Stoner McTavish - Grauer Zauber - Sarah Dreher - E-Book

Stoner McTavish - Grauer Zauber E-Book

Sarah Dreher

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Beschreibung

Romantikerin Stoner McTavish, die mit ihrer Liebsten Gwen und der Wüste von Arizona alle Hände voll zu tun hat, fühlt sich von einem Kojoten belauert. Dann kreuzt diese uralte Hopifrau auf und behauptet, ein jahrtausendealter Feldzug sei im Gange. Stoner hasst es: Warum gerade sie? Doch als es ernst wird, nimmt McTavish die Streitaxt auf und zieht los.

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Sarah Dreher

Stoner Mc Tavish

Grauer Zauber

Stoners 3. Fall

Deutsch von Monika Brinkmann und Else Laudan

Ariadne Krimi 1043 Argument Verlag

Ariadne Krimis Herausgegeben von Else Laudan www.ariadnekrimis.de

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

Gray Magic

© 1987 by Sarah Dreher

Alle Rechte vorbehalten

© Argument Verlag 1994, 2017

Glashüttenstraße 28, 20357 Hamburg

Telefon 040/4018000 – Fax 040/40180020

www.argument.de

Titelgrafik: Johannes Nawrath

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2017

ISBN Buch: 978-3-88619-543-5

ISBN EPUB: 978-3-86754-882-3

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Indianische Worte und Bezeichnungen

Fußnoten

Für Kaye Alleman

Kapitel 1

Talavai, der Geist der Morgendämmerung, schüttete Quecksilber über die schlafende Wüste. Es wirbelte um die Mesas herum, plätscherte über die buckligen Hügel von Bergformationen, die die Form von Brotlaiben hatten, strömte wie die Flut die flachen, ausgedörrten Flussbetten hinunter, liebkoste den Fuß der Heiligen Berge. Die Luft war kühl, still. Einer nach dem anderen zog sich das Sternenvolk ins Zwielicht des Morgens zurück.

Die Silhouette des verfallenen Pueblos zeichnete sich gegen das samtige Purpur ab, ein Durcheinander von Sandstein- und Lehmwänden, aus Erde geformt, zur Erde zurückkehrend. Vögel nisteten auf kahlen Fichtenbalken. Wüstenmäuse versteckten Getreidekörner und Piniensamen zwischen uralten Tonscherben. Tür- und Fensteröffnungen starrten blind auf die Plaza, Schlangen bauten ihre Nester in der verlassenen Kiva.

Die alte Frau, die sich nun Siyamtiwa nannte, rieb sich die Kälte aus den schmerzenden Fingern und blickte mit zusammengekniffenen Augen in Richtung Süden. Die ersten Sonnenstrahlen glitten pfeilgleich zwischen den beiden Gipfeln des Tewa Mountain hindurch und erreichten die Long Mesa, die unter ihr in der Ferne lag. Von der Spirit Wells-Handelsstation stieg der Rauch des Frühstücksfeuers wie eine fedrige Säule in die Höhe. Ein verbeulter, rostiger Lieferwagen tuckerte die unbefestigte Straße entlang, die sich durch die Navajo-Reservation schlängelte, und brachte die Post zum Hopi-Kulturzentrum.

Ein ganz gewöhnlicher Augustmorgen.

Nur dass leise Winde die Luft in Aufruhr versetzten, hin- und herwirbelten und unbehaglich wisperten von etwas, das die Harmonie störte. Von Kräften, die sich sammelten, stärker wurden, gerade so, wie sie es schon den ganzen langen Sommer über getan hatten. Kräfte, die sich jetzt sehr bald zusammenfinden würden …

Um ein weiteres Mal die Schlacht zu führen, die schon so viele Male geführt worden war.

So viele Male.

Siyamtiwa seufzte, trank einen kleinen Schluck Wasser und kaute auf einem Streifen piki herum, um den metallenen Nachgeschmack des Schlafes zu vertreiben.

Sie wusste, dass die eine Person aus dem Süden kommen würde, die andere von Osten. Der Wanderer aus dem Süden ist ka-Hopi, so viel hatten die Geister ihr verraten. Kein Frieden, keine Schönheit, keine Harmonie in diesem. Und die andere Person – die andere war eine Fremde, die noch viel zu lernen hatte. Zu viel vielleicht in zu kurzer Zeit.

Zwei Fremde, von jenseits der Mauern.

Siyamtiwa schürzte missbilligend die Lippen. Die Geister suchten sich neuerdings schöne Krieger aus für ihre Schlachten. Oder vielleicht gab es ja auch keine Krieger mehr. Vielleicht war es an der Zeit, dem Lied des Buckligen Flötenspielers zu lauschen, der mit seiner Musik den Fünften Aufstieg heraufbeschwor.

Oder vielleicht musste es mit dieser müden alten Welt noch schlimmer kommen, ehe die Riesenpilze aufblühten und alles endete.

In der Zwischenzeit würde sie tun, was getan werden musste.

Aus den Falten ihrer Decke zog sie das Schnitzmesser und die unfertige Holzpuppe hervor, das Abbild der grünäugigen pahana.

***

»Ich werd’s ihr sagen«, sagte Gwen.

Stoner blickte von dem Topf mit den Afrikanischen Veilchen auf, die sie soeben auf Blattläuse untersucht hatte. »Wem was sagen?«

»Meiner Großmutter. Das mit uns.«

Stoner schluckte hörbar, setzte den Topf ab, und stöberte ungehalten in dem Schrank unter der Spüle. »Wo ist deine Blumenspritze?«

Gwen gab sie ihr. »Du hältst es für einen Fehler.«

»Das habe ich nicht gesagt.« Sie füllte die Sprühflasche mit warmem Wasser und fügte ein paar Tropfen Spülmittel hinzu. »Du hast übrigens Läuse.«

»Wenn du so tust, als ob du mich nicht hörst, dann bist du eindeutig nicht einverstanden.«

»Ich hab’ eigentlich nicht direkt was dagegen …« Sie attackierte die Pflanze wie ein Macho-Polizist mit Wasserwerfer bei einer Anti-Atomkraft-Demo. »Ich denke nur, es ist vielleicht einfach kein günstiger Zeitpunkt.«

»Warum?«

»Weil wir die heißeste Nacht dieses Sommers haben, weil deine Klimaanlage den Geist aufgegeben hat und weil Tante Hermione und ich euch beide gerade dreimal gnadenlos beim Bridge über den Tisch gezogen haben.«

Gwen zuckte mit den Achseln. »Das macht mir nichts aus.«

»Schön, aber ihr macht es was aus. Junge, und wie ihr das was ausmacht.« Sie stellte die Veilchen auf die Fensterbank und starrte hinaus auf die im Dunst erstickende Bostoner Skyline.

Gwen fuhr mit dem Finger über den Rand ihres Glases Bourbon mit Ginger Ale. »Ich muss es tun, Stoner. Hier zu leben, ohne dass sie es weiß … Ich halte diese Heimlichtuerei nicht mehr aus.«

Sie konnte Gwen nicht anschauen. Sie wusste, wie sie aussehen würde, ihre Augen dunkel und sanft und furchtsam. Sie wusste, wenn sie sie anschaute, wäre alle Vernunft dahin. Sie drehte ihr den Rücken zu und zielte auf den Philodendron – und besprühte die Pflanze, die Fensterbank, das Fliegengitter und die rückwärtige Veranda der Parterrewohnung. »Wenn ich so ein Händchen für Pflanzen hätte wie deine Großmutter«, sagte sie, »würde ich mein Talent nicht an einen Philodendron verschwenden.«

»Ich kann warten, bis ihr weg seid …«

Sie fühlte sich in die Enge getrieben. Sie hob den Efeu hoch und setzte die Unterseite der Blätter unter Wasser. »Nein, das machst du nicht alleine durch.«

»Vielleicht nimmt sie es ja gut auf.«

Stoner lachte freudlos. »Ich kenne Eleanor Burton. Es wird schrecklich werden.«

Sie brach ein verwelktes Blatt ab.

»Tante Hermione hat ein Tarot gelegt. Die Ergebniskarte war der Gehängte.«

»Das ist doch gut, oder? Bewusstseinswandel?«

»Er lag verkehrt herum. Arroganz, Dominanz des Egos, vergebliche Anstrengung …«

»Deine Tante glaubt nicht an Umkehrungen«, sagte Gwen.

»Ich aber.«

»Du glaubst nicht ans Tarot.«

»Wenn ich es aber täte, würde ich an Umkehrungen glauben.« Sie stellte den Efeu auf seinen Untersatz zurück.

»Wenn du an meiner Stelle wärst«, beharrte Gwen, »würdest du es ihr sagen wollen, oder?«

»Sie sagt, sie zieht nach Florida«, warf Stoner hoffnungsvoll ein. »Du könntest warten und ihr dann einen Brief schreiben oder so.«

»Sie zieht nicht nach Florida«, sagte Gwen. »Sie redet jedes Jahr davon, aber sie wird es nie tun.«

»Vielleicht hat sie es diesmal ernst gemeint.«

Gwen seufzte. »Hat sie nicht. Sie hasst den Süden. Sie konnte Georgia nicht ausstehen. Nach dem Begräbnis meiner Eltern hat sie mich so schnell aus Jefferson weggeschafft, dass man meinen konnte, die Sieben Ägyptischen Plagen kämen mit dem 2 Uhr 49-Zug an.«

»Tjaa.« Stoner griff nach ihrem Manhattan. »Das Problem ist, in ihren Augen sind Lesben eine der Sieben Ägyptischen Plagen.«

»Sie hasst dich nicht.«

»Sie duldet mich. Das muss sie ja wohl. Ich hab dir das Leben gerettet.«

Mit gerunzelter Stirn blickte Gwen in ihr Glas. »Ich dachte, du sagst immer, sich zu verstecken tötet die Seele.«

»Das hier ist was anderes.«

»Warum ist es was anderes?«

»Weil es um dich geht, Gwen. Weil ich dich liebe«, und weil sie dir wehtun wird und ich es nicht ertragen kann … »Ich hab bloß ein komisches Gefühl, das ist alles.«

»Stoner …«

Sie drehte mit einem Ruck den Wasserhahn auf und schrubbte sich wie wild die Hände. »Hast du eine Ahnung, wie schlimm das werden kann?«

»Aber was soll ich machen?«, fragte Gwen. »Lügen? So tun, als ob ich mit jedem Mann flirte, der in meine Richtung schaut? Mich herumdrücken, als ob wir etwas Schmutziges tun? Ich liebe dich, Stoner. Ich will, dass die ganze Welt das weiß.«

Sie blickte sich nach einem Geschirrtuch um, fand keins und wischte sich die Hände an ihrer Jeans ab. »Ich hab mehr als ein Coming-out erlebt. Es ist nicht immer furchtbar, aber es macht selten Spaß.« Sie warf dem Afrikanischen Veilchen einen finsteren Blick zu. »Ich glaub, du hast Spinnmilben.«

Gwen knallte ihren Drink auf den Tisch, marschierte zum Kühlschrank und zerrte an den Eiswürfelbehältern.

»Du solltest das Ding mal abtauen«, sagte Stoner.

»Kann ich nicht. Mein Fön ist kaputt.«

»Himmeldonner. Du hast Blattläuse und Spinnmilben, deine ganzen Haushaltsgeräte fallen auseinander, und du denkst, dies ist der angemessene Zeitpunkt, um deiner Großmutter zu sagen, dass du lesbisch bist?«

»Okay«, sagte Gwen verärgert, »vergiss es. Ich mach es, wenn du nicht hier bist. Aber ich werde es tun, Stoner, ob es dir gefällt oder nicht.«

Stoner streckte ihre Hände aus. »Bitte, Gwen, lass uns nicht streiten.«

»Ich streite mich nicht. Du streitest.«

Sie fuhr sich mit der Hand durch die Haare. »Schau, es tut mir leid. Ich weiß, dass du recht hast, aber …«

»Du hast Angst«, sagte Gwen mit leisem Staunen.

»Da kannst du drauf wetten.«

»Ich glaub es nicht. Du hast Angst.«

»Ich hab Angst.«

Gwen schüttelte den Kopf. »Stoner, du hast meinen Mann getötet. Du hast ganz allein ein Nest von Betrügern in einer spukenden Nervenheilanstalt hochgehen lassen. Und du hast Angst vor meiner Großmutter?«

»Deine Großmutter«, sagte Stoner, »ist eine Klasse für sich.«

»Sie ist immer sehr höflich zu dir.«

»Sicher doch. Höflich. Weißt du, wie ich mich bei dieser Art von Höflichkeit fühle? Wie Bill Cosby, während er die Tischrede auf dem Jahrestreffen des Ku-Klux-Clan hält.«

Gwen lachte. »Schon gut, ich verstehe, was du meinst.« Sie schaffte es, einen Eiswürfelbehälter von der Kühlschrankwand zu lösen, und trug ihn zum Waschbecken. »Was würdest du also an meiner Stelle tun?«

Stoner dachte ernsthaft darüber nach. »Es ihr sagen. Aber vorher packen.«

Gwen drehte sich um, legte ihre Arme auf Stoners Schultern und sah ihr feierlich in die Augen. »Ich liebe dich, Stoner Mc Tavish.«

Schmetterlinge flatterten durch ihren Magen und ihre Knie wurden zu Götterspeise. Diese Frau liebt mich, dachte sie und fühlte, wie die Erde um ihre Achse schwankte. Sie schüttelte den Kopf in hilfloser Resignation. »Okay, wenn du es nicht schaffst, die heißeste Nacht des Jahres zu überstehen, ohne deine Großmutter in eine rasende Furie zu verwandeln … packen wir’s an.«

»Schick schon mal ein Stoßgebet ab.« Als sie sich wegdrehte, steckte Gwen ihr einen Eiswürfel in den Kragen.

***

Tante Hermione und Eleanor Burton saßen nebeneinander auf dem chintzbezogenen Polstersofa, ein großes Fotoalbum aus Florentinerleder vor sich auf den Knien.

Na Klasse, dachte Stoner trocken. Der ideale Zeitpunkt, um sich in Nostalgie zu suhlen.

Mrs.Burtonschauteauf. »Stoner, haben Sie dieses anbetungswürdige Bild von Gwyneth und ihrem Bruder schon gesehen?« Sie linste mit zusammengekniffenen, kurzsichtigen Augen auf die Seite. »Das war am Kentucky Lake. Das Tennessee Valley-Projekt?«

»Sie hat es schon gesehen, Großmutter. Wir …«

»War das nicht der Ausflug zum Kentucky Lake?«, brabbelte Mrs.Burton weiter. »Damals, als Donnie aus dem Boot fiel und du hinterhergesprungen bist?« Sie neigte sich Tante Hermione zu. »Er wollte die Steine auf dem Grund berühren, stellen Sie sich das mal vor, und hat sich dabei völlig übernommen.«

Tante Hermione, die Familienalben verabscheute, lächelte und unterdrückte ein Gähnen.

Stoner fragte sich, ob der Eiswürfel, der an ihrer Taille hängen geblieben war, verdunsten würde, bevor er ihr Bein herunterlaufen und sie blamieren konnte. Sie bezweifelte es.

»Die kleine Gwyneth flog geradezu aus dem Boot hinter ihm her«, sprudelte Mrs.Burton. »Nicht mal die Tatsache, dass er schwimmen konnte und sie nicht, vermochte sie aufzuhalten. Ist das nicht niedlich?«

Stoner konnte sich an dieses spezielle Bild nicht erinnern. Neugierig geworden ging sie hinter das Sofa und schaute Tante Hermione über die Schulter.

Es war ein typisches, unscharfes Familienfoto, lange vor der Erfindung der Automatik-Kamera geschossen. Gwen mit langen Armen und Beinen und einem gezwungenen, schmerzlichen Lächeln. Ihr Bruder mit einer Grimasse im Gesicht, sich blöd stellend.

»Sie hatten so viel Spaß auf diesem Ausflug«, gurrte Mrs.Burton.

Stoner zuckte zusammen. Sie hatte alles über diesen Urlaub gehört, über die panische Angst, in einem fahrenden Auto zu sitzen, weit weg von zu Hause, mit einem Vater, dessen einzige Antwort auf Frust ein paar Schläge ins Gesicht waren, und einem Bruder, der auf Spannung mit Provokation reagierte. Ein ganz durchschnittlicher, spaßiger, richtig amerikanischer Kleinfamilienurlaub.

»Großmutter«, sagte Gwen, »du solltest dir die nicht ohne deine Brille anschauen.«

»Ach je.« Mrs.Burton schreckte hoch, ihre Augen schossen durch den Raum, als hätte ihr gerade jemand gesagt, dass ein bengalischer Tiger in der Küche herumschlich. »Ich weiß genau, dass ich sie beim Kartenspiel noch hatte. Schau doch mal, ob du sie finden kannst, Gwyneth, Liebes.«

Stoner nahm die Brille vom Spieltisch und gab sie Mrs.Burton.

»Gute Güte«, sagte Mrs.Burton. »Die ganze Zeit hat sie da gelegen! Wie töricht von mir. Ich bin so vergesslich.«

»Ein einfaches ›Danke‹ würde völlig ausreichen, Eleanor«, sagte Tante Hermione.

Mrs.Burton zog die Brillenbügel über ihre Ohren und blickte wieder auf das Album. »Aber das ist ja gar nicht am Kentucky Lake. Es sieht aus wie … ja, es sieht aus wie der Ausflug nach North Carolina, in dem Sommer bevor deine Eltern starben. Oder war das zwei Sommer vorher?«

»Das macht keinen Unterschied«, sagte Gwen. »Sie waren sowieso alle gleich.«

Stoner blickte Mrs.Burton an und ihr wurde klar, dass sie sie nicht mehr besonders gut leiden konnte. Der Gedanke überraschte sie. Als sie sie letztes Jahr kennengelernt hatte, hatte sie sie gemocht – zumindest Mitgefühl für sie empfunden. Aber wenn sie sich jetzt in ihrer Nähe aufhielt, fühlte sie sich wie eine Katze in einem elektrisch aufgeladenen Raum. Vage Befürchtungen umschwirrten diese Frau wie Mücken. Der kleinste unerwartete Laut ließ sie vor lauter dunklen Vorahnungen fast aufjaulen. Sie hörte Geräusche, die sonst niemand wahrnahm. Wenn ein Streichholz im Aschenbecher vor sich hin schwelte, dann war sie der festen Überzeugung, dass ganz Cambridge – oder zumindest ihr Haus – kurz davor stand, sich in ein flammendes Inferno zu verwandeln. Wenn sie einen Luftzug spürte, dann kletterte gerade jemand, der Übles im Sinn hatte, durch das Schlafzimmerfenster. Öffentliche Verkehrsmittel konnte sie nicht mehr benutzen, denn man wusste schließlich nie, was unter der Erde alles passieren konnte. Saß sie in einem Auto, dann klammerte sie sich am Türgriff fest und stemmte den Fuß auf den Boden, wenn die Fahrerin die Bremse auch nur berührte. Sie weigerte sich, das Haus nach Sonnenuntergang oder während eines Regenschauers zu verlassen. Wenn Gwen nach elf noch unterwegs war, brannte im Schlafzimmer ihrer Großmutter so lange Licht, bis sie zurückkam. Wenn Gwen bei Stoner übernachtete, musste sie vor dem Schlafengehen anrufen und Bescheid sagen. Und so wie Mrs.Burton sich dann aufführte, war es oft leichter, nach Hause zu gehen.

Es konnte natürlich an ihrem Alter liegen, wie sie behauptete. Aber Tante Hermione, die zwei Jahre älter war, sagte, es sei weniger das Alter als vielmehr die Einstellung.

Gwen sagte, es sei bloß Abhängigkeit, und wenn sie erst mal wieder unterrichtete und Mrs.Burton allein zurechtkommen musste, dann würde sie die Kurve schon wieder kriegen. Vielleicht.

Stoner war schon gelegentlich der Gedanke durch den Kopf gegangen – einmal, als sie übers Wochenende nach Hampton Beach fahren wollten, um im Kitsch zu schwelgen, und ihre Pläne hatten aufgeben müssen, weil Mrs.Burton von einer undefinierbaren Sommer-Unpässlichkeit befallen worden war – und einmal, als Gwen und sie die Wohnung verlassen und sie sich plötzlich umgedreht und auf Mrs.Burtons Gesicht einen Schimmer von etwas erhascht hatte, das ganz entschieden nach Eifersucht aussah …

Ihr war der Gedanke durch den Kopf gegangen, dass Mrs.Burton sich über das, was wirklich hinter ihrer sorgfältig errichteten »Einfach gute Freundinnen«-Fassade vor sich ging, womöglich gar nicht so im Unklaren war. Und dass sie wohl nicht gerade beglückt darüber war.

Ihr war auch durch den Kopf gegangen, dass hier ein kleiner unfreundlicher Konkurrenzkampf im Gange war und dass Mrs.Burton erkannt hatte, dass in diesem Fall Schwäche vielleicht Stärke war. Und damit konnte sie durchaus richtig liegen.

Was auch immer davon der Wahrheit entsprechen mochte, es schien Stoner, als bewegten sie sich auf eine gefährliche Schlechtwetterfront zu.

»Großmutter«, sagte Gwen vorsichtig.

Mrs.Burton legte einen Finger zwischen die Seiten und schloss das Album. »Ja, Liebes?«

»Da ist etwas, das wir … das ich dir sagen muss.«

»Es sind Blattläuse, nicht wahr?«, sagte Eleanor Burton mit einem Seufzer. »Ich habe dem Blumenhändler gesagt, dass das Veilchen ungesund aussieht, aber du weißt ja, wie die sind. Lassen sich von niemandem was sagen. Genau wie im Eisenwarenladen. Wenn die nicht haben, was man braucht, behaupten sie einfach, so etwas gäbe es gar nicht oder dass man sowieso nicht wüsste, wovon man spricht. Das ist wirklich eine Unverschämtheit.«

Gwen räusperte sich. »Das ist jetzt nicht wichtig. Ich muss …«

»Natürlich ist das wichtig«, unterbrach Mrs.Burton sie. »Komm erst mal in mein Alter, dann wirst du schon begreifen, was es heißt, mit einem winzigen Körnchen Respekt behandelt zu werden.«

»Genau darum geht es«, sagte Gwen. »Ich … Wir respektieren dich, und deshalb möchten wir, dass du weißt …«

»Kann das nicht warten, Liebes?« Mrs.Burton fächelte sich mit ihrem Taschentuch hektisch Luft zu. »Es ist eine furchtbar heiße Nacht, und du siehst so ernst aus.«

»Es ist ernst«, sagte Gwen. Sie sah hilflos zu Stoner.

Stoner durchquerte den Raum und nahm Gwens Hand. Gwen drückte ihre Finger. Ihr Spiegelbild im Fenster gegenüber sah aus wie die Figuren auf einer Hochzeitstorte.

Gwen holte tief Luft und versuchte es noch mal. »Ich weiß nicht, wie du es aufnehmen wirst, aber mich macht es sehr glücklich.«

»Das ist alles, was ich will, Liebes«, sagte ihre Großmutter. »Dein Glück.« Ihre Augen glitten hinunter zu ihren ineinander verschlungenen Fingern.

»Stoner und ich …« Gwen hielt Stoners Hand noch fester. »Wir … ähm … wir …«

»Was sie gerade zu sagen versucht«, schaltete sich Tante Hermione ein, während sie in ihrer riesigen bunten Tasche herumwühlte und ein Wollknäuel und eine Häkelnadel hervorzog, »ist, dass Ihre Enkelin und meine Nichte ein Liebespaar sind.«

Mrs.Burton schaute Gwen an.

Gwen sah zu Boden.

Mrs.Burton schaute Stoner an.

Stoner erwiderte ihren Blick.

Mrs.Burton sah wieder auf ihre verschlungenen Hände. Sie nahm ihre Brille ab, schlug den Saum ihres Kleides zurück, und putzte die Gläser mit ihrem Unterrock.

»Soso«, sagte sie. »Hat noch jemand Lust auf eine letzte Partie Bridge?«

»Großmutter«, begann Gwen.

»Warum machst du uns nicht ein wenig Eistee, Gwyneth? Sonst werden wir alle noch vergehen in dieser Hitze.«

»Mrs.Burton …«, sagte Stoner.

Mrs.Burton lachte. »Aber das ist natürlich nichts im Vergleich zu den Sommern in Georgia.«

Tante Hermione legte ihre Häkelarbeit nieder. »Ich weiß, dass Gwen deswegen mehr als eine Nacht wachgelegen hat, Eleanor. Bringen Sie doch wenigstens den Anstand auf, zu bestätigen, dass Sie es vernommen haben.«

Eleanor Burton wandte sich ihr zu. »Vielleicht, Hermione, können Sie mir ja erklären«, sagte sie im perfekten Konversationston, »warum meine Enkelin versucht mich umzubringen.«

»Oh Scheiße«, flüsterte Gwen.

»Ich weiß, dass ich nicht vollkommen bin«, fuhr Mrs.Burton fort, »aber ich habe weiß Gott versucht, sie gut zu behandeln, so weit es meine begrenzten Kräfte zuließen. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, was ich getan habe, dass sie mir einen solch grausamen, grausamen Streich spielt.«

»Das ist kein Streich«, sagte Gwen.

Mrs.Burton faltete die Hände im Schoß. »Zu meiner Zeit«, sagte sie zu Tante Hermione, »haben Damen über so etwas nicht gesprochen.«

»Das vielleicht nicht«, sagte Tante Hermione, »aber sie haben es getan.«

Mrs.Burtons Rücken versteifte sich. Die Haut an ihrem Hals spannte sich an. Sie öffnete das Fotoalbum und begann, die Seiten schnell und wahllos umzublättern. »Sehen Sie sich das nur an«, sagte sie zu niemand Bestimmten. »Sehen Sie nur, was für ein schönes Kind sie war. Alle sagten, dass sie ein schönes Kind war.«

»Allerliebst«, sagte Tante Hermione. »Obwohl, was das mit irgendetwas zu tun hat, ist mir schleierhaft.«

»Wer würde jemals auf die Idee kommen, bei diesem süßen Kindergesicht …«

Tante Hermione begann wieder zu häkeln. »Eleanor, nun seien Sie keine Idiotin.«

»Großmutter …«, begann Gwen. Sie schien vergessen zu haben, dass sie Stoners Hand hielt. Ihre Haut fühlte sich wie kaltes Wachs an, so als ob alles Leben in ihr zu einem kleinen harten Klumpen irgendwo tief in ihrem Innersten zusammengeschrumpft wäre.

»Ich gebe ja zu, dass sie von Männern nicht gut behandelt worden ist«, fuhr Mrs.Burton ernsthaft fort. »Gute Güte, wer ist das schon? Erst ihr Vater, dann diese grauenhafte Kreatur Bryan Oxnard, den sie unbedingt heiraten musste. Aber das ist doch kein Grund, sie völlig aufzugeben.«

»Hört sich für mich wie ein sehr guter Grund an«, sagte Tante Hermione und überprüfte ihr Muster.

»Es hat überhaupt nichts mit Männern zu tun«, sagte Gwen. »Ich liebe Stoner.« Ihre Stimme war klar und kräftig. Ihre Hand zitterte.

Mrs.Burton schaute vage in ihre Richtung. »Du stehst in ihrer Schuld, natürlich. Wir beide tun das. Aber diese alberne Vernarrtheit wird sich geben.«

»Großmutter.«

»Ihre Enkelin ist lesbisch«, sagte Tante Hermione gelassen. »Sie können sich ebenso gut daran gewöhnen.«

Mrs.Burton schnaubte. »Wir würden niemals«, sagte sie mit leicht erhobener Stimme, »jemanden von … von diesen Leuten in meiner Familie dulden.«

»Warum nicht?« Tante Hermione blinzelte auf ihr Häkelzeug hinunter. »Kindesmisshandler haben Sie doch schon.«

»Und hätte ich die Wahl, würde ich Kindesmisshandler vorziehen.«

Tante Hermione seufzte. »Eleanor, machen Sie sich nicht noch mehr zur Närrin, als Sie es schon getan haben.«

»Nun«, sagte MrsBurton, während sie ein wenig wacklig aufstand, »in meinem Haus werde ich das nicht dulden.«

»Gut«, sagte Gwen, »in einer halben Stunde kann ich fertig gepackt haben.«

Stoner schaute sie an. Gwens Gesicht war grau, ihre Augen brannten. Sie bricht gleich zusammen, dachte sie und legte ihr stützend einen Arm um die Schultern.

»Würden Sie freundlicherweise«, sagte Mrs.Burton mit vor Entrüstung zitternder Stimme, »Ihre dreckigen Hände von ihr nehmen?«

Bestürzt trat Stoner unbewusst einen Schritt zurück. »Was?«

»Was Sie bei sich zu Hause tun, ist Ihre Sache. Darüber will ich gar nichts wissen. Aber solange Sie in diesem Haus sind …«

»Einen Moment mal«, sagte Gwen, »ich bezahle die Hälfte der Miete.«

Mrs.Burton wandte sich ihr zu. »Das gibt dir nicht das Recht, dein Gesindel hierher zu bringen.«

»Verdammt noch mal«, sagte Gwen scharf. »Stoner hat mir das Leben gerettet. Wenn sie nicht gewesen wäre, hätte Bryan mich umgebracht.«

Das Gesicht der alten Frau war steinhart. »Ich wünschte, er hätte es getan.«

»Bei Gott«, sagte Tante Hermione in die schockierte Stille. »Ich habe in den letzten fünf Minuten genug Albernheiten für den Rest meines Lebens gehört.«

Mrs.Burton drehte sich ihr zu. »Ihre Meinung ist nicht gefragt, Hermione. Sie und Ihr Haus voller Perverser.«

»Haus voller Perverser?« Tante Hermione zog eine Augenbraue hoch. »Stoner, hast du irgendetwas vor, von dem du mir noch nichts erzählt hast?«

Sie zwang sich, den Kopf zu schütteln.

»Zu schade«, sagte Tante Hermione und wandte sich wieder ihrem Häkelzeug zu. »Wär vielleicht was Einträgliches gewesen.«

»Ich vermute«, sagte Mrs.Burton zu Tante Hermione, »Sie denken gerne darüber nach, wie Ihre Nichte andere Frauen befummelt.«

»Ich habe anderes im Kopf, Eleanor, und das sollten Sie auch. Wenn Sie Ihre Phantasie nicht beherrschen können …«

Mrs.Burton wandte sich wieder an Gwen. »Versprich mir, dass du sie nie wiedersiehst, und wir vergessen das alles.«

»Ich beabsichtige sehr wohl, sie wiederzusehen«, sagte Gwen mit tödlicher Stimme, »und ich werde nichts hiervon vergessen.«

Wir machen das ganz falsch, dachte Stoner. Wir sollten uns hinsetzen und in Ruhe darüber sprechen. Jede bekommt fünf Minuten Redezeit, um zu sagen, wie ihr zumute ist, keine Beschimpfungen, beim Thema bleiben, keine Drohungen, und wenn wir nicht weiterkommen, gibt es eine Abkühlrunde. Nicht die einfachste Sache der Welt, aber kein Chaos. Das hier ist ein Chaos.

»Seht mal«, sagte sie, »vielleicht, wenn wir alle … ich meine, schauen wir uns das doch mal an … und, na ja, was will eigentlich jede hier?«

»Ich werde Ihnen sagen, was ich will«, kreischte Mrs.Burton. »Ich will, dass Sie aus dem Leben meiner Enkelin verschwinden.«

»Das ist das Letzte, was du kriegen wirst«, sagte Gwen kalt. »Wo ich hingehe, da geht auch Stoner hin.«

»Mir scheint, Eleanor«, warf Tante Hermione ein, »Sie haben hier das meiste zu verlieren.«

Das schien Mrs.Burton den Schwung zu nehmen. Sie lehnte sich zurück und zupfte an ihren Ärmeln. Sie sah alt aus, und müde.

»Du musst das verstehen«, sagte sie schließlich. »So wie ich erzogen wurde … wir hätten nie …« Sie schaute hilflos zu Gwen auf.

»So wie ich erzogen wurde«, unterbrach Tante Hermione, »würden wir nie einen anderen Menschen grausam behandeln. Sie sollten Ihren glücklichen Sternen danken, dass Gwen sich in Stoner verliebt hat. Wenigstens hat sie bei Frauen einen besseren Geschmack als bei Männern.«

Mrs.Burton wandte sich ihr zu. »Ich habe ihr ein anständiges Leben geboten. Das Mindeste, das sie tun kann, ist ein anständiger Mensch zu sein.«

»Sie ist ein anständiger Mensch«, sagte Tante Hermione, »haushoch über allem, was Stoner früher so nach Hause gebracht hat.«

»Tante Hermione …«

»Ist schon gut, Liebes. Du entwickelst dich, wie wir alle.«

»Nun«, sagte Mrs.Burton, »Sie können sich geradewegs aus meinem Haus hinausentwickeln.« Sie wandte sich an Gwen. »Was dich betrifft, dich würde ich lieber tot sehen.«

»Gwen«, sagte Stoner leise, »möchtest du, dass ich jetzt gehe?«

Gwen schüttelte den Kopf. »Großmutter, ich will erklären …«

»Erklären?« Mrs.Burton stieß ein raues Lachen aus. »Diese … diese Krankheit erklären?«

Es ist immer dasselbe, dachte Stoner müde, als sie zum Fenster ging und sich gegen die Fensterbank lehnte. Vorwürfe, Wut, Beschimpfungen, Schuld, Zurückweisung – das alles, weil wir die falschen Menschen lieben. Die falschen Menschen lieben. In einer Welt, in der Schulspeisungen zugunsten von Nuklearsprengköpfen abgeschafft werden und man von der Luft Lungenembolien bekommt, und vom Wasser Krebs. In der das Gesundheitsamt eine »zulässige Höchstmenge von Rattenfäkalien« pro Dose Thunfisch festsetzt. In der Vergewaltiger frei herumlaufen, entlassen auf Bewährung, und in der man eine Münze in einen Schlitz werfen kann, um einen Film zu sehen, in dem eine lebensechte Frau lebensecht zu Tode geprügelt wird, nur um des Nervenkitzels und des Profits willen. In der wir endlich eine Frau als Vizepräsidentin nominiert hatten, das harmloseste Amt des Landes, und all die Frauenhasser unter ihren Steinen hervorgekrochen kamen, um auf ihrem Sarg zu tanzen, und manche der Frauenhasser waren Frauen, und was sagt uns das darüber, wie wir gelehrt werden, uns selbst zu sehen? Es hätte das Signal sein sollen, die Revolution zu beginnen, aber wir hatten die Revolution vergessen, und jetzt haben wir Yuppie-Lesben in Designer-Klamotten, die einen Magister im Versteckspielen erwerben, und ehe wir uns versehen, ist es wieder 1950 und uns ist nichts geblieben als Der Quell der Einsamkeit und Infam1, und wir werden eines Morgens aufwachen und glauben, das Beste, was du tun kannst, wenn du lesbisch bist, ist, dich umzubringen.

»Was machen wir hier eigentlich?«, hörte sie sich selbst in die Stille hinein sagen, die sich zog wie ein Gummiband. »Wir sollten auf der Straße sein und uns die Lunge aus dem Leib schreien.«

Alle sahen sie an.

»Stoner ist ganz außer sich seit der Wahl von ’84«, erklärte Tante Hermione. »Sie denkt, es wäre alles anders ausgegangen, wenn sie nur etwas getan hätte, aber sie hat noch nicht herausbekommen, was dieses Etwas ist.«

»Ich meine nur«, sagte Stoner, »es gibt wichtigere Dinge, über die man sich aufregen sollte.«

Mrs.Burton schniefte. »Natürlich sagen Sie das.«

»Großmutter«, sagte Gwen leise.

Mrs.Burton wandte den Kopf ab.

Tante Hermiones Augen trafen Stoners, und sie zuckte mit den Schultern. »Da werd eine schlau draus.«

Gwen stand vor ihrer Großmutter, die Fäuste geballt, ihr Gesicht kurz davor, sich aufzulösen. »Bitte«, sagte sie, »ich liebe sie, und ich liebe dich. Bitte versuch doch zu …«

Mrs.Burtons Augen waren wie glühende Kohlen. »Liebe? Du nennst das Liebe? Diese abstoßende … widerwärtige … Besessenheit?«

Stoner fühlte, wie etwas in ihr zerbrach. »Gott verdammt noch mal«, bellte sie. »Das reicht!«

Mrs.Burton drehte ihr den Rücken zu. »Ich bin an nichts interessiert, was Sie zu sagen haben.«

»Das ist mir scheißegal!« Die Worte platzten aus ihr heraus. »Sie sind eine ignorante, selbstgefällige Frau. Haben Sie irgendeine Ahnung, was es heißt, lesbisch zu sein?«

»Das habe ich nicht«, sagte Mrs.Burton. »Und ich will es auch gar nicht.«

Stoner ging mit großen Schritten quer durchs Zimmer. »Wir machen die Drecksarbeit in dieser Welt. Wir gründen Frauenhäuser, um euch rechtschaffene, verklemmte ›normale‹ Frauen vor euren prügelnden Ehemännern zu schützen. Wir kämpfen für eure Krankenversicherung und Sozialhilfe. Wir schieben eure Rollstühle und wischen euren Urin auf, wenn ihr zu alt und zu schwach seid, um es selbst zu tun. Wir machen all die Arbeit, für die ihr zu ›damenhaft‹ seid. Und dafür werden wir beschimpft und aus Jobs gefeuert, die keiner will. Wenn wir in öffentliche Toiletten gehen, sehen wir Hass auf den Wänden, hingeschmiert von Leuten, die zu ungebildet sind, um unsere Namen richtig zu schreiben, die sich aber das Recht herausnehmen, über uns zu urteilen. Wenn wir eine Zeitung aufschlagen, sehen wir Briefe von bibelzitierenden Schwachköpfen, die uns sagen, dass unsere schwulen Brüder an AIDS sterben, weil Gott uns verabscheut für das, was wir sind. Aber wir leben weiter, Mrs.Burton, weil wir uns das Recht dazu verdienen. Wir leben in einer Welt des Hasses, und doch schaffen wir es zu lieben. Sie leben in einer Welt der Liebe, aber Sie hassen. Ich verstehe das nicht. Ich versteh es einfach nicht.«

Mrs.Burton funkelte sie an. »Wie können Sie es wagen, so mit mir zu sprechen?«

»Ich liebe Gwen. Ich würde mein Leben für sie geben. Wenn sie mich verlassen würde für einen dieser ›reizenden jungen Männer‹, auf die Sie so große Stücke halten, würde ich sie immer noch lieben. Wenn er grausam zu ihr wäre, würde ich sie aufnehmen und sie trösten und mein Möglichstes versuchen, um sie zu beschützen. Wenn sie zu ihm zurückgehen würde, würde ich sie weiterlieben. Und ich würde niemals, niemals so etwas zu ihr sagen wie Sie heute Abend. Wenn das Ihre Vorstellung von Liebe ist, dann will ich nichts damit zu tun haben.«

Sie zwang sich, abzubrechen, und ging zum Fenster. Die Straße war grau und leer. Alte Zeitungen lagen schlaff im Rinnstein. Die Luft über der Stadt war von öligem Gelb. Ihr war schlecht.

Die Stille hinter ihr wog schwer. Sie versuchte sich vorzustellen, was sie dachten, aber schaffte es nicht.

Ich hoffe, Gwen versteht es. Ich hoffe, ich habe ihr nicht alles kaputtgemacht.

Sie fühlte eine Hand an ihrem Gesicht.

»He«, sagte Gwen.

»Tut mir leid, Gwen. Ich konnte mich nicht mehr …«

»Ist schon gut. Ich liebe dich.«

»Nun gut«, sagte Tante Hermione, während sie ihr Garn aufrollte. »Ich denke, wir haben so ungefähr alles abgehandelt. Es war ein unterhaltsamer und erhellender Abend, aber ich habe eine frühe Sitzung mit einer Jungfrau, und ihr wisst ja, wie die sind. Kommst du, Stoner?«

»Ich lasse Gwen nicht allein«, sagte sie.

Mrs.Burtons Gesicht war weiß vor Wut.

Stoner wich nicht zurück.

»Ich gehe mit euch«, sagte Gwen. »Ich fühle mich hier nicht willkommen.«

»Wenn du dieses Haus heute Abend verlässt«, schnappte Mrs.Burton, »komm nicht zurück.«

Gwen wandte sich ihr zu. »Ich bin einunddreißig Jahre alt, Großmutter. Ich möchte gern, dass du verstehst, was Stoner mir bedeutet, aber ich habe nicht vor, darum zu betteln.«

Eleanor Burton war steif vor rechtschaffener Empörung. »Das wirst du bereuen, Gwyneth.«

»Wahrscheinlich werde ich das. Aber wenn ich bleibe, werde ich das auch bereuen. Also kann ich ebenso gut dorthin gehen, wo ich erwünscht bin. Es tut mir leid, dass es so sein muss, aber ich werde lieben, wen ich liebe, und ich beabsichtige nicht, mich deswegen schuldig zu fühlen.«

»Nun, erwarte aber nicht, dass ich –«

»Ich erwarte überhaupt nichts«, sagte Gwen. »Sobald ich eine Wohnung finde, lasse ich dich wissen, wo ich bin. Wenn du mich erreichen musst, kannst du das über Marylou im Reisebüro.«

»An deiner Stelle würde ich nicht darauf warten«, sagte Mrs.Burton.

Gwen verließ wortlos den Raum.

»Eleanor, Eleanor«, gluckste Tante Hermione, als sie sich ihre Tasche über die Schulter hängte, »an Ihrer Stelle würde ich mal ernsthaft in mich gehen und nachdenken.« Sie schüttelte liebevoll Mrs.Burtons Handgelenk. »Ich weiß ja, dass Sie Löwe sind, aber versuchen Sie doch mal, nicht auch noch ein Esel zu sein.«

Die Tür knallte hinter ihnen zu.

»Das Ärgerliche an bigotten Menschen«, murmelte Tante Hermione auf ihrem Weg durchs Treppenhaus, »ist, dass sie so unoriginell sind. Ich frage mich, ob Freud etwas zu dem Thema zu sagen hatte.«

Stoner konnte nicht antworten.

»Ich hatte schon immer den Verdacht«, fuhr Tante Hermione fort, »dass es klug von dir war, dich mitten in der Nacht von deiner Familie wegzuschleichen, anstatt das hier durchzumachen. Der heutige Abend hat mich davon überzeugt, dass ich richtig lag.«

Der Boden fühlte sich an, als wäre er übersät mit zerbrochenen Dingen. Zerbrochenem Vertrauen, zerbrochener Liebe, zerbrochenem …

Gwen saß zusammengesunken am Fuß der Treppe, die Arme um die Knie geschlungen. Eine weiße Linie umrahmte ihre Lippen. Ihre mahagonifarbenen Augen waren grau. Ihr Haar war von einer pudrigen Stumpfheit.

Sie sieht aus, dachte Stoner überflüssigerweise, als hätte man sie gebleicht. Sie kniete sich neben sie. »Alles in Ordnung mit dir?«

Gwen sah auf. »Oh Gott, Stoner. Was werde ich bloß machen?«

Kapitel 2

Nach abschließender Zählung waren auf dem Sky Harbor-Flughafen von Phoenix, Arizona Mitte August um zwölf Uhr mittags achthundertneunundfünfzig Reisende ohne Sonnenbrille aus einer Trans-Continental Airlines-Maschine gestiegen. Niemandem ist das je zweimal passiert.

Mitte August um zwölf Uhr mittags lässt die Wüstensonne einen Schauer silberner Nadeln herabregnen. Der Himmel brennt weiß. Die Gebirge, die die Stadt umgeben – Maricopas, White Tanks, Superstitions – werden zu flachen, staubigen, zweidimensionalen Hügeln. Wüstenpflanzen erbleichen. Alle kriechenden, krabbelnden und sich ringelnden Geschöpfe kapitulieren vor der Hitze, verbergen sich. Die Luft flimmert am Horizont und fließt in trägen Schwaden über den Asphalt des Flughafens. Reifen werden weich. Der Geruch von schmelzendem Teer liegt schwer über dem Boden. Glitzersterne aus Licht prallen von beweglichen Glas- und Chromoberflächen. Die Bewohner von Phoenix drängen sich in ihren Wohnungen um die Klimaanlage und warten auf die Zeit der langen Schatten.

Der Sky Harbor-Flughafen von Phoenix, Arizona ist Mitte August um zwölf Uhr mittags eine weißglühende Hölle.

Stoner zuckte zurück. Die Muskeln rund um ihre Augen verkrampften sich. Ihre Pupillen schmerzten. Sie tastete sich stolpernd zu einem Sessel in der Wartehalle und setzte sich. Rings um sie ergoss sich ein stetiger Strom von beweglichen dunklen Umrissen. Ich bin blind, dachte sie. Geblendet. Blinded by the Light, hallelujah.

Na ja, auch wenn sie selbst nichts sehen konnte, Stell würde sie sehen. Aber niemand trat aus den Schatten hervor. Stoner kaute nervös auf ihrer Unterlippe.

Vielleicht will sie uns gar nicht hierhaben.

Vielleicht haben wir den falschen Tag erwischt.

Oder den falschen Flughafen.

Was ist, wenn sie sich gar nicht blicken lässt?

Oder wenn sie draußen wartet?

Nein, sie sagte drinnen. Drinnen, im TCA-Warteraum. Ich bin sicher, dass sie das gesagt hat.

Vielleicht hat TCA zwei Warteräume.

Blödsinn, Fluglinien haben keine zwei Warteräume.

Fluglinien haben Dutzende von Warteräumen. Habe ich ihr die richtige Flugnummer gegeben? Sei nicht albern, wenn sie mich verpasst, lässt sie mich eben ausrufen.

Vielleicht sollte ich sie ausrufen lassen.

Sie machte sich daran aufzustehen.

Aber ich müsste ein Telefon finden, um sie ausrufen zu lassen, und in der Zwischenzeit könnte sie auftauchen und denken, dass sie sich geirrt hat, und weggehen.

Sie setzte sich wieder hin.

Ich hätte alles selbst organisieren sollen. Ich hätte es nicht Marylou überlassen sollen. Ich hasse es, wenn andere Leute meine Reise organisieren. Ich meine, woher soll ich wissen, ob sie keinen Mist gebaut haben? Wenn ich Mist baue, habe ich wenigstens eine ungefähre Ahnung davon, an welchem Punkt Mist passiert ist. Ich bringe Daten und Zeiten durcheinander. Verbindungen und Zielorte bringe ich nicht durcheinander. Wenn ich alles selbst reserviert hätte und Stell sich nicht blicken ließe, würde ich wissen, dass ich den falschen Tag oder die falsche Zeit erwischt habe, aber am richtigen Ort bin. Was mehr ist, als ich jetzt weiß.

Marylou sagt, wenn Reiseveranstalterinnen ihre eigenen Reisen buchen, ist das, wie wenn Psychotherapeuten Familienmitglieder und enge Freunde behandeln. Oder wie wenn Rechtsanwälte sich in einem Prozess vor der Anwaltskammer selbst vertreten. Marylou sagt …

Marylou verreist nie. Marylou hasst reisen.

Offensichtlich verfügt Marylou über eine Erkenntnis, die ich nicht habe und die ich mir partout auf die harte Tour aneignen muss.

»Hol’s der Teufel«, sagte eine vertraute Stimme, »du hast besorgt ausgesehen, als ich dich das letzte Mal sah, und du siehst immer noch besorgt aus.«

Sie blinzelte in das gleißende Licht. »Stell?«

»Jedenfalls nicht Dale Evans.« Ein langer dünner Schatten pflanzte sich vor ihr auf, die Hände in den Hüften, und lachte. »Ich könnte wetten, du hast allen Ernstes geglaubt, ohne Sonnenbrille durchzukommen.«

»Ja«, sagte Stoner mit einem schiefen Grinsen, »hab ich.«

»Schön, lässt du dich jetzt endlich umarmen? Oder willst du da sitzen bleiben und mir das Herz brechen?«

Zu ihrer großen Verlegenheit fühlte sie, wie ihr die Tränen kamen. »Gott, ich hab dich so vermisst«, sagte sie und warf ihre Arme um die ältere Frau.

»Ich dich auch, Kleines.« Stell drückte sie an sich. »Hab schon gedacht, ihr kommt nie an.«

Stoner legte den Kopf an ihre Schulter. »Du duftest immer noch nach frischem Brot.«

»Das sollte ich wohl. Ich backe es schließlich.« Sie hielt Stoner ein Stück von sich weg und besah sie sich von oben bis unten. »Du bist so ziemlich die Alte geblieben. Wo ist deine Liebste?«

»Sammelt die Koffer ein. Sie kommt dann nach draußen.«

Stell griff nach Stoners Handgepäck. »Dann können wir uns ja Zeit lassen. Was du an Reisezeit einsparst, verlierst du wieder, wenn du auf dein verstreutes Gepäck wartest.« Sie ging voran Richtung Ausgang. »Hoffe, du hattest dich nicht zu sehr auf Timberline gefreut. Diesen Sommer geht alles ein bisschen drunter und drüber.«

»Mir macht das nichts. Ich war noch nie in der Wüste.«

»Ich muss zugeben«, sagte Stell, während sie mit langen Schritten weiterging, »es gab in den letzten vier Wochen Augenblicke, in denen ich meinen rechten Arm für eine Lungenfüllung Wyoming-Luft gegeben hätte. Aber Familie ist Familie, und du tust, was du musst.« Sie trat zurück, um Stoner als Erste durch die Tür gehen zu lassen. »Vorsicht. Diese Sonne ist mörderisch.«

Ein Schwall sengender Luft warf sie fast um. »Himmel!«

»Heiß genug, um Farbe zum Kochen zu bringen«, sagte Stell. »Bleib dicht bei mir, bis ich den Wagen gefunden habe. Wenn du auf dem Parkplatz verloren gehst, bist du in zehn Minuten krankenhausreif.«

Die Hitze des Pflasters brannte sich durch die Sohlen ihrer Schuhe. Sie blinzelte in die Sonne und schnappte nach Luft. »Das ist ja unfassbar.«

»Man gewöhnt sich dran.« Stell schlängelte sich durch die parkenden Autos hindurch. »In Spirit Wells hilft die Höhe. Tagsüber lässt du dir das Gehirn backen, aber du hast wenigstens die Garantie, dir nachts den Hintern abzufrieren.«

»Spirit Wells? Ich dachte, die Handelsstation wäre in Beale.«

»Beale ist das nächste Postamt. Spirit Wells war vor rund hundert Jahren irgendeine Art von Siedlung, und niemand weiß, warum sie es Geisterbrunnen nannten. Vielleicht ist das auch nur ein Gerücht. Ich jedenfalls hab bisher keine Spur von Städten oder Geistern oder Brunnen gesehen.« Sie blieb neben einem hellbraunen, rostigen, staubüberzogenen Chevy-Lieferwagen stehen, der schon bessere Tage gesehen hatte, allerdings vor sehr langer Zeit.

Stoner fasste nach dem Türgriff.

»Moment!« Stell schob schnell ihre Hand weg. Sie nahm ein großes Taschentuch aus ihrer Hosentasche. »Nimm das. Metall wird verdammt heiß hier draußen.«

»Alles ist heiß hier draußen.« Sie zog mit einem Ruck die Tür auf und ließ die stehende Luft herausfallen.

Stell schwang sich hoch auf den Fahrersitz und kramte im Handschuhfach. »Nimm die«, sagte sie und drückte ihr eine zerkratzte, angeschlagene Sonnenbrille in die Hand. »Sie ist nicht gerade schick, aber sie wird dir die Netzhaut retten.«

Stoner setzte die Brille auf und seufzte vor Erleichterung. »Wie geht’s deiner Cousine?«

»Scheint etwas besser zu sein«, sagte Stell, während sie den Motor anließ. »Sie wissen immer noch nicht, was mit ihr los ist. Fürchterliche Sache, sie schien von einem Tag auf den anderen auszutrocknen. Wär ja auch kein Wunder, bei dem Klima. Bis auf den Umstand, dass Claudine und Gil die Handelsstation seit über dreißig Jahren haben, und Claudines Familie schon vorher. Die Sommer in Arizona sind nicht gerade was Neues für sie.«

Sie prügelte den Rückwärtsgang rein, setzte zurück, wobei sie nur knapp einen gelben Mercedes verfehlte, und fuhr langsam auf die Rampe zu.

»Es gibt Gerüchte, dass oben im Norden der Reservation die gleiche Sorte Krankheit umgeht, was irgendeine Art Strahlung vermuten lässt. Vor allem, weil Anaconda und Kerr-McGee die Uranschlacke aus den Minen unter freiem Himmel abladen. Aber sie haben Claudine daraufhin untersucht und nichts gefunden. Tatsache ist, sie haben von Leukämie bis Extrauterinschwangerschaft absolut alles getestet – wobei Letzteres in ihrem Alter ein mittleres Wunder wäre.«

»Vielleicht ist es das Wasser«, überlegte Stoner. »Oder sogar das frische Gemüse. Wenn in dem Boden hier draußen irgendwas fehlt …«

»Nicht sehr wahrscheinlich. Gil zeigt keine Symptome. Jedenfalls haben sie sie zur Beobachtung dabehalten. Eine ziemlich hochgestochene Art zu sagen, dass die Ärzte nicht weiterwissen und einen schon mal bezahlen lassen, während sie’s rausfinden.«

Sie schnitt einem Flughafentaxi den Weg ab und blieb im Parkverbot stehen.

»Wer kümmert sich um Timberline?«, fragte Stoner.

»Ted junior und sein Schatz.« Stell lachte. »Ich bin sehr gespannt, wie gewisse Stammgäste damit klarkommen. Na ja, es dürfte die Spreu vom Weizen trennen.«

»Oh … magst du seinen Schatz?«

»Bis jetzt schon. Rick scheint ein netter junger Mann zu sein.« Sie warf Stoner einen wissenden Blick zu. »Hör auf, das Terrain zu sondieren. Du weißt genau, dass ich das völlig in Ordnung finde.«

»Tut mir leid. Wir hatten in letzter Zeit unsere Probleme.«

»Klar.« Stell tauchte auf dem Boden hinter dem Sitz nach einem Cowboyhut und setzte ihn auf. »Und, wie steht’s inzwischen?«

Stoner zuckte die Schultern. »Geht so. Gwen scheint nicht zu wissen, was ihr nächster Zug sein sollte. Ich glaube, sie hofft auf eine Versöhnung, aber bis jetzt hat sie noch nichts von ihrer Großmutter gehört. Es muss sie scheußlich bedrücken, aber das ist bei ihr manchmal schwer zu sagen. Sie ist besser im Verdrängen als ich.«

»Wahrscheinlich ganz gut, dass sie mal rauskommt. Hilft ihr vielleicht, die Dingen in neuem Licht zu sehen.« Sie trommelte mit den Fingern aufs Lenkrad. »Wie viel weiß ich offiziell? Ich will mich nicht gleich ins Fettnäpfchen setzen.«

»Sie weiß, dass ich’s dir erzählt hab. Das geht in Ordnung.«

»Ich könnte den unwiderstehlichen Drang haben, meine Meinung zu äußern.«

Stoner lächelte. »Deine Meinung ist immer willkommen.«

»Sag das mal meinem ewigliebenden Gatten. Er darf meine Meinung schon seit fünfunddreißig Jahren über sich ergehen lassen.«

Wenn Gwen nicht bald auftaucht, dachte sie, ist von uns nichts mehr übrig als Fett und Knochen. Das Führerhaus des Lastwagens fühlte sich an wie ein Hochofen.

»Macht es dir Spaß, hier den Laden zu schmeißen?«, fragte sie.

»Es ist eine Herausforderung.« Stell öffnete ihre Tür und streckte ein Bein auf dem Trittbrett aus. In dieser Pose sah sie ein bisschen wie eine in die Jahre gekommene Rodeo-Queen aus. »Die meisten Indianer vertrauen uns genug, um weiterhin dort zu kaufen, schließlich sind wir mit Gil und Claudine verwandt, und Verwandtschaft zählt viel bei ihnen. Aber es ist schwer zu vergessen, dass wir sichtbare Vertreter einer Rasse sind, die sie seit vierhundert Jahren fürchterlich bescheißt. Das macht einen wohl übervorsichtig und übersensibel.« Sie warf Stoner einen Blick zu. »Warum erklär ich Idiotin dir das eigentlich? Du weißt, wie es ist, gehasst zu werden, ohne dass du was dafür kannst.«

»Ach, Stell, ich bin froh, dass wir uns entschlossen haben zu kommen. Es wird Gwen guttun, mit dir zusammen zu sein.«

Stell johlte. »Das ist das erste Mal, dass mir jemand einen guten Einfluss auf die Jugend zutraut.« Sie lugte unter der Krempe ihres Hutes hervor und wedelte mit dem Daumen in Richtung des Schalters. »Dreh dich nicht um. Jetzt gehen die Ferien richtig los.«

Gwen kam rückwärts durch die Tür, schwankend unter dem Gewicht ihres Gepäcks.

Stoner hechtete aus dem Wagen.

»Himmel!«, rief Stell. »Muss wohl Liebe sein.«

Gwen ließ einen Koffer fallen und hielt sich die Hand über die Augen. »Die wollen uns umbringen!«, keuchte sie. »Hallo, Stell.«

»Selber hallo. Komm, quetsch dich neben mich. Eng, aber besser, als hinten in der Sonne zu sitzen.«

Stoner warf die Koffer auf die Ladefläche. »Soll ich die festbinden?«

»Allerdings. Wir haben noch ein ordentliches Geholper vor uns bis Spirit Wells.«

Stoner sicherte die Koffer und kletterte auf den Sitz neben Gwen. Gwen langte rüber und wackelte an ihrer Sonnenbrille. »Ganz schön kerlig.«

»Lass das«, sagte Stoner und gab ihr einen Klaps auf die Hand.

Stell knallte ihre Tür zu, drehte die Klimaanlage voll auf und brachte den Motor auf Touren. »Haltet euch an euren BH-Trägern fest, Mädels. Es geht los.«

»Wie weit ist es?«, fragte Gwen, als Stell über die Rampe hinausholperte.

»Ungefähr dreihundertfünfzig Kilometer Luftlinie. Wir sind am späten Nachmittag zu Hause.«

Stoner rechnete. »Dreihundertfünfzig Kilometer – das sind fast vier Stunden.«

»Mehr oder weniger. Wir haben hier draußen eine gesunde Respektlosigkeit gegenüber Geschwindigkeitsbegrenzungen. Ich muss in Beale noch schnell was einkaufen. Dauert nur ’ne Minute.«

»Toll«, sagte Gwen, »dann werd ich mir noch einen niveaulosen Schmöker besorgen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es so was bei euch gibt.«

»Auf keinen Fall. Wir lesen hier draußen nur die Großen Werke der Westlichen Welt.«

Wolkenkratzer, Monolithe aus Beton und Glas, säumten die Straße in hässlicher Nüchternheit. Familienkutschen und Taxis wälzten sich zentimeterweise auf die Ampeln zu, die Motoren knurrten Drohungen, die Fahrer tauschten finstere, feindselige Blicke. Fußgänger liefen im Zickzack hindurch. Teenager jagten mit wilder und lebensgefährlicher Hingabe auf Skateboards vorbei. Busse verpesteten die Luft. Nur gelegentlich unterbrach ein Fleckchen Rasen, ein Stück Kolonial- oder viktorianische Architektur die Eintönigkeit und ließ einen Hauch von Atmosphäre aufblitzen.

»Was ist euer erster Eindruck?«, fragte Stell.

»Es ist sehr sauber«, sagte Stoner höflich.

Stell lachte. »Ich werd euch Phoenix erläutern: Fünf von den sechs höchsten Gebäuden der Stadt sind Banken. Das sechste ist das Hyatt Regency-Hotel.«

»Das ist alles, was du weißt?«, fragte Gwen.

»Das ist alles, was ich wissen muss.« Sie bremste vor einer roten Ampel und kurbelte rasch das Fenster herunter, um die sich trotz der Klimaanlage sofort stauende Hitze herauszulassen.

Das ist also Arizona. Puebloland. Viehland. Goldland. Indianerland. Kaktusland.

Die einzigen Pueblos, die sie sehen konnte, waren fünfzehnstöckige Wohnhäuser. Es gab kein Vieh, das zum Markt getrieben wurde, nur teure Autos mit angeberischen Spezialnummernschildern. Die einzigen Indianer waren zwei kleine Kinder in Faschingsmontur. Und anstelle von Kakteen gab es Palmen, die so künstlich aussahen wie Requisiten für ein Zwanziger-Jahre-Musical.

Sie beobachtete die Leute, die vor dem Lieferwagen die Straße überquerten. Beliebige Leute in einer beliebigen Stadt – ein bisschen abgestumpft, als wollten sie lieber nicht zu viel sehen oder hören oder denken. Als hätten sie es irgendwie geschafft, sich selbst zu löschen. Auf einer Typische-Großstadt-Skala von eins bis zehn würde sie Phoenix eine Sieben geben.

Das ist provinziell, wies sie sich zurecht. Es gibt Tausende, vielleicht Millionen von Menschen, die Großstädte wirklich mögen. Die es genießen, oder zumindest nichts dagegen haben, Schlange zu stehen. Die in Lärm und Hektik aufblühen. Deren Vorstellung von der Hölle ein kleines Kaff ohne 24-Stunden-Supermärkte ist.

»Stoner«, sagte Gwen, »du knirschst mit den Zähnen.«

»’tschuldigung.«

»Wird dir schlecht?«

»Ich hoffe nicht.«

»Willst du noch ein Dramamin?«

Sie schüttelte den Kopf. Zu wenig Schlaf, sie konnte kaum noch klar denken. Zum Teufel mit Marylou. Kein normaler Mensch würde freiwillig um vier aus dem Bett stolpern, sich um fünf mit dem Logan Airport anlegen, dann den halben Kontinent und drei Zeitzonen überfliegen, um sich von Flugzeugmahlzeiten und der Mittagsstunde in Phoenix drangsalieren zu lassen – und dabei noch versuchen, die Landschaft zu genießen. ›Nimm den Tag noch mit‹, also wirklich. Wenn mal wieder ein Tag mitzunehmen war, konnte Marylou Kesselbaum ihn gerne selbst aufsammeln.

»Was gibt’s Neues in Boston?«, fragte Stell, als sie durch einen Vorort Richtung Norden fuhren. Spanische Adobeziegelhäuser mit roten Dächern, rasensprengergrünen Vorgärten, wartenden Grillstellen und Kühlschränken voll eiskaltem Weißwein.

»Tante Hermione ist in die Hexenrunde aufgenommen worden. Sie haben ihr den Nachweis in Kräuterheilkunde schließlich erlassen. Ich weiß nicht, warum, aber irgendwie schafft sie es nicht, die Kräuter auseinanderzuhalten.«

»Sie hat aber niemanden vergiftet, oder?«

»Noch nicht«, sagte Gwen.

»Na, das ist doch mal ’ne gute Nachricht.«

»Im Reisebüro herrscht Saure-Gurken-Zeit. Marylou ist jetzt in einer Selbsthilfegruppe gegen Diskriminierung von Dicken.«

»Marylou ist eine Inspiration für uns alle«, sagte Stell.

»Jetzt führen wir eine Liste von Unterkünften, in denen Dicke diskriminiert werden, und buchen dort prinzipiell nicht mehr.« Sie lachte. »Mit Marylous und meinen politischen Überzeugungen zusammengenommen katapultieren wir uns irgendwann einfach aus dem Geschäft.«

»Also«, sagte Stell, »solltest du feststellen, dass ich in Timberline irgendwas falsch mache, wäre ich dankbar für einen Hinweis.«

»Glaub mir«, sagte Stoner, »an deiner Küche ist nichts Unterdrückerisches.«

»Bis auf den Salat«, sagte Gwen, »du dürftest wohl den jämmerlichsten Salat der Welt servieren.«

Stell brummte. »Sag das unserem Lieferanten. Ich versuche seit Jahren, ihn zu fassen zu kriegen. Ich werde den Verdacht nicht los, dass sie das Zeug in Laramie auf ein Nebengleis schieben und ein, zwei Wochen rumliegen lassen. Hab schon überlegt, selbst welchen anzubauen, aber irgendwie liegt mir Gärtnern nicht.«

Sie überquerten ein trockenes Flussbett und waren plötzlich in der Wüste. Hier und da klammerte sich etwas Grünholz oder ein Kreosotbusch am steinigen Boden fest. Saguaro-Kakteen ragten hoch wie dornige Telefonmasten. Gelblich braune Felsblöcke, verwittert vom Wind und bar jeder Vegetation, reckten sich einem endlosen Himmel entgegen.

»Dies ist die Salt River-Indianerreservation«, sagte Stell. »Pima und Maricopa. Die Pima waren ein wilder Stamm. Jetzt leben sie Tür an Tür mit dem reichen weißen Gesindel, und es gibt kein bisschen Ärger. Das zeigt, wie man ihnen den Schneid abgekauft hat.« Sie wies auf das trockene Flussbett. »Dieser verdorrte Schutt hier war mal der Salt River, bevor die Anglos ihn gestaut haben. Wenn hier irgendwann doch mal ’ne Revolte losgeht, sollten sie als Erstes die Dämme in die Luft jagen. Das Wasser hier in der Gegend hat Befreiung echt nötig.«

Sie blickte zu ihnen rüber. »Hört euch das an, ich stänkere schon wieder rum. Jedes Mal, wenn ich nach Phoenix komme, gehe ich durch die Decke. Es macht mich so verdammt wütend, und ich schäme mich. Aber ich sollte nicht wütend werden, jetzt, wo ich meine Mädchen wieder bei mir habe.«

»Danke, Stell«, sagte Gwen ernsthaft, »mir wird rundherum warm, wenn du das sagst.«

»Das letzte Mal, als mir rundherum warm wurde«, sagte Stell, »war es eine Hitzewallung.« Sie schob sich mit dem Zeigefinger den Hut hoch. »Mist, ich weiß auch nicht, warum es mir so schwerfällt, zu sagen, was ich sagen will. Ihr zwei habt mir gefehlt, und das ist ’ne Tatsache. Auch wenn ihr mich letzten Sommer fast umgebracht habt vor Sorge.«

»Das tut mir wirklich leid«, sagte Gwen. »Ich –«

Stell unterbrach sie. »Ich will keine Entschuldigungen. Hoffe nur, dass ihr nicht vorhabt, mich dieses Jahr wieder solche Ängste ausstehen zu lassen.«

»Ich werd versuchen, Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen«, sagte Gwen.

»Um dich bin ich gar nicht so besorgt.«

Stoner sah sie an. »Ich?«

»Ja, du.«

»In was für Schwierigkeiten könnte ich hier draußen schon kommen?«

Stell schüttelte den Kopf. »Du wirst schon was finden. Ich traue dir viel zu.«

Das Land stieg sanft an. In der Ferne schmiegte sich eine Bergkette dicht an die Erde. Kleine, graugrüne Büsche standen verstreut wie grasende Schafe. Der Himmel war von einem blassen, verwaschenen Blau.

Es ist schön, dachte Stoner.

Schön und grausam.

***

Großmutter Adlerin schwebte hoch über dem Colorado-Plateau und ließ sich vom Wind tragen. Ihre Zeit war nah. Seit Tagen schon hörte sie Masaus sanfte Stimme, die sie zu ihren Ahnen heimrief. Die Sonne tat ihren müden Knochen gut, diesen Knochen, in denen die Winterkälte saß und sie selbst an brüllend heißen Sommertagen nicht verließ. Sie hatte ihr letztes Niman Kachina erlebt, mit den Tänzen, den Zeremonien und der Heimkehr der Hopi-Geister zu den Heiligen Bergen. Bald würde auch sie sich zur Ruhe legen und wieder mit den Geistern ihrer abgeschlachteten Jungen vereint sein. Ihre Knochen würden zu Pfeifen werden, auf denen ein Dineh-Kind spielen würde. Ihre Federn, ihre langen, schönen Federn, die das Lied des Windes sangen, würde man sammeln für Gebetsstäbe, um die Bitten des Stammes über die Regenbogenbrücke zu den Ohren der Geister zu tragen. Der Gedanke gefiel ihr.

Nun nahm sie Abschied. Abschied von den weiten Schluchten und Hügeln und Mesas ihrer irdischen Heimat. Abschied von den tiefen Felseinschnitten, in denen während der Frühlingsregenfälle schokoladenbraune Wassermassen schäumten. Abschied von den hohen Sandsteingipfeln, den windumbrausten Bergen, in denen sie ihre Nester gebaut und ihre Jungen aufgezogen und sich mit ihrem faulen, übellaunigen Gefährten gezankt hatte.

Sie lächelte vor sich hin, als sie an den Alten Adler dachte, ihre Streitigkeiten und ihre Paarungen, ihre Jagdflüge, das Leuchten des Sonnenlichts zwischen seinen Flügelspitzen, seine starke Gegenwart in den Stunden der Dunkelheit. Aber sie erinnerte sich auch an das weißblaue Aufblitzen aus dem Gewehr des Wilderers, das den schönen Körper zerschmetterte, und daran, wie seine Federn durch die stille Luft zu Boden sanken, an das Echo des Schusses, der ihr Herz zerspringen ließ, an die langen, schweigenden Jahre, die folgten.

Sie würde ihn bald sehen, ihren Alten, und sie würden wieder zur Sonne aufsteigen, emporgehoben von den Geistern der Winde, um zwischen den Wolkenleuten zu spielen. Wieder würden sie sich paaren und streiten. Sie hatte die Paarungen vermisst, aber die Streitereien hatten ihr noch mehr gefehlt.

Der Wind-Fluss trug sie über Indianerland, über zusammengedrängte Lehmhütten und kleine, aus zwei Räumen bestehende Farmhäuser, über Wohnwagen-Abstellplätze und etwas abseits stehende hogans, über uralte Ruinen. Er trug sie über Pfirsichpflanzungen und dunkelgrüne Reihen von Hopimais. Über die misshandelten Windungen des San Juan River, die scharfen Biegungen und tief eingeschnittenen Schluchten des Colorado. Über die Abraumhalden der Uranminen, die die furchtbare Graue Krankheit brachten. Über die schwarzgefiederten Kernkraftwerke, die die heiligen Vier Ecken entweihten.

Ihr Herz fühlte ein Ziehen, und sie wandte ihre Aufmerksamkeit nach Süden. Neugierig flog sie langsam über das Dorf-das-seinen-Namen-vergessen-hat, vorbei an dem rauen Schiefer der Long Mesa, vorbei an der Dineh-Rinne und am Big Tewa, über dem die Sonne aufgeht. Die Handelsstation von Spirit Weils lag noch in der Nachmittagshitze. Ihre empfindlichen Ohren nahmen den grölenden Fernseher aus Larch Begays Texaco-Tankstelle wahr.

Alles schien wie immer.

Sie zog einen Bogen nach Westen über die Farbige Wüste, auf der Suche nach … sie war nicht sicher, wonach. Ihre Augen nahmen eine schwache Bewegung im Schatten eines Felsens wahr. Klapperschlange. Eine Delikatesse, aber sie hatte nicht mehr oft Hunger. Glück gehabt, Bruder Schlange, wohl unvorsichtig geworden in der Hitze. Sie stieß einen Schrei aus, um ihn in seine Grenzen zu weisen, und zog einen noch größeren Kreis.

Als sie wieder die alte Stadt überflog, erspähte sie etwas, das ihr vorher entgangen war. Ein Zweibein, eine alte Indianerin. Sie hatte noch nie eine so alte Frau gesehen. Älter als die Zedern. Älter als die verfallene Stadt. Vielleicht sogar älter als die Long Mesa.

Zweibein schaute nach Süden, wartete.

Adlerin glitt etwas näher heran. Vorsicht, es könnte eine Falle sein, warnte ihre Erfahrung. Vielleicht ist das alte Zweibein auf der Jagd nach schönen, frischen Federn für ihre Gebetsstäbe.

Ein leichtes Schaudern durchfuhr sie. In einer Zeremonie geopfert zu werden mag eine Ehre sein, ein Vergnügen ist es jedenfalls nicht.

Die Neugier nagte an ihrem Misstrauen. Sie kreiste noch einmal.

Zweibein sah auf. Ihre Blicke trafen sich.

»Ya-ta-hey, Großmutter Kwahu.« Zweibein sandte ihr Gedanken zu.

»Ya-ta-hey, Großmutter.« Adlerin erwiderte den Navajo-Gruß, hielt aber sicheren Abstand.

»Etwas wird hier geschehen«, sandte Zweibein. »Fühlst du es?«

»Alles, was ich dieser Tage fühle, ist der Winter in meinen Knochen. Ich halte einen Zwiegesang mit Masau seit der Zeit des Saatmondes.«

Zweibein brummte Zustimmung. »Dies hier wird mein letzter Kampf und meine Heimkehr.«

»Kampf?« Großmutter Kwahu schwebte in die Höhe und ließ sich auf einem Windstoß wieder hinabgleiten. »Alte Frau, dein Verstand ist schon heimgekehrt. Ein Sack voll morscher Knochen, wie du es bist, gibt einen armseligen Speer zum Kampf.«

»So oder so«, sagte Zweibein, »vielleicht hat diese alte Welt doch noch eine Überraschung für dich auf Lager.«

»Oder noch eine Enttäuschung für dich.« Adlerin wandte sich zum Aufbruch.

Die alte Frau hob eine Hand zum Abschied. »Wenn du deinen Freund Masau siehst, sag ihm, dass Siyamtiwa zu ihm kommen wird, wenn das hier vorbei ist.«

Sie schnaubte entrüstet. »Der Wächter der Unterwelt nimmt von abgerissenen Indianerinnen keine Anordnungen entgegen.«

»Der Wächter der Unterwelt ist Siyamtiwa noch nicht begegnet.«

Großmutter Adlerin schlug mit ihren arthritischen Flügeln und zog eine Schau ab, indem sie an einem Sonnenstrahl hochflog.

Der Austausch von Beleidigungen hatte sie verjüngt. Vielleicht lässt mich Masau doch noch ein Weilchen länger bleiben, dachte sie und schlug einen Salto. Ich würde gerne noch einen letzten Kampf erleben.

In ihrer Aufregung übersah sie beinahe den Lieferwagen, der in einer Staubwolke die Reservationsgrenze überquerte.

***

Sie spürte es ungefähr ab dem Moment, als sie an dem von Kugeln durchlöcherten Schild vorbeifuhren, das den Rand der Navajo-Reservation kennzeichnete:

KEIN ALKOHOL

KEINE SCHUSSWAFFEN

HIER GILT STAMMESGESETZ

ANWEISUNGEN DER STAMMESPOLIZEI SIND ZU BEFOLGEN

Eine merkwürdige, gebündelte Ruhelosigkeit, als ob all ihre Nervenimpulse sich in ihrem Magen sammelten.

Es war wahrscheinlich eine verspätete Reaktion auf den Flug, sieben Stunden ›Sardine spezial‹, eingezwängt in einen Sitz, der offenbar für Schoßtiere konstruiert war.

Oder es lag an der Luft, ausgedörrt wie in einem Wäschetrockner.

Oder am Licht, das jetzt durch die schrägstehende Abendsonne aufdringlich golden war.

Oder an der Art, wie der Wind den Staub aufwirbelte und tanzen ließ.

Oder vielleicht an der Landschaft, der endlosen Leere, dem Boden, der sich auf beiden Seiten der Straße erstreckte, so kahl, als ob eine Flutwelle darübergefegt wäre und das Land freigeschrubbt hätte von Salbeigestrüpp und Bäumen und Büschen und allen anderen Lebensformen, die hier noch zu existieren versuchten.

Nach Westen hin erstreckten sich niedrige Hügel aus gepresstem Ton und Schiefer, voll purpurner Schatten, aufgefaltet, von tiefen Rinnen durchschnitten, dabei weich wie Schlagsahne. Im Osten Berge. Im Norden die Silhouetten von Mesas, die sich vor dem Himmel abzeichneten.