Stoner McTavish - Schatten - Sarah Dreher - E-Book

Stoner McTavish - Schatten E-Book

Sarah Dreher

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Beschreibung

Endstation Psychohölle: Stoner undercover! Auf der Suche nach einer abgetauchten jungen Pflegerin bereisen Stoner McTavish und Gwen die Küste von Maine - und Stoner schmuggelt sich als Patientin in ein dubioses Sanatorium ein, wo sie die Hölle auf Erden erwartet. Hinreißende Charaktere, ein exzellenter Plot und haarsträubend gruselige Schauplätze sorgen für permanente Gänsehaut: Schatten ist der spannendste Thriller in Sarah Drehers Zyklus um Heldin-wider-Willen Stoner McTavish.

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Sarah Dreher

Stoner McTavish

Schatten

Stoners 2. Fall

Deutsch von

Else Laudan und Martin Grundmann

Ariadne Krimi 1023

Argument Verlag

Ariadne Krimis

Herausgegeben von Else Laudan

www.ariadnekrimis.de

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

Something Shady

© 1987 by Sarah Dreher

Alle Rechte vorbehalten

© Argument Verlag 1991, 2017

Glashüttenstraße 28, 20357 Hamburg

Telefon 040/4018000 – Fax 040/40180020

www.argument.de

Titelgrafik: Johannes Nawrath

ISBN Buch: 978-3-88619-523-7

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2017

ISBN EPUB: 978-3-86754-880-9

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapiel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Fußnoten

Für Nancy,

eine geliebte und liebende Freundin

Kapitel 1

Sie kamen näher.

Krallige Klauen knirschten im Kies. Hielten inne. Das Geräusch von Schnüffeln. Wispern. Schweigen. Schnüffeln. Wispern. Schweigen. Schnüffeln. Schweigen.

Nebel verdichteten sich zu ungestalten Formen, verwandelten sich zurück in Nebel.

Weit unten gischtete das Meer gegen zerklüftete Felsen.

Horch. Horch auf das Meer.

Irgendetwas kroch über ihren nackten Fuß. Sie sah hinunter. Ein Skorpion, rot wie frisches Blut. Er schmeckte prüfend die Luft.

Nicht bewegen.

Nicht atmen.

Ihre Haut war klamm von Salz und Angst.

Das Insekt kroch ein paar Millimeter vorwärts.

Hielt inne. Sein Schwanz vibrierte.

Kältewellen liefen ihr das Rückgrat hinauf. Ihre Lippen waren taub.

Ich muss schreien.

Sie werden mich entdecken, wenn ich schreie.

Sie erschauerte.

Der Skorpion erstarrte.

Nimm ihn weg. Nimm ihn weg. Oh Göttin, nimm ihn WEG!

Wenn ich nicht schreie, werde ich verrückt.

Wenn ich mich bewege, sterbe ich.

Sie schloss die Augen …

… und fühlte seine kleinen Füße wie weiche Haare über ihre Haut streichen.

Panisch griff sie nach ihm. Er stach sie in den Fuß, in die Finger. Sie riss ihn heraus. Es zerfetzte ihr die Haut. Sie schleuderte seinen Körper in den Nebel.

Das Wispern kehrte zurück, legte sich um sie. Das unendlich leise Zischeln von Regen auf trockenem Laub. Sie strengte sich an, Worte zu verstehen.

»Sieh, sieh, sieh, sieh.«

Das ist ein Traum. Ich kann aufwachen.

Aufwachen.

Sie schloss die Augen und zwang ihr Bewusstsein in die Wirklichkeit.

Ihr Schlafzimmer war dunkel. Regen lief am Fenster hinab. Hinter der Glasscheibe das gedämpfte blaue Licht der schlafenden Stadt. Boston.

Ich bin wach.

Ihr Herzschlag beruhigte sich.

Steh auf. Mach Licht an.

Sie konnte sich nicht bewegen.

Irgendwo über ihrem Kopf ertönte das gehässige Kichern eines Kindes. Der Nebel umschloss sie dichter, umschmeichelte ihr Gesicht wie ölige Ranken.

Knistern von trockenem Gras.

Schritte?

Wind?

Die Luft war ruhig wie im August.

Kalt.

Nur der Nebel bewegte sich … und irgendetwas im Nebel.

Eine Mauer in ihrem Rücken. Ein Haus. Grobe Mauerschindeln. Abblätternde Farbe. Finde die Hausecke.

Taste dich zur Hausecke vor. Schleich dich hinters Haus.

Uralte Planken von der Sonne gewärmt.

Aber da war keine Sonne. Nur der Nebel, der kalte Nebel.

Das Holz begann sich unter ihrer Hand auszudehnen.

Und zusammenzuziehen.

Das Haus atmete.

Sie stieß sich ab und blickte an ihm hoch. Monströses, zerfallenes Relikt. Ein Fensterladen hing an einem einzelnen Scharnier. Weiße Säulen, rissig und geborsten. Blinde Fensterscheiben mit spinnwebartigen Sprüngen. Der aufsteigende Geruch von Thymian.

Ein langsames rhythmisches Beben ließ den Boden erzittern. Sie lauschte nach dem Ursprung. Es kam vom Haus.

Maschinen. Schiffsmaschinen.

Keine Maschinen. Herzschläge.

Der Herzschlag des Hauses.

Sie wich zurück und wollte schreien. Nebel rollte sich über ihre Zunge, glitt in ihren Rachen. Ihre Füße berührten den Kies. Über ihr begann das Dach aus Schieferschindeln zu schmelzen.

Sie machte einen Schritt …

… und fiel!

»Stoner, Liebes, du hast einen Alptraum.«

»Was?«

»Wach auf, Stoner.«

Sie setzte sich auf und rieb sich die Augen. »Tante Hermione?«

Die ältere Frau thronte auf der Bettkante und trank Tee. Ihr Pfauenkimono glänzte im grauen Licht. »Ich muss etwas Wichtiges mit dir besprechen.«

»Sekunde.« Sie blickte sich im Zimmer um und machte Inventur. Eichenschreibtisch, Lesepult, Bücherregal, Stehlampe, Hocker, Fenstersessel, altweiße Wände, burgunderfarbene Vorhänge, gerahmtes Foto der Tetons. Alles am richtigen Platz.

»Was hältst du davon, nach Maine zu fahren?«

»Ich kann nicht nach Maine fahren. Ich muss arbeiten.« Sie nahm die Teetasse ihrer Tante, nippte daran und schüttelte sich. »Mate.«

»Die Indianer Südamerikas haben ihn jahrhundertelang getrunken.«

»Ich brauch was Stärkeres.«

»Auf deinem kleinen Tischchen steht Kaffee, Liebes.«

Kalt. Na gut. Sie kippte ihn runter. »Wie lange sitzt du hier schon?«

»Ein paar Minuten.«

»Und beobachtest mich beim Schlafen.«

Ihre Tante wurde steif. »Natürlich nicht. Sich in die Privatsphäre anderer einzuschleichen ist eine Sünde, die das Karma belastet, Stoner.«

»Gott sei Dank!«

»Der«, schnaufte Tante Hermione, »der würde doch als Erster in unseren Herzen herumschnüffeln, der alte Wichtigtuer.«

»Bestimmt hast du recht«, murmelte Stoner und schob die Bettdecke zurück. Der Alptraum ging ihr wie eine Schuld nach. Kalter Kaffee hatte nicht geholfen, vielleicht kaltes Wasser … Sie stolperte ins Badezimmer.

»Soll ich für dich packen, Liebes?«

»Was packen?«

»Was immer du willst.« Tante Hermione rückte eine weiße Haarlocke zurecht. »Und wenn du meinen Rat hören möchtest …«

Stoner sackte gegen den Schreibtisch.

»… du solltest dich warm anziehen. Maine ist ekelhaft im März.«

»Alles ist ekelhaft im März. Ich kann nicht nach Maine fahren.«

Ihre Tante seufzte schwer. »Es gibt eine hauchdünne Grenze zwischen Hartnäckigkeit und Sturheit, Stoner. Ich wünschte, du würdest sie nicht so oft überschreiten.«

»März bedeutet Frühjahrsferien. Frühjahrsferien bedeuten Kreuzfahrten und Charterflüge in die Karibik. Kreuzfahrten und Charterflüge in die Karibik bedeuten Arbeit. Stornierungen. Verwicklungen. Verlorenes Gepäck. Chaos, Tante Hermione, totales Chaos.«

Die ältere Frau setzte sich die Brille auf und prüfte Stoners Bücherschrank. »Fahr in die Karibik, wenn dir danach ist, aber es würde unser Problem nicht lösen. Hast du Agatha Christie ausgelesen?«

Stoner sah alarmiert auf. »Welches Problem? Haben wir ein Problem?«

»Ich verstehe einfach nicht, wie du es fertigbringst, May Sarton zu lesen. Sie ist so kopflastig.«

»Es war eine Liebesgabe.« Sie ballte die Fäuste. »Tante Hermione, was für ein Problem?«

»Eine Gabe«, sagte Tante Hermione, die eine misshandelte Nancy Drew-Originalausgabe aus der ›Blauen Reihe‹ inspizierte. »Wunderbar. Ich kann meinen Freundinnen erzählen, ich habe eine Nichte mit Gaben.«

In höchstens siebenunddreißig Sekunden wirst du eine Nichte mit Psychosen haben. »Tante Hermione …«

Tante Hermione drehte sich um und spähte über ihren Brillenrand. »Claire Rasmussen.«

»Wer ist Claire Rasmussen?«

»Die Schwester von Nancy Rasmussen. Ich wusste nicht, dass du einen Urlaub in die Karibik geplant hattest. Fährt Gwen auch mit?«

Stoner raufte sich wild mit beiden Händen die Haare. »Gwen muss unterrichten.«

»In den Frühjahrsferien? Kein Wunder, wenn der Lehrerverband den Aufstand probt.«

Irgendetwas rastete aus. »Ich fahre nicht in die Karibik! Andere Leute fahren in die Karibik. Und ich muss sie dahin bringen.«

»Stoner, wenn diese Leute meinen, sie müssten unbedingt in die Karibik, dann werden sie schon irgendwie hinkommen.«

»Genau, und deshalb wäre es mir lieb, sie würden mit Kesselbaum & McTavish hinkommen und nicht mit TUI.« Sie angelte frische Unterwäsche aus einer Schublade.

»Ich habe dir schon tausendmal gesagt«, beharrte ihre Tante, »Kesselbaum & McTavish ist dazu ausersehen, erfolgreich zu sein. Nicht rasend erfolgreich, aber erfolgreich.«

»Wir müssen nur noch entsprechend arbeiten.«

»Wahrscheinlich hast du recht.« Tante Hermione ließ sich mit Agatha Christie auf dem Rand der Badewanne nieder. »Man muss sich wohl gelegentlich blicken lassen, nicht wahr?«

»Genau. Und zwar muss man sich pünktlich blicken lassen, also wenn es dir nichts ausmacht …« Stoner deutete zur Tür.

»Angenehmes Duschen, Liebes«, sagte Tante Hermione freundlich. »Wenn sich deine Laune etwas gebessert hat, können wir ein nettes kleines Gespräch über Claire Rasmussen führen.«

»Ich kenne niemanden namens …«

Sie stellte fest, dass sie mit der Badezimmertür sprach.

***

»Claire Rasmussen?«

Tante Hermione schenkte sich eine weitere Tasse Matetee ein. »Sie ist verschwunden. Wir sprechen darüber, wenn du etwas gegessen hast. Du bist immer ausgesprochen unausstehlich vor dem Frühstück.«

»Immer?«

»Jeden Morgen, seit sechzehn Jahren, bist du unausstehlich. Warst du schon so unausstehlich, bevor du dein Elternhaus verlassen hast?«

»Vermutlich.« Sie bestrich ein Milchbrötchen mit Butter. »Oh Göttin, muss ich langweilig sein.«

»Findest du? Ich fand es immer sehr angenehm. Soll da wirklich die ganze Butter draufbleiben, Stoner? Sie ist so fett.«

»Ich brauch das, um den Tag durchzustehen.«

»Du isst nicht genug.« Tante Hermione nahm ihren eigenen Teller in Augenschein, kaum noch zu sehen unter einem Berg Rührei, Toast mit Marmelade und sechs Scheiben Schinkenspeck. Daneben stand ein Schälchen mit Krautsalat, übrig vom Vorabend. »Ich allerdings futtere wie ein Fernfahrer.«

»Ohne jemals ein Gramm zuzunehmen. Wie machst du das bloß?«

»Das ist die Arbeit. Manchmal saugen die Sitzungen an meinen Energievorräten wie ein Elektrolux. Vielleicht sollte ich mir doch lieber ein Haustier als Medium zulegen, aber das kommt mir irgendwie so unpersönlich vor.«

»Warum grübeln, solange dir das Essen Freude macht.«

»Das war sehr inspiriert«, sagte ihre Tante strahlend. »Du bist immer so gut im Finden von Entschuldigungen.«

»Mutter behauptet, es ist das, was ich am besten kann.«

»Meine Schwester ist eine dumme Frau. Sie war auch ein dummes Kind, schon damals. Wenn ich nur daran denke, wie sie erst als Mutter gewesen sein muss … mir wird ganz anders.«

»Oh ja«, sagte Stoner. »Allerdings.«

Tante Hermione sah sich in der Küche um. »Wir brauchen einfach mehr Chrom.«

»Ich kann nachher auf dem Nachhauseweg welches aus der Apotheke mitbringen, oder brauchst du es jetzt sofort?«

»Verzeihung, was meinst du?«

»Wenn sie es in reiner Form nicht dahaben, soll ich dann so eine Tablettenmischung nehmen?«

»Stoner, um alles in der Welt, wovon sprichst du?«

»Na, von Chrom. Spurenelementen …«

Ihre Tante brach in schallendes Gelächter aus. »Doch nicht solches Chrom. Chrom, wie in Handtuchhaltern, Zuckerdosen, Radkappen. Fernfahrerkneipenchrom.«

»Wenn ich vorhätte, nach Maine zu fahren«, spöttelte Stoner, »könnte ich dir irgendeinen Kram von einem Flohmarkt mitbringen.«

Tante Hermione zuckte mit den Achseln. »Ich wünsche dir viel Spaß. In Maine finden, besonders in der Zwischensaison, hemmungslose Volksfeste statt.« Sie musterte den Raum. »Es wäre nett, die Küche im Fernfahrerdesign zu erneuern. Wir könnten das kleine Brokatsofa durch Barhocker ersetzen …«

»Ja, mit zerrissenen roten Plastikbezügen.« Sie schenkte sich eine weitere Tasse Kaffee ein.

»Und die Wände rosa streichen. Unser ganzes Essbesteck hat ein einheitliches Design. Dagegen müssen wir unbedingt etwas tun.«

»Bunte Karovorhänge statt weidengeflochtener Vogelkäfige an den Fenstern«, sagte Stoner, die begann, Gefallen an der Sache zu finden.

»Wir brauchen ein Hinterzimmer. Vollkommen dunkel, nur mit einem roten Lämpchen für ungewöhnliche Zwecke. Und Herrenmagazine.«

»Herrenmagazine!« Sie verschluckte sich an ihrem Kaffee. »Heutzutage nennt man das Pornos, Tante Hermione.«

Die Augen der älteren Frau gerieten ins Träumen. »Ich hab mal in der größten Fernfahrerkneipe der Welt gegessen. Das war in Xenia, Ohio. 1956. Ich war unterwegs zu einem Psychologinnenkongress am Barea College. Ethel Morrissey war bei mir. Sie entmaterialisierte sich 1963.«

»Hörst du noch manchmal von ihr?« fragte Stoner.

»Nicht oft. Sie interessierte sich nicht sonderlich für die materielle Ebene. Außer für die Xenia-Fernfahrerkneipe.«

»Vielleicht schaut sie ja mal vorbei, wenn wir die Küche renoviert haben.«

»Was denn, Stoner«, sagte Tante Hermione, »ich dachte, du glaubst nicht an Geister.«

»Tu ich auch nicht, aber ich bin zu müde zum Diskutieren.«

»Denk an meine Worte, irgendwann dieser Tage wirst du eine Offenbarung haben …«

»Nicht im März.«

Tante Hermione aß das Rührei auf. »Wenn wir ins Fernfahrermilieu wechseln, meinst du, dass ich mich dann von meinem Aschenbecher trennen muss?«

Der Aschenbecher war fest in die Mitte des Tisches eingelassen und wirkte dadurch ein bisschen wie der Mittelpunkt des Universums. Er war alt und rissig, teilweise abgesplittert und mit dem goldenen Schriftzug ›Asch gefälligst hier rein‹ geschmückt.

»Ich finde«, sagte Stoner, »er ist so protzig, er passt zu allem.«

»Ich habe diesen Aschenbecher gewonnen«, verkündete Tante Hermione stolz. »1947 bei der Penny-Tombola unter den Arkaden von Old Orchard Beach.«

Stoner stand auf und durchforstete den Brotkasten auf der Suche nach weiteren Milchbrötchen.

»Marylou wäre schockiert«, fuhr ihre Tante fort, »aber ihre Mutter wäre bestimmt ganz wild darauf, einmal dorthin zu kommen. Da du gerade stehst, gib mir doch bitte noch etwas von dem Krautsalat.«

»Es ist mir ein Rätsel, wie du dieses Zeug schon morgens essen kannst«, sagte Stoner, hob ein paar Löffelvoll auf den Teller und versuchte, dabei nicht zu atmen.

»Koste doch mal davon, sehr erfrischend.«

»Nein, besten Dank.« Sie gab die Suche nach den Milchbrötchen auf, entdeckte einen halben Kirschkuchen im Kühlschrank und schnitt sich davon ein Stück ab.

»Vielleicht solltest du lieber alleine frühstücken?«

»Dann würde ich dich so gut wie nie zu Gesicht bekommen.« Sie nahm ihren Kaffee und kauerte sich wieder auf das Plaudersofa.

Tante Hermione seufzte. »Weißt du, ich würde nicht nachts arbeiten, wenn es eine bessere Möglichkeit gäbe. Aber manche Leute glauben einfach nicht, dass Wahrsagen auch bei Tageslicht funktioniert. Sosehr ich es hasse, ich muss solch kleingeistigem Zweifel Sorge tragen.«

»Ich würde lieber nachts arbeiten, wenn es möglich wäre.«

»Wenn du nachts arbeiten würdest, wann kämst du jemals dazu, Gwen zu sehen?«

Stoner starrte finster in ihren Kaffee. »Wann komme ich denn jetzt dazu?«

»Armer Schatz«, murmelte Tante Hermione. »Kein Wunder, dass du so betrübter Stimmung bist.«

»Ich vermisse sie. Ich kann sie verstehen, aber ich vermisse sie.«

»Ja, das ist das Schlimmste, Verstehen. Es macht einen ganz hilflos.«

Sie verweilten einen Augenblick in kameradschaftlichem Brüten.

»Ich wünschte, ich wäre besser im Tarot«, sagte Tante Hermione schließlich. »Die gestrige Deutung war zwar positiv, aber bei meinem augenblicklichen Wissensstand ist es schwierig, sicher zu sein.«

»Was macht denn dein Unterricht?« fragte Stoner.

»Grace D’Addario ist eine sehr engagierte Lehrerin, aber ich habe noch nicht so den rechten Zugang dazu gefunden. Und ich bin noch so unsicher, was die Umkehrbedeutungen angeht.«

»Gibt es da keine Regeln?«

»Wie alles im Leben hat auch das Okkulte seine Grauzonen.«

Stoner lachte. »Für mich ist das insgesamt eine Grauzone.« Sie lehnte sich zurück in das Sofa. »Willst du mir jetzt von Claire Rasmussen erzählen?«

Tante Hermione schob ihre Serviette durch den silbernen Serviettenring. »Bist du sicher, dass du ganz bei dir bist?«

»So nah ich mir selbst überhaupt sein kann.«

»Claire Rasmussen wird vermisst.«

»Ja?«

»Ich habe ihrer Schwester gesagt, dass du vielleicht versuchen würdest, sie zu finden.«

»Tante Hermione«, sagte Stoner ruhig, »nimm es mir nicht übel, wenn ich kleinlich bin …«

»Du kannst nichts dafür. Ein Charakterzug des Steinbock.«

»… aber könntest du vielleicht von vorne beginnen?«

»Claire ist Nancys Schwester. Nancy ist eine meiner Klientinnen, eine Krankenschwester. Erzähle ich zu schnell?«

»Nein, nein, wunderbar so.«

»Claire, ebenfalls Krankenschwester, hat eine Stellung in einer Privatklinik für psychisch Kranke irgendwo im Norden von Portland angenommen. Vor zwei Wochen erhielt Nancy einen kurzen, ziemlich rätselhaften Anruf von Claire, und seitdem geschah nichts mehr. Wir haben versucht, Schwingungen von ihr zu empfangen, aber es herrscht nur Dunkelheit.«

»Ominös«, sagte Stoner.

»Allerdings. Zu allem Überfluss war gestern Nancys Geburtstag. Claire hat noch nie vergessen, sie an ihrem Geburtstag anzurufen, bis jetzt.«

»Ich verstehe.«

»Nancy ist Widder, und einen beunruhigten Widder stellt nichts zufrieden außer jede Menge hektischer Aktivitäten. Ich sagte ihr, du wärest vielleicht bereit, nach Castleton zu fahren und dich dort umzusehen.«

Stoner zögerte. »Maine.«

»Ich weiß, was du denkst, Liebes. Diese schrecklichen Alpträume. Zerklüftete Küsten, alte Seefahrerhäuser, die vor Geistern und Bösem zerbersten … Aber wie dem auch sei, ich denke, es ist an der Zeit, dem Horror die Stirn zu bieten.«

»Du willst, dass ich meine Stirn in etwas stecke, das vor Geistern und Bösem nur so strotzt?«

»Dieses Haus will dir etwas sagen, Stoner. Ich fürchte, es wird nicht damit aufhören, bevor es das nicht losgeworden ist.«

»Ich bin nicht sicher, ob ich es hören will.«

Ihre Tante lächelte beruhigend. »Arme Stoner. Wenn es um psychische Phänomene geht, wird dir ganz anders, nicht wahr?«

»Ich glaube nicht an sie«, beteuerte Stoner standhaft. »Für dich sind sie in Ordnung, aber nicht für mich.«

»Ich versuche sie zu integrieren. Meine erste Erfahrung erschütterte mich so sehr, dass ich sieben Komma sechs auf der Richter-Skala notierte.«

Stoner lachte. »Na, das ist ja ausgesprochen erstrebenswert.«

»Also, was soll ich Nancy Rasmussen sagen?«

»Ich weiß nicht.« Sie betrachtete ihre Handflächen. »Ich würde gerne helfen, aber … wenn es doch nur nicht ausgerechnet Maine wäre.«

»Und wenn du jemanden mitnehmen würdest?«

Stoner schaute hoffnungsvoll hoch. »Dich?«

»Ich würde gerne mitkommen, aber die Anfängerinnen müssen auf Graces Übersinnlichem Wochenende arbeiten. Ich fürchte, ich werde die Tage mit Kochen und Koordinieren verbringen.«

»Marylou fällt aus. Sie hasst verreisen. Aszendent Krebs, du weißt doch.«

»Marylou hat ihre Bestimmung verfehlt«, sagte Tante Hermione. »Ein Skorpion mit Aszendent Krebs sollte ein Bordell leiten.« Sie blickte Stoner listig an. »Ich hatte eigentlich an Gwen gedacht.«

»Jetzt hab ich’s. Das ist einer deiner berüchtigten Manipulationsversuche.«

»Manipulation!«, schrie Tante Hermione auf. »Meine Liebe, ich würde niemals mit deinem Karma herumspielen.«

»Warum nicht? Könntest du davon blind werden?«

»Viel schlimmer. Ich könnte eine verhängnisvolle Leidenschaft für jemanden wie Uri Geller entwickeln. Der Kosmos ist bekannt dafür, mit schmutzigen Tricks zu arbeiten.« Sie spielte mit ihrer Gabel und räusperte sich. »Stoner, Liebes, während du in Maine bist … meinst du, du könntest … nach einem Kätzchen Ausschau halten? Nur nach einem ganz kleinen Kätzchen«, fügte sie schnell hinzu. »Ich weiß, du bist nicht besonders begeistert von Katzen, aber es müsste ja auch nicht so ein riesiges Monsterbiest wie Diablo sein. Ein niedliches, kleines, puschelig-kugeliges Kätzchen.« Sie schaute auf. »Vielleicht?«

Stoner grinste. »Jetzt kommen wir zum Kern der Wahrheit.«

»Ein süßes Kätzchen. Eines in der Farbe deines Haares, wenn du willst, obwohl ich noch nie ein kastanienbraunes Kätzchen gesehen habe.«

»Ist in Ordnung, Tante Hermione. Ich werd versuchen, ein Kätzchen für dich zu finden.« Sie streichelte die Hände ihrer Tante. »Du vermisst Diablo, nicht wahr?«

»Ich glaube schon. Tiere verbinden sich mit Teilen unserer Seele, wenn wir es zulassen. Und weil unsere Seelen immer noch miteinander verbunden sind, vermisse ich ihn natürlich manchmal – im materiellen Sinne. Er hatte so ein sinnliches Fell. Gerade gestern Morgen, kurz bevor ich richtig aufgewacht war, hätte ich schwören können, dass er zusammengerollt an meiner Schulter lag, so wie er es immer machte. Vielleicht war es sein Geist.« Sie lachte. »Deine Erfahrungen mit Diablo waren vollkommen anders, nicht wahr? Ihr hattet eine zänkische Beziehung.«

»Du schmeichelst der Wahrheit.«

»Aber du kannst ein Kätzchen an dich gewöhnen, solange es jung ist.«

Ich dachte da eigentlich eher an Erziehung als an Gewöhnung. Die Erziehung, sich nicht in meine Fersen zu krallen, keine toten Vögel ins Haus zu schleppen, nicht die Blauen McTavish-Fadenlos-Zwitter-Schnellwüchser-Springbohnen zu terrorisieren.

»Ich vermute, es gab eine geschwisterliche Rivalität zwischen dir und Diablo«, sagte ihre Tante. »Völlig normal unter den damaligen Umständen.«

»Er behandelte mich besser als die Blue Runners. Erinnerst du dich daran, wie er die gesamte Ernte auffraß und dir damit fast das Geschäft ruinierte?«

»Nicht nur meins. Denk nur an all die bohnenlosen Dachgärten in Back Bay. Wärest du nicht so schlau gewesen, noch ein paar Bohnen auf dem Boden meines Strickkorbes zu finden, wäre es das Ende einer Ära geworden.« Sie sah Stoner zärtlich an. »Manchmal weiß ich gar nicht, wie ich ohne dich zurechtkäme.«

»Es hätten sich schon noch mehr gefunden.« Vermutlich in der Kiste mit dem Familiensilber zwischen der Wäsche auf dem Dachboden, in der Erwartung, von wagemutigen Archäologinnen im Jahre dreitausend entdeckt zu werden. »Aber du, du bist wirklich einmalig, Tante Hermione.«

»Wofür die Welt vermutlich jeden Sonntagmorgen Dankeshymnen schmettert«, sagte Tante Hermione.

»Und ich schmettere täglich Dankeshymnen, weil, wenn es denn nur eine Hermione Moore auf der Welt geben kann, sie es einrichtete, meine Tante zu werden.«

Zum ersten Mal in ihrem Leben sah sie Tante Hermione erröten. »Du beeilst dich jetzt besser«, sagte die ältere Frau. »Ich möchte nicht dafür verantwortlich gemacht werden, dass du zu spät zur Arbeit kommst.«

Stoner zog ihren Regenmantel vom Haken neben der Hintertür. »Tante Hermione, war Diablo dein Medium?«

»Aber, Liebes, nein! Er war viel zu aggressiv. Ich habe noch niemals eine so aggressive Katze erlebt.«

»Ich hab die Narben, um es zu bezeugen.«

»Ich werde niemals den Tag vergessen, als er in die Schublade mit deiner Unterwäsche stieg«, sagte Tante Hermione glücklich. »Er fraß dir aus allen deinen Slips den Schritt heraus.«

Stoner packte fest den Türgriff. »Falls ich dich nicht behalten kann, kann ich dann Gracie Allen bekommen?«

Ihre Tante runzelte nachdenklich die Stirn. »Ich glaube nicht, Liebes. Sie ist in frühestens vierzig Jahren zur Reinkarnation fällig.«

***

Die Fäuste in den Jackentaschen stapfte Stoner durch den Schneematsch und starrte auf die wässrige Straße, auf die kahlen, schwärzlich schimmernden Bäume, in die verstopften Rinnsteine voller Eis, Streusand und zerbeulten Bierdosen. Der späte Winterhimmel hatte die Farbe von Schimmel angenommen.

Boston. Es hieß, die Stadt wäre auf Müll gebaut worden. Tonnen von Müll einst in einen Sumpf gekippt. Sie zweifelte keine Sekunde daran.

Sie suchte nach dem Licht auf der Spitze des Hancock-Wolkenkratzers, aber der Nebel hatte es ausradiert. Eine Taube kauerte hinter einer Parkbank, ein grauschwarzes Klümpchen Elend. Die Schaufenster eines Drugstore waren mit Plüschhasen, Plastikeiern und unerschwinglichen Chantilly-Chocoladen-Creationen dekoriert.

Fröhliche Ostern, dachte sie. Wer sich bei diesem Wetter wiederbeleben lässt, ist wirklich nicht mehr zu retten.

Die Tür des Reisebüros klemmte wie üblich. Als sie sie mit der Hüfte aufstieß, wäre sie dabei fast in den warmen, muffigen Raum gefallen. Marylou sah von ihren Papieren auf.

»Guten Morgen. Können wir Ihnen behilflich sein?«

»Ich brauche eine Fahrkarte in die Hölle. Nur Hinfahrt.«

»Sie haben Glück. Es sind in letzter Minute noch zwei Plätze für eine Charter-Maschine frei geworden. Reisen Sie allein oder nehmen Sie den Herrn Gemahl mit?«

»Allein.« Voll Widerwillen hängte sie ihren Schal und den durchnässten Mantel über einen Haken im Kleiderschrank. »Tut mir leid, ich bin zu spät.«

Marylou wedelte mit der Hand, begleitet vom Klingeln silberner Armbänder. »Mach dir nichts draus.«

»War irgendwas los?« Sie fuhr sich mit einem Kamm durchs Haar, ohne sich darum zu kümmern, in welche Richtung es sich legte.

»Nicht viel. Ein Besuch von Boston sehren werten Ordnungshütern mit der Warnung, vor Ladendieben auf der Hut zu sein. Ein paar Kreuzfahrt-Reservierungen – sie liegen auf deinem Schreibtisch. Und ein Klassenausflug der katholischen Grundschule ›Mutter der unbefleckten Empfängnis‹.« Marylou zupfte ihren Rock zurecht. »Ist dir jemals aufgefallen, dass der Regen die Nonnen hervorlockt?«

Stoner stählte sich und warf einen zaghaften Blick auf das oberste Regalbrett. Da oben konnte irgendetwas sein. Gehackte Leber, griechischer Salat, Döner. Einmal hatte sie ein zehn Pfund schweres Rad extrastarken Vermont Cheddar-Käse gefunden. Heute waren es gefüllte Eier, Dutzende gefüllter Eier, einige gesprenkelt mit grünen Flecken, andere mit roten und wieder andere mit etwas, was sie gar nicht so genau wissen wollte. »Marylou, was ist mit diesen Eiern?«

»Ostereier. Willst du eins?«

»Es ist zu früh am Morgen für Ostereier.« Sie streifte einen Stiefel ab, verlor das Gleichgewicht, fiel gegen die Wand und trat in eine Wasserlache. »Ich hasse mein Leben.«

»Schon wieder ’ne üble Nacht gehabt, hm?«

»Grausam. Tante Hermione möchte, dass ich nach Maine fahre.«

Marylou wählte drei Eier aus, legte sie ordentlich auf eine Papierserviette und trug sie zu ihrem Schreibtisch. »Um zwischen Moos und Blaubeeren herumzutollen?«

»Um jemanden zu suchen. Eine ihrer Klientinnen hat eine Schwester verloren.«

»Das klingt übertrieben sorglos.« Sie schnippte sich etwas Eigelb von ihrer Bluse.

»Ich denke, ich hab keine Lust auf Maine«, sagte Stoner und sammelte das Eigelb auf, um es in den Papierkorb zu werfen.

»Sag nein.«

»Ich kann nicht.«

»Warum nicht?«

»Nach allem, was sie für mich getan hat?«

»Ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass Tante Hermione Punkte zählt, Schätzchen.«

Stoner blätterte die Post durch. »Das ist nicht die Frage.«

»Also, was gedenkst du zu tun?«

»Fahren, nehme ich an.«

»Allein?«

»Wenn du dich nicht anschließt.«

Marylou kreischte.

»Genau so hatte ich mir das vorgestellt.«

»Nimm die Witwe mit.«

Stoner schüttelte den Kopf. »Gwen würde nicht mitkommen.«

»Hast du sie gefragt?«

»Nein.«

»Woher willst du dann …«

»Ich weiß es eben, das reicht. Sie hat zu tun. Sie hat immer zu tun.«

Marylou zuckte mit den Schultern. »Du musst ja wissen, was du tust. Die Kreuzfahrt-Reservierungen, bitte.«

Sie ging an ihren Schreibtisch und nahm das erste Blatt vom Haufen. Anguilla, um Gottes willen. Sie griff den ›Dumont‹ und las die Beschreibung durch.

»57 Quadratkilometer unfruchtbares, aalförmiges Land, von Stränden gesäumt …« Unfruchtbar? Aalförmig? Wunderbar. »Schlängelt sich 25 Kilometer lang.« Gute Göttin. »Wer auch immer Ihnen gerade begegnet, wird Sie willkommen heißen und Ihnen das Gefühl geben, Sie seien zu Hause.« Robinson Crusoe, ohne Zweifel.

Fünf Hotels. Wir empfehlen das ›Hotel Spitzkehre‹ am Kap der Stürme. Das ist doch ein Name, der die Seele wärmt und die Sinne entzückt.

Die Leute, wer auch immer sie gerade sind, werden Anguilla hassen. Willkommen geheißen von Wer-auch-immer-ihnen-gerade-begegnet, gibt es zwölf Stunden nach ihrer Ankunft einen Militärputsch. Sie werden unter Hausarrest im charmanten ›Hotel Spitzkehre‹ gestellt, wo umgehend Sushi und Wein knapp werden. Drei Tage später schickt der Präsident ›Friedenstruppen‹, also finden sie sich in einem Militärjumbo eingepfercht wieder. Der wird leider von libyschen Terroristen entführt, die ihn nach Algier fliegen. Algier verweigert ihnen die Landeerlaubnis. Also versuchen sie es in Johannesburg, Athen, Frankfurt und Havanna, bevor sie schließlich auf den Falkland-Inseln aufsetzen, während die ganze Nation zur Geisel von Cable-News-TV geworden ist. Wenn dann alles überstanden ist, werden sie auf der Andrews-Luftwaffenbasis von einer Meute frisch rasierter Reagan-Fans, ›Born in the USA‹ grölend, in Empfang genommen. Sie (müde, zerzaust und unfotogen) werden von einem Bataillon Radio- und Fernsehreporter interviewt und dann zum Weißen Haus hinübergefahren, auf Straßen, die durch gelbe Bänder zwischen den Bäumen abgesperrt sind, während ihr Gepäck auf Nimmerwiedersehen in Richtung Guatemala entschwindet. Kesselbaum & McTavish wird selbstverständlich für alles verantwortlich gemacht. Wir müssen ihnen ihre Gelder zurückerstatten und werden von ihnen gerichtlich für erlittene Traumata belangt.

Sie warf das Buch auf den Schreibtisch zurück. »Vergiss Anguilla. Wir können uns den Prozess nicht leisten.«

»Entschuldige, wie?«

»Tut mir leid, ich wusste nicht, dass du gerade telefonierst.«

Marylou wedelte Stoners Entschuldigung fort und widmete ihre ganze Aufmerksamkeit dem Telefonhörer. »Gwen Owens, bitte.«

Stoner stand auf. »Marylou …«

»Ich«, erklärte Marylou dem Telefon, »bin Marylou Kesselbaum. Wer sind Sie?«

»Marylou, was fällt dir eigentlich ein?«

»Also, Mrs.Bainbridge, dies ist ein Notfall. Ich rufe von der Hauptklinik Boston an. Wir haben hier einen Fall von Gelbsucht, und wir nehmen an, dass er sich bis zu Ms.Owens zurückverfolgen lässt.«

»Um Gottes willen, Marylou.« Sie riss das Telefon an sich.

»Zu spät, Schätzchen. Sie stellen dich gerade ins Lehrerzimmer durch.«

»Ich hasse dich.«

»Mich?«, fragte Gwen am anderen Ende der Leitung. »Wer spricht da?«

»Es ist nichts«, sagte Stoner. »Nur einer von Marylous blöden Scherzen.«

»Ach, hallo, Stoner. Schön, deine Stimme zu hören. Was gibt’s?«

Stoner hielt Marylou den Hörer hin. »Du hast das Ganze angefangen, nun bring es auch zu Ende.«

»Ich nicht«, sagte Marylou. »Ich muss gerade mal aufs Klo.« Sie huschte zur Tür hinaus.

»Es tut mir leid.«

Gwen lachte. »Ihr beide müsst euch ja ziemlich langweilen, wenn ihr jetzt schon Telefonstreiche macht. Ich hab das nicht mehr getan, seit ich sieben war.«

»Na ja, eigentlich …« Sie wischte sich ihre Hand am Hosenbein ab. »Ich wollte dich fragen …«

»Ja?«

»Na ja … Tante Hermione … ich meine …« Sie holte tief Luft. »Ich muss am Wochenende nach Maine. Du hast bestimmt keine Lust mitzukommen, oder?«, sagte sie in einem Atemzug.

»Nach Maine?«

»Wenn du nicht willst … ich meine, falls du eine Verabredung oder so hast, verstehe ich d…«

»Eine Verabredung? Warum sollte ich eine Verabredung haben?«

»Du hattest letztes Wochenende eine Verabredung.«

»Das war keine Verabredung, sondern ein Arbeitstreffen.«

»Danach seid ihr aber unterwegs gewesen.«

»Neun Lehrerinnen und Lehrer trinken Bier und diskutieren im Watertown-Leanding-Gebäude bei einer Pizza, so was mag mit sechzehn eine Verabredung sein, mit einunddreißig ist das ein Arbeitstreffen.«

»Oh.«

»Ich fände es toll, mit dir nach Maine zu fahren. Lass uns den Freitag freinehmen und ein verlängertes Wochenende daraus machen.«

Stoner musste kräftig schlucken. »Du kannst das einrichten?«

»Nach neun Jahren Lehramt hier kann ich tun, was ich für richtig halte.«

Ihr Gaumen fühlte sich irgendwie fusselig an. »Okay«, sagte sie mit wackeliger Stimme. »Ich ruf dich heute Abend an, dann können wir das alles durchplanen.«

»Prima. Jederzeit.«

Stoner zögerte.

»Irgendwas nicht richtig?«, fragte Gwen.

»Öhh … Gwen, was hast du gerade an?«

»Lohfarbene Bundfaltenhosen und marineblaues Hemd. Warum?«

Stoner seufzte.

»Stoner McTavish, ist das ein obszöner Anruf?«

»Ja. – Nein! Wir telefonieren später.«

Sie schleuderte den Hörer auf die Gabel und stürzte durch den Raum. »Marylou!« Sie hämmerte gegen die Klotür. »Marylou! Sie kommt mit!«

»Um Gottes willen!«, kreischte Marylou. »Ich dachte, du wärst ein Straßenräuber.«

Kapitel 2

»Musst du unbedingt lesen, während ich fahre?«

»Ich lese nicht«, sagte Gwen. »Ich schaue in die Karte.«

»Das ist dasselbe. Ehrlich, mir wird schlecht.«

»Ist gut.« Sie faltete die Karte zusammen. »Hast du dein Dramamin nicht genommen?«

»Wenn ich Dramamin nehme, schlaf ich ein und bekomme nichts von der Landschaft mit.«

Gwen lachte. »Welcher Landschaft?«

Sie durchfuhren gerade ein Verbindungsstück zwischen zwei der zahllosen Industrieviertel, die sich wie eine steinerne Kette von Boston nach Gloucester aneinanderreihten. Die Fabriken frönten ihrer jeweiligen Bestimmung: die einen der Verpestung der Luft, die anderen dem Verfall. Ein schmales Rinnsal sickerte schwerfällig neben der Autobahn entlang, auf der Oberfläche wabberte schmutziger Schaum.

»Weißt du«, sagte Stoner, »dass du zu den null Komma eins Prozent der Bevölkerung gehörst, die eine Straßenkarte wieder zusammenfalten können.«

»Vielleicht überreichen sie mir den Nobelpreis. Wo liegt denn dieses Castle Point überhaupt?«

»Außerhalb von Castleton.«

»Schlau.«

»Schätze, gut hundert Kilometer hinter Portland, Luftlinie. Schau auf die Karte.«

»Du hast mir doch eben gerade gesagt, ich soll nicht auf die Karte schauen.«

Die Windschutzscheibe beschlug. Stoner stellte das Gebläse an, das sofort stickige Hitze erzeugte. Sie stellte es ab und kurbelte ihr Seitenfenster runter. Der Wagen füllte sich mit nebliger Feuchtigkeit, die unter die Haut kroch. Sie kurbelte das Fenster wieder hoch, die Windschutzscheibe beschlug erneut. »Ich hasse Neuengland«, sagte sie mürrisch.

»Ja, Liebste«, sagte Gwen und förderte unter dem Beifahrersitz einen alten Fetzen Stoff zutage, mit dem sie die Scheibe abwischte. »Besser?«

»Danke.«

Ein Ford Scorpio überholte und spritzte sie dabei mit schwärzlichem Sodder voll. Sie schaltete die Scheibenwischer ein. Ölige Schlieren reduzierten die Sicht auf null. Sie drückte den Knopf für die Scheibenwaschanlage. Nichts passierte.

»Ich dachte, du hast dieses Auto gerade erst durchchecken lassen?«

»Hab ich auch.«

»Sie haben die Waschanlage nicht aufgefüllt.«

Gwen zuckte die Acheln. »Was erwartest du für 25Dollar die Stunde?«

»Heutzutage legt niemand mehr Sorgfalt in die Arbeit.«

»Du hast hundertprozentig recht.«

»Sie sollten nicht so einfach damit durchkommen.«

»Auf gar keinen Fall.«

Sie attackierte den Knopf mehrmals, ohne Erfolg. »Ich hoffe, du hast dich deshalb beschwert.«

»Wie sollte ich mich deshalb beschweren?«, fragte Gwen. »Ich wusste doch nicht mal davon.«

»Du willst sagen, du bist in dein Auto gestiegen, losgefahren und hast nicht einmal überprüft, ob sie die Waschanlage aufgefüllt haben?«

»Das ist richtig.«

»Du musst den Leuten auf die Finger gucken, Gwen, andernfalls hauen sie dich ständig übers Ohr.«

»Vollkommen deiner Meinung.«

»Wenn sich alle beschweren würden, wäre viel erreicht.«

»Stoner«, sagte Gwen, »da vorne kommt ein Rastplatz. Nimm den bitte.«

Sie parkte den Wagen so weit entfernt wie möglich von einem rußspotzenden Diesel-LKW und zwei dreckverspritzten Wohnmobilen. Das hatte den Nachteil, dass sie jetzt vor einer überquellenden Mülltonne standen.

Gwen griff unter das Lenkrad und stellte den Motor aus. Sie zog die Wagenschlüssel ab, stieg aus, holte eine Flasche Scheibenwaschmittel heraus, drückte den Plastikdeckel hoch und füllte den Wasserbehälter auf. »Noch einen Wunsch, Lady?«, fragte sie und knallte den Deckel wieder auf die Flasche.

»Das hätt ich doch machen können«, sagte Stoner.

»Ich bin eine eigenständige Frau. Betrachte es als politische Aktion.« Sie setzte sich wieder ins Auto. »Tante Hermione hatte recht«, bemerkte sie, während sie ihren Sicherheitsgurt anlegte. »Morgens bist du unerträglich.«

Stoner ließ ihren Kopf aufs Lenkrad sinken. »Es tut mir leid.«

»Soll ich fahren?«

»Ich bring mich um.«

»Sieh dich hier doch mal genau um. Glaubst du, das würde hier irgendwen interessieren?«

Stoner sah sich um. »Gott, ist das alles übel.«

»Davon, dass wir hier herumsitzen, wird es auch nicht besser. Irgendwelche Vorschläge?«

Sie starrte auf die Autobahn hinaus, auf den nicht enden wollenden grauen Verkehrsstrom, der sich auf einer grauen Fahrbahn durch spritzendes graues Wasser furchte. Da hinein zurückzufahren hatte den Charme, als ginge man nackt in einem seichten Tümpel in der Mitte eines Autoschrottplatzes tauchen. »Castleton ist vermutlich ein grauenvoller Ort«, sagte sie. »Die Restaurants werden, sofern es überhaupt welche gibt, um diese Jahreszeit geschlossen sein. Wir werden bis Augusta fahren müssen, um ein Hotel zu finden. Das einzige, was offen hat, wird ein Schuppen der Howard-Johnson-Kette sein. Es wird nach dreckigen Teppichen riechen, und wir werden ein Zimmer ohne Heizung bekommen, direkt neben dem, in dem die örtliche Reggae-Band probt.«

»Das klingt nett«, sagte Gwen.

»Wir werden von halb aufgetauten Hamburgern zwischen klitschigen, grobgemahlenen Weizenbrötchen und schlaffem Krautsalat leben müssen. Dazu bekommen wir ›Star-Cola‹ und eine Salmonellenvergiftung.«

»Das wird nichts mit der Salmonellenvergiftung, das kannst du dir abschminken. Und ›Star-Cola‹ servieren sie auch nicht mehr. Vermutlich gibt es großartige Bibliotheken in Augusta, und ich liebe Reggae, und alle Hotels stinken nach dreckigen Teppichen.«

»Musst du eigentlich so vergnügt sein.«

»Was ist denn dabei, vergnügt zu sein. Wir machen Urlaub.«

Stoner schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, wir passen grundsätzlich nicht zusammen.«

»Nur morgens nicht.« Gwen legte ihre Hand auf Stoners Arm. »Was ist denn so furchtbar, Stoner?«

»Ich möchte so gern, dass alles schön wird.«

»Es wird schön werden.«

»Ich möchte, dass alles vollkommen wird.«

Gwen wuschelte Stoner durchs Haar. »Es wird schön werden. Wenn alles vollkommen wäre, was bliebe denn dann noch, wofür es zu leben lohnte?«

»Die Wiederholungen.«

»Du hast vielleicht Nerven. Es wird sein, wie es ist.«

»Du philosophierst.«

»Klar«, sagte Gwen, »ich bin schließlich auch nervös.«

»Warum?«

»Machst du Witze? Unser erster gemeinsamer Urlaub! Die Situation ist voller Risiken.«

Sie musste lachen. »Ich hoffe, wir kommen über die Runden.«

»Wir werden klarkommen. Diese Freundschaft wurde im Himmel geschlossen.«

»Eigentlich doch wohl eher in Wyoming«, bemerkte Stoner.

»Aufgestiegen wie ein Phönix aus der Asche meiner kurzen, zerbrochenen Ehe.«

»Du weißt, Gwen, dass ich mir wirklich gewünscht habe, es möge nicht so grauenvoll für dich enden.«

»Das war von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Ich bitte dich, könntest du dein Leben mit einem Mann verbringen, dessen Auffassung von einem Hochzeitsgeschenk ein blassgrüner Renault ist?«

»Immerhin«, sagte Stoner, als sie den Motor startete, »haben die Dinger ’ne unglaublich hohe Kilometerleistung.«

Sie fädelte sich in den fließenden Verkehr ein, hängte sich eine Weile an einen LKW, überholte schließlich und reihte sich vor einem zigarrerauchenden, erfolgreichen Geschäftsmann mittleren Alters in einem schmutzigen Chevrolet ein. Als sie in den Rückspiegel blickte, stellte sie hochbefriedigt fest, dass seine Scheibenwaschanlage ebenfalls leer war.

Jenseits von Portland gelangten die Bäume gegenüber den Häusern in die Überzahl. Die Sonne brach durch den Nebel und spiegelte sich glänzend in Wassertropfen, die an den Spitzen der Kiefernnadeln hingen. Glitzernde Bäche, entstanden durch die erste Schneeschmelze des Frühjahres, sprudelten und tanzten über Wiesen aus niedrigem Gras. Möwenschwärme umkreisten unsichtbare Ziele und kreischten grundlos klagend.

Gwen warf einen flüchtigen Blick auf die Straßenkarte. »Ab hier müssen wir die B1 nehmen.«

Stoner steuerte die Ausfahrt an, bezahlte die Autobahngebühr und kurvte durch ein Gewirr von Überführungen, Unterführungen und Kreisverkehren, einzig und allein zu dem Zweck konzipiert, Chaos zu erzeugen und Touristen in die Knie zu zwingen. Sie bog in eine Straße ein, die mit ›B1 Norden‹ ausgeschildert war – obwohl ihr gesamter Instinkt und ihre Vernunft ihr sagten, dass sie eigentlich nur nach Süden führen konnte.

»Ich dachte immer, ich verfüge über einen guten Orientierungssinn«, sagte sie. »Aber jetzt, wo ich mich dieser Straßenführung ausliefern muss …«

»Es gibt nur zwei Richtungen«, sagte Gwen. »Die richtige und die falsche.«

Sie fuhren an einer heruntergekommenen kleinen Stadt vorbei, die aus Autofriedhöfen, Motorradgeschäften und Fabrikschornsteinen bestand.

»Bist du sicher, dass wir richtig sind?«

»Wenn wir den Schildern Glauben schenken dürfen.«

»Wenn wir in Kittery landen, bring ich mich um.«

»Vertrau mir«, sagte Gwen. »Ich hab mich noch nie verirrt.«

»Na, dann wird’s ja höchste Zeit.«

»Wenn wir in Kittery landen, drehen wir eben wieder um.«

»Es sind Leute nach Kittery gefahren, von denen hat man nie wieder etwas gehört.«

»Das stört mich nicht, solange es da ein Restaurant gibt. Ich verhungere.«

»Es gibt da schon Restaurants«, sagte Stoner, »aber sie liegen nicht an dieser Straße.«

Von Osten her kam Seitenwind auf und brachte den scharfen, modrigen Geruch von Ebbe mit sich. Die Stadt schrumpfte zu ein paar vereinzelten verwitterten Häuschen zusammen. Kein Verkehr, kein Lebenszeichen war zu sehen.

»Meinst du, es ist vielleicht etwas passiert, von dem wir nichts wissen?«, fragte Stoner.

»Zum Beispiel?«

»Super-GAU im Kraftwerk Seabrook?«

»Sie sind grad alle beim Mittagessen«, sagte Gwen. »Du erinnerst dich, Mittagessen?«

Ein festsitzender Knoten des Unbehagens machte sich in ihrem Magen bemerkbar. »Gwen, ich hab Angst vor Maine.«

»Dann lass uns nach New Hampshire fahren. In New Hampshire gibt es bestimmt Restaurants.«

»Wir müssen Pläne machen.«

»Pläne?«

»Für Schattenhain. Wir können da ja nicht einfach reinmarschieren und sagen: ›He, Sie, wo ist denn hier die Suite von Schwester Rasmussen.‹«

»Doch, eigentlich klingt das nach einer guten Idee«, bemerkte Gwen. »Vielleicht sitzen sie gerade beim Mittagessen.«

Stoner strich sich die Haare aus der Stirn. »Nancy hat gesagt, ihre Schwester erwähnte, dass es da etwas Sonderbares in Schattenhain gäbe.«

»Es ist eben ein Klinik für psychisch Kranke. Die sind immer ein wenig ›sonderbar‹.«

»Wir rufen vorher an«, entschied Stoner. »Behaupten, wir seien auf der Durchreise, alte Freundinnen von Claire Rasmussen. Wir tun so, als wüssten wir von nichts.«

»Wir wissen ja auch nicht viel.«

»Wir wissen, dass Nancy seit zwei Wochen nichts von Claire gehört hat. Auch nicht an ihrem Geburtstag. Wir wissen aber auch, dass Claire sich immer zu Nancys Geburtstag gemeldet hat.«

»Also hat sie ihn vielleicht vergessen.«

»Wenn sie behaupten, sie sei nicht da, werden wir hinfahren und uns mal umsehen.«

»Gut«, sagte Gwen, »das klingt richtig.«

»Wir müssen ein Gefühl für den Ort bekommen.«

»Warst du schon mal in einer psychiatrischen Klinik?«

»Nein, du?«

»Nein. Wie sollen wir ein Gefühl für den Ort bekommen, wenn wir überhaupt nicht wissen, was für ein Gefühl das sein könnte?«

Stoners Blick verfinsterte sich. »Wir müssen den Sprung ins kalte Wasser wagen.«

»Wunderbar«, sagte Gwen. »Das ist ein wirklich einfallsreicher, ausgetüftelter Plan. Strategisch gesehen einer der zehn besten aller Zeiten.«

»Er ist besser als der, den ich hatte, als ich nach Wyoming fuhr, um dich zu suchen.«

»Ich wurde in Wyoming nicht vermisst. Ich saß im Speiseraum des Hotels.«

»›Schattenhain‹«, sagte Stoner. »Findest du nicht, dass bei diesem Namen irgendwas Geheimnisvolles mitschwingt?«

»Nicht mehr als bei ›Glückstal‹ oder ›Sonnenhof‹.«

»Wenn wir keinerlei Auskunft bekommen, müssen wir …«

»Stoner«, sagte Gwen scharf, »nehmen wir gerade an irgendeiner religiösen Fastenkur teil, oder können wir irgendwo anhalten, um zu essen?«

»Was? Sicher. Irgendwo muss hier ja was offen sein.«

Sie kamen an einem Ferienort vorbei. Zwei Reihen identischer weißer Häuser, die sich auf einem freien Feld gegenüberstanden. In einiger Entfernung tauchte der Ozean auf. Sein unbewegter, blaugrauer Anblick rief Erinnerungen an Kinderheimaufenthalte an der Küste wach – an die dünne Schicht aus knirschendem Sand auf braunem Linoleum, Betten mit Eisengestell und weißen Überdecken, Duschkabinen mit Blechwänden und Bodenbelägen aus einem unidentifizierbaren Material, das sich an den Fußsohlen irgendwie schleimig anfühlte, und an schwere Plastikduschvorhänge, die unten über dem Boden schmutzig aussahen, als wären sie voller Rost oder altem Blut.

»Zu schade, dass Marylou nicht hier ist«, sagte Gwen.

»Marylou verreist niemals.«

»Aber sie isst.«

»Vielleicht ist alles nur ein Missverständnis«, sagte Stoner. »Wir kommen dort an und stellen fest, dass sie tatsächlich nur in Urlaub ist. Vielleicht ist Nancy nur hysterisch. Allerdings kam sie mir nicht so vor, als neige sie besonders zur Hysterie, und dir?«

»Ich kenn sie doch gar nicht«, sagte Gwen.

»Ach ja, richtig. Sie kam mir sehr jung und auch sehr sensibel vor, und schutzbedürftig.« Sie überlegte einen Moment. »Gwen, meinst du, ich kann Menschen gut einschätzen?«

»Besser als ich.«

Stoner sah sie an. »Bloß weil du einen Mann geheiratet hast, der nur dein Geld wollte, heißt das noch lange nicht, dass du keine Menschenkenntnis hast. Jede macht mal einen Fehler.«

»Ich nicht. Ich fabriziere nur gigantische Irrtümer.«

»Gut«, sagte Stoner, »vielleicht wirst du’s so los. Einmal ein gigantischer Irrtum und ab dann ist’s ein gemütlicher Spaziergang.«

»Da waren drei Restaurants in der Stadt, durch die wir gerade gefahren sind«, sagte Gwen sehnsüchtig.

»Tut mir leid. Wir halten in der nächsten, versprochen.« Sie trat das Gaspedal fester durch. »Die Frage ist doch, wenn Claire irgendetwas zugestoßen ist, warum? Wenn es ein Unfall war – sie ist in den Ozean gefallen oder so was –, warum vertuschen? Sie ist erst zwei Monate in Schattenhain. Wie viele Feinde kannst du dir in zwei Monaten machen?«

»Hunderte«, warf Gwen ein, »wenn du sie verhungern lässt.«

»Also geht vielleicht irgendetwas Ungesetzliches in Schattenhain vor sich, und Claire hat es bemerkt, und sie mussten sie zum Schweigen bringen.«

Gwen warf sich zu Stoner rüber und biss ihr ins Handgelenk.

»Um Gottes willen, Gwen. Willst du, dass ich gegen einen Baum fahre?«

»Hunger!«, schrie Gwen.

Stoner brachte den Wagen zurück in die Spur. »Deshalb sollten wir, wenn wir in Castleton sind, auf verdächtige Vorgänge achten.«

»Jetzt weiß ich, was das hier wird«, jammerte Gwen, als etwas, das ›Die Kochmütze‹ hieß, ausgestattet mit Sitzbänken, Tischchen und servierbereiten Kellnerinnen, vorbeirauschte. »Die Suche nach Erleuchtung. Wir werden so lange weiterfahren, ohne Essen, ohne Schlaf, bis wir Halluzinationen bekommen.«

»Wieso hast du bloß schon wieder Hunger?«, fragte Stoner. »Wir haben doch eben erst gefrühstückt.«

»Wir haben um 7:45, Digitalzeit, gefrühstückt. Jetzt ist es 13:30.«

»Oha.« Sie gewahrte ein kleines Betongebäude, etwas weiter vorne. Ein Neon-Schriftzug flackerte hinter der Fensterscheibe wie ein sterbendes Glühwürmchen. Sie stemmte sich in die Bremsen, lenkte auf den Parkplatz und schaute sich um. »Ich weiß nicht, es wirkt ein bisschen ärmlich.«

»Mich würd’s nicht mal stören, wenn es dekadent wäre«, sagte Gwen und sprang aus dem Wagen. »Hauptsache, sie haben was zu essen.«

Stoner betrachtete Gwen, die voranging, und seufzte.

Ich bin verliebt.

***

»Verloren«, sagte Gwen.

Stoner zeigte auf eine verfallene Scheune am Straßenrand. »Das erinnere ich. Hier sind wir vorhin vorbeigekommen.«

»Soso. Da waren wir also auch schon verloren.«

Gwen hielt unter einem rostigen Pfeiler, der eine Straßengabelung markierte. Rankender Efeu verdeckte das Schild am oberen Ende des Pfeilers. »Kannst du lesen, was da steht?«

Stoner stieg aus und blickte nach oben. »Da steht Castleton.«

»Welche Richtung?«

»Rechts lang.«

»Welche Richtung sind wir letztes Mal gefahren?«

»Links, glaube ich.« Sie stieg wieder ins Auto. »Soll ich fahren?«

Gwen ließ den Motor an. »Stoner, mein Engel, da müsste erst der Tag kommen, an dem es in der Hölle schneit, bevor ich dich noch mal fahren lasse, besonders kurz vorm Essen.«

Mein Engel. Sie hat mich ›mein Engel‹ genannt.

»Ich schätze«, fuhr Gwen fort, »du bist die einzige Überlebende der Donnertruppe.«

»Was ist das?«

»Eine Gruppe Pioniere, die so besessen davon waren, die Goldfelder zu erreichen, dass sie versucht haben, die Wüsten im Winter zu durchqueren. Sie gerieten in einen Blizzard und verspeisten sich gegenseitig.«

»Na so was«, sagte Stoner. »Ich hätte gedacht, sie seien zu schwach für Sex gewesen!«

»Stoner McTavish! Das ist das Verdorbenste, was ich dich jemals hab sagen hören.«

»Wart’s ab«, sagte Stoner. »Ich kann sogar richtig derb werden.«

Sie rasten an überwinternden Feldern und Knäueln aus Brombeergestrüpp vorbei und ließen Farmhäuser in einer ganzen Palette verwaschen weißer Anstriche hinter sich. Kraftloses Elend. Scheunen mit zersplitterten Stützbalken, Fenster, die den Himmel reflektierten oder nach innen geöffnet zu schwarzen Löchern geworden waren.

»So was wie das hier würdest du im Süden niemals zu sehen bekommen«, sagte Gwen. »Es würde sofort dem Erdboden gleichgemacht werden. Ich weiß von Leuten, die fuhren übers Wochenende weg, und als sie zurückkamen, war ihr Haus kurzerhand verschwunden.«

»Keine schlechte Idee.« Stoner schaute sich besorgt um. »Meinst du, Castleton ist auch so?«

»Ich bezweifle es. Das hier ist doch nur ein Trick, um Kunstmalerinnen anzulocken.«

»Aber wo sind dann die Künstlerinnen.« Sie sackte tiefer in den Beifahrersitz. »Gwen, ich fürchte, ich bin etwas nervös.«

»Nervös! Du bist schon die ganze Zeit das absolute Nervenbündel. Sag mir Bescheid, wenn es so weit ist, dass du durch die Decke gehst.«

»Es ist nur … Ich hab ein ungutes Gefühl bei dieser Gegend.«

»Die Menschen, die hier leben, haben vermutlich ebenfalls dieses ungute Gefühl. Falls hier welche leben.« Sie sah Stoner an. »Kriegst du Alpträume davon?«

»Kann sein.«

»Alpträume können dir nichts anhaben, Stoner.«

»Sie können, wenn sie Vorahnungen sind.« Der Wagen überquerte eine schmale Brücke und erklomm einen Bergkamm. »Oh Mann, wir haben Castleton gefunden.«

Das Meer lag vor ihnen. Träge wie Blei. Schäfchenwolken schwebten über dem Wasser. Der Horizont war unsichtbar in Nebel getaucht. Richtung Osten war das Land eben, zog sich in bräunlichen Feldern an einem kleinen, schlammfarbenen Bach entlang. Das Städtchen Castleton kauerte sich ans flache Meeresufer. Vier rostverkrustete Fischerboote, um eine Boje herum vertäut, schaukelten verlassen auf und ab.

Am südlichen Ende der Stadt stieg das Land schroff an, formte sich zu einer felsigen, bewaldeten Halbinsel, die sich wie der Kamm eines arroganten Hahnes dem Ozean entgegenstreckte. Ein paar große, zerfallende Häuser klebten an den Felsen entlang der Straße, die sich zu einem matschigen Weg verschlechterte, als sie den Waldrand erreichte. Wellen klatschten unbarmherzig an den Fuß der Klippen. Draußen über dem Meer bildete sich eine Nebelbank, bewegte sich auf die Küste zu, griff nach dem Land mit silbrig samtenen Fingern.

»Gute Göttin«, hauchte Stoner.

»Allerdings«, sagte Gwen. Sie schaute auf die Karte. »Das muss der Castle River sein. Castle Bluffs. Castle Point. Der Fluss zum Schloss, das Kliff zum Schloss und der Aussichtspunkt zum Schloss, alles da, fehlt uns eigentlich nur noch das Schloss selbst.« Sie setzte das Auto wieder in Gang. »Ich hoffe, du bist bereit. Shirley Jackson hätte es geliebt.«

Nein, ich bin nicht bereit. Irgendwas ist falsch, irgendetwas stimmt nicht mit dieser Gegend. Und alles ist so vertraut. »Ich kenne diese Stadt«, flüsterte sie.

Gwen nickte grimmig. »Ich auch. Als ich ein ganz kleines Mädchen war, zog eine Zigeunerin über die Jahrmärkte bei uns und prophezeite mir, mich werde mein Schicksal in einer Gegend ereilen, die dieser verdächtig ähnlich sieht.«

»Mach keine Witze.«

»Doch, ich denke, das sollten wir besser.«

Sie hatte kaum ausgeredet, als sich die Stadt prahlerisch in Szene setzte. Ein baufälliges Lebensmittel- und Spirituosengeschäft inklusive Drahtgittertür und fliegenverklebten Paralstrips vom letzten Sommer, ein Café, einladenderweise ›Die Seegurke‹ genannt, eine Bar, ein von den MGM-Filmkulissen übriggebliebener Drugstore, eine Tankstelle mit zwei Zapfsäulen, etwa 1947, und ein mit rosa Stuck verziertes Hotel vierter Klasse, das behauptete, die ›Herberge zum Ostwind‹ zu sein. Langsam fuhren sie die Straßen auf und ab, auf der Suche nach einem Zeichen menschlichen Lebens.

»Vermutest du auch«, sagte Gwen, »dass sie bei Vollmond aus ihren Särgen steigen?«

Ein Münztelefon unter einer Kunststoffblase stand am Straßenrand, der Hörer baumelte unbenutzt herum, die dünnen Telefonbuchseiten flatterten im Nachmittagswind. Der einzige sichtbare Hinweis auf eine moderne Zivilisation.

»Was, glaubst du, haben die Einwohner damit gemacht?«, fragte Stoner.

»Sie hielten es vermutlich für einen Außerirdischen und haben es erschossen.« Gwen bog mit dem Wagen in eine andere graue Straße ein. »Weißt du, was wir machen sollten?«

»Was?«

»Davonrennen, so schnell die Füße uns tragen.«

Der Nebel begann sich ums Auto zu wickeln. Er stieß an die Scheiben und wulstete sich über die Motorhaube.

Stoner räusperte sich den Hals frei. »Sollen wir Schattenhain suchen oder uns erst im Hotel anmelden?«

»Nachdem ich das Hotel bereits gesehen habe, bin ich mir gar nicht mehr so sicher, ob ich Schattenhain überhaupt noch kennenlernen möchte.«

»Wenn wir zu lange warten, sind die Zimmer vielleicht schon alle vergeben.«

»An wen?«

Gwen wendete, um zurück ins Stadtzentrum zu fahren. Nachdem sie in irgendeine Straße eingebogen war, rollten sie ein paar Blocks weit an Häusern mit grauen Mauerschindeln vorbei. Die vorgebauten Veranden hatten ziemliche Schlagseite und wirkten, als ob sie sie belauschten. Gwen versuchte es mit einer anderen Straße und noch einer anderen. Nichts.

»Gut«, sagte sie. »Was machen wir jetzt?«

»Das Hotel muss hier irgendwo sein. Wir haben es doch schon gesehen.«

»Haben wir?«

Verwirrt kaute Stoner auf ihrer Unterlippe herum. Wir können uns nicht schon wieder verirrt haben. Nicht in einer Stadt dieser Größe. Und wir haben Castleton mit Sicherheit nicht wieder verlassen. Da ist ›Die Seegurke‹, da der Drugstore, der Stadtpark …

Sie bemerkte ein verblasstes, fast umgefallenes Schild, das in einer Schneewehe stak. ›HERBERGE ZUM OSTWIND, erste Straße rechts‹.

»Stoner«, raunte Gwen, »vor zehn Minuten stand das Schild noch nicht da.«

»Lass das«, antwortete Stoner. »Es ist auch so schon gruselig genug.«

»Gruselig trifft es nicht mal ansatzweise.«

Das Hotel lag etwas zurückversetzt an der Straße, so dass der Platz gerade für eine Reihe vorsichtig diagonal geparkter Fahrzeuge, eine einspurige Zufahrt und eine dünne Reihe aus verwelkten Ringelblumen reichte. Eine Neonschrift, die sich HE BERG UM O TWI D las, lugte an einer Ecke des Hauses hervor. Hinter Panoramafenstern erinnerten verbogene und zerkratzte Metalljalousien an Zäune aus knorrigen dünnen Zweigen. Die Sturmschutztür eines Stockwerkes stand offen. Die Tür dahinter sah aus, als würde sie nur noch durch eine Glasscherbe in Form gehalten.

Stoner zögerte. »Das macht keinen sehr vielversprechenden Eindruck. Vielleicht sollten wir es irgendwo anders versuchen.«

»Wo irgendwo anders? Wenn wir Castleton den Rücken kehren, werden wir es nie wiederfinden. Vermutlich taucht es nur alle hundert Jahre aus der See auf, wie Brigadoon. Wenn es zu schrecklich ist, können wir morgen immer noch weiterfahren.«

»Na gut«, sagte Stoner widerwillig, »ich schätze, uns bleibt nichts anderes übrig. Möchtest du den offiziellen Teil erledigen?«

Gwen lugte zur Tür des Empfangsbüros und schnitt eine Grimasse. »Nur dieses eine Mal noch bist du der kesse Vater. Um der guten alten Zeiten willen.«

Das Empfangsbüro war leer, die Tür verschlossen. Ein drei mal fünf Zentimeter großes Pappkärtchen steckte in der Ecke einer Glasscheibe und versprach, dass irgendwer ›bald zurück‹ sein würde.

»Die entscheidende Frage«, bemerkte Gwen, nachdem Stoner ihr Bericht erstattet hatte, »ist nur, ob dieses ›bald‹ als ›vor dem Abendessen‹ oder als ›Ende Mai‹ zu interpretieren ist.«

Stoner rieb sich den Nacken. »Ich meine, wir könnten ein bisschen Zeit damit totschlagen, mal zu schauen, wo Schattenhain liegt. Es muss irgendwo da an der Straße beim Ozean sein.«

»Ich frag mich«, sagte Gwen, als sie den Wagen anließ, »ob jemals eine, die diese Straße genommen hat, zurückgekehrt ist.«

»Mach das nicht, Gwen, bitte.« Da war ein seltsames Kribbeln unter ihrer Haut. Ein Frösteln breitete sich zwischen ihren Schulterblättern aus.

»Ich find das ehrlich komisch.«

»Ich nicht.«

»Was stimmt denn nicht?«

»Ich glaube, ich weiß, wie Schattenhain aussehen wird.«

Gwen klopfte versichernd auf Stoners Hand. »Wir wissen beide, dass es sich vermutlich um das Versatzstück eines antiken Horrordramas handelt. Egal, der ›Ratgeber für durch Terror und Übersinnliches in Not Geratene‹ sagt, die beste Verteidigung ist flockig-lockeres Auftreten.«

»Flockig-locker«, grummelte Stoner. »Du bist genauso schlimm wie Marylou.«

»Und du«, sagte Gwen, »hast wieder deine typische Steinbock-Zauderei.«

»Ist gut, ist gut. Also los, stellen wir uns dem verdammten Ding.«

Das erste Haus an der Klippenstraße entpuppte sich als unsägliches Machwerk. Hoch, breit, mit Schindeln gedeckt, hockte es als wuchernder, amorpher Klumpen aus lehmartiger Masse am Rand der Klippen. Eine Steinmauer, deren eigentlicher Zweck einst gewesen sein musste, Spaziergänger vor einem Sturz in die Tiefe zu bewahren, war nun ihrerseits zerbröckelt und teilweise ins Meer gestürzt. Durch den Nebel und das Zwielicht der einsetzenden Dämmerung wirkten die Fenster des Hauses leer wie die Augen einer Toten. Ein paar Seemöwen schwebten über dem Dach, erwogen kurz, sich niederzulassen, und beschlossen dann, sich lieber nach gastlicheren Gefilden umzusehen.

»Lass uns gucken, ob sie Fremdenzimmer vermieten«, schlug Gwen vor.

»Hier?«

»Ich liebe es. Jede Wette, dass es hier spukt.« Sie stieg aus, machte ein düsteres Gesicht und zitierte geheimnisvoll:

»Dann blieb es Nacht und nimmer ward es Tag

In dieser Öde, welche bleischwer lag

Auf jedem Herz, dass dessen Saft und Kraft

Gefror im selbstischen Gebet um Licht!«

Stoner musste lachen. »Wo hast du denn das her?«

»Lord Byron.« Gwen drehte sich um und rannte zum Haus.

»Verrückte!«, rief Stoner ihr hinterher.

Minuten verstrichen. Der Himmel wurde dunkler, der Nebel dicker. Falls Menschen in diesem Haus leben, müssten sie jetzt eigentlich Licht anmachen. Das alte Familienfaktotum schlurft auf arthritisgeplagten Beinen von Zimmer zu Zimmer, hält Streichholz um Streichholz mit zittrigen Fingern an die Dochte der Kerosinlampen, zieht von der Zeit verschlissene Vorhänge zu, tapert zurück in den Bedienstetentrakt, während seine Knie bei jedem Schritt knirschen und knacken.

Verdammt, wo bleibt sie?

Sie stieß die Wagentür auf und wollte gerade aussteigen, als Gwen um die Verandaecke bog.

»Niemand zu Hause.«

»Ich dachte schon, du hättest beschlossen, reinzugehen.«

»Es dauert eben etwas, in jedes Fenster zu spähen.« Sie ließ den Motor an.

Die Klippenstraße stieg an und wurde zusehends schmaler, als sie weiter in Richtung Castle Point fuhren. Einige der Häuser an der Straße waren unbewohnt und unbewohnbar. Hier eine zusammengebrochene Veranda, da ein teilweise eingefallenes Dach. Ein Haus war ausgebrannt. Die Flammen hatten schwarze Rußschlieren hinterlassen, die sich wie Finger um die zerbrochenen und vor sich hin rottenden Mauerschindeln klammerten. Ein Schornstein stand einsam auf einer schmalen Lichtung. Höfewurden von wildwuchernden Himbeersträuchern und vertrocknetem Gestrüpp erstickt. Der Ozean nagte an den Felsklippen.

»Also?«, fragte Stoner nach einer Weile.

»Was also?«

»Was ist mit dem Haus von eben?«

»Zu«, sagte Gwen. »Ausgenommen ein Trakt, in dem sie am Wochenende ein Restaurant namens ›Hafenschänke‹ betreiben. Ich konnte nicht hineinsehen.«

»Keine Gespenster?«

»Keine sichtbaren.«

»Ich hoffe, ich hab dir nicht den Spaß verdorben.«

»Nebenbei«, sagte Gwen, »die Flotte ist eingelaufen. Die Bucht ist voller Fischerboote.«

»Ebenfalls nicht bewohnt, nehme ich an«, sagte Stoner und versuchte mitzuspielen.

»Nicht von Leben, wie wir es kennen. Findest du es nicht seltsam, dass wir nicht gehört haben, wie sie reingekommen sind? Und auch nichts gesehen haben?«

»Das Einzige, was in dieser Gegend seltsam wäre, wäre, einen Menschen zu sehen. Oder zu hören.«

Am Waldrand verwandelten sich Straße und Asphalt in einen schmutzigen Weg, der alle Freuden von Furchen und Schlaglöchern in sich vereinte. Gwen drosselte die Geschwindigkeit auf ein Kriechen. Das Zwielicht wirkte jetzt, als ließe es sich anfassen. Es sammelte sich im Nebel und schlierte über die Windschutzscheibe wie flüssige Nacht. Totes Gras glühte im Halbdunkel.

Ein Drahtgitterzaun tauchte am Wegrand auf.

Stoner verhielt sich völlig ruhig, Angst schnürte ihr die Kehle zu. Sie fühlte sich, als ob sie vom Auto in etwas hineingeschoben würde, was sie auf keinen Fall konfrontieren wollte. Etwas, was sie nicht sehen wollte, etwas, was sie auf eine Art und Weise ängstigte, wie sie noch nie zuvor etwas geängstigt hatte. Sie wollte Gwen sagen, sie solle wenden, zurückfahren, weg von Castle Point und Castleton und Schattenhain und von allem, was hier vor sich ging.

Die Worte wollten nicht heraus.

Sie beobachtete den vorbeigleitenden Wald.

Es war fast dunkel, als sie die Einfahrt erreichten. Das Tor war verschlossen. Ein Schild verkündete unfreundlich: »Schattenhain. Privat. Zutritt verboten. Polizeiüberwachung.«

»Netter kleiner Ort«, stellte Gwen fest. »Ich frag mich, was das heißt, ›Polizeiüberwachung‹. Haben sie der Polizei gesagt, sie soll das Gelände überwachen, oder teilen sie uns mit, dass sie von der Polizei überwacht werden.«

Sie stieg aus und rüttelte am Vorhängeschloss des Tores. Es gab nicht nach.

Hinter dem Zaun machte die Zufahrt einen Bogen und verschwand im Wald.

Gwen zuckte die Achseln und kehrte zum Wagen zurück.

»Trostlos. Eine Verwahranstalt für verirrte und verzweifelte Seelen. Ich brauche ein heißes Bad und einen guten, steifen Drink.«

»Lass uns von hier verschwinden«, brachte Stoner heraus, »bevor sie die Dobermänner loslassen.«

Gwen wendete den Wagen. »Also, was darf ’s denn sein. Die behagliche Heruntergekommenheit der Seegurke oder die ausklingende Eleganz der Hafenschänke?«

Stoner drückte sich in einen Winkel des Sitzes und blickte düster auf die nassen Blumen und Gräser, die auf dem Weg standen. »Hafenschänke.«

»Die ›Hafenschänke‹ soll’s sein.« Gwens Gesicht schimmerte, sanft angestrahlt von der Amaturenbrettbeleuchtung. Ihre Hände ruhten leicht auf dem Lenkrad. Während sie sie beobachtete, merkte Stoner, dass ihre Angst sich zurückzog.

Ich will sie.

Nicht unbedingt jetzt gleich, nicht unbedingt für dieses Wochenende, nur für den Rest meines Lebens.

***

»Auf jeden Fall sind sie konsequent«, sagte Gwen, als sie sich im Motelzimmer umblickte. »Die ›Heberg um Otwid‹ ist innen genauso mies wie außen.«

Stoner ließ die verbeulte Aluminium-Sturmschutztür hinter sich zuknallen. »Ich kenne dieses Zimmer aus einem alten Film. Ich glaube, es war Früchte des Zorns.«

»Auch die Preise tragen die Anzeichen einer Depression. Immerhin, sie schätzen ihren tatsächlichen Wert wenigstens richtig ein.«

Die Wände waren in dem grausigen Grau durchgekauter Kaugummis gehalten. Fleckige und verschlissene, schlecht geflickte grüne Überdecken bedeckten die beiden Einzelbetten, und ein Teppichläufer trieb als einsames Elend auf einem See aus gepunktetem Linoleum. Ein schäbiges Fenster zwischen den Betten schaute hinaus gegen eine schwarze Wand. Es gab ein Telefon und ein aufgeplatztes gelbes Plastikradio, das geradezu nach dem Recycling-Container schrie. Das Schild im Empfangsbüro hatte ›Klimaanlage‹ versprochen, und in der Tat, es herrschte ein scharfer Luftzug, der von nirgendwo im Besonderen, aber von überallher im Allgemeinen kam.

Gwen warf ihren Koffer aufs Bett.

»Wir könnten nach Augusta fahren«, schlug Stoner vor.

»Erzähl keinen Quatsch. Ich hab schon üblere Sachen gesehen als das hier.« Gwen neigte ihren Kopf nachdenklich zur Seite. »Ich habe die Umstände verdrängt.«

»Es ist sauber«, sagte Stoner hoffnungsvoll.

»Nicht ganz«, rief Gwen aus dem Badezimmer. »In der Badewanne wächst irgendetwas.«

Sie schnatterte vor Eiseskälte und suchte die Heizung. In der hintersten Ecke stand ein altertümlicher, geschwärzter Gasbrenner. Stoner kniete sich davor und begutachtete ihn.

»Was tust du da?«, fragte Gwen.

»Ich versuche rauszukriegen, wie sich dieses Ding anstellen lässt, ohne dass wir in die Luft gepustet werden.«

Die Bedienungshinweise befanden sich auf einem Fetzen Papier, der unten an dem Brennertürchen pappte. Unglücklicherweise waren die Buchstaben bis zur Unkenntlichkeit versengt und vermutlich sowieso auf Japanisch geschrieben. Sie kam wieder hoch auf die Füße.

»Wartest du auf eine Eingebung?«

»Nimm dein Bad«, sagte Stoner.

Gwen schauderte. »Nicht in der Wanne. Ich ziehe es vor, alleine zu baden.«

»Und ich ziehe es vor, mich alleine zur Idiotin zu machen. Könntest du also bitte etwas Nützliches tun?«

»Als da wäre?«

»Uns einen Drink machen.«

»Woraus?«

»Häh?«

»Woraus soll ich uns einen Drink machen?«

»In meinem Koffer.«

Sie entdeckte einen Regler, der auf null gedreht war. Daneben einen Knopf, rot. Und ein Röhrchen mit einem Loch. Offensichtlich dreht man am ersten, drückt am zweiten und hält ein Streichholz in das dritte. Aber in welcher Reihenfolge? Und was passiert, wenn man die falsche erwischt?

»Fertig gemixte Manhattans?«, sagte Gwen und hielt entgeistert die Flasche hoch. »Stoner, das ist abscheulich.«

»Da ist auch noch irgendwo Bourbon für dich. Ich hatte die Vorstellung, es würde uns gelingen, irgendwo Ginger Ale für dich aufzutreiben, aber das war ein etwas voreiliger Gedanke.«

»Das war ganz süß von dir.«

»Es ist das Mindeste, was ich für dich tun kann. Ich will einfach nicht glauben, dass ich dir das hier zumuten muss.«

»Erstens«, sagte Gwen, »hast du den Bourbon eingepackt, bevor du die ›Heberg um Otwid‹ kanntest. Zweitens wärest du sofort wieder abgereist, wenn ich drum gebeten hätte. Und nicht zu vergessen: Du bist schuld, dass ich zur Trinkerin werde.«

Stoner grinste sie von unten an. »Jawoll, und mir geht’s genauso. Ich glaube, ich hab eine Eiswürfelmaschine unten neben der Bürotür gesehen. Also, troll dich. Aber pass auf dich auf. Vielleicht lauert da draußen die Gefahr.«

Sie entzündete ein Streichholz und drückte den Knopf. Nichts passierte. Na gut, Knopf drehen und noch mal versuchen. Es gab ein kraftlos zischendes Geräusch und das Streichholz wurde ausgepustet.

Sie grummelte leise vor sich hin, als Gwen zurückkam und ihr einen Drink in die Hand drückte. Stoner betrachtete missbilligend das Glas. »Sieht reichlich fertig aus.«

»Das ist erst der Anfang. Warte ab, bis du nähere Bekanntschaft mit der Badewanne gemacht hast.«

Sie entzündete ihr letztes Streichholz und hielt den Atem an. Nach einer kurzen Sonate aus Knallen, Rattern, Zischen und einem beängstigenden ›Popp‹, ging die Flamme an.

»Hah«, sagte sie und nahm einen Schluck.

»Wie hast du das gemacht?«

»Zen.« Sie nippte an ihrem Drink, betrachtete Gwen und wollte sie. »Ich geh jetzt besser duschen.«

»Behaupte nicht, ich hätte dich nicht gewarnt«, sagte Gwen.

***

Wer auch immer das Gerücht in die Welt gesetzt hat, kalte Duschen wären das