Stirb nicht im Warteraum der Zukunft - Tim Mohr - E-Book

Stirb nicht im Warteraum der Zukunft E-Book

Tim Mohr

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Beschreibung

Punk begann in Ostdeutschland mit einer Handvoll Jugendlicher in den späten Siebzigerjahren. Inspiriert von geschmuggelten Musikmagazinen und gelegentlichen Bildern aus dem Westfernsehen, schnitten sie sich Löcher in die Jeans und steckten sich Sicherheitsnadeln durch die Ohrlöcher. Es war klar, dass sie damit den staatlichen Behörden auffielen. Harte Repressionen waren die Folge, viele Geschichten sind noch immer unbekannt. Tim Mohr hat ein bis heute kaum bekanntes Kapitel deutscher Geschichte durchleuchtet und ein eindringliches Bild einer vergangenen Zeit gezeichnet.

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Seitenzahl: 633

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Zum Buch

Punk in Ostdeutschland begann mit einer Handvoll Jugendlicher in den späten Siebzigerjahren, Teenager, die sich an den Klängen der Sex Pistols ergötzten, die über britische Militärsender in Westberlin in den Osten drangen. Inspiriert von geschmuggelten Musikmagazinen und gelegentlichen Bildern aus dem Westfernsehen, schnitten sie sich Löcher in die Jeans, beschmierten ihre Jacken mit den Namen ihrer westlichen Idole und steckten sich Sicherheitsnadeln durch die Ohrlöcher. Es war klar, dass sie damit in der grauen Masse Ostberlins auffielen. Und den staatlichen Behörden natürlich nicht entgingen. Harte Repressionen waren die Folge, viele Geschichten sind bis heute unbekannt. Dieses Buch erzählt sie.

Zum Autor

Tim Mohr ist ein amerikanischer Autor, Journalist und Übersetzer. In den 1990er-Jahren lebte er in Berlin als Club-DJ, bevor er nach New York zog und für den Playboy arbeitete. Dort war er unter anderem für Hunter S. Thompson zuständig, mit dem er bis zu dessen Tod arbeitete. Seine journalistischen Artikel erschienen bis dato u. a. in der New York Times, dem New York Magazine, Time Out oder der Huffington Post.

Zu seinen Übersetzungen aus dem Deutschen ins Englische zählen Wolfgang Herrndorfs Tschick und Sand, Charlotte Roches Feuchtgebiete, Stefanie de Velascos Tigermilch, vier Romane von Alina Bronsky und Dorothea Dieckmanns Guantanamo, die mehrfach ausgezeichnet wurden.

Als Ghostwriter hat Tim Mohr u. a. die Memoiren von Duff McKagan (Guns N’ Roses), Gil Scott-Heron und Paul Stanley (Kiss) verfasst.

TIM MOHR

STIRB NICHT IM WARTERAUM DER ZUKUNFT

Die ostdeutschen Punks und der Fall der Mauer

Aus dem Amerikanischen von Harriet Fricke und Frank Dabrock

WILHELM HEYNE VERLAG

München

Unter www.heyne-hardcore.de finden Sie das komplette Hardcore-Programm, den monatlichen Newsletter sowie alles rund um das Hardcore-Universum.

Weitere News unter www.heyne-hardcore.de/facebook

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Copyright © 2017 by Tim Mohr

Copyright © 2017 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Jürgen Teipel

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung eines Motivs von Christiane Eisler/SUBstitut (»Ratte mit Oma im Zug nach Berlin«/1983)

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN: 978-3-641-21238-4V002

Inhalt

Vorwort

TEIL I Too Much Future

TEIL II Oh Bondage Up Yours!

TEIL III Combat Rock

TEIL IV Schlagt zurück

TEIL V Rise Above

TEIL VI Macht kaputt, was euch kaputt macht

TEIL VII Disintegration

TEIL VIII Lust for Life

Danksagung

Bibliografie

Bildteil

Vorwort

Künstler und Musiker strömen nach Berlin, Bürgerrechtler und Whistleblower aus allen Ländern suchen hier Asyl, zehntausende Feierwillige fallen jedes Wochenende in die Stadt ein. Die Partys dauern bis in die frühen Morgenstunden, oft noch viel länger, bald wird es wieder Nacht, und die Leute tanzen einfach weiter. Wir tanzen weiter. Immer weiter und weiter.

Das Clubleben ist das Highlight von Berlin. Aber es ist auch ein Fenster zur Seele der Stadt.

Ein für die heutige Clubszene typischer Laden ist das About Blank. Er liegt an einer von mickrigen Bäumen und Wellblechzäunen gesäumten Straße, ein Stück Niemandsland, umgeben von Bahngleisen, Baustellen und einem Billigsupermarkt. Von außen ist es ein hässlicher, zweigeschossiger Betonklotz mit zwei von Graffitis übersäten Türen. Drinnen zahlt man ein paar Euro Eintritt und durchquert eine kahle Eingangshalle mit rohem Betonboden, unverputzten Wänden. Keine Absperrkordel, kein VIP-Bereich, kein Dresscode, keine Werbung, kein Scheiß. Coolness kann man in Berlin nicht kaufen. Ein paar Schritte weiter taucht man in eine andere Welt ein – Trockeneisnebel und Zigarettenrauch, so dicht und desorientierend, dass man meint, in der Luft zu schwimmen oder zu schweben, alles wirkt plötzlich langsamer, in nebliger Entfernung nur blaue Schatten und wabernde Schleier, jedes Gefühl von Zeit und Raum verfliegt. Da ist nur noch der wummernde Bass, der das Herz zusammenzieht und einen buchstäblich vom Boden abheben lässt. An einem der DJ-Pulte legt eine Frau in dunklen Shorts und T-Shirt Platten mit dem harten Boom-tick-boom-tick des ureigenen Sounds der Stadt auf: Minimal Techno, eine schnörkellose Unterart der elektronischen Musik, die perfekt zur Umgebung passt. Vielleicht ficken welche in der Ecke. Vielleicht auch nicht. Das schert niemanden. Sexual Politics sind hier kein Thema, auf der Tanzfläche werden die Leute – schwul, hetero, bi, Frauen, Männer, Transgender – sowieso eins, wenn sie die in Schweiß, Rauch und Euphorie gebadeten Körper aneinanderreiben.

Hinter der Tür am anderen Ende liegt ein verwilderter, sandiger Garten, stockdunkel bis auf ein paar winzige rote Lichter und unregelmäßig angestrahlte Discokugeln, die von den Zweigen der Bäume hängen. Ist es draußen kalt, brennt in alten Öltonnen ein Feuer, das die Leute mit Holz füttern. An einer Stelle ist ein rostiger Wohnwagen aufgebockt, drinnen ein paar Leute. Zwischen den Bäumen stehen ein großes, überdachtes Bett und zerschlissene Plastiksofas rum. Überall tanzen, trinken, reden Leute, andere sitzen nur da oder starren ins Feuer, während sich der dunkle Himmel mit dem ersten Hauch des Sonnenaufgangs aufzuhellen beginnt. Der Ort stellt keine Forderungen an seine Besucher, nichts wirkt erzwungen. About Blank ist eine Insel des Friedens, wo jeder auf seine Weise Spaß haben kann.

Ein cooler Ort.

Ein einzigartiger Ort.

Genau wie Berlin.

Nur, warum?

Wer zum ersten Mal in Berlin ist, nimmt die Einzigartigkeit der Stadt sofort wahr. Was es genau ist, lässt sich nicht so leicht greifen. About Blank bietet einen Ansatzpunkt – das, was den Club so besonders macht, erklärt vielleicht auch das spezielle Etwas, das die Besucher in ganz Berlin zu spüren glauben. Gegründet wurde der Club von einem zwölfköpfigen Kollektiv mit zahlreichen Verbindungen zu den besetzten Häusern im Ostteil der Stadt, insbesondere zur Köpenicker Straße 137, wo noch heute einige Ost-Berliner Ur-Punks leben. Das überwiegend aus feministischen Punkerinnen bestehende Kollektiv steckte im Jahr 2009 erst den politischen Rahmen des Projekts ab, dann wurde der gegenständliche Raum dafür entdeckt. In dem Gebäude war ursprünglich ein Kindergarten für die Angestellten der DDR-Reichsbahn untergebracht – daher der Sand im Garten. Danach hatte es fast fünfzehn Jahre lang leer gestanden. 2009 beschloss die Stadt Berlin, in deren Besitz sich das Gebäude befindet, es so lange zu vermieten, bis es für den Bau einer Schnellstraße abgerissen werden soll. Im Gebäude war nichts mehr: keine Heizung, kein Strom, kein Wasser, keine Fenster. Statt einen Kredit aufzunehmen und Handwerker mit der Instandsetzung zu beauftragen, machten sich die Mitglieder des Kollektivs selbst an die Arbeit. Konnten sie eine Aufgabe nicht alleine bewältigen, baten sie Freunde aus der Hausbesetzerszene um Hilfe. Das nötige Geld liehen sie sich von befreundeten linken Gruppen.

Das About Blank bietet viel mehr als nur Techno-Partys: In einem Gebäude auf dem Gelände finden Handwerkerkurse statt, außerdem sind darin Proberäume und Tonstudios untergebracht. In einem anderen Gebäude wurde ein Kulturzentrum eingerichtet, in dem hauptsächlich Gender- und Queer-Veranstaltungen stattfinden. Außerdem richtet About Blank Benefizveranstaltungen für feministische, antirassistische und antifaschistische Initiativen aus und gehört zu einem Netzwerk, das Leute zur Teilnahme an politischen Demos mobilisiert. Für das Kollektiv stand von Anfang an fest, dass jeder, der dort arbeitet – inzwischen über hundert Leute –, denselben Stundenlohn erhält, ob sie oder er nun fürs Booking der DJs zuständig ist, Bier ausschenkt oder die Klos putzt.

Dennoch ist About Blank alles andere als eine realitätsferne Fantasiewelt. Es ist ein real existierender Ort mit Betonwänden, Secondhand-Möbeln und extrem lauter Anlage. Der Club ermöglicht es Dutzenden von Leuten, den Lebensunterhalt zu bestreiten, ohne sich selbst verkaufen zu müssen – sprich: Sie können nach ihren Idealen leben. Im Laden hängt kein Schild: RADIKAL LINKER CLUB. Und doch ist er genau das, und seine BetreiberInnen hoffen, dass die Atmosphäre – der gegenseitige Respekt, die Experimentierfreude, die uneingeschränkte Freiheit – auf die Gäste abfärbt. Feiern kann ein politischer Akt sein. Im Idealfall bewirken die Partys, dass die Leute Normalität infrage stellen – die Normalität, die sie außerhalb von Freiräumen wie dem About Blank erleben, vielleicht sogar die Normalität, die sie aus anderen Städten, anderen Ländern kennen.

Das Prinzip, eine eigene, alle Lebensbereiche umfassende Welt zu schaffen, die fest in einer politischen Ideologie verwurzelt ist, lässt sich bis zu den Vorgängerclubs des About Blank zurückverfolgen: Die am Spreeufer gelegene Bar 25, die die 2000er-Jahre prägte, war im Prinzip eine eigenständige Enklave mit Wohnräumen, Hostel, Zirkus, Radiosender, Plattenlabel, Restaurant, Saunabereich, ja, einfach allem. Das Tacheles war ein halb verfallenes Kaufhaus, bevor es von seinen Besetzern in den Club verwandelt wurde, der in den 1990er-Jahren den Ton angab; das Tacheles hatte alles, was es in der Bar 25 auch gab, plus Kino, Künstlerateliers, Ausstellungsflächen und Biergarten inklusive Skulpturen aus sowjetischem Kriegsgerät. Im Hinterhof stand ein russisches MiG-Kampfflugzeug, im Keller lief ohrenbetäubender Techno, und das Bier kostete eine Mark. Das Tacheles war im Grunde eine einsturzgefährdete Ruine, die von den Besetzern ständig neu gestaltet und neu erfunden wurde. Das 1909 erbaute, im Zweiten Weltkrieg durch die Luftangriffe der Alliierten und in der DDR durch Abrissbirnen stark beschädigte Gebäude war im Februar 1990, also drei Monate nach dem Fall der Mauer, von einem Kollektiv aus Mitgliedern ostdeutscher Punkbands besetzt worden.

Das ist der rote Faden, der sich durchs Nachtleben – die Lebensader – des heutigen Berlin zieht: Ost-Punk. Die ersten legendären Techno-Clubs – neben dem Tacheles vor allem der Tresor und das WMF – wurden alle von DDR-Punks mitbegründet, und der Geist, die Ideologie der Punks sind noch heute in Clubs wie dem About Blank, dem Salon zur Wilden Renate oder dem Berghain deutlich spürbar.

Ich landete 1992 im Ostteil von Berlin, in einer Wohnanlage für Studierende, draußen beim Tierpark. Die Stadt schien den Ostblock-Klischees zu entsprechen, die ich seit meiner Kindheit kannte: düster, kalt, eingehüllt in Kohlerauch – noch nie hatte ich eine grauere Stadt gesehen. Dazu das entfernte Heulen der Zootiere und die ständige Angst, die Gerüchte über die Horden von durch die Straßen ziehenden Skinheads könnten am Ende doch stimmen. Mein erster Eindruck von Berlin war deprimierend. Aber ich fand schnell raus, dass sich hinter den heruntergekommenen, von Einschusslöchern vernarbten Fassaden in den Bezirken Mitte, Prenzlauer Berg und Friedrichshain eine bunte, kreative Szene tummelte. Hinter unscheinbaren Türen, die eine oder andere Treppe runter, eingebettet zwischen den bröckelnden Mauern eines kerzenbeleuchteten Kellers oder einer stillgelegten Zisterne, auf den Dachböden halb zerstörter Gebäude, ja, sogar in alten Bunkern oder Banktresoren, entstand eine neue kaleidoskopische Stadt. Die Kneipen und Clubs dieser Unterwelt waren dunkel und dreckig, Verlängerungskabel, verbunden mit einer fernen Energiequelle, baumelten von der Decke und versorgten die Anlage mit Strom, zum Spülen der Gläser stand ein Eimer Wasser hinter der Theke. Hier waren tatsächlich alle Menschen gleich. Und ein Außenseiter wie ich wurde herzlich in den Kreis aufgenommen. Ich hatte dort so viel Spaß, dass ich manchmal am nächsten Tag aufwachte und mich fragte, ob ich nicht alles nur geträumt hatte. Einige Male stellte ich beim Aufwachen fest, dass ich immer noch im Club war, nur an einem anderen Tag. Gelegentlich kam es vor, dass die Tresenleute gingen und uns Nachzüglern sagten, wir sollten beim Gehen einfach die Tür zuziehen. In den Sommermonaten verließen wir – in Berlin hieß es damals schnell »wir« –, die DJs, Tänzer und Partygänger, alle zusammen den Club und kletterten über die Mauer eines öffentlichen Freibads, wo wir nackt schwimmen gingen, während es langsam hell wurde. Einige der Clubs existierten nur eine Nacht oder ein paar Wochen lang. Andere hielten sich über Jahre. Die Leute, die sich dort versammelten, wollten nicht passiv rumsitzen, während die Stadt nach einer neuen Identität, einer neuen Richtung suchte. Sie stellten ihr eigenes Programm auf, kreierten ihren eigenen Stil, schufen ihr eigenes Umfeld. Sie entwickelten nicht nur einen Plan für ein neues Berlin, sondern für eine neue Art zu leben – die Berliner Art zu leben.

Bald fing ich selbst als DJ in einigen dieser Clubs und Kneipen an und ließ mich nächtelang durch sehr viele andere treiben. Ich zog nach Friedrichshain, dann nach Mitte und Prenzlauer Berg, aus dem geplanten sechsmonatigen Aufenthalt wurde ein Jahr, dann noch eins und noch eins. Und dieses andere Berlin – die Schattenstadt, die sich außer Sichtweite von und völlig gleichgültig gegenüber dem anderen Gebilde entwickelte, das an Orten wie dem Potsdamer Platz und später auch an den Ufern der Spree hochgezogen wurde – sollte mein Leben und meine Art zu denken nachhaltig verändern.

Lange bevor ich auch nur daran dachte, selbst zu schreiben, lernte ich in diesen Clubs die ersten Ost-Punks kennen und erfuhr von ihnen die geheime Geschichte des DDR-Punkrocks unter dem Honecker-Regime. Die meisten Läden, in denen ich abhing, wurden von Ost-Punks geführt und am Laufen gehalten; fast alle Kneipen und Clubs im Ostteil der Stadt waren von ihnen aufgemacht worden, häufig in besetzten Häusern. Und in dem Prozess prägten sie auch den Geist einer neuen Gesellschaft, die nach dem Fall der Mauer quasi aus dem Nichts entstand.

Die kaleidoskopische Welt, in die ich mich verliebt hatte, war ihre Welt, ihre Schöpfung.

In der DDR fing Punk Ende der 1970er-Jahre mit einer Handvoll Jugendlichen an, die sofort angefixt waren, als sie die Sex Pistols auf dem für die im Westen stationierten Streitkräfte ausgestrahlten britischen Militärsender hörten. Mit Politik hatte der Kitzel, den sie bei den sägenden Gitarren und den hingerotzten Texten spürten, zunächst nichts zu tun; nach einer mit öder, staatlich geförderter Musik verbrachten Kindheit wirkte der Sound für sie wie ein befreiender, frischer Wind. Begeistert von der Musik und den Fotos der Londoner Punks, die sie in geschmuggelten Bravo-Heften entdeckten und gelegentlich auch im West-Fernsehen erspähten, zerrissen sie ihre Jeanshosen, kritzelten sie die Namen ihrer englischen Idole mit Kugelschreiber auf Jacken, zogen sie sich Sicherheitsnadeln durch die Ohrläppchen. Gepaart mit den schrägen Unfrisuren fiel ihr Look in der grauen Masse der Ost-Berliner sofort auf, und die ersten Punks fanden schnell zueinander.

Den Sicherheitsorganen des Polizeistaats fielen sie ebenfalls auf.

Doch soll hier kein Märchen erzählt werden über die revolutionäre Kraft der westlichen Popkultur und die humorlosen Bürokraten in billigen Polyesteranzügen, die Jugendlichen das Pogen verbieten wollten. Aus dem unpolitischen Nihilismus der Ost-Punks entwickelte sich bald eine Hardcore-Ideologie, die das besondere Umfeld der Jugendlichen widerspiegelte. Im Westen sangen die Punks davon, »No Future« zu haben und zu einem Leben als Underdogs der kapitalistischen Gesellschaft verdammt zu sein. Im Osten war es das genaue Gegenteil: Über deine Zukunft war bereits entschieden worden, irgendein Funktionär hatte deinen Weg vorgezeichnet – erst die FDJ, dann die Ausbildung und am Ende Fabrikarbeit in der sozialistischen Planwirtschaft. Das Problem im Osten hieß nicht No Future, es hieß: Too Much Future.

Als Punks und Punkbands immer zahlreicher, sichtbarer und politischer wurden, gerieten sie zusehends ins Visier der kommunistischen Parteigremien und Sicherheitsorgane – darunter der gefürchtete Geheimdienst des Ministeriums für Staatssicherheit. Punks wurden von der Stasi und von Leuten aus dem eigenen Umfeld bespitzelt: von Freunden und Lehrern, von Arbeitskollegen und Nachbarn, in einigen Fällen sogar von Mitgliedern der eigenen Familie. Sie flogen von der Schule, verloren ihre Ausbildungsplätze, ihre Jobs. Man riss sie aus ihren Familien, aus ihrem Freundeskreis, verbot ihnen den Aufenthalt auf öffentlichen Plätzen, zwang sie ins Exil. Sie wurden von der Polizei verhaftet, verprügelt, psychisch unter Druck gesetzt. Man sperrte sie in Jugendwerkhöfe, Irrenanstalten, Gefängnisse. Doch das drastische Vorgehen bewirkte nur, dass sich ein vielleicht nur kurzlebiges Phänomen im Kontinuum der Jugendkulturen zu einem hartnäckigen Außenseiterkult, zu einer richtiggehenden Bewegung entwickelte, mit landesweitem Netzwerk, eigenen Untergrund-Medien und illegalem Konzertbetrieb. Die Folge war ein Konflikt mit dem Regime, der sich über ein Jahrzehnt hinzog.

Die Ost-Punks ertrugen nicht nur staatliche Gewalt und Verfolgung, sie schufen sich eine eigene Welt und agierten innerhalb der physischen Grenzen der DDR, aber außerhalb der Gesellschaft. Um aber außerhalb der kommunistischen Gesellschaft überleben zu können, mussten sie sich im eigentlichen wie übertragenen Sinn Freiräume erkämpfen und aneignen – keine Kleinigkeit in einem repressiven Bevormundungsstaat, der seine Augen und Ohren überall hatte und diejenigen belohnte, die willens waren, jede verdächtige Aktivität zu melden, und diejenigen verfolgte und bestrafte, die dies nicht taten. Doch die Ost-Punks hielten durch und übernahmen eine transformative Rolle in der Untergrundbewegung, die letztendlich als Katalysator für die Revolution wirkte. Als am 9. November 1989 die Berliner Mauer fiel, war nicht etwa eine Rede von Ronald Reagan oder das Verlangen der ostdeutschen Jugendlichen nach McDonald’s oder David Hasselhoff der Auslöser gewesen: Der Ost-Untergrund hatte das Fundament des Regimes erschüttert und die Voraussetzungen für den scheinbar spontanen Aufstand geschaffen.

Nach dem Fall der Mauer visierten die Punks ein neues Ziel an: dem neuen Berlin, das in den 1990er-Jahren Gestalt annahm, den eigenen Stempel aufzudrücken. Wieder einmal schufen sie eine eigene Welt in der äußeren, indem sie Häuser besetzten, Kneipen, Clubs und Kommunen aufzogen und Oasen der Punkkultur schufen, die den Punkgeist bis heute am Leben erhalten. Sie schufen die Grundlage für eine Szene, die Besucher aus der ganzen Welt anzieht und begeistert.

Was macht das heutige Berlin so einzigartig?

Es ist eine Punkrockstadt, eine Punk Rock City.

Es ist die Punk Rock City, eine Stadt, in der die Do-it-yourself-Ästhetik und unbeugsame Haltung der Ost-Punks zum Prinzip erhoben wurden: das Bedürfnis, sich trotz widriger äußerer Umstände eine eigene Welt zu schaffen, der Wille, sich trotz drohender Konsequenzen eine eigene Realität zu schaffen.

Dieses Buch erzählt die Geschichte, wie Berlin zur Punk Rock City wurde.

Die Jugendkultur in der DDR: ein FDJ-Fackelzug

© Ostkreuz Agentur (Harold Hauswald)

TEIL I

Too Much Future

1

Der erste Punk in Ost-Berlin war »Major«. Sie war fünfzehn und wohnte in Köpenick, zwanzig Minuten mit der S-Bahn vom Zentrum entfernt.

Das war im September 1977.

Mit richtigem Namen hieß »Major« Britta Bergmann, und sie hatte früh begriffen, was die Berliner Mauer bedeutete. Den eigenen Vater hatte Britta nie gekannt, aber der Vater ihrer älteren Halbschwester wohnte in West-Berlin und besuchte sie gelegentlich im Ostteil der Stadt. Als er nach einem Besuch sagte, er müsse jetzt zurück nach West-Berlin, hatte die fünfjährige Britta eine Idee.

»Wir kommen mit«, rief sie begeistert.

Britta verstand nicht, warum er sie so entgeistert anschaute.

»Nein, das geht nicht«, erklärte er ernst. »Ihr könnt nicht einfach rüber, ihr seid hier im Osten!«

In diesem Moment wurde Britta klar, was die Mauer bedeutete.

Britta wuchs in dem Bewusstsein auf, dass sich ihre Familie schon seit Generationen politisch oppositionell engagiert hatte. Ihr Großvater mütterlicherseits war in den 1920er-Jahren KPD-Mitglied gewesen und hatte nach Hitlers Machtübernahme eine Zeit lang im Zuchthaus gesessen. Die Großmutter galt als Antifaschistin und landete auf der schwarzen Liste von Heinrich Himmler, weil sie Freundschaften mit Juden aufrechterhielt und sich weigerte, den Nazigruß zu machen. Trotz ihrer kommunistischen Überzeugung war das Leben im stalinistischen Ostdeutschland für die Großeltern nicht leicht gewesen: Wegen ihrer Freundschaft mit einem Schweizer Staatsbürger waren sie der Spionage bezichtigt und mehrere Wochen lang inhaftiert worden. Als Kind wohnte Britta bei ihrer Großmutter. Diese übte offen Kritik an der DDR-Diktatur und prägte das Weltbild der Enkelin – von ihr lernte Britta, die Regierungspropaganda äußerst skeptisch zu betrachten und die Ungerechtigkeit des Systems zu durchschauen.

In der Schulzeit litt Britta darunter, dass der Staat sich in ihre Entscheidungen einmischte – etwas erwachsener formuliert: Ihr wurde das Grundrecht vorenthalten, die wichtigsten Entscheidungen ihres Lebens selbst zu treffen. Sie wusste einfach, dass es ungerecht war, nicht lesen zu dürfen, was sie lesen wollte, und die Meinung nicht frei äußern zu dürfen. Dass Kreativität, Neugier und selbstständiges Denken verboten waren, nahm sie als großes Unrecht wahr.

Ich möchte einfach nur ich selbst sein und eigene Entscheidungen treffen.

Im Sommer 1977 bekam eine Freundin von Britta Besuch von einem Cousin aus Westdeutschland. Er erzählte den Mädchen von jemandem, dem über einen See in der Nähe von Potsdam die Flucht nach West-Berlin geglückt war. Britta nahm es als Ansporn: Sie wollte ebenfalls fliehen.

Die Zukunft, die die DDR für mich geplant hat, ist nicht zu ERTRAGEN.

Ich muss hier raus.

Mit der Freundin begann sie, Fluchtpläne zu schmieden – Britta überlegte sogar, die Ufer der Seen auszukundschaften. Letztendlich blieb der Fluchtversuch nur ein Traum von Teenagern.

Zu Beginn des neuen Schuljahrs im September 1977 bekam Britta von ihrer Halbschwester einen Stapel Fotos und Poster geschenkt, die diese aus Bravo-Heften, den wertvollen Mitbringseln ihres Vaters, sorgfältig herausgetrennt hatte: Bilder von ABBA, Boney M., Smokie – den üblichen Teenie-Idolen und Herzensbrechern aus den Top Ten. Beim Durchblättern des Stapels blieb ihr Blick an einem Foto hängen: eine Band, aufgenommen in Schwarz-Weiß. Die Sex Pistols.

Was sind das denn für welche?, dachte sie, während sie fasziniert auf die zerrissenen Klamotten und die höhnischen Grimassen starrte.

In der Schule fragte sie ihre Mitschüler, ob jemand von der geheimnisvollen Band mit dem merkwürdigen Namen gehört hatte. Ein Junge aus ihrer Klasse wusste alles über Musik und kannte natürlich auch die Sex Pistols: Sie spielten »Punk«, erklärte er. Punk?Moment mal, dachte Britta. Irgendwo hatte sie doch gehört, dass AC/DC Punk spielten, und AC/DC fand sie unerträglich. Sie hasste Hardrock. Kurze Zeit später hatte sie den West-Sender Radio Luxemburg eingestellt, als sie ein Stück hörte, das sie sofort packte. Es begann mit einem abgehackten, verzerrten Gitarrenriff, dann setzte das Schlagzeug ein, es wurde richtig laut, ratterte dahin wie eine zu heiß gelaufene Lok, ein herrenloser Zug, und dann fing der Sänger an zu – nun ja, singen konnte man das eigentlich nicht nennen, der Typ hielt keinen einzigen Ton, er jaulte eher, gequält und monoton, er nölte, schrie, greinte ... There’s no point in asking, you’ll get no reply ... Das Stück war wie ein Schlag in die Magengrube, und der Sänger klang so engagiert, wie Britta es noch von keinem anderen gehört hatte, fast schon besessen. I don’t pretend ’cause I DON’T CARE ... stuff your cheap comment ’cause we know what we feel!

Britta traute ihren Ohren kaum, sie hatte das Gefühl, die Band würde sie direkt ansprechen. Gerade so, als hätte jemand in ihrem Inneren einen Schalter umgelegt, als hätte das Stück etwas ausgelöst, das schon lange in ihr geschlummert hatte, das sie aber eben erst wahrgenommen hatte.

Verdammte Scheiße!

Gebannt wartete sie darauf, dass der Moderator den Namen der Band nannte.

»Das waren die Sex Pistols mit ›Pretty Vacant‹«, sagte er schließlich.

Die Sex Pistols!

Genau das hatte sie von den Typen mit den zerrupften Haaren, der schlechten Haut und den zerrissenen Klamotten erwartet.

Am nächsten Morgen schnitt sie sich die Haare ab und verstrubbelte sie in etwa so, wie sie es auf dem Schwarz-Weiß-Foto der Pistols gesehen hatte. Dann durchsuchte sie den Stapel Bravo-Hefte nach weiteren Bandfotos. Nachdem sie ein paar zusammenhatte, machte sie sich daran, ihre Klamotten dem Stil der Pistols anzupassen. Sie riss Löcher in ein T-Shirt und umnähte sie mit groben, hässlichen Stichen. Sie schnitt ein weißes Stück Stoff zurecht, schrieb mit schwarzem Kuli »DESTROY« darauf und nähte es auf die Brusttasche ihrer Jacke. Danach schnappte sie sich die Kette vom Spülkasten im Gästeklo, befestigte ein Ende an der Brusttasche der Jacke, das andere Ende an einem der Knöpfe. Auf einem Foto trug Johnny Rotten, der Sänger der Sex Pistols, Sicherheitsnadeln an den Schulterklappen seiner Jacke. Auch das ließ sich leicht nachmachen. Britta steckte eine Reihe von Sicherheitsnadeln auf beide Schulterteile ihrer Jacke – Punk-Epauletten.

Als sie mit kurzen Haaren, zerrissenen Klamotten und Sicherheitsnadeln in der Schule aufkreuzte, hielten alle die Luft an.

Ein Junge kam auf sie zu, zeigte auf die Epauletten und sagte: »Morgen, Major.«

Von da an nannte sie jeder so.

Die Lehrer reagierten nicht ganz so gelassen auf Brittas neue Aufmachung. Jede Abweichung vom vorgeschriebenen Weg wurde als Bedrohung für den sozialen Zusammenhalt gesehen, den die Diktatur mit ihrem System aus Jugendorganisationen und Propaganda nährte und der einzig dazu diente, ideologisch indoktrinierte Arbeiter an die Planwirtschaft zu verfüttern. In Rücksprache mit dem Jugendamt überlegten die Schuldirektorin und Majors Lehrer, wie mit ihr zu verfahren sei. Erst als Major Jahre später Einsicht in ihre Stasi-Akte erhielt, erfuhr sie, dass die Lehrer bezweifelten, aus ihr eine sozialistische Persönlichkeit formen zu können. Es gab sogar Überlegungen, sie in ein Heim für Schwererziehbare zu stecken, um ihr die »Aufsässigkeit« auszutreiben.

Auch im Unterricht wurde Druck auf Major ausgeübt. Die Lehrer fingen an, ihr schlechtere Zensuren zu geben, und dachten sich zusätzliche Aufgaben aus: Britta musste unter anderem ein Plakat über die freundschaftlichen Beziehungen der DDR zur Sowjetarmee entwerfen und ein Referat über die Vorzüge der Planwirtschaft schreiben. Auf diesem Weg hofften die Lehrer, sie wieder in die sozialistische Gesellschaft eingliedern zu können. Häufig schickten sie Britta wieder nach Hause und erklärten, sie dürfe erst zurückkommen, wenn sie die Kleidung gewechselt hätte. Doch Major änderte ihre Aufmachung nicht. Im Gegenteil. Sie stellte immer mehr Outfits zusammen, bearbeitete Pullover und Hosen mit Farbe, Kugelschreibern, Sicherheitsnadeln und bastelte Buttons mit Bandnamen und Sprüchen wie »I’M AN ENEMY OF THE STATE«.

Sie hatte das perfekte Ventil gefunden. Punk klang, sah aus und fühlte sich an wie Freiheit. Major hatte nie daran gezweifelt, in einem Unrechtsstaat zu leben, aber sie hatte keine Steine werfen, Bomben bauen oder jemanden töten wollen. Sie wollte nur sie selbst sein, aber alles, was sie zur Selbstentfaltung hätte machen, sagen, lesen, schreiben können, war vom Staat verboten. Als Punk gewann sie auf zwei Ebenen Macht über das eigene Leben. Zum einen verlieh die Musik ihrer Wut eine Stimme und gab ihr die Kraft, in dem verhassten System zu überleben. Zum anderen konnte sie allein durch ihr Äußeres bei jedem Schritt vor die Tür ihre oppositionelle Einstellung demonstrieren.

Die Freundin, mit der Major die Fluchtpläne geschmiedet hatte, hatte ihrem Cousin aus West-Berlin in Briefen naiverweise von dem Wunsch geschrieben, durch einen See in den Westen zu schwimmen, und dabei Majors richtigen Namen erwähnt. Ihr Vater fand einen der Briefe und verpfiff die eigene Tochter und Major an die Polizei.

Am 16. Mai 1978 hatte Major sich zur Vernehmung in einem Polizeirevier einzufinden.

Unter der Aufsicht eines gewissen Leutnant Müller von der Volkspolizei wurde das inzwischen sechzehnjährige Mädchen den ganzen Tag und die Nacht hindurch verhört. Während Major sich in Gewahrsam befand, wurde außerdem die Wohnung ihrer Familie von der Polizei durchsucht.

In der Vernehmung unterlief Major ein strategischer Fehler: Sie beantwortete einige Fragen, die Leutnant Müller ihr zu Punk stellte, Fragen zu ihrer schrillen Aufmachung und zu den bei der Hausdurchsuchung gefundenen Sachen, darunter Texte, die sie beim Radiohören mitgeschrieben hatte, und eigene Gedichte, die als »politisch negativ« eingestuft wurden. Im Westradio hatte Major etliche Bands für sich entdeckt: X-Ray Spex, Sham 69, Slaughter and the Dogs, Chelsea, Clash, Cock Sparrer, Buzzcocks, Vibrators, Stranglers, Stiff Little Fingers, Wire ... Sie konnte eine ganze Reihe von Namen auflisten, die inzwischen zu ihren Lieblingsbands zählten. Leider war sofort klar, dass sie ihr Punkwissen nur in den Westmedien aufgeschnappt haben konnte. Die Polizei sah den Verdacht bestätigt, den sie durch Majors Namensnennung im Brief der Freundin geschöpft hatte: Hier plante jemand ein schwerwiegendes Verbrechen – Republikflucht.

Major wurde zwar am nächsten Tag wieder freigelassen, aber die Behörden befürchteten weiteren Ärger. Jeder, der sich mit einer vom Regime nicht abgesegneten Jugendbewegung identifizierte, galt schon als bedenklich. Doch Major war nicht nur Punk – oder »Pank«, wie in den Berichten gelegentlich zu lesen war –, sondern hatte gesellschaftskritische Gedichte verfasst und mit anderen über das Thema Flucht geredet. Und jeder wie auch immer geartete Fluchtversuch setzte einen Automatismus in Gang: Die Stasi wurde eingeschaltet.

Am 27. August 1978 legte die Stasi eine Akte über Major an.

Sie war ins Blickfeld eines der meistgefürchteten Geheimdienste der Welt geraten, der dunklen Macht hinter der Macht, der Faust in Honeckers mit eiserner Hand geführtem Regime.

Von dem Tag an stand Major unter ständiger Beobachtung. Jeder ihrer Schritte wurde überwacht, jeder Brief geöffnet. Im August wurde die Aufgabe zwar offiziell der Stasi übertragen, aber die Polizei setzte ihre Überwachung trotzdem weiter fort. Leutnant Müller war überzeugt, in der Schülerin einen Staatsfeind ausgemacht zu haben. Und vielleicht lag er damit gar nicht so falsch.

2

Für die meisten ostdeutschen Kinder endete die Schule nach der zehnten Klasse. Danach mussten sie eine Ausbildung in einem bestimmten Berufsfeld beginnen, damit sie in die Planwirtschaft integriert werden konnten. Besser gesagt, sie wurden noch fester eingebunden, denn im Rahmen des Unterrichtsfachs »Produktive Arbeit« hatten sie bereits mehrere Stunden pro Woche in einer Fabrik arbeiten müssen.

Zum Ende des Schuljahrs 1978 erhielt Major das Zeugnis, das sie bei jeder zukünftigen Bewerbung um einen Ausbildungsplatz oder Job einzureichen hatte. »Sie hat große Schwierigkeiten, die sozialistischen Zusammenhänge zu erfassen«, hieß es darin, »aber in der produktiven Arbeit war sie willig.« Major war überzeugt, mit dem Zeugnis wolle man sicherstellen, dass sie eine Arbeit in einer Fabrik aufnahm und nicht etwa einen Beruf ergriff, der ihr besser gefiel. Wieder einmal bestimmten andere über ihre Zukunft.

Major bewarb sich um verschiedene Lehrstellen und Ausbildungsplätze. Überall bekam sie Absagen. Nichts zu tun, war aber keine Option: Arbeit wurde in der DDR als gesellschaftliche Verpflichtung angesehen; wer nicht arbeitete, machte sich strafbar und musste im Zweifel mit einer Gefängnisstrafe rechnen.

Die Arbeitspflicht war gesetzlich festgelegt und wurde mit aller Härte durchgesetzt. Menschen, die nicht arbeiteten, galten nicht nur als faul, sondern machten sich des asozialen Verhaltens schuldig. Die Politik, Arbeitslose als asoziale Elemente zu kriminalisieren, stammte noch aus der Nazizeit. Zugehörigkeit zu einem Arbeitskollektiv wurde als wichtiges Mittel zur Integration angesehen, als Möglichkeit für das Individuum, sich direkt in die sozialistische Gesellschaft einzubringen.

Auch in den pädagogischen Ansätzen spielte der Begriff asozial eine wichtige Rolle. Verhaltensauffällige Kinder wurden nicht selten zur Resozialisierung auf sogenannte Jugendwerkhöfe geschickt, wo sie den Wert der ehrlichen Arbeit, soziale Verantwortung und Disziplin lernen sollten. In Wahrheit wurden sie nicht selten zur Kinderarbeit herangezogen, und das unter gefängnisähnlichen Bedingungen.

Majors Mutter gelang es schließlich, der Tochter einen Ausbildungsplatz als Tippse, im offiziellen Jargon: Facharbeiter für Schreibtechnik, zu sichern. Offiziell trat die DDR für die Gleichstellung der Geschlechter ein, aber in Wahrheit war den Frauen oft eine deprimierend traditionelle Rolle zugedacht. Major nahm an einem Ausbildungsprogramm teil, das ausschließlich von jungen Frauen besucht wurde. Natürlich war sie dort der einzige Punk. Tatsächlich hatte sie bis dahin noch nie einen anderen Punk gesehen, ob männlich oder weiblich. Wegen ihrer Aufmachung bekam sie Ärger mit den Lehrkräften und dem Direktor der Schule, der ihr während der gesamten Ausbildung mit Schulverweisen drohte.

Major merkte bald, dass die Stasi im Zuge der Überwachung Leute aus ihrem Umfeld als Spitzel rekrutiert hatte, um Informationen über jeden ihrer Schritte zu sammeln. Die meisten waren etwa im selben Alter wie sie – junge Sekretärinnen in der Ausbildung. Tatsächlich hatte die Stasi in der Vergangenheit intern diskutiert, ob man Minderjährige rekrutieren dürfe, aber seit 1968 war man dazu übergegangen, Kinder, die gerade einmal die siebte Klasse besuchten, als Inoffizielle Mitarbeiter oder IM anzulernen. Der Großteil der Bevölkerung war in den internen Stasi-Jargon nicht eingeweiht und bezeichnete solche Informanten schlicht als Spitzel. In einem System, in dem der Staat die Zukunft seiner Bürger bis ins Kleinste durchplante, konnte man leicht Macht über Kinder gewinnen: Es wäre doch schade, wenn du nicht eine der wenigen Lehrstellen in deinem Traumberuf haben könntest. Es wäre doch schade, wenn deine Eltern ins Gefängnis müssten und du im Waisenhaus landen würdest, nur weil du nicht mit uns arbeiten willst. Von den hunderttausenden IM, die im Lauf der Jahre für die Stasi arbeiteten, waren fast zehn Prozent im jugendlichen Alter.

Im ersten Jahr der Ausbildung lebte Major, als wäre sie auf der Flucht. Selten schlief sie mehrere Nächte hintereinander im selben Haus, stattdessen übernachtete sie abwechselnd bei ihrer Großmutter, bei Freunden oder in der Wohnung ihrer neunzigjährigen Urgroßmutter in der Köpenicker Seelenbinderstraße. Der ständige Ortswechsel verwirrte die Spitzel, und Major gelang es oft, die Beschatter abzuhängen. Nach etwa einem Jahr gab die Stasi die Verfolgungsjagd auf – doch Leutnant Müller von der Volkspolizei dachte nicht daran, den patriotischen Kreuzzug zu beenden, mit dem er seinen Bezirk von Majors »negativ-dekadentem« Einfluss befreien wollte.

Es war in der DDR grundsätzlich schwierig, an eine Wohnung heranzukommen, daher meldete Major sich 1979 mit Hauptwohnsitz in der Seelenbinderstraße an; in der Hoffnung, die Wohnung nach dem Tod der Urgroßmutter übernehmen zu können.

Gegen Ende des Sommers entdeckte sie beim Besuch eines Straßenfests etwas, das sie bisher nur in ihrem Spiegel, auf Plattencovern oder in West-Zeitschriften gesehen hatte: Punks.

Es gibt noch andere!

Major war jetzt seit zwei Jahren Punk – weit und breit die einzige, wie sie geglaubt hatte.

Sie ging sofort zu den anderen und quatschte los. Dann musste sie zurück in die Tretmühle. Es gab keine Möglichkeit, in Kontakt zu bleiben – im Osten besaß praktisch niemand ein Telefon, und wegen Majors ständigen Ortswechseln waren Briefe keine Alternative. Weil sie außerdem noch unter Beobachtung stand oder es zumindest befürchtete, wäre sowieso jeder Brief abgefangen worden. Major beendete ihre Ausbildung und fand einen Job als Sekretärin, der ihr den festgelegten Mindestlohn einbrachte. Dort musste sie von Montag bis Freitag von 6.30 Uhr bis 16.00 Uhr arbeiten, mit einer Schreibmaschine aus dem Jahr 1933.

Im September 1980, etwa zu der Zeit, als sie die Vollzeitstelle antrat, traf sie zufällig die Punks wieder, die sie im vorigen Sommer kennengelernt hatte.

Sie erzählten ihr, dass sie sich ein paar Tage später in einem Jugendklub im Bezirk Schöneweide treffen wollten. Major ging hin – natürlich ging sie hin! Dort tauchte allerdings nur ein einziger Punk auf, Major hatte ihn noch nie gesehen. Sie freundeten sich an und verabredeten sich für einen späteren Tag. Nach ein paar Wochen traf sich dann schon eine Handvoll Punks aus dem Südosten der Stadt – Köpenick, Schöneweide, Wendenschloß – regelmäßig in einem Jugendklub im Plänterwald oder PW, wie die Punks ihn abkürzten. Nicht nur der Klub, auch der angrenzende Vergnügungspark mit dem Riesenrad zwischen den Bäumen wurde zu einem Wahrzeichen der DDR-Punks. Zuerst tauchten nur ein paar von ihnen im PW auf, dann ein gutes Dutzend. Als sich im Herbst 1980 allmählich herumsprach, dass sich die Gruppe dort jeden Mittwoch und Samstag traf, stieg die Zahl rasch an.

Eines Tages kam einer der Punks im PW auf Major zu. Er war groß, sah unverschämt gut aus und hatte Grübchen in den Wangen, wenn er lächelte.

»Wie heißt du?«, fragte er.

»Major.«

»Dann bin ich Colonel«, verpasste er sich selbst einen höheren Dienstgrad. Eigentlich hieß er Mario Schulz, aber nun hatte auch er einen echten Punknamen.

Die Punks hockten im Jugendklub immer am Rand der Tanzfläche und warteten auf ein Stück, zu dem sie tanzen konnten: Punk oder Ska, völlig egal. Sie brachten Kassetten mit den Sex Pistols, Stranglers, Sham 69 und anderen britischen Bands mit, die sie aus dem Radio aufgenommen hatten, und gaben sie dem Schallplattenunterhalter. Die DJs in den offiziellen Jugendklubs waren Teil des Systems. Für die Lizenz zum Musikauflegen mussten sie einen Kurs mit Abschlussprüfung absolvieren. Doch selbst unter den offiziell abgesegneten DJs war es gang und gäbe, selbst gemachte Kassetten zu benutzen, denn der einfachste und billigste Weg, an Westmusik zu gelangen, war es, sie von den West-Berliner Militärsendern oder RIAS, SFB oder Radio Luxemburg aufzunehmen. Und natürlich wollten auch die DJs lässig und modern sein. Daher spielten sie pro Abend auch ein, zwei Punkstücke. Sobald die Punks auf die Tanzfläche stürmten und wild zu pogen anfingen, suchten die übrigen Besucher das Weite. Am Anfang fanden die anderen Jugendlichen die Punks noch aufregend, aber es dauerte nicht lange, bis sie sich mit ihnen anlegten. Mancher Abend endete mit einer Schlägerei. Für einige Punks gehörte es bald zum Spiel dazu – warten, bis endlich die Hölle losbrach.

Ab und zu gingen sie auch in die anderen Jugendklubs in der Umgebung – ins KWO in Schöneweide, ins FAS in Lichtenberg –, doch lief es immer nach dem gleichen Muster ab: den ganzen Abend auf ein Pistols-Stück warten und hoffen, dass man lebend wieder rauskam, bevor die anderen Kids sich genug Mut angetrunken hatten, um die zahlenmäßig weit unterlegenen Punks zu verprügeln.

Im Sommer 1980 starb Majors Urgroßmutter, sodass sie die Wohnung nun ganz für sich hatte. Weil sie selbst so lange auf der Flucht gelebt hatte, bot sie ihre Wohnung den anderen Punks gern als Pennplatz an: Dort konnten sie quatschen und Musik hören, sich für ein paar Stunden den bedrückenden Verhältnissen in ihren Familien entziehen oder vermeintliche Polizeispitzel abhängen. Majors Wohnung wurde bald zu einem Zentrum der wachsenden Szene, zu einem Ort, an dem Punks Gleichgesinnte finden konnten, wenn sie sich einmal nicht im PW oder anderswo trafen.

Dass der Ostblock grau gewesen sei, ist natürlich ein Klischee, dennoch enthält es mindestens einen Funken Wahrheit. Viele der alten Gebäude, die die Bombenangriffe der Alliierten überstanden hatten, waren baufällig oder abbruchreif; an einigen Fassaden konnte man sogar noch die Einschusslöcher von den kurz vor Kriegsende geführten Straßenkämpfen sehen. Der Ruß der Kohleöfen, die man vor allem im Osten zum Heizen benutzte, hatte die Mauern der alten Gebäude gräulich braun gefärbt. Weite Teile des Stadtgebiets waren nach der Zerstörung durch die Bomben der Alliierten nicht wieder aufgebaut worden; in einigen Bezirken hatte man die Ruinen notdürftig restauriert, und in den Vororten hatte die kommunistische Regierung riesige Plattenbaukolonien hochziehen lassen. Straßenbeleuchtung gab es kaum, und da man in einer Planwirtschaft keine Produkte bewerben musste, fehlten die Leuchtreklamen und Plakate, die in den Straßen West-Berlins für reichlich Farbe sorgten. Die meiste Zeit des Jahres hing ein bleierner Himmel über der Stadt, und die Luft war vom rötlichen Rauch der Öfen verpestet, beheizt mit der im Lausitzer Tagebau gewonnenen Braunkohle.

In dieser Umgebung wirkten die Punks – mit ihren bemalten Klamotten, Sicherheitsnadeln, selbst gemachten Buttons und Aufnähern, dem schrillen Make-up und den bunt gefärbten Haaren – wie Wesen vom anderen Stern. Wegen der auffälligen Erscheinung der Punks – und dank neugieriger Nachbarn und Informanten – gerieten die Aktivitäten im PW und in Majors Wohnung bald ins Blickfeld der Polizei. Major erhielt regelmäßig Post mit der Standardformulierung, sich zur Klärung eines Sachverhaltes im örtlichen Polizeirevier einzufinden. Nicht selten wurde sie dort bis zu achtundvierzig Stunden über das Kommen und Gehen in ihrer Wohnung ausgefragt – danach war ein Haftbefehl nötig, weshalb man sie gehen lassen musste. In den Vernehmungen hielt man ihr außerdem Vorträge über richtiges und falsches sozialistisches Verhalten und wies sie auf mögliche Konsequenzen hin, falls sie sich nicht an die Vorgaben halten sollte. Man drohte ihr mit Haft, Schlägen, ja sogar mit Überfällen an dunklen Straßenecken.

Major war wieder auf dem Radar der Polizei aufgetaucht und trug noch immer den Button, mit dem sie sich als ENEMY OF THE STATE auswies.

3

Im Oktober 1980 tauchte ein Typ im PW auf – alleine. Er hieß Micha Horschig, war weder besonders groß noch kräftig und sah mit seiner dunklen Stachelfrisur und dem Oberlippenflaum nicht ganz so einschüchternd aus wie die knallharten Köpenick-Kids. Micha hatte als Kind erst in Treptow gewohnt, dann in Johannisthal, einem Stadtteil südwestlich von Schöneweide, eingezwängt zwischen Mauer und Spree.

Die Sex Pistols hatte Micha 1977 bei einem Krankenhausaufenthalt zum ersten Mal gehört – der Junge im Nachbarbett hatte ihm heimlich ein paar Stücke auf seinem Kassettenrekorder vorgespielt. Im letzten Schuljahr hatte Micha sich immer stärker in Richtung Punk entwickelt, er hörte Sendungen im Westradio, trug zerrissene Klamotten, verpasste sich Un-Frisuren und entdeckte anarchistische Autoren für sich. In einer Enzyklopädie aus der Vorkriegszeit fand er Zusammenfassungen und Auszüge inzwischen verbotener Schriften von Michail Bakunin, Pierre-Joseph Proudhon und Max Stirner – die Grundlagen des anarchistischen Literaturkanons. Bis dahin war Micha ein relativ zufriedenes Mitglied kommunistischer Jugendorganisationen gewesen, obwohl ihm einiges ziemlich heuchlerisch vorgekommen war – so war er empört gewesen, als ein Mädchen wegen ihrer Kirchenzugehörigkeit von einer FDJ-Veranstaltung ausgeschlossen wurde, und hatte nie verstanden, warum die Lehrer beim Anblick eines Plastebeutels mit westdeutschem Markennamen oder Logo ausflippten. Es war doch nur ein Plastebeutel. Wozu das Geschrei? Sein neues Wissen über Anarchismus und die Geschichte der anarchistischen Bewegung brachte ihn auf Gedanken, die in Ostdeutschland eigentlich undenkbar waren. Warum hatte Karl Marx eine Schwächung der Ersten Internationalen in Kauf genommen, als er innerhalb der Organisation nach der Macht gegriffen hatte? Warum war er so versessen darauf gewesen, die anarchistischen Fraktionen auszuschließen, dass er selbst vor Lügen und Intrigen nicht haltgemacht hatte? Bis zum internen Machtkampf hatte die ganze Welt vor dem umstürzlerischen Potenzial der Ersten Internationalen gezittert, danach war die Organisation geschwächt und mit Marx-Opportunisten durchsetzt gewesen. Diese Fragen beschäftigten Micha. Und er verspürte das dringende Bedürfnis, sich mit anderen darüber auszutauschen.

Von 1978 bis 1979, während seiner Uhrmacherlehre, verbrachte Micha seine Freizeit fast ausschließlich mit politischen Diskussionen. In seinem Lehrlingskollegen Frank Masch fand er einen willigen Gesprächspartner. Frank betrachtete sich zwar als Sozialdemokraten, aber Micha wurde schnell klar, dass sich die meisten Linken, unabhängig von der persönlichen Zuordnung – ob selbst ernannter Anarchist oder Sozialdemokrat –, auf grundlegende philosophische Prinzipien wie Freiheit, Gleichheit, Solidarität und das Recht auf politische Teilhabe einigen konnten.

Mit Frank suchte Micha Kneipen und Cafés auf, um andere in Diskussionen zu verwickeln. Die Aufmerksamkeit war Micha schnell sicher – jeder wollte wissen, warum er so komisch rumlief. Und warum zum Teufel quatschte er sie mit diesem Anarchie-Kram voll? Schon hatte er die Leute am Haken. Doch die Themen, die Micha anschneiden wollte, waren einigen zu heiß. Die Stasi und ihre IM hatten die Ohren überall, daher drucksten potenzielle Gesprächspartner rum. Manchmal raunte einer Micha zu: »Nicht so laut, der am Nachbartisch, der hört das.« Manchmal flüsterte ihm ein freundlicher Wirt oder Gast zu: »Ihr müsst weg. Der da hat gerade jemanden angerufen.« Und bevor die Polizei eintraf, waren Micha und Frank über alle Berge.

Aber Micha wollte nicht mehr flüstern.

Auf dem Papier galt Redefreiheit als Grundrecht. Auch in der Staatspropaganda wurde das Recht auf freie Meinungsäußerung gern beschworen. Micha hatte beschlossen, sie beim Wort zu nehmen: Ich werde sagen, was ich sagen will.

Er zettelte nie Schlägereien an. Allerdings gab es an jeder Ecke Menschen, die den Status quo verteidigen wollten und die Michas wahnwitzige Versuche, sie in Gespräche über Tabuthemen zu verstricken, mit Faustschlägen quittierten. Nachdem ihm das ein paar Mal passiert war, änderte Micha sein Verhalten. Bei jedem tätlichen Angriff wurde er jetzt zum Tier. Wenn die Leute sich unbedingt mit ihm anlegen wollten, war das ihre Sache. Nur sollten sie sich besser warm anziehen.

1979 läutete Micha für sich selbst den Countdown der DDR ein: Zehn Jahre, dachte er, länger wird’s nicht mehr dauern.

Er war sich hundertprozentig sicher.

Als er im Herbst 1980 im PW aufkreuzte, war er schon seit zwei Jahren Punk. Doch die Leute aus Majors Clique hatten ihn noch nie gesehen und fragten sich, ob er ein »echter« oder »Mode-Punk« war. Was wollte der Typ bloß? Als sie ihn ansprachen, wurde schnell klar, dass er es ernst meinte: Er kam sofort auf das Thema Politik zu sprechen und landete, selbstverständlich, beim Anarchismus.

Der Typ hat echt Ahnung.

Von den Punks bekam er gleich den Namen A-Micha verpasst – »A« wie Anarchie. Durch A-Micha erfuhr Major, worum es im Anarchismus ging. Sie hatte noch nie jemanden getroffen, der das so verständlich erklären konnte. In der Gruppe verhielt er sich ruhig, besonnen und verantwortungsbewusst, fast wie ein Intellektueller. Obwohl er nicht älter war als Majors Freunde, wirkte er wesentlich erwachsener.

Auch bei seinen Klamotten entwickelte A-Micha viel Fantasie. So nähte er Reißverschlüsse in die Löcher, die er in seine Hosen gerissen hatte. Statt Knöpfe oder Kronkorken zu bemalen und mit Bandnamen oder Ähnlichem zu versehen, beschrieb er Papierfetzen und befestigte sie mit Sicherheitsnadeln an seinen Sachen. Die Parolen, die er für jeden sichtbar trug, empfanden selbst die Punks als zu gewagt – sie lebten in einem Polizeistaat, und Micha lief mit Sprüchen wie HAUT DIE BULLEN PLATT WIE STULLEN herum oder mit Ton-Steine-Scherben-Titeln wie MACHT KAPUTT, WAS EUCH KAPUTT MACHT oder KEINE MACHT FÜR NIEMAND.

Er war außerdem einer der ersten Punks, die sich das Logo von Solidarność anhefteten. Die polnische Gewerkschaft war nach einer großen Streikwelle, die sich im August 1980 von Danzig aus im ganzen Land ausgebreitet hatte, ins Interesse der Weltöffentlichkeit gerückt; unter anderem hatten sie von der polnischen Diktatur die Wiedereinsetzung der gesetzlich verankerten Rede- und Pressefreiheit gefordert.

Major war von A-Micha fasziniert, die beiden hingen oft zusammen rum und redeten nächtelang über Politik. A-Micha benutzte ihre Wohnung bald regelmäßig als Pennplatz.

Außenstehende taten Ost-Punks oft als rebellische, dem neuesten Pop-Trend aus dem Westen verfallene Teenager ab, als Taugenichtse, die um jeden Preis Streit anfangen wollten – das schien wohl ihre Vorstellung von Spaß zu sein. Aber Major empfand das nicht so. Ihr war klar geworden, dass ihre Vorstellung von Spaß vom vorgeschriebenen Weg abwich. Spaß zu haben, war für sie und ihre Freunde zu einem politischen Akt geworden. So leicht konnte man in der DDR politisch aktiv werden. Anders zu denken, offen die Meinung zu sagen, sich von der Masse abzuheben, war politisch. Und wer sich so demonstrativ von der Masse abhob wie die Punks, war richtiggehend radikal.

Die Menschen auf dem vorgeschriebenen Weg zu halten und sie wie eine Einheit marschieren zu lassen – man durchlief die Jungpioniere, die Thälmann-Pioniere, die FDJ, absolvierte einen Wehrdienst von mindestens achtzehn Monaten, trat eine Lehrstelle an und fand schließlich einen Job als Fabrikarbeiter, um ein produktives Mitglied der Gesellschaft zu werden –, war viel leichter, als man vielleicht vermuten würde. Wie in den meisten Gesellschaften war auch das Leben in der DDR geprägt von Bequemlichkeit und Angepasstheit. Jeder hatte Arbeit und ein Dach über dem Kopf, es gab Elektrizität, sauberes Trinkwasser, Sanitärversorgung. Tatsächlich besaßen neunzig Prozent aller Haushalte Fernseher, Waschmaschine und Kühlschrank; es gab billigen Alkohol und genug zu essen. Ohne dass die Regierung ständig Druck ausüben musste, lebte man sein sozialistisches Leben und nahm die soziopolitischen Grenzen als gegeben hin. Wenigstens hielt es die Mehrheit so.

Anfang der 1980er-Jahre bestand für die physische Gewalt der Stalin-Ära keine – oder zumindest keine so große – Notwendigkeit mehr: Mit der Etablierung des »real existierenden Sozialismus« hatte man eine Norm geschaffen, und sobald es eine Norm gibt, halten sich die meisten Menschen auch daran. Obwohl die Mitgliedschaft in den Jugendorganisationen nicht obligatorisch war, traten ihnen fast fünfundachtzig Prozent aller Kinder bei. Man übte sich in Selbstzensur und wusste instinktiv, wo die Grenzen waren, und, ey,ich muss ja nicht gleich bis an die Grenzen gehen; mir reicht es, mich anzupassen und nicht aufzufallen.

Die Handvoll Leute, die sich nicht anpassen wollte, wurde von den anderen dazu ermuntert, sich an die Norm zu halten – denn wer will schon, dass ein schwarzes Schaf der ganzen Herde das Leben schwermacht?

Natürlich war die Bequemlichkeit und Angepasstheit in der DDR nicht stärker ausgeprägt als in anderen Ländern der Welt. Die meisten weißen Amerikaner machten, trotz der schreienden Ungerechtigkeit des Systems der Rassendiskriminierung, ein ganzes Jahrhundert lang ungerührt mit ihrem täglichen Leben weiter: nicht mein Problem! Die völlige Gleichgültigkeit, mit der die meisten Amerikaner auf Edward Snowdens Enthüllung einer regelrechten Massenüberwachung reagierten, ist ein anderes Beispiel. Ich hab doch nichts zu verbergen! Genauso das Schulterzucken des »weißen Amerika« angesichts der Militarisierung der Polizei und einer nicht abreißenden Welle von brutalen polizeilichen Übergriffen: Hey, MIR tun sie ja nichts! Die Leute schauen weg. Das ist ganz natürlich. Sie verteidigen die Norm, ohne dass man sie dazu anhalten muss. Solange es sie nicht selbst betrifft, halten die Leute den Mund und schauen weg. So sind die Menschen nun mal. Wenigstens so lange, bis sie selbst verfolgt werden. Bis sie Ungerechtigkeit am eigenen Leib zu spüren bekommen. Bis sie sich wehren müssen. Oder im Fall der jungen Punks in der DDR: bis du verhaftet wirst oder zur täglichen Vernehmung antanzen musst, bis deine Eltern ihren Arbeitsplatz verlieren, deine Geschwister von der Schule verwiesen werden und man dich aus der Stadt verbannt oder ins Gefängnis steckt und so weiter und so fort – und das alles nur, weil du deine Meinung gesagt, weil du widersprochen, weil du dich nicht angepasst oder einfach nur die falsche Musik gehört hast.

Doch als im Herbst 1980 die Bäume im Plänterwald allmählich ihre Blätter verloren, lag das noch in weiter Ferne.

Allerdings wurden Major und die anderen Punks von den stinknormalen Bürgern recht bald dazu ermuntert, sich an die Norm zu halten. Die »Ermunterungen« kamen in Form von Beschimpfungen – »So was wie euch müsste man vergasen« – oder Schlägen. Bald mussten sich die Punks am S-Bahnhof Plänterwald treffen und gemeinsam zum PW gehen – das war sicherer. Einzelne Punks wurden regelmäßig von einer tobenden Meute staatstreuer Bürger gejagt. Und bei den Angriffen flogen nicht nur Fäuste, es hagelte auch Neonazi-Sprüche wie: Mit so was wie euch hätte man bei Adolf kurzen Prozess gemacht!

Und obwohl A-Micha ruhig, besonnen und verantwortungsbewusst war, wurde seinen neuen Freunden bald klar, dass er auch gut mit den Fäusten umgehen konnte. Wann immer die Kacke am Dampfen war, verteidigte A-Micha seine Freunde wie der Held aus einem Epos. Er wurde zum Tier.

Die Anfeindungen und Angriffe schweißten die kleine Punk-Clique fester zusammen, einer für alle, alle für einen. Oder wie Sham 69 sangen:

If the kids are united,

they will never be divided.

4

Der erste Punk aus dem Norden Ost-Berlins, der im PW aufkreuzte, hieß Michael Boehlke. Er war in Pankow aufgewachsen, einem Bezirk, der im Westen an die Mauer grenzte. Die meisten Punks aus dem Süden waren inzwischen achtzehn Jahre alt – wie Major –, während Boehlke erst sechzehn war. Er war groß und extrem dünn, hatte tiefliegende Augen und lispelte leicht. Im Sommer 1980 hatte er die zehnte Klasse beendet und in einer Zigarettenfabrik in Schöneweide eine Lehre als Facharbeiter für Anlagetechnik begonnen. Ein Kollege hatte ihm von den Mittwochstreffen der Punks im PW erzählt.

Keiner der Süd-Berliner Punks war jemals in Pankow gewesen, und sie sahen Boehlke an, als käme er aus einer anderen Stadt, von einem anderen Planeten.

»Ach, du bist’s«, sagten sie, als er das nächste Mal auftauchte. »Der Typ aus Pankow!«

Es dauerte nicht lange, da kürzten sie die Begrüßung zu Pankow ab – sein neuer Punkname.

Immer noch gab es so wenige Punks, dass Pankow sie bald alle namentlich kannte. Allerdings meist nicht mal mit den richtigen Namen, denn fast jeder hatte einen Spitznamen. Außer Major, Colonel und A-Micha gab es noch Erkner, Keule, Buzzcock, Fatzo, Special und Spion. Der neue Name gehörte zum Punksein dazu.

Damit verabschiedete man sich von dem früheren Leben, der früheren Identität, die das Regime bereits vereinnahmt hatte. Das Leben des Michael Boehlke war von Anfang bis Ende durchgeplant, aber das von Pankow fing erst an, und er war der Einzige, der darüber bestimmen würde. In einem Überwachungsstaat, in dem es von Informanten nur so wimmelte, und in einer Szene, in der Polizeivernehmungen bald täglich vorkamen, einen Spitznamen zu benutzen, erwies sich als praktisch. »Sagen Sie uns, wer sonst noch da war!« Tja, mal sehen, da waren Fatzo und Buzzcock und Pankow ...

Eines Nachmittags fuhr Pankow mit der S-Bahn zu einem seiner neuen Freunde. Er wollte bei ihm Platten auf Kassette aufnehmen: Never Mind the Bollocks von den Sex Pistols und No More Heroes von den Stranglers. Während der Fahrt gingen drei Typen auf ihn los – Scheißpunker! – und brachen ihm die Nase. Pankow, blaues Auge, blutige Nase, setzte die Fahrt fort und nahm seine Kassetten auf.

Prügel waren für Pankow nichts Neues. Er war schon immer ein Außenseiter gewesen. Seine Kindheit war von Gewalt geprägt gewesen, der Vater hatte ihn und die Mutter regelmäßig geschlagen – dank Papa war er an seinem allerersten Schultag mit gebrochener Nase in der Schule erschienen.

Bei ihm zu Hause hatte man in ständiger Angst gelebt.

Weil seine Familie nach außen hin so tat, als wäre alles in Ordnung, während hinter verschlossener Tür brutale Gewalt herrschte, hatte Pankow schon früh gelernt, allem und jedem mit Misstrauen zu begegnen – nichts war so, wie es den Anschein hatte.

Er war eigentlich Linkshänder, aber in der Schule zwang man ihn, mit rechts zu schreiben. Wegen seiner dürren Erscheinung war er schon immer gehänselt worden, nun kam noch eine Sprachstörung hinzu. In der dritten Klasse konnten alle schreiben – außer Pankow. Dennoch musste er nie eine Klasse wiederholen. Jahr für Jahr saß er da und dachte: Ich bin wirklich blöde, ich hab ’ne Macke. Alle anderen machen das mit links, nur ich krieg’s einfach nicht hin.

Er fühlte sich immer isolierter.

Auch wenn er sich nicht besonders für Politik interessierte, empfand er die DDR doch als kaputten Staat. Manchmal saß er vor seinem Wohnblock und starrte die Nachbarn verächtlich an. In dem grünen, hübsch ordentlichen Viertel lebten viele Parteibonzen und andere Privilegierte: Am Wochenende wuschen die Leute ihre Autos oder machten einen Spaziergang im nahe gelegenen Park mit dem hübschen Barockschloss, und Pankow hasste alles und jeden, vor allem aber die anderen Kinder, und beschloss, niemals so zu werden wie sie.

Ich bin anders.

Nur, was tun?

Mit fünfzehn konnte er seine Aggression nicht länger zügeln.

Kurz vor Ende der zehnten Klasse schlichen er und ein Freund sich eines Nachts aus dem Haus und warfen die Scheiben im ersten Stock der Schule ein. Am darauffolgenden Tag waren alle Schüler zum Fahnenappell angetreten, als sein Name aufgerufen wurde.

Pankow bekam vor der gesamten Schule einen Tadel, weil er seine Jeansweste mit AC/DC bemalt hatte. Auf dem Nachhauseweg entdeckte er in einer Seitenstraße einen Mercedes – das Auto eines Parteimitglieds mit guten Beziehungen. Er sah den Stern auf der Kühlerhaube und brach ihn ab. Dafür würde er einiges kriegen.

Am nächsten Tag verhandelte er auf dem Schulhof – was gibst du mir für einen echten Mercedes-Stern? Am Ende tauschte er ihn gegen eine Bravo –, und sein Leben änderte sich schlagartig.

Im Heft: ein Foto der Sex Pistols.

Das war es, wonach er gesucht hatte.

Ich bin anders.

Und ich will anders aussehen.

Mit Ende der Schulzeit begann Pankows Verwandlung. Er sprühte das Anarcho-A auf ein Sakko, das er irgendwo geklaut hatte. Er schlich in den Park und riss Löcher in seine T-Shirts.

Eines Tages nahm Pankow eine Schere aus der Küche und ging in den Keller. Dort verpasste er sich eine Punkfrisur, abgehackt, hochgestellt. Auf dem Weg nach oben beschloss er, an der Tür zur klingeln, statt einfach in die Wohnung zu gehen. Sein Vater machte auf, warf einen Blick auf Pankows Frisur und verpasste ihm eine.

Seine Mutter störte die neue Aufmachung weniger – sie schien sich sogar darüber zu amüsieren, dass der Sohn die Aufmerksamkeit der Nachbarn auf sich zog und alle die Köpfe aus dem Fenster streckten, sobald er die Straße entlangging. Doch der Vater konnte den Anblick nicht ertragen. Er verbot Pankow, mit der Familie an einem Tisch zu essen. Er beschimpfte ihn, schlug ihn, machte ihm das Leben zur Hölle.

Pankow ließ sich nicht umstimmen. Er war jetzt Punk. Obwohl er die Musik kaum kannte und noch keinen anderen Punk gesehen hatte – eine Zeit lang glaubte er sogar, er wäre in Berlin der einzige –, wusste er eins genau: Er hatte gefunden, wonach er so lange gesucht hatte. Von den anderen Kids wurde er wegen seiner schrägen Aufmachung schikaniert und verprügelt, daher kaufte sich der von Natur aus eher schüchterne Pankow ein Hundehalsband mit Stacheln, in der Hoffnung, gefährlicher auszusehen. Statt zu kapitulieren, ging er in die Offensive: Machte ihn jemand schräg von der Seite an, rollte er mit den Augen und schrie: »Willst du was auf die Fresse?«

Zu Hause wurde es immer unerträglicher. Kurz nach Beginn seiner Lehre hielt er es nicht mehr aus. Er stopfte ein paar Sachen in eine Tasche, schlug die Tür hinter sich zu und kehrte nie mehr zurück.

5

Die erste Wohnung, in die Pankow flüchtete, gehörte einem Freund und lag in der Göhrener Straße in Prenzlauer Berg. Der Freund wohnte im Pfarrhaus der Eliaskirche, die vom oppositionsfreundlichen Pfarrer Georg Katzorke geleitet wurde.

Dort konnte Pankow allerdings nicht lange bleiben, denn er verliebte sich in die Tochter des Pfarrers. Als Nächstes landete er in einer Wohnung in der Wörther Straße, in der Nähe des Wasserturms Prenzlauer Berg. Ein Freund war kurz zuvor aus der DDR geflüchtet, also besetzte Pankow die verlassene Wohnung. In der DDR gab es zwei Arten von Hausbesetzung. Zum einen zogen Menschen illegal, das heißt ohne die erforderliche Erlaubnis der kommunalen Wohnungsverwaltung, in eine offiziell registrierte Wohnung; so machte Pankow es in der Wörther Straße. Zum anderen gab es die »klassische« Hausbesetzung. In einem offiziellen DDR-Bericht wurde die Zahl der leer stehenden Gebäude mit 235000 beziffert; sie konzentrierten sich auf die Innenstädte von Berlin, Leipzig, Dresden und Halle. Laut Schätzung der Behörden hatten in den frühen 1980er-Jahren achthundert Personen Wohnungen in Prenzlauer Berg besetzt, und diese Zahl sollte sich bis zum Ende des Jahrzehnts verdoppeln.

Kaum war Pankow in die Wohnung gezogen, stand die Stasi auch schon vor der Tür, weil sie glaubten, er hätte seinem Freund bei der Flucht geholfen. Pankow brauchte so schnell wie möglich einen neuen Unterschlupf. Er entdeckte ein verlassenes Gebäude und besetzte es – also klassische Hausbesetzung, so wie sie etliche oppositionelle Jugendliche vornahmen, um sich innerhalb der Grenzen der DDR einen Freiraum zu erobern und außerhalb des Systems zu leben.

Das war etwa zu der Zeit, als Pankow die Punks aus dem PW kennengelernt hatte. Was wiederum ungefähr zur selben Zeit war, als die PW-Punks beschlossen, einen Ausflug zum Alexanderplatz zu machen. Sie hatten gehört, dass ab und an West-Punks am Alex rumhingen. Westler konnten den Ostteil der Stadt jederzeit besuchen, sie mussten lediglich einen Mindestbetrag zum offiziellen DDR-Kurs umtauschen. Allerdings war der Mindestumtausch für viele geringbeschäftigte oder arbeitslose West-Berliner Punks unerschwinglich, sodass sie sich regelmäßige Ausflüge in den Osten nicht leisten konnten.

Als Major und ihre Clique über den Alex schlenderten, entdeckten sie vor einem Selbstbedienungscafé am Fuß des Fernsehturms einen Punk und zwei langhaarige Mädchen. Der Typ warf einen Blick auf die PW-Punks und fragte: »Seid ihr die aus dem Westen?«

»Nein, wir dachten, ihr seid das.«

Großes Gelächter.

Die PW-Punks liefen zwei Tage lang über den Alex und lernten Punks aus allen möglichen Stadteilen Ost-Berlins und den umliegenden Kleinstädten kennen. Nun wusste jeder von den Treffen im Plänterwald, und wenige Wochen später versammelten sich an den üblichen Mittwochen und Samstagen an die hundert Punks im PW.

Dass Major eine eigene Wohnung hatte, sprach sich auch immer weiter rum. Manchmal hielten sich mehr als zwanzig Punks bei ihr auf, tranken, hörten Musik, pennten. Die Nachbarn begannen Buch über das Kommen und Gehen zu führen und informierten die Polizei. Oft tauchten die Bullen fast zeitgleich mit den Punks auf – sie hämmerten an die Tür, verschafften sich Zutritt, ließen sich von jedem den Ausweis zeigen und lösten die »Versammlung« nicht selten gewaltsam auf. Manchmal mussten die Jugendlichen die ganze Nacht auf der Wache verbringen und sich vernehmen lassen.

Punks waren ständige Ausweiskontrollen gewohnt. Die Polizei konnte jeden auf der Straße anhalten und nach den Papieren fragen. Weil die Punks besonders auffielen, konnten sie kaum vor die Tür gehen, ohne schikaniert zu werden. Wer seine Ausweispapiere nicht bei sich trug oder, wie bei den Punks natürlich häufig der Fall, nicht mehr so aussah wie auf dem Foto, wanderte meistens direkt aufs Revier.

Major und ihre Clique hassten die Bullen, und die Bullen hassten Major und ihre Clique. Doch obwohl Major Angst hatte – eine Verhaftung war beängstigend –, zeigte sie es nie. Das verbot ihr der Stolz.

Ich lasse mich nicht einschüchtern!

Sie war fest entschlossen, der hässliche Pickel im Gesicht des real existierenden Sozialismus zu bleiben. Sie wollte, dass die Menschen sie sahen und sich fragten, ob das glorreiche Image der sozialistischen Gesellschaft tatsächlich der Realität entsprach.

Majors Wut war stärker als die Angst. Es wurde ihr klar, dass man sie immer wieder verhaften würde. Dennoch weigerte sie sich, nach einem alternativen Lebensentwurf zu suchen.

Ich gebe nicht auf.

Eines Tages tauchte die Polizei bei ihr auf und trat mit solcher Wucht gegen die Tür, dass der untere Teil zersplitterte. Da man in der DDR lange auf einen Tischler warten musste, war die Wohnung wochenlang für jeden frei zugänglich. Ein anderes Mal hielten die Bullen ihre Gäste in der Wohnung fest, zerrten sie nacheinander in die Küche und verpassten ihnen eine solche Tracht Prügel, dass Major, nachdem sie gerade mal wieder selbst aus polizeilichem Gewahrsam entlassen worden war, Blutspuren an Wänden, Schränken, Fußboden und Decke fand.

Major wurde dadurch nur noch entschlossener.

Ich gebe nicht auf.

A-Micha wurde Ende 1980 von seinen Eltern vor die Tür gesetzt. Danach zog er dauerhaft bei Major ein. Er war derjenige, der nach den Prügelattacken der Polizei das Blut in der Küche wegwischte.

Pankow trieb sich immer häufiger am Alex rum und lernte dort die anderen Punks kennen. Auch sie wurden oft verhaftet, aber ihre Haltung glich der von Major: Wir sind hier, wir sind präsent