Stille Gefahr - Shiloh Walker - E-Book

Stille Gefahr E-Book

Shiloh Walker

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Beschreibung

Nachdem Hope Carson der Ehe mit einem gewalttätigen Polizisten entkommen ist, hofft sie, in dem Städtchen Ash, Kentucky, endlich Ruhe zu finden. Doch dann wird sie in einen Mordfall verwickelt. Der Polizei kann sie nicht trauen und genauso wenig dem Staatsanwalt Remy Jennings. Doch er ist der Einzige, der zu ihr steht, als sie im Strudel der Ereignisse unterzugehen droht.

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SHILOH WALKER

STILLE GEFAHR

Roman

Ins Deutsche übertragen von

Heide Franck

Wie immer … für meine Familie. Jeden einzelnen Tag meines Lebens danke ich Gott für euch, und das ist noch nicht oft genug. Diese Widmung habe ich inzwischen an die sechzig Mal geschrieben. Und auch das ist noch zu wenig. Ihr seid mein Ein und Alles. Ich liebe euch!

1

»Die Frau ist krank, fürchte ich.«

Remington Jennings rieb sich die Nasenwurzel und versuchte, nicht an Hope Carsons traurige grüne Augen und ihr seidiges braunes Haar zu denken. »Was meinen Sie mit ›krank‹? Können Sie mir nicht ein bisschen weiterhelfen, Detective Carson?«

Der Mann am anderen Ende der Leitung seufzte. »Tja, eigentlich nur ungern. Sehen Sie, wenn alles in bester Ordnung wäre, hätte ich wohl kaum einen Staatsanwalt an der Strippe, der mich wegen meiner Frau ausquetscht. Ich will sie nicht in Schwierigkeiten bringen.«

»Sie ist Ihre Exfrau, und sie steckt bereits in Schwierigkeiten. Sie möchten doch sicher auch, dass ihr geholfen wird, oder?«, fragte Remy, wobei seine Stimme einen scharfen Unterton bekam. Verdammt, man musste nicht Psychologie studiert haben, um zu sehen, dass diese Frau keiner Fliege etwas zuleide tun könnte, es sei denn, sie geriet in Bedrängnis …

»Sie wollen ihr also helfen, Jennings, ja?« Der Detective lachte, doch es klang ganz und gar nicht fröhlich, sondern traurig und bitter.

»Sonst hätte ich Sie wohl kaum angerufen. Ich will sie ja nicht einsperren und den Schlüssel wegwerfen. Kommen Sie, helfen Sie mir, Detective.« Verflucht, Carson, stellen Sie sich nicht so an.

»Ich soll Ihnen helfen? Sie meinen, Ihnen dabei helfen, Hope zu helfen.« Wieder seufzte Joseph Carson. Er war Hopes Exmann, ein Bulle irgendwo im Westen. Außerdem stellte er sich gerade als absolutes Arschloch heraus.

Im Hintergrund hörte Remy ein leises Knarren. »Mr Jennings, lassen Sie es mich mal ganz deutlich sagen: Sie können Hope nicht helfen, weil sie keine Hilfe will, verdammt noch mal. Die Frau ist ziemlich durcheinander. Sie … Scheiße, das kommt mir wirklich schwer über die Lippen, aber kurz nach unserer Hochzeit wurde bei ihr eine Borderline-Persönlichkeitsstörung diagnostiziert. Sie ist manipulativ, ein regelrechtes Chamäleon. Was auch immer die Leute in ihr sehen wollen, sie gaukelt es ihnen vor. Sie glauben vielleicht, vor einer Frau zu stehen, der Sie helfen können – wenn sie es nur zulässt. Aber so ist es nicht. Ihr Bild von ihr entspricht lediglich dem, das Sie haben sollen.«

Remy presste die Zähne aufeinander und ballte die Faust so fest um seinen Bleistift, dass er zerbrach.

Scheiße – das … Nein. Das stimmte nicht. Alles in ihm sträubte sich gegen diese Vorstellung. Sie kam ihm so verkehrt vor. Das konnte einfach nicht wahr sein.

Doch seine Stimme klang kühl und gefasst, als er nachfragte: »Borderline, sagten Sie? Ist sie in der Vergangenheit jemals gewalttätig geworden?«

Es gab einen langen, unangenehmen Moment des Schweigens, bis Carson schließlich antwortete. »Ja, schon. Allerdings nur gegen sich selbst … und gegen mich. Ich habe es für mich behalten, weil ich nicht wollte, dass die Leute schlecht von ihr denken. Und was mich angeht … na ja, ich habe mich geschämt – für sie, für mich, für uns beide. Als es dann aber richtig schlimm wurde, konnte ich es nicht mehr verbergen.«

»Wollen Sie damit sagen, dass sie Ihnen Gewalt angetan hat?« Remy wusste, eigentlich hätte er sich Notizen machen sollen, mit dieser Information arbeiten müssen.

Doch er konnte nicht, er konnte es einfach nicht glauben, es nicht einmal verstehen. Diese Frau sollte jemanden geschlagen haben?

Nein. Das ergab für ihn einfach kein stimmiges Bild.

»Genau das.« Wieder seufzte Carson.

»Sie sagen also, dass sie tatsächlich gewalttätig war?«

»Verdammt, habe ich Ihnen das nicht gerade erklärt?«, knurrte der Detective.

Remy umfasste den Hörer so fest, dass das Plastik eigentlich hätte knacken müssen. Diese ganze Sache stank – stank zum Himmel, und er wusste es, spürte es instinktiv.

Sie ist manipulativ, ein regelrechtes Chamäleon. Was auch immer die Leute in ihr sehen wollen, sie gaukelt es ihnen vor. Sie glauben vielleicht, vor einer Frau zu stehen, der Sie helfen können – wenn sie es nur zulässt. Aber so ist es nicht. Ihr Bild von ihr entspricht lediglich dem, das Sie haben sollen.

Verflucht noch mal, ließ er sich die ganze Zeit von ihr an der Nase herumführen?

Im Augenblick war er sich da wirklich nicht sicher.

Er holte einmal tief Luft und konzentrierte sich wieder auf das Telefongespräch. »Können Sie mir einige Beispiele nennen? Beschreiben, was passiert ist?«

»Beispiele, Herrgott.« Carson fluchte. »Warum sollte ich Ihnen das überhaupt erzählen? Verraten Sie mir das mal«, forderte er dann.

»Sollte sie psychisch gestört sein, braucht sie wirklich Hilfe. Und dann würde ich ihr lieber diese Hilfe verschaffen, als sie einzusperren. Sie kennen sie sicherlich besser als jeder andere. Wenn sie Ihnen also am Herzen liegt, helfen Sie mir, ihr zu helfen. Kommen Sie, Detective. Als Polizist sind sie dazu verpflichtet, das Gesetz zu achten und Menschen zu beschützen. Wenn sich Ihre Frau als gefährlich erweisen sollte …«

»Ihr beschissenen Anwälte wisst immer genau, was ihr sagen müsst«, brummte Carson. Doch in seiner Stimme schwang keinerlei Wut oder Groll mit, lediglich Ermüdung. »Ja, man könnte sagen, sie hat eine aggressive Ader. Und es kam vor, dass sie gewalttätig geworden ist. Sie ist sehr manipulativ, und der Hang zur Gewalt nimmt zu, wenn sie ihren Willen nicht bekommt. Dann wird sie labil und unberechenbar. Schwer zu sagen, was sie einem Menschen antun könnte, von dem sie meint, dass er ihr im Weg steht.«

Unvermittelt verschwand der ruhige, sachliche Tonfall aus seiner Stimme, und Carson knurrte: »Bitte, jetzt habe ich Ihnen all die schmutzigen Details geliefert, die Sie hören wollten. Erzählen Sie mir nicht, Sie könnten damit nichts anfangen. Bei Gott, ich hasse mich selbst dafür, auch wenn ich weiß, dass sie Hilfe braucht. Und jetzt verraten Sie mir, was zur Hölle eigentlich los ist!«

Remy stieß einen Seufzer aus. »Momentan liegt sie im Krankenhaus – versuchter Selbstmord. Außerdem gab es einen Übergriff auf einen Freund von ihr. Wie’s aussieht, könnte sie es gewesen sein.«

»Scheiße.« Carsons Stimme klang barsch, Zorn und Kummer schwangen darin mit. »Sie hat schon früher versucht, sich umzubringen. Auch wenn ich das jetzt ungern höre, überrascht es mich kaum. Aber dieser Freund … Sie meinten, ein Freund von ihr wurde angegriffen?«

»Ja.« Remy starrte finster ins Leere. »Vielleicht sagt Ihnen sein Name etwas – anscheinend kennen die beiden sich schon ziemlich lange. Er heißt Law Reilly.«

»Reilly.« Carson ächzte. »Ja, ich kenne Law. Ich würde ja gern behaupten, es wundere mich, dass sie auf ihn losgeht, aber Hope hat sich schon immer gegen diejenigen gewendet, die ihr helfen wollten. Die sie gernhaben.«

Remy schloss die Augen.

Verflucht, hatte der Kerl irgendetwas zu sagen, das ihm irgendwie die Entscheidung, wie er mit Hope umgehen sollte, erleichtern würde?

Hätte er sie wegsperren wollen, dann wären ihm diese Neuigkeiten natürlich wie gelegen gekommen.

So wie die Sache lag, konnte er beinahe schon die Zellentür hinter ihr ins Schloss fallen hören, und bei der Vorstellung drehte sich Remy der Magen um. »Sie glauben also, sie könnte Mr Reilly etwas antun?«

»Bei Hope kann man es einfach nie wissen. Was ich weiß, ist, dass sie zu so ziemlich allem fähig ist. Und ich wünschte, ich könnte ihr helfen. Himmel, wie gern würde ich glauben, Sie könnten das. Aber ich bin machtlos, und ich glaube kaum, dass Sie etwas erreichen werden. Hope will keine Hilfe, sie sieht nicht ein, dass sie welche braucht. Hören Sie, wenn ich irgendwas tun kann, dann sagen Sie es nur. Auch wenn ich ihr keinen Ärger machen will, soll sie Hilfe bekommen, bevor es zu spät ist.«

Den Rest des Gesprächs bekam Remy kaum noch mit. Er hatte sich endlich eingestanden, dass er im Prinzip gerade die Beweise bekommen hatte, die er brauchte.

Hope Carsons Fingerabdrücke waren überall auf der Waffe gefunden worden, mit der Law Reilly zusammengeschlagen worden war.

Sie hatte sich die Pulsadern aufgeschlitzt.

Sie war bereits früher gewalttätig geworden.

War bereits früher auf Menschen losgegangen, die sie gernhatten.

Ihrem Exmann zufolge – der sie ebenfalls gernzuhaben schien – war sie manipulativ und neigte dazu, ihren Willen durchzusetzen, koste es, was es wolle.

Scheiße, Scheiße, Oberscheiße.

Statt sich zufrieden seine nächsten Schritte zu überlegen, ertappte er sich dabei, wie er an diese traurigen, traurigen grünen Augen dachte …

Scheiße.

Als Nia Hollister am Blue Grass Airport in der Nähe von Lexington landete, konnte sie vor Müdigkeit kaum noch die Augen offen halten, ihr Herz war schwer vor Trauer und am liebsten hätte sie sich in eine dunkle, stille Ecke gekauert und einfach nur … geheult.

Eigentlich war sie nicht der Typ, der einfach losweinte, aber diesmal war die Versuchung groß, beinahe überwältigend. Ab und zu spürte sie, dass die Tränen ihr wie ein dicker Kloß im Hals steckten. Und ein Schrei – ihrer Kehle drohte sich ein Schrei zu entringen.

Sie unterdrückte ihn mit purer Willenskraft.

Jetzt war nicht der Zeitpunkt, um zu schreien oder zu flennen.

Tief im Herzen wollte sie immer noch glauben, dass sie sich irrten.

Sie alle.

Joely war nicht tot. Das konnte einfach nicht sein. Sie waren doch wie Schwestern, standen sich fast sogar noch näher.

Die beiden stritten sich so gut wie nie. Sie waren beste Freundinnen, ein Herz und eine Seele. Auch wenn Nia sich die Hälfte des Jahres am anderen Ende des Landes aufhielt – oder außer Landes …

Sie konnten sich irren. Sie alle – Bryson, Joelys Verlobter, der Nia nicht einmal begleiten wollte, um die Leiche zu identifizieren, die Polizei, die darauf beharrte, dass es sich um Joely handelte … alle. Sie alle konnten sich irren.

Vielleicht war es nicht Joely.

Aber wenn die tote Frau in dem Leichenschauhaus in Ash, Kentucky, nicht ihre Cousine war, wo steckte diese dann?

Ihr Verlobter hatte sie schon seit über einem Monat nicht gesehen.

Sie ging nicht ans Handy, beantwortete keine E-Mails.

Sie war wie vom Erdboden verschluckt.

Nein … sie ist nicht vom Erdboden verschluckt worden. Während du im Ausland warst, lag sie die ganze Zeit tot im Kühlraum des Leichenschauhauses, du egoistisches Miststück.

Niemand war dort gewesen, weil die Polizei sich immer erst an die Familie wandte. Obwohl Bryson eigentlich auch darauf hätte bestehen sollen, hinzufahren, vor allem da man Nia nicht hatte erreichen können. Nicht im Lande – verflucht.

Sie war nicht da gewesen, während man ihre Cousine entführt hatte, war nicht da gewesen, während sie ermordet wurde, sie war die ganze Zeit über nicht da gewesen, und deswegen hatte man Joely wie ein Stück Dreck behandelt.

Nia war nicht da gewesen. Oh Gott … Tränen brannten ihr in den Augen. Fast drei Wochen lang hatte niemand sie erreichen können. Joely kannte ihre Telefonnummer, aber sie hatte sie wohl nicht an ihren Verlobten weitergegeben.

Erschöpfung und Trauer nahmen Nias Schritten das Tempo, während sie ihren kleinen Trolley durch den Flughafen hinter sich herzerrte. Wer wie sie seit Jahren aus dem Koffer lebte, reiste nur noch mit leichtem Gepäck und so hatte sie nichts Größeres aufgegeben. Ihre restlichen Sachen würden per Post in ihrer Wohnung in Williamsburg eintreffen.

Sie musste dringend einen Waschsalon ausfindig machen, aber dieses Problem konnte warten.

Im Augenblick brauchte sie erst einmal einen Leihwagen. Also: Wagen leihen! Dann musste sie …

Vor einem Werbeplakat in fröhlichen Farben blieb sie stehen, es zeigte ein fuchsfarbenes Pferd, das über eine grüne Wiese galoppierte. Wie betäubt starrte sie für einen langen Moment darauf, ehe sie sich wieder in Bewegung setzte.

Leihwagen. Ash, Kentucky. Dort musste sie hin. Sie musste …

»Kann ich Ihnen helfen?«

Nia zuckte zusammen. Da erst merkte sie, dass sie einen der Sicherheitsleute mit leerem Blick angestarrt hatte. Blinzelnd sah sie sich um. Sie wusste weder, wo sie war, noch, wie sie hierhergekommen war.

Der Wachmann musterte sie, seine Miene spiegelte eine merkwürdige Mischung aus Besorgnis und Misstrauen wider. »Geht es Ihnen gut?«

Nia schluckte trocken. Dieser Kloß in ihrem Hals schwoll zu einer gewaltigen Größe an, und plötzlich stand sie wieder kurz davor, in Tränen auszubrechen. »Ich … hatte ein paar anstrengende Tage.«

»Sieht ganz so aus.« Er deutete mit dem Kopf zur Seite. »Sie haben geschlagene fünf Minuten mitten in der Halle gestanden. Wo möchten Sie denn hin? Vielleicht kann ich Ihnen weiterhelfen.«

Nia presste sich die Handballen gegen die Schläfen. Verflucht.

Der Schmerz in ihrer Brust wurde schlimmer.

Ash – sie musste nach Ash, wo auch immer das lag.

Aber wenn sie schon wie ein Zombie auf dem Flughafen herumstand, dann sollte sie sich vielleicht besser nicht hinter das Steuer eines Wagens setzen. Bei der Erkenntnis lief Nia ein kalter Schauer die Wirbelsäule hinunter, und sie seufzte. »Ich brauche ein Taxi zu meinem Hotel«, antwortete sie schließlich.

Ash musste bis zum nächsten Morgen warten.

Der Gedanke missfiel ihr zwar, aber selbst im Zustand der Trauer überwog ihr Pragmatismus. Ausgelaugt wie sie war, wäre es der reinste Selbstmord, Auto zu fahren. Auch wenn sie dringend nach Ash wollte, gegen sich selbst kam sie nicht an.

Und vielleicht hatte sie ja noch Glück … und würde beim Aufwachen feststellen, dass das Ganze nur ein schrecklicher Albtraum gewesen war.

Das Gespräch mit Detective Joseph Carson beschäftigte ihn immer noch, als Remy sich Stunden später im Bett wälzte und versuchte einzuschlafen.

Doch er war einfach zu aufgewühlt. Erst weit nach Mitternacht fielen ihm endlich die Augen zu.

In manchen Nächten brauchte er sich nur hinzulegen und schlief kurz darauf schon wie ein Stein. Als einer von zwei Staatsanwälten im Bezirk Carrington, Kentucky, hatte er bereits Methdealer, ein paar Kinderschänder und Vergewaltiger, ziemlich viele betrunkene Autofahrer und einige gewalttätige Ehemänner hinter Gitter gebracht. Gelegenheitsdiebe kamen ihm außerdem ständig unter.

Selbst in seinem kleinen, ziemlich ländlichen Bezirk waren Verbrechen keine Ausnahme.

Und er mochte seinen Job.

Aber heute Abend hatte er Mühe, Schlaf zu finden. Verdammt, von wegen Mühe – es gelang ihm überhaupt nicht.

Jedes Mal, wenn Remy die Augen schloss, dachte er an eine grünäugige Brünette und daran, was er am nächsten Morgen zu erledigen hatte.

Am liebsten wollte er es gar nicht tun.

Er gäbe sonst etwas darum, es nicht tun zu müssen.

Aber er hatte seinen Beruf schließlich nicht gewählt, um sich dann vor den schwierigen Aufgaben zu drücken.

Alle Fakten deuteten darauf hin, dass Hope Carson eine gewalttätige, psychisch kranke Frau war.

Scheiß auf die Fakten, sagte sein Instinkt. Aber er durfte nicht ignorieren, was sich klar abzeichnete, durfte weder die Beweislage außer Acht lassen noch das, was er inzwischen erfahren hatte.

Es war eindeutig, worin seine Aufgabe jetzt bestand.

Er hatte eben manchmal einen total miesen Job.

Weit nach Mitternacht fiel Remy schließlich in einen unruhigen Schlaf mit ebenso unruhigen Träumen.

Mit Albträumen.

Solchen, in denen er sie so sah wie in jener Nacht in der Notaufnahme: über und über mit Blut bedeckt.

Bleich.

Eine Stimme flüsterte: Das hast du dir selbst angetan …

»Nein, habe ich nicht. Nein, habe ich nicht«, widersprach Hope zittrig, aber im Brustton der Überzeugung.

Voller Entsetzen stand Remy daneben. Am liebsten hätte er sie in den Arm genommen, sie weggebracht, fort von all diesem Grauen. Doch dann tauchte Sheriff Nielson auf und hielt ihm ein Paar Handschellen hin.

»Sie soll verhaftet werden? Schön. Machen Sie es selbst.«

Doch das war nicht Remys Job – er war kein verdammter Bulle. Er verhaftete niemanden. Er besorgte die Haftbefehle und vertrat die Anklage.

»Schon klar, wir sollen uns die Hände schmutzig machen. Wenn Sie sie einsperren wollen, dann machen Sie es doch selbst.«

Und genau das tat er. Remy legte Handschellen um Handgelenke, die zu schmal, zu zerbrechlich schienen, um derartig belastet zu werden.

Remy war derjenige, der Hope zu einer Zelle führte.

Er öffnete die Tür, woraufhin sie zwar schweigend hineinging, doch er las es von ihren Augen ab.

Ich habe das nicht getan.

Als er sich wegdrehte, setzten die Schreie ein. Endlose, schmerzerfüllte Schreie. Doch er wusste nicht, ob sie von ihr kamen … oder von ihm selbst.

So erwachte er schließlich.

Mit dem Echo dieses Geschreis im Ohr.

»Verdammt«, keuchte er, fuhr im Bett auf und kämpfte sich aus den Laken, in denen er sich verheddert hatte wie zwischen Seilen.

Sein Atem ging stoßweise, während er auf der Bettkante saß und ins Leere starrte. Er hatte ein elendes Gefühl im Magen, und sein Kopf wummerte wie schon seit Collegezeiten nicht mehr. Damals hatte er geglaubt, kurze Nickerchen und Koffein allein würden ihn durch den Tag bringen.

In wenigen Stunden sollte er sich mit dem Sheriff im Krankenhaus treffen.

Heute würde Hope Carson verhaftet werden, und Remy war machtlos dagegen. Diese Frau konnte ihn nur mit ihren Blicken in eine Salzsäule verwandeln. So war es ihm noch nie zuvor ergangen. Bei keiner. Scheiße, was für ein Schlamassel.

Natürlich ahnte sie nichts davon.

Gott sei Dank wusste niemand davon.

Er hatte seine Gefühle geheim gehalten, wenigstens das war ihm gelungen.

Aber verflucht noch mal, er musste sich zusammenreißen.

Er musste sich konzentrieren, in die Gänge kommen, musste … etwas unternehmen.

Ächzend stand Remy auf und schlurfte nackt in Richtung Badezimmer. Vielleicht würde es helfen, wenn er lange genug heiß duschte und dann genug Koffein in sich hineinpumpte … vielleicht.

Vielleicht, vielleicht …

Er machte das Licht an, doch als es seine müden Augen mit der Wucht eines Vorschlaghammers traf, schaltete er es stöhnend wieder aus.

Kein Licht. Noch nicht.

Erst eine Dusche. Anschließend Kaffee.

Dann Licht.

Eventuell.

Eigentlich brauchte er ja auch gar kein Licht, nicht zum Duschen … und auch nicht zum Anziehen. Im Dunkeln musste er nicht fürchten, seinem Spiegelbild zu begegnen, oder?

Das Letzte, worauf er jetzt Lust hatte, war, sich selbst in die Augen zu schauen.

Egal, wie die Beweislage aussah, egal, was die logische Schlussfolgerung aus dem Ganzen war, es fühlte sich einfach falsch an.

Grundfalsch.

Es gab Tage, an denen Hope Carson sich wünschte, sie wäre einfach durch Ash hindurchgefahren. Statt in der Kleinstadt in Kentucky Halt zu machen, um wie versprochen ihren besten Freund zu besuchen, hätte sie einfach weiter Gas geben sollen.

So sehr sie Law auch liebte und als Freund an ihrer Seite vermisst hatte – an manchen Tagen wünschte sie sich, sie hätte ihr Versprechen gebrochen und wäre nicht aus dem Auto gestiegen.

Vielleicht hätte sie einfach an die Küste fahren sollen.

Hope war noch nie dort gewesen.

Sie hatte eine Hochzeitsreise ans Meer machen wollen, Joey … ihr ungeliebter Exmann aber nicht.

Alle fahren ans Meer. Lass uns lieber was anderes machen.

Stattdessen hatten sie die Flitterwochen in den Bergen verbracht.

Skifahren in Aspen.

Nur dass Hope sich nicht gut auf Skiern hielt. Und sie hasste die Kälte … die ging ihr bis in die Knochen. Ständig war sie hingefallen und schließlich am ganzen Körper von blauen Flecken übersät gewesen.

»Ich hätte einfach weiterfahren sollen«, brummte sie, während sie den Stimmen vor ihrer Tür lauschte.

Es wäre klüger gewesen, so viel stand fest.

Traurig starrte sie aus dem Fenster und fragte sich, ob sie dort, wo sie als Nächstes hingebracht wurde, wohl ein eigenes Zimmer haben würde.

Ging es wohl in ein anderes Krankenhaus?

Oder ins Gefängnis?

Sie wusste es nicht.

Wahrscheinlich wird es eine andere Klinik. Eine mit schweren Türen und hohen Mauern.

Schwarze Punkte tanzten ihr bedrohlich vor Augen.

Angst schnürte ihr die Kehle zu. Eingesperrt … gefangen …

Nur mit Mühe unterdrückte sie ein Stöhnen.

Als die Tür aufging, gelang es ihr gerade noch, sich ein Wimmern zu verkneifen.

Doch es war nur einer der Pflegehelfer – dieses Mal.

Aber bald … bald würden die Deputies in Uniform kommen. Sie wusste es.

Sie hörte die leisen, gedämpften Schritte auf dem Linoleum, starrte aus dem Fenster und versuchte, nicht an das zu denken, was ihr bevorstand.

Trotz allem musste sie für eine Sache dankbar sein.

Sie saß nicht mehr bei ihrem Ehemann in diesem Haus in Oklahoma fest, und sie steckte nicht in jenem Krankenhaus, in dem er die völlige Kontrolle über sie gehabt hatte.

Eher würde sie freiwillig für ein Verbrechen, das sie nicht begangen hatte, ins Gefängnis gehen, als sich wieder zurück in diese Hölle zu begeben.

Wenigstens befand sich Joey nicht in der Nähe.

Wenigstens war sie ihm hier nicht ausgeliefert, in keinster Weise.

Das war schon verdammt viel wert.

Doch es genügte nicht. Je länger sie die tristen, weißen Wände des kleinen Krankenzimmers anstarrte, desto mehr ähnelten sie denen einer Zelle. Also starrte sie stattdessen aus dem Fenster. Es war eines mit Sicherheitsglas, das man nicht öffnen konnte – wobei sie es auch gar nicht erst versucht hatte.

Allerdings war die Krankenschwester nur allzu gern mit dieser Information herausgeplatzt, nachdem sie Hopes Blutdruck gemessen und ihr die medikamentöse Behandlung angeboten hatte – diesmal war es nur ein Angebot gewesen.

Niemand hatte erneut versucht, ihr die Spritze zwangsweise zu verabreichen.

Nicht seit Remy …

Sie schluckte und versuchte, nicht daran zu denken, nicht an ihn zu denken, denn es würde ihr überhaupt nicht guttun. So demütigend es auch gewesen war, dass er sie in dieser Lage gesehen hatte, das Ganze schien Wunder gewirkt zu haben. Ob er nun mit einem der Ärzte gesprochen hatte, nachdem er gegangen war, oder den Krankenschwestern einfach nur eine Heidenangst eingejagt hatte … jedenfalls war ihr seitdem nichts mehr aufgezwungen worden.

Keine Neuroleptika, keine Beruhigungsmittel, nichts. Wahrscheinlich lag es daran, dass er ein Juraexamen besaß. Genau wusste Hope es freilich nicht, und solange ihr keiner mehr irgendwelche Drogen verabreichte, die sie nicht brauchte, war es ihr auch egal.

Sie hatte einen klaren Kopf. Dafür sollte sie dankbar sein.

Und genau das wollte sie auch versuchen.

Irgendetwas sagte ihr allerdings, dass sie Remy Jennings nicht zum letzten Mal gesehen hatte, und wenn sie sich das nächste Mal gegenüberstanden, würde es nicht um irgendwelche Medikamente gehen, die ihr die Pfleger verabreichen wollten.

Nein, dann würde es um die erst wenige Tage zurückliegende Nacht gehen, in der man sie bewusstlos aufgefunden hatte, mit aufgeschlitzten Pulsadern, und um ihre Fingerabdrücke auf dem Baseballschläger, mit dem ein Mann fast zu Tode geprügelt worden war.

Und zwar ihr bester Freund – die Leute hier dachten tatsächlich, sie sei dazu fähig.

Und sie wollten sie dafür ins Gefängnis wandern sehen.

Hope schloss die Augen, ließ den Kopf aufs Kissen sinken und seufzte. Es würde nicht mehr lange dauern. Das hatte sie in den Augen des Arztes gelesen, als er sie tags zuvor untersucht hatte.

Mitgefühl, Wissen … und grimmige Zustimmung. Sie brauchte die medizinische Versorgung nicht mehr, die ihr im Krankenhaus zuteilwurde. Und sie würden sie nicht einfach irgendwo hinspazieren lassen, wo sie sie nicht im Auge behalten konnten.

In deren Augen hatte sie etwas Schreckliches getan, und es war an der Zeit, dass sie dafür büßte.

Aber ich habe nichts getan.

Ein trauriges, verzweifeltes Wimmern drohte sich Bahn zu brechen, doch sie schluckte es hinunter, fraß es in sich hinein. Auf keinen Fall würde sie sich kleinlaut deren Plänen fügen, aber die Hände ringen und jammern wollte sie auch nicht mehr.

Jetzt musste sie nur noch herausfinden, was sie stattdessen unternehmen sollte …

2

Borderline-Persönlichkeitsstörung.

Selbstmordgefährdet.

Bereits früher gewalttätig.

Manipulativ.

»Was auch immer die Leute in ihr sehen wollen, sie gaukelt es ihnen vor.«

Himmel, da musste etwas Wahres dran sein, denn irgendwie glaubte Remy felsenfest, dass sie nicht das war, was die Fakten über sie aussagten.

»Die Frau ist ziemlich durcheinander.«

Durcheinander.

Ja, dass Hope Carson ziemlich verwirrt sein musste, konnte er sich vorstellen.

Sie hatte sich die verfluchten Pulsadern aufgeschnitten, und anscheinend war das nicht der erste Selbstmordversuch gewesen.

»Sie hat schon früher versucht, sich umzubringen …«

»… Hope will keine Hilfe, sie sieht nicht ein, dass sie welche braucht.«

Sie hatte sich schon einmal das Leben nehmen wollen. Bei dem Gedanken drehte sich ihm der Magen um, und er wurde wütend.

Verflucht noch mal, zerbrich dir darüber nicht den Kopf, sondern mach einfach deine Arbeit.

Diese Worte gingen Remington Jennings immer wieder durch den Kopf, während er den langen Flur hinunterlief. Seine Schritte hallten durch den hell erleuchteten Gang, wobei die Geräusche von den Wänden zurückgeworfen wurden.

Es klang schrecklich einsam, fand er.

Sheriff Dwight Nielson und Sergeant Keith Jennings begleiteten ihn, ebenso zwei weitere Deputies. Doch eigenartigerweise fühlte sich Remy in diesem Augenblick jämmerlich allein.

Was zur Hölle tat er hier eigentlich?

Vor ihm lief der Sheriff mit strammen, bedachten Schritten. Der Mann machte keine überflüssige Bewegung und verschwendete keine unnötigen Worte.

Nicht einmal in dieser Situation.

Wozu auch?

Remy konnte sich jede verdammte Silbe denken, die dem Mann durch den Kopf ging.

Es dürfte so ziemlich Wort für Wort dasselbe sein, was Law Reilly ihm vierundzwanzig Stunden zuvor am Telefon erzählt hatte.

Die beiden waren einer Meinung – Hope Carson gehörte wegen des Angriffs auf Law nicht hinter Gitter, und die Beweise deuteten nicht darauf hin, dass sie Earl Prather umgebracht hatte. Dafür konnte man sie also nicht wegsperren.

Remys Bauchgefühl sagte ihm dasselbe – hier passte einfach nichts zusammen.

Was für ein verdammtes Pech, dass er sich nicht auf sein Bauchgefühl verlassen durfte.

Er musste sich an die Fakten halten … und die ergaben ein sehr düsteres Bild von Hopes Vergangenheit und ein äußerst beunruhigendes Persönlichkeitsbild.

Fakt war auch, dass sich ihre Fingerabdrücke auf der Waffe befanden, mit der Reilly fast zu Tode geprügelt worden war, und dass sie anschließend versucht hatte, sich umzubringen.

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