, sagte Fredrika. »Ich weiß, dass Sie von keinem aktuellen Freund wussten, aber hat Rebecca vielleicht manchmal davon gesprochen, dass sie sich ein Kind wünschte?«

»Doch, natürlich hat sie das. Aber nicht jetzt, sondern später irgendwann. Über solche Fragen haben wir ganz offen miteinander gesprochen. Sie hat die Pille genommen und hat darauf geachtet, sich zu schützen.«

»Wie lange hat sie das getan? Die Pille genommen?«

»Ja, wie alt war sie denn, als zum ersten Mal die Sprache darauf kam? Siebzehn, glaube ich. Ich habe sie zur Sprechstunde gefahren.«

Aus Fredrikas Sicht eine vorbildliche Elternschaft.

Alex nahm das Heft wieder in die Hand. Er wollte nicht, dass sich das erste Treffen mit Diana Trolle allzu lange hinzog. »Es ist lange her, seit Rebecca verschwunden ist«, begann er und fragte dann: »Hat sich in der Zwischenzeit etwas Neues ergeben?«

Wie lange waren zwei Jahre? Zwei Jahre konnten den entscheidenden Unterschied ausmachen zwischen Single sein und eine Familie haben, eine Familie haben und sie verlieren.

Diana räusperte sich. »Eine Freundin hat vor einiger Zeit etwas ganz Schreckliches gesagt, dem ich ehrlich gesagt nicht viel Bedeutung beigemessen habe. Es war ganz einfach zu blöd.«

Fredrika und Alex warteten.

»Die Freundin hat eine Tochter, die zusammen mit Rebecca studierte, und sie hat angedeutet, der Täter könnte jemand sein, den Rebecca im Internet kennengelernt habe.«

»Das ist doch nichts Ungewöhnliches«, bemerkte Fredrika vorsichtig, »heutzutage treffen doch viele ihren Partner übers Internet.«

»Nicht auf diese Weise«, sagte Diana. »Sie meinte… ihre Tochter habe behauptet, Rebecca hätte gewisse Dinge übers Internet verkauft.«

»Dinge?«

»Sich selbst.«

Alex erstarrte. »Wie in Gottes Namen kam sie denn auf so etwas?«

»Es sei ein Gerücht, meinte sie, das sich nach Rebeccas Verschwinden verbreitet habe. Aber ich kann mir in meinen wildesten Fantasien nicht vorstellen, dass…«

Ihre Stimme erstarb.

»Fehlte es Rebecca an Selbstvertrauen?«, fragte Fredrika.

»Nein, ganz und gar nicht.«

»War sie oft allein?«

»Sie hatte massenhaft Freunde.«

»Brauchte sie Geld?«

»Dann wäre sie zu mir gekommen. Das tat sie immer.«

Nicht immer. Das hatte Alex im Laufe der Jahre gelernt. »Immer« war ein Wort, das sich Eltern gern zurechtlegten, während »meistens« realistischer war.