Storytelling - Petra Sammer - E-Book

Storytelling E-Book

Petra Sammer

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Beschreibung

Storytelling – für Kreative in Marketing und PR - Behandelt die Grundlagen und neue Entwicklungen wie visuelles und transmediales Storytelling, Data Storytelling sowie den Einsatz von KI-Tools für das Erzählen im Unternehmen - Ihr Kreativschub: mit Kreativitätstechniken und inspirierenden Beispielen zu starken Stories - Das Grundlagenwerk für Kommunikationsprofis in 3., aktualisierter und erweiterter Auflage - Unterhaltsam und fesselnd geschrieben, mit vielen Praxistipps und Checklisten  Storytelling hat sich längst als wirksames Kommunikationsinstrument in Marketing und PR etabliert. Dieses Grundlagenbuch, erstmals 2014 erschienen, gehört zu den Wegbereitern des Storytellings im deutschsprachigen Raum. Petra Sammer, Kommunikationsberaterin und Kreative, demonstriert mitreißend, wie man einprägsame Unternehmens-, Marken- und Produktgeschichten erzählt. Sie stellt legendäre Kampagnen und aktuelle Beispiele vor und zeigt Schritt für Schritt, wie überzeugendes Storytelling gelingt. Warum Storytelling? Um Aufmerksamkeit zu wecken, komplexe Botschaften verständlich zu vermitteln und Vertrauen in Marken, Produkte und Unternehmen zu schaffen. Fesselnde Geschichten entwickeln Die wichtigsten Bausteine, Mechanismen und Erfolgsformeln für erfolgreiche Geschichten kennen und souverän nutzen. Die beste Geschichte finden Durch Kreativtechniken und Story Workshops zu wirkungsvollen Geschichten gelangen. Kreativ erzählen mit KI Mit ChatGPT & Co. die Core Story, den Konflikt und die Helden herausarbeiten. Core Stories & Zukunftsnarrative Wie Marken und Unternehmen erfolgreich Werte vermitteln und Zukunftsbilder prägen. Die dunkle Seite des Erzählens Verschwörungstheorien aufdecken und als Storyteller Verantwortung übernehmen. Von der Story zum Story-Universum Visuelles Storytelling, Data Storytelling, immersives Storytelling – moderne Erzählformen in PR und Marketing.  

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 534

Veröffentlichungsjahr: 2025

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3., aktualisierte und erweiterte Auflage

Storytelling

Grundlagen, Best Practices und kreative Impulse

Petra Sammer

Petra Sammer

Lektorat: Ariane Hesse

Korrektorat: Sibylle Feldmann, www.richtiger-text.de

Satz: III-satz, www.drei-satz.de

Herstellung: Stefanie Weidner

Umschlaggestaltung: Michael Oréal, www.oreal.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN:

 

Print

978-3-96009-238-4

PDF

978-3-96010-886-3

ePub

978-3-96010-887-0

3., aktualisierte und erweiterte Auflage 2025

Copyright © 2025 dpunkt.verlag GmbH

Wieblinger Weg 17

69123 Heidelberg

E-Mail: [email protected]

Dieses Buch erscheint in Kooperation mit O’Reilly Media, Inc. unter dem Imprint »O’REILLY«.

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Es wird darauf hingewiesen, dass die im Buch verwendeten Soft- und Hardware-Bezeichnungen sowie Markennamen und Produktbezeichnungen der jeweiligen Firmen im Allgemeinen warenzeichen-, marken- oder patentrechtlichem Schutz unterliegen.

Alle Angaben und Programme in diesem Buch wurden mit größter Sorgfalt kontrolliert. Weder Autorin noch Verlag können jedoch für Schäden haftbar gemacht werden, die in Zusammenhang mit der Verwendung dieses Buches stehen.

Inhalt

Vorwort zur 3. Auflage

1Willkommen, Storyteller

Geschichten überall

Warum Storytelling?

Hungrig nach Geschichten

Dieses Buch ist für Sie

2Definiere Storytelling

Geschichten erkennen

Geschichte trifft Geschichte

Historie des Storytellings

Narrativ oder Narration

Storytelling für Marketing und PR definieren

3Wie Geschichten wirken

Mentales Holodeck

Eingeschrieben ins Gehirn

Sozialer Kitt

Wertschöpfung

Glaubwürdigkeit und Authentizität

Wirkdimensionen des Storytellings

4Die Bausteine einer guten Geschichte

Erfolgsbausteine des Storytellings

Regelbruch mit klassischem Marketing

5Die Core Story

Goldene Kreise

Psychologische Ecken

Plot versus Storyline

Core Story für verschiedene Erzählebenen

6Das narrative Unternehmen

Storytelling als Führungsprinzip

Wie Storytelling das Unternehmen prägt

Sinnstiftende Stories finden

7Helden der Story

Der Ur-Mythos

Die Superkraft

Exemplarisches Erzählen

Heldenschmiede

Rollenspiele

Helden im Journalismus

8Drama, Baby!

Wo die Story beginnt

Spannungsbogen

Über Erwartbares und Unerwartetes

Die dunkle Seite des Erzählens

9Mehr Gefühl, bitte

Wenn das Reptiliengehirn zuschnappt

Ins Gesicht geschrieben

Emotional werden – auf Knopfdruck

Instrumente des emotionalen Storytellings

10Mit Bildern erzählen

Schnell ins Gehirn

Die Sprache der Bilder

Narrative Bilder

Mit Daten erzählen

11Geschichten im Netz erzählen

Das Ende des traditionellen Erzählens

Das Story-Universum

Erzählen im Social Web

Innovative Formen des Erzählens

12Kreativprozess Storytelling

Geschichten aus dem Hut zaubern

Der Story-Workshop

Kreativtechniken für Storyteller

Kreativ erzählen mit KI

13Geschichten von morgen

Wie wir uns die Welt erzählen

Storytelling gegen die Klimakrise

Storytelling für die Demokratie

Storytelling in der Kritik

Das Ende vom Anfang

Literaturliste

Index

Über die Autorin

Kolophon

Vorwort zur 3. Auflage

»The worst fault a salesman can commit is to be a bore.«

– David Ogilvy, Werber

Werbung, Marketing und PR haben sich in den letzten 100 Jahren kaum geändert. Bis heute gilt das Prinzip, das der Werbetexter David Ogilvy formulierte: »Wer verkaufen will, der muss auffallen.« Und in den 30 Jahren, in denen ich in der Kommunikationsbranche tätig bin, ging es immer und immer wieder um die gleiche Frage: Wie weckt man die Aufmerksamkeit der Zielgruppe für das eigene Produkt, die eigene Marke, das eigene Unternehmen oder das eigene Anliegen? Die Grundregeln der Persuasion haben sich nie geändert, und doch beantwortet jede Generation diese Frage neu.

Das gilt auch für die Kunst des Storytellings. Die Art und Weise, gute Geschichten in Marketing und PR zu schreiben, ist unverändert geblieben. Die Regeln für erfolgreiches Storytelling sind dieselben wie vor 100 Jahren. Die Agentur, der ich den Großteil meiner Karriere verdanke, feierte 2023 ihr 100-jähriges Bestehen, und Georg Ketchum, der 1923 in Pittsburgh den Grundstein für das internationale Agenturnetzwerk Ketchum legte, wusste als Journalist genau, was es braucht, um eine aufmerksamkeitsstarke Story zu formulieren.

Doch die Instrumente, Formate und Wege, die diesem Storytelling zur Verfügung stehen, haben sich in den letzten zehn Jahren seit der ersten Veröffentlichung dieses Buchs, grundlegend geändert. Als Kommunikationsberaterin hatte ich mich immer auch als »Erzählerin« verstanden. Doch erst 2010 kam ich beruflich mit dem Fachbegriff »Storytelling« in Berührung. Fasziniert stellte ich fest, dass sich vieles, das ich im Rahmen meines Studiums der Filmphilologie gelernt hatte, auch auf Marketing und PR anwenden ließ. Die erste Ausgabe dieses Buchs entstand 2014 daher unter dem Eindruck, Marketing und PR mit den kreativen Mitteln des Geschichtenerzählens zu bereichern. Der Fokus der zweiten Auflage lag dann auf Formaten und Kanälen. Digitale Netzwerke und soziale Medien etablierten sich als effiziente Kommunikationswege, die neue Formen des Erzählens erforderten. Heute, zehn Jahre nach Ersterscheinen meines Buchs, stellt sich allerdings die Frage, ob dieses Basiswissen überhaupt noch gebraucht wird.

Daniel Kehlmann, Autor des Bestsellerromans Die Vermessung der Welt, wurde 2020 eingeladen, an einem Experiment teilzunehmen und mit dem Prototyp eines KI-Programms gemeinsam eine Kurzgeschichte zu schreiben. Kehlmann brach den Versuch ab, denn enttäuscht musste er feststellen, dass der Computer zwar nette Sätze formulieren konnte, die allerdings ohne Intension und ohne »Seele« formuliert waren. Nur vier Jahre später haben sich Text-, Chat-, und Bildprogramme mit KI massiv weiterentwickelt. Tagtäglich sammeln wir heute Erfahrungen, was mit dieser neuen Technologie möglich ist – und was nicht. Und nicht nur Autoren wie Daniel Kehlmann sind mittlerweile fasziniert, wie hilfreich die Zusammenarbeit mit KI für das Geschichtenerzählen sein kann.

Aber bedeutet das jetzt, dass wir auf das Basiswissen über Storytelling und die Grundregeln guter Geschichten verzichten können? Ich denke, nein – ganz im Gegenteil.

KI wird uns viel Arbeit abnehmen. KI-Programme werden uns zukünftig beim Recherchieren, Zusammenfassen und Redigieren unterstützen. KI wird uns helfen, Geschichten emotionaler, stringenter und effektiver zu erzählen. Dank smarter KI-Anwendungen werden Marketing und PR in Zukunft zielgerichteter, persönlicher und effizienter arbeiten.

Doch die eigentliche Arbeit eines Storytellers kann und wird KI nicht übernehmen: Sie kann nicht den passenden Stoff für gute Unternehmensstory auszuwählen. Sie kann nicht entscheiden, welche sinnstiftende Idee passend für eine aufmerksamkeitsstarke Markenstory ist und mit welcher überraschenden Wendung ein Produkt oder eine Idee am besten in Szene gesetzt wird.

KI kennt die Gesetzmäßigkeiten und Muster guter Stories besser als wir. Trotzdem liegt es an uns, die passenden Inhalte und Formate für Unternehmen, Marke und Produkt zu definieren und zu kuratieren. Daher, aus diesem Grund, müssen wir mit den Grundzügen, Regeln und Techniken guter Geschichten vertraut sein. Um am Ende die richtigen Entscheidungen zu treffen.

Ich hoffe, dieses Buch unterstützt und inspiriert Sie bei dieser Entscheidung: ein guter Storyteller zu werden.

Hinweis

Texte und Grafiken in diesem Buch wurden ohne Zuhilfenahme von KI erstellt (bis auf Ausnahmen in Kapitel 12 zum Thema »Kreativ mit KI«).

KAPITEL 1

Willkommen, Storyteller

»Fakten sind langweilig.«

– Maria Ressa, Friedensnobelpreisträgerin

Steve Clayton, ein ehemaliger Vertriebsmitarbeiter und Blogger, wird 2010 von Microsoft zum Chief Storyteller ernannt. Das Technologieunternehmen macht Storytelling erstmals zur Chefsache.

Jonathan Mildenhall präsentiert 2012 auf dem Kreativfestival der Cannes Lions die Coca-Cola Content Strategy 2020. Der Vice President für Global Advertising Strategy and Creative erklärt dem staunenden Publikum in Cannes, dass sich das Marketing und die Kommunikation von Coca-Cola zukünftig nicht nur auf kreative Ideen stützen werde, sondern dass der Fokus vor allem auf starken Geschichten liegen wird.

Im selben Jahr überwindet Siemens durch mutiges Storytelling seine Imagekrise. Im Zentrum der \answers-Kampagne stehen 60 ungewöhnliche Filme, die einfühlsam und emotional von Menschen erzählen, die Alltägliches und doch Außergewöhnliches leisten. Zum Beispiel die Geschichte einer chinesischen Familie aus Guangdong, die seit Generationen Orchideen züchtet und einem einzigen Tag entgegenfiebert, dem Tag, an dem alle Orchideen erblühen und damit verkaufsbereit sind. Oder die Story von zwei Seniorinnen, die mit einer kleinen Bäckerei ihre Angst vor dem Alter und dem Alleinsein überwinden. Oder die Geschichte von Daniel, einem kleinen Jungen aus Indiana. Der Siebenjährige hat einen verkrüppelten Arm. Doch trotz seiner Beeinträchtigung ist er aufgeweckt, lebensfroh und neugierig. Mit dem Film Helping Hand gelingt den Dokumentarfilmern Zac Murphy und Lorien Kranen das Porträt eines ungewöhnlichen Jungen, der zum Vorbild für jeden wird, der seine Geschichte sieht.

Die mutig und innovativ erzählten Stories stellen nicht, wie in der klassischen Unternehmenskommunikation üblich, die Firma mit ihren Produkten und Technologielösungen in den Mittelpunkt. Ganz im Gegenteil. Während der gesamten Erzählung wird der Unternehmensname kein einziges Mal erwähnt. Erst am Ende erfährt der Zuschauer die Auflösung. Das letzte Wort, das die Rezipienten am Ende der Geschichte auf einer eingeblendeten Texttafel zu lesen bekommen, erklärt, welche technische Anwendung und welches Unternehmen hinter jeder Story steckt: Siemens.

Siemens hat in 170 Jahren Technologiegeschichte geschrieben. Das Unternehmen versteht sich zu Recht als Technologiepionier und Vordenker. Mit der Kampagne \answers kann sich der Technologiekonzern nun auch als Pionier der Unternehmenskommunikation in Deutschland sehen, denn die Marketing- und Unternehmenskommunikatoren von Siemens entdeckten eine uralte Technik neu: Storytelling.

Tipp

Eine verkrüppelte Hand ist noch lange kein Hindernis. Die Story Die helfende Hand – Eine Story von Z. Murphy & L. Kranen von Siemens macht Mut und inspiriert. Zu finden auf YouTube und Vimeo.

Geschichten überall

Der Kunstgriff, mit Geschichten Aufmerksamkeit zu wecken, ist nicht neu. Auch nicht im Bereich Werbung und PR. Lange vor den Anfängen des modernen Marketings warben Markenunternehmen bei Kunden und Kundinnen mit mehr als nur nackten Produktinformationen.

Zur Weltausstellung in Paris im Jahr 1900 veröffentlichte der Reifenhersteller Michelin erstmals ein Werkstattverzeichnis für die 3.000 Autobesitzer, die es in Frankreich gab. Ab 1920 erschien das kleine Büchlein als Michelin-Guide für weitere europäische Länder und auch in deutscher Sprache, ergänzt um Restaurantempfehlungen.

Der Grafiker Haddon Sundblom bekam 1931 von Coca-Cola den Auftrag, ein Weihnachtsmotiv zu entwerfen. Sundblom bat seinen älteren Freund Lou Prentiss, Modell zu sitzen. Das war die Geburtsstunde des »Coca-Cola-Santa-Claus«. Fast 30 Jahre lang malte Sundblom jedes Jahr ein neues Motiv und begründete so den Mythos, der Weihnachtsmann sei eine Erfindung von Coca-Cola. Als Sundbloms Freund Prentiss Ende der 1940er-Jahre stirbt, malt er sich, bis 1964, selbst – mithilfe eines Spiegels.

Abbildung 1.1Santa Claus, eine Illustration von Haddon Sundblom

Reiserouten, Weihnachtsmänner … was Marken wie Michelin und Coca-Cola zu Beginn des letzten Jahrhunderts starteten, wird heute, über 100 Jahre später, erfolgreich fortgesetzt. Microsoft, Siemens, aber auch Edeka zählen zu den ersten Unternehmen und Marken, die Storytelling seit Anfang der 2000er kreativ nutzen und für weit mehr als nur herkömmliche Produktwerbung einsetzen.

2015 berührte Edeka ganz Deutschland mit einer herzzerreißenden Weihnachtsgeschichte um einen alten Vater und Opa, der nur durch eine fingierte Todesanzeige seine Familie zum Weihnachtsfest nach Hause locken kann. Am ersten Adventssamstag sahen fünf Millionen User den Film #Heimkommen auf Facebook. Bis Mitte Dezember lag die Abrufzahl der Geschichte auf YouTube bei 42 Millionen.

Schon im Vorjahr hatte Edeka mit dem Musikvideo Supergeil und dem Aktionskünstler Friedrich Liechtenstein einen kommunikativen Hit gelandet. Doch die Geschichte von Simon Urban unter der Regie von Alex Feil vom einsamen alten Mann überstieg diesen viralen Erfolg bei Weitem – und löste in den Marketingabteilungen deutscher Unternehmen einen regelrechten Storytelling-Boom aus. Storytelling entwickelt sich seither zu einer der erfolgreichsten Taktik und Technik moderner Unternehmens- und Markenkommunikation.

Warum Storytelling?

Kommunikation hat im Marketing und in der PR vor allem eine Funktion: Menschen zu überzeugen. Persuasion ist der Motor aller kommunikativen Aktivitäten in Unternehmen und Organisationen, von Marken und Produkten. Manager und Managerinnen überzeugen Geschäftspartnerinnen und Geldgeber von den Zielen und Strategien des Unternehmens. Marketing und Vertrieb überzeugen Meinungsbildner, Kunden und Kundinnen von den Vorzügen ihrer Produkte. Personalverantwortliche und Führungskräfte überzeugen Mitarbeitende von Zukunftsplänen und notwendigen Veränderungen im Unternehmen.

Mit oft erheblichem Aufwand werden dafür Informationen, Fakten und Daten zusammengetragen, gebündelt, aufbereitet, in eine mehr oder weniger logische Reihenfolge gebracht, dargestellt und präsentiert. Robert McKee, Autor des Standardwerks Story. Substance, Structure, Style and the Principles of Screenwriting, verweist auf zwei Techniken, mit denen man diese Informationen sinnvoll bündeln kann: erstens rational, mit der Auflistung und Aneinanderreihung von Fakten und Argumenten, und zweitens emotional, durch eine Geschichte.

»There are two ways to persuade people. The first is by using conventional rhetoric, which is what most executives are trained in. It’s an intellectual process, and in the business world it usually consists of a PowerPoint slide presentation in which you say, ›Here is our company’s biggest challenge, and here is what we need to do to prosper.‹ (…) The other way to persuade people – and ultimately a much more powerful way – is by uniting an idea with an emotion. The best way to do that is by telling a compelling story.«

– Robert McKee, Drehbuchdozent

McKee ist ein Meister des Storytellings. Generationen von Drehbuchautoren – halb Hollywood – ging durch seine Schule. Es ist also nicht verwunderlich, dass er die zweite Variante, emotionale Persuasion mithilfe von Geschichten, als die erfolgreichere ansieht.

Rationale Persuasion ist ein intellektueller Prozess, der darauf basiert, dass Erzähler und Rezipient die gleichen Interessen sowie das gleiche Wertesystem teilen. Diese Art der Kommunikation ist nur dann erfolgreich, wenn beide Seiten einem Thema die gleiche Aufmerksamkeit schenken. Rationale Informationsvermittlung funktioniert immer dort, wo sich beide Seiten auf ein gemeinsames Beurteilungssystem geeinigt haben und ähnliche Maßstäbe an Daten und Fakten anlegen.

Entscheidend für den Erfolg rationaler Persuasion ist vor allem aber, dass der Rezipient, also der Empfänger der Botschaft, einwilligt, konzentriert die gegebenen Informationen aufzunehmen, Zusammenhänge selbstständig zu erarbeiten und logisch zu verarbeiten.

Sobald Sie jedoch auf Rezipienten und Rezipientinnen stoßen, die unkonzentriert, kritisch-ablehnend, anderer Meinung oder total uninteressiert sind – und dies ist meistens der Fall –, stößt rationale Persuasion an ihre Grenzen.

Wenn Sender und Empfänger in einer Kommunikationssituation die gleichen Interessen teilen, im Idealfall sogar die gleichen Werte, und sich gemeinschaftlich auf die ausgetauschten Informationen konzentrieren, spricht man von einer symmetrischen Kommunikationssituation. Meist haben Sie es in Marketing und PR allerdings mit einer ganz anderen Situation zu tun, mit einer asymmetrischen Kommunikationssituation. Hier müssen Sie die Aufmerksamkeit des Gegenübers überhaupt erst wecken. Sie müssen mit einer kurzen Aufmerksamkeitsspanne umgehen und geschickt Ihre Botschaften setzen.

Abbildung 1.2Rationale versus emotionale Kommunikation

Storytelling – warum jetzt?

Schon lange hat die Persuasionsforschung nachgewiesen, dass Überzeugungsarbeit durch emotionale Geschichten effizienter und erfolgreicher ist als durch die pure Aufzählung von Informationen, Daten und Fakten. Doch warum interessieren sich Kommunikationsexperten und Marketingprofis gerade jetzt für das Storytelling?

Die Technik des Geschichtenerzählens wird seit Jahrtausenden genutzt, seit über 100 Jahren auch in der klassischen Werbung. Edson Escalas, Kommunikationswissenschaftlerin an der Vanderbilt-Universität, konnte 2007 in einer Studie den positiven Effekt von Storytelling in der Werbung empirisch nachweisen. In einer Reihe von Versuchsanordnungen zeigte sie, dass Rezipienten narrative, erzählende Werbemotive wesentlich positiver wahrnehmen als Anzeigenmotive, die klar und unverblümt die Vorteile eines Produkts auflisten.

Seither reißt das Interesse an der Kommunikationstechnik »Storytelling« nicht ab. Es gibt kaum einen Fachartikel, der die Kommunikationstechnik nicht in irgendeiner Weise erwähnt, kaum eine Konferenz und kaum einen Fachkongress, die oder der »Storytelling« nicht im Programm hat.

Abbildung 1.3Storytelling mit Nachahmer-Effekt: »#Heimkommen« von Edeka

Nach dem überraschenden Erfolg der Edeka-Story #Heimkommen in Deutschland und einer Vielzahl an Nachahmerkampagnen prophezeiten Experten, dass sich der Hype schnell wieder beruhigen würde. Vor allem ging man davon aus, dass sich Konsumentinnen und Konsumenten sattsehen würden an den hoch emotionalen Geschichten abseits von Produktwerbung und Unternehmensdarstellung.

Doch bis heute – fast 15 Jahre nach dem Erscheinen von 88Acre, der ersten Erfolgsstory von Steve Clayton, dem Chief Storyteller von Microsoft, und 10 Jahre nach dem Erfolg von Edeka – hält die Begeisterung für Geschichten nach wie vor an. Das Publikum ist immer noch hungrig auf gute Stories. Storytelling ist kein schneller Hype, sondern eine solide Kommunikationstechnik, die jede Unternehmenskommunikation und jedes Marketingteam beherrschen sollte.

Denn es ist die Antwort und Reaktion auf ein Kommunikations- und Informationsumfeld, das dem modernen Marketing und auch der PR neue Spielregeln aufzwingt.

Konsumenten mit Aufmerksamkeitsdefizit

»Der Mensch ist eben von Natur aus neugierig.«

– Ricardo Münch, Medienpsychologe

Facebook startete 2004. Schon am ersten Tag registrierten sich 600 Kommilitonen und Kommilitoninnen der Harvard-University auf der improvisierten Webseite. Sieben Jahre später prangte Mark Zuckerbergs Gesicht auf dem Cover des Time Magazine. Er wurde zur Person des Jahres 2010 ernannt. Die Ära der sozialen Medien begann. 2005 startete YouTube. 2006 ging Twitter (später in X umbenannt) an den Start.

Marketing und PR hatten sich in über 100 Jahren professioneller Unternehmenskommunikation immer wieder neu auf die Disruptionen des Medienmarkts und das wechselnde Informationsverhalten von Kundinnen und Meinungsbildnern eingestellt. Aber die Veränderungen durch Social Media sollten das alles in den Schatten stellen.

Schon in den frühen 1980er-Jahren wurde in Deutschland ausdrücklich davor gewarnt, dass das Publikum medial überfordert sein könnte. Als 1984 die Vorläufer von Sat1 und RTL an den Start gingen, blickte man mit Skepsis auf das junge Privatfernsehen. Konnten die Deutschen so viel Information und ein solches Überangebot an Unterhaltung aushalten? Sie konnten. Und sie konnten viel mehr. Heute haben durchschnittliche Medien-User Zugang zu Hunderten von internationalen digitalen TV-Sendern, Radio- und Podcast-Plattformen, einer wachsenden Zahl an Streamingdiensten und Mediatheken sowie Millionen von Onlinemedien und Webseiten, die ihr Publikum sekündlich mit Informationen und Entertainment versorgen.

Doch all das ist nichts im Vergleich zu dem Strom an Feeds, Posts, Tweets, Reels, Threads, WhatsApp-Nachrichten, Pings und Alerts, die von Social-Media-Plattformen, Messenger-Diensten und Apps kontinuierlich zugestellt werden.

Alle zehn Minuten schauen Sie im Durchschnitt auf Ihr Smartphone – bis zu 80-mal am Tag. Über 165 Millionen Menschen tragen eine Smartwatch. Der Absatz wird sich bis 2027 voraussichtlich verdoppeln. Und diese User registrieren nicht einmal, dass sie eine Tätigkeit unterbrechen, um sich zu informieren, wenn sie – ganz kurz – auf ihre Uhr blicken.

Wir sind also im Training. Seit Jahren trainieren wir, immer schneller Informationseinheiten zu konsumieren. Die Babyboomer lasen einst morgens eine Tageszeitung. Und informierten sich abends, um 20.15 Uhr, per Tagesschau im Ersten. Die Generation X gewöhnte sich dann an den schnelleren Takt des Internets und wurde überrollt von einer Flut an E-Mails. Generation Y führte Blogs, Social Media und Messenger zum Erfolg. Die Folge war bei vielen ein Burn-out. Generation Z sieht all das als Warnung, chillt lieber und ist doch auf Microsoft Teams, Slack & Co. ständig »on«. TikTok begeistert sie – im 15-Sekunden-Takt – und das dann stundenlang. Und die nächste Generation – Generation Alpha – taucht angeblich komplett ab ins Metaverse – mit KI-generierten, sprachgesteuerten Betriebssystemen, denen man nur noch sagen muss, was man möchte.

So könnte man klischeehaft die Medienentwicklung und die Veränderung des Informationsverhaltens der Generationen der letzten 50 Jahre zusammenfassen. Doch die Unterschiede sind nicht so klar und einfach zu fassen. All diese Verhaltensmuster existieren parallel, und jeder nimmt sich, unabhängig vom Alter, was immer gerade für sie oder ihn passt.

Und so gibt es eine Gemeinsamkeit – über alle Generationen hinweg: Alle können sich schlecht konzentrieren. Egal ob User, Mitarbeitende, Stakeholder oder Verbraucherinnen – sie alle halten nicht lange durch und sind schnell abgelenkt. Ein Klick … und weg.

Für Unternehmen und Marken wird es daher immer schwieriger, die passenden Botschaften und den effizienten Kanal zu finden, um Aufmerksamkeit zu wecken und zu halten.

Damit einher gehen eine sinkende Toleranzschwelle und größere Ungeduld. Heute muss ein Publikum nicht nur mit besonderen Kommunikationsangeboten angesprochen und informiert werden. Es geht vielmehr auch darum, sie emotional bei Laune zu halten. Das Zukunftsinstitut sieht dies als Phänomen der Attention Economy. Information und Kommunikation umgeben uns ständig und überall mit der Folge, dass sich Aufmerksamkeit eben nicht mehr nur über einen hohen Nachrichtenwert generiert. Genauso wichtig sind Format und Form, die Verpackung der Information. Infotainment wird zum Trigger der Informationsgesellschaft.

Warum also Storytelling? Genau deshalb. Guten Geschichten gelingt es – trotz Informationsüberfluss –, neugierig zu machen, Aufmerksamkeitsdefizite zu überwinden, Interesse zu wecken und das Publikum bei der Stange zu halten. Warum sonst werden immer noch sieben Bände und Tausende von Seiten über Harry Potter gelesen, warum wird eine Netflix-Serie mit zwölf Episoden am Stück angesehen – ohne auf die Uhr zu blicken, ohne sich ablenken zu lassen und zu merken, wie schnell die Zeit vergeht?

Eine komplexe Welt

»Das Aufkommen des Storytellings lässt sich (…) auch als Reaktion auf neue Unübersichtlichkeiten verstehen.«

– Philipp Schönthaler, Autor

Noch nie hatten Menschen so leicht Zugang zu Informationen. Die Vision von Google, das Wissen der Welt jedem Menschen überall und jederzeit zur Verfügung zu stellen, erfüllt sich mehr und mehr. Eine Vision, die ungeahnte Möglichkeiten bietet, uns aber auch vor große Herausforderungen stellt. Denn es scheint, dass wir trotz Informationsüberfluss nicht wirklich an Wissen hinzugewinnen. Fülle und Komplexität überfordern viele. Wer sich überfordert fühlt, schottet sich vor der täglichen Nachrichtenlawine ab, filtert, selektiert, blockt ab.

Gleichzeitig fördern soziale Netzwerke und Communities eine verkürzte Kommunikation. In Facebook, WhatsApp & Co. beschränken wir uns zunehmend auf wenige Sätze, Zeichen oder belassen es gleich bei ein paar lustigen Emojis. Was übrig bleibt, ist eine rudimentäre, assoziative Kommunikation, markiert mit ein paar Hashtags. Immer häufiger verzichten wir sogar auf Wörter und überlassen es Bildern, zu sprechen. Wir gewöhnen uns an einen immer schnelleren und oberflächlicheren Informationsaustausch in kleinen Dosen, während andererseits die Welt – gefühlt – immer größer, komplexer und unübersichtlicher wird. Kein Wunder, dass Kommunikationsprofis auf der Suche nach Techniken sind, um diesen Informationsüberfluss und die damit einhergehende Überforderung zu überwinden.

Warum also Storytelling? Genau deshalb. Gute Geschichten sind einfach zu rezipieren, sind nicht anstrengend und leicht verdaulich. Sie geben kommunikative Hilfestellung. Sie sind Erklärungsmuster für komplexe Themen. Sie bringen Fakten in interpretierbare, leicht verständliche Zusammenhänge, reduzieren Komplexität und ordnen die Welt. Daher gelingt es Geschichten – bei allem Informationsüberfluss – immer noch, zu uns durchzudringen.

Auf der Suche nach Orientierung

Der Medienwissenschaftler Klaus Fog bietet in seinem Buch Storytelling – Branding in Practice eine weitere überraschende Erklärung für den Siegeszug von Geschichten:

»Sociologists and social scientists say that we are experiencing increased levels of fragmentation in today’s society. That the value systems that have traditionally served as guides for us are coming undone …«

– Klaus Fog, Medienwissenschaftler

In einer komplexen Welt, die durch Informationsüberfluss und Reizüberflutung omnipräsenter Medien noch unübersichtlicher erscheint, finden sich viele Menschen nicht mehr zurecht. Sie fühlen sich verloren und sind auf der Suche nach klaren Wertesystemen und nachvollziehbaren Handlungsanweisungen sowie nach Autoritäten, an denen sie sich orientieren können. Fog benennt auch den Ursprung dieser Orientierungslosigkeit:

»In part caused by the lack of a dominating authority such as science or religion, to dictate what values we should adhere to. We are no longer subjected to a fixed set of traditions, but can pick and choose as we see fit. There is no final truth for us to in structuring our lives.«

– Klaus Fog, Medienwissenschaftler

Laut einer Accenture-Studie aus dem Jahr 2022, bei der über 30.000 Verbraucherinnen und Verbraucher in 35 Ländern befragt wurden, bestätigten 62 Prozent, dass sie von Unternehmen erwarten, zu kulturellen, sozialen, ökologischen und politischen Themen klar Stellung zu beziehen. Sie erwarten von Firmen und Marken, dass diese in die Lücke springen, die der Vertrauensverlust in Politik, Wissenschaft oder Religion aufgerissen hat.

Konsumenten und Konsumentinnen erhoffen sich durch Unternehmen und deren Marken Hilfe bei der Orientierung in der Welt – eine Hilfe, die sich auszahlt. 65 Prozent der Befragten der Accenture-Studie gaben auch an, eine Marke bevorzugt zu kaufen, die klare Werte vertritt und eine Sache unterstützt, die ihnen am Herzen liegt. Unternehmen sind also aufgefordert, sich nicht nur als wirtschaftliche Einheit zu verstehen, die Arbeitsplätze schafft und erhält, Produkte oder Dienstleistungen entwickelt und anbietet und Profite erzielt und steigert, sondern sie sollen sich auch klar positionieren und profilieren. Und dieses neue Selbstverständnis muss natürlich einhergehen mit der Änderung des Marketings und der Kommunikation.

Warum also Storytelling? Genau darum. Gute Geschichten geben Orientierung, Struktur und Halt. Sie bieten dem Publikum Identifikationsflächen und unterstützen dabei, Erfahrungen auszutauschen und von den Erfahrungen anderer zu lernen. Mit Geschichten erklären wir uns die Welt. Daher ist der Hunger nach Geschichten heute größer denn je. Und insbesondere Unternehmen und Marken sind aufgefordert, diese zu liefern.

Hungrig nach Geschichten

Wo immer Menschen zusammenkommen, werden Geschichten erzählt. Ein Partygast, der gut erzählen kann, steht schnell im Mittelpunkt. Und wer das Internet als eine einzige große Party versteht, dem ist klar, dass der Hunger nach guten Geschichten nicht abreißen wird.

»Follower«, »Likes« und »Shares« sind die neue Währung auf dieser Party. In den Anfängen von Facebook, Instagram & Co. wollte jeder auf dieser Party tanzen. Und machte sich auf die Jagd nach Ruhm und Anerkennung und der besten Story für seinen eigenen Social-Media-Feed. Jeder bastelte an seinem Profil, an seiner Statusstory. Jeder warb um die Gunst seiner stetig wachsenden Zahl an »Friends« und »Followern«. Je mehr »Daumen hoch«, »Herzchen«, »Views« und »Shares« man vorweisen konnte, umso besser.

Bald jedoch professionalisierte sich dieses neue Storytelling. Blogger, YouTuber und Influencerinnen, die mit Content gutes Geld verdienten, hängten die Privat-User ab. Heute tritt eine neue Generation von Geschichtenerzählern an, die sich von Tagebuchschreibern zu interessierten Bürgerjournalisten, zu professionellen Storytellern, Entertainern und Meinungsbildnerinnen entwickelt haben. Die Vielfalt an »Content-Creator«, die im Internet publizieren, ist groß und wächst stetig. Die Qualität ihrer Geschichten ist unterschiedlich. Sie reicht vom laienhaften Charme privater Fans und Hobbyenthusiasten bis hin zur tiefen Fachkenntnis und Spezialisierung herausragender Fachleute oder zum künstlerischen oder gar skurrilen Showtalent, das Millionen Menschen anklicken.

Doch so unterschiedlich diese »Publizisten« im Internet sind, ihnen ist eins gemeinsam: Sie alle sind auf der Suche nach Inspiration für Geschichten. Denn sie wenden sich an ein Publikum, das süchtig ist nach immer neuem Content. Und sie befüllen Plattformen, die darauf programmiert sind, den konstanten Strom an Stories nicht abreißen zu lassen.

Dieser stetige Hunger nach guten Stories bietet Kommunikations- und Marketingprofis von Unternehmen, Organisationen und Marken großartige Chancen und Möglichkeiten. Sie können sich mit guten Geschichten als Inspirationsquelle empfehlen. Und auch selbst erzählen. Die Zeiten, in denen die Kunst des Storytellings ausschließlich Künstlern, Schriftstellerinnen, Entertainern, Hollywood und dem Journalismus vorbehalten war, sind vorbei. Jeder kann heute zum Storyteller werden. Und mit eigenen Geschichten Einfluss darauf nehmen, wie bestimmte Sachverhalte und er oder sie wahrgenommen werden.

Mittlerweile ist jedoch eine Ernüchterung eingetreten, was die Chancen und Möglichkeiten rund um Social Media angeht. Die naive Euphorie der Anfangsjahre ist der Gewissheit gewichen, dass diese Plattformen nicht nur das Gute im Menschen befördern, sondern dass vor allem die dunkle Seite der Kommunikation wie Hatespeech, Deepfakes oder Verschwörungstheorien von den Mechanismen des Internets profitiert.

Es gilt: Jeder kann heute publizieren und die neuen Medien für seine Zwecke und seine Geschichte nutzen. Auch Unternehmen und Marken tun dies – mit Erfolg. Längst sind sie eingestiegen in das Geschäft mit Stories – und verbreiten so ihre positiven Marken- und Unternehmensstories.

Das Ende des Sender-Empfänger-Modells

Die Basis dieses Erfolgs liegt in einem Paradigmenwechsel. Das traditionelle »Sender-Empfänger-Modell« mit seiner klaren Hierarchie, das bis zum Ende des 20. Jahrhunderts Gültigkeit besaß, ist tot. Es wurde abgelöst von einem dicht verwobenen »Netzwerk-Modell«, in dem jeder die Rolle des Senders und des Empfängers einnehmen kann.

Massenkommunikation ist in diesem Modell nicht einer professionellen Elite an Publizistinnen und Medienmachern vorbehalten. In dieser neuen Medienlandschaft kann jeder und jede zum Meinungsbildner und zur Multiplikatorin werden.

Erfolgreiche Kommunikation hängt somit nicht mehr von klar strukturierten, vordefinierten Kanälen ab. Werbeeffekte lassen sich nicht mehr durch Penetration und Wiederholung in wenigen Leitmedien erkaufen. Der moderne Medienmarkt ist zu fragmentiert, und die partizipative Mediennutzung postmoderner Rezipienten ist heute zu uneinheitlich, um auf altbewährte Weise Botschaften in den »Markt« hinauszusenden.

Abbildung 1.4Das Sender-Empfänger-Modell wird abgelöst vom Netzwerk-Modell.

Kommunikationsexperten sprechen auch vom Vapor Web, einem Kommunikationsnetzwerk, das übervoll an Informationen ist, gleichzeitig aber auch kleinteilig, dynamisch und flüchtig. Im Vapor Web gibt es so gut wie keinen »Common Ground«, keinen gemeinsamen Nenner, auf den sich eine breite Öffentlichkeit als gemeinsame Informationsquelle einigen kann. Auch Zielgruppen zerfallen in immer kleinere Nischengruppen und Communities, die sehr individuell angesprochen werden müssen.

Dieses Überangebot spiegelt sich ebenfalls im realen Markt. Ende des 20. Jahrhunderts, 1997, rangen ca. 2,5 Millionen Marken um die Aufmerksamkeit einer weltweiten Käuferschicht. 2022 waren geschätzt über 50 Millionen Marken kommunikativ aktiv. Der Wettbewerb – real und medial – ist extrem gewachsen. Marketing und PR stehen heute also vor einer Monsteraufgabe.

Pull statt Push

»There are two ways to share knowledge. You can push information out. You can pull them in with a story.«

– Robert McKee, Drehbuchdozent

Hilfestellung bietet die Erfolgsformel: »Pull statt Push«. Die beiden englischen Begriffe Pull und Push bezeichnen nicht zufällig den Umstand, wie man eine Tür öffnet. Entweder drückt man eine Tür auf, indem man sie von sich wegschiebt (push), oder man zieht die Tür zu, also zu sich heran (pull).

Ähnlich ist es mit der Kommunikation: Entweder drückt man eine Botschaft in den Markt hinein (push), oder man zieht sie zu sich heran (pull). Botschaften, die Rezipienten freiwillig heranziehen (pull), haben einen weit höheren Effekt als Botschaften, die zu ihnen hingeschoben werden (push).

Abbildung 1.5Push-Pull-Kommunikation: die Zielgruppe von beiden Seiten bedienen

Doch wie muss eine Botschaft beschaffen sein, damit sie einen Pull-Effekt auslösen kann, »magnetisch« wirkt und so attraktiv ist, dass sie von der Zielgruppe freiwillig herangezogen wird?

Ein Hinweis findet sich bei Malcom Gladwell. In seinem Bestseller Der Tipping Point – Wie kleine Dinge Großes bewirken können analysiert der Autor, wie sich Viren verbreiten. Dabei zieht er eine Parallele zwischen Virusepidemien und der Art und Weise, wie sich Botschaften verbreiten. 2008, über zehn Jahr vor der Coronapandemie, analysiert Gladwell die Gesetzmäßigkeiten der Viralität und benennt drei Faktoren, die entscheidend sind für die Verbreitung eines Virus:

der Bote, der Virusträger,

die Art und Weise, wie er mit der Welt vernetzt ist, sowie

die Beschaffenheit des Virus.

All das kommt uns heute selbstverständlich vor. Die Coronapandemie hat uns schließlich alle zu Virologen gemacht, und diese drei Faktoren würde wohl auch Prof. Dr. Christian Drosten nennen, Leiter der Virologie der Berliner Charité. Übertragen auf die Viralität von Botschaften, bedeutet dies nun Ähnliches. Für die Viralität einer Botschaft ist Folgendes entscheidend:

der Sender oder die Übermittlerin der Botschaft,

die Art und Weise, wie er oder sie medial vernetzt ist und

wie die Botschaft beschaffen ist.

»Bei Epidemien kommt es auf den Boten an, er verbreitet die Ansteckung. Aber der Inhalt der Botschaft ist ebenso wichtig. Und die spezifische Eigenschaft, die eine Botschaft haben muss, um erfolgreich zu sein, ist ihre Fähigkeit, sich in den Empfängern zu verankern.«

– Malcolm Gladwell, Journalist und Autor

Die Botschaften müssen sich verankern! Wie? Dafür setzen Menschen seit über 40.000 Jahren verlässlich auf eine wirkungsvolle Technik, auf Storytelling. Mit Geschichten, Fabeln, Parabeln, Mythen und Erzählungen werden seit Anbeginn der Menschheit Botschaften so verpackt, dass sie »magnetisch« wirken und einen Pull-Effekt auslösen. Ein Mittel also, das auch Marketing und PR zunehmend einsetzen.

Der Stoff geht aus

»The brands that are really succeeding today are the ones that differentiate through storytelling.«

– Roisin Donnelly, Marketingdirektorin P&G

Für manche ist Storytelling ohnehin die »Rettung«, denn ihnen geht der Stoff aus. Viele Unternehmen und Marken, die schon lange am Markt und ebenso lange kommunikativ im Geschäft sind, haben einfach schon alles kommuniziert, alles mehr als einmal gesagt. Alle rationalen Argumente, Fakten und Daten, Produktvorteile und Verkaufsargumente wurden der Zielgruppe schon mehrfach präsentiert. Oft gibt es auch einfach nichts mehr zu erklären. Viele Produkte und Dienstleistungen sind selbstverständlich und längst bekannt. Sie müssen nicht mehr im Detail erläutert werden. Eine Vielzahl an Produkten und Dienstleistungen, die heute auf den Markt kommen, ist auch nicht wirklich »neu« oder »innovativ«. Es sind Me-too-Angebote, die sich an bestehende Trends und Hypes dranhängen. Besonders ihnen fällt es schwer, mit klassischer Werbung und tradierter Unternehmenskommunikation zu überzeugen. Denn im herkömmlichen Verständnis von Marketing und PR informiert ein Unternehmen oder eine Marke seine Kunden und Kundinnen über die Neuigkeiten oder herausragende Besonderheiten der eigenen Produktion, der eigenen Produkte und Angebote. Und setzt sich damit klar vom Wettbewerb ab.

Marketing und PR setzen in der Regel auf Ankündigungskommunikation. Dazu benötigen sie vor allem eines: einen Nachrichtenwert. Also etwas Berichtenswertes, etwas »Neues«, einen »USP« (Unique Selling Point), ein herausragendes Verkaufsargument oder ein Differenzierungsmerkmal. Fehlt all das, wird es kommunikativ schwierig.

Zu den Pionieren des Storytellings zählen nicht zufällig Konsumgüterkonzerne wie Unilever und Procter & Gamble oder Handelskonzerne wie John Lewis oder Edeka. Es sind Unternehmen und Marken, die in einem extrem starken Wettbewerbsumfeld agieren und die sich wirklich anstrengen müssen, um sich vom Wettbewerb abzusetzen.

Auch wenn Ariel und Persil oder Gilette und Wilkinson über die Jahrzehnte immer wieder bewiesen haben, wie innovativ sie sind, so holte der Wettbewerb doch auch immer schnell auf. Die Produktkommunikation der jeweiligen Marken konnte den Vorsprung durch Innovationen wie »Reinigungstabs« statt »Waschpulver« oder fünf Rasierklingen statt vier selten lange nutzen. Der Wettbewerb kopierte die »Neuheiten« in kürzester Zeit und machte sie so zum Branchenstandard. Das Rennen begann von vorne.

Erfolgversprechender war daher, sich nicht nur innovativ, sondern vor allem kommunikativ abzusetzen – und damit nicht ausschließlich auf das herausragende Produktargument zu setzen, sondern dazu noch die bessere Story zu erzählen. Beispielhaft möchte ich Sie dazu auf zwei Geschichten hinweisen, mit denen sich Ariel (Unilever) und Gillette (P&G) von ihrem jeweiligen – sehr ähnlichen – Wettbewerber absetzen.

Abbildung 1.6Papa erklärt es am besten, sagt Gillette in der Markenstory »Go Ask Dad«.

Tipp

Gillette erinnert daran, dass man das Rasieren am besten vom Vater lernt und nicht von YouTube. Die Story This Fathers Day, Go Ask Dad finden Sie auf YouTube – https://tinyurl.com/2czk2nn2.

Ariel zeigt mit der Story Share the Load, wer die eigentliche Last im Haushalt trägt. Zu finden auf YouTube – https://tinyurl.com/jjnq7rk und auf der Webseite The #ShareTheLoad Journey – http://bit.ly/4iBOTsH.

Dieses Buch ist für Sie

Konsumenten und Konsumentinnen mit extremen Aufmerksamkeitsdefiziten, eine immer komplexer erscheinende Welt, in der Verbraucher bei Unternehmen und Marken nach Orientierung suchen, und der Kollaps des klassischen Sender-Empfänger-Modells zugunsten einer vernetzten, fragmentierten und dynamischen Kommunikationslandschaft – all das sorgt dafür, dass ein uraltes System zu neuer Blüte kommt. Die virale Kraft von Geschichten macht Storytelling heute zu einer der attraktivsten Techniken des postmodernen Kommunikationsmodells und wird damit relevant für Marketing und PR – und damit auch für Sie, oder?

Denn Sie sind Unternehmenssprecher und für die Unternehmenskommunikation Ihres Unternehmens verantwortlich? Sie interessieren sich für Storytelling als Methodik für das Reputationsmanagement. Vor allem wollen Sie wissen, wie Sie Ihr Unternehmen und Ihre Kollegen und Kolleginnen zu besseren »Storytellern« machen können, ohne dass sie dabei zum Märchenonkel oder zur Märchentante werden.

Oder Sie sind Marketingmanagerin und verantwortlich für die Kommunikation einer Marke? Sie wollen erfahren, wie Ihnen Storytelling helfen kann, das Image Ihrer Marke zu optimieren, Markenbotschaften attraktiver und merkfähiger zu gestalten, Konsumenten und Konsumentinnen aktiv in Ihre Geschichten einzubauen und motivierende Kaufimpulse zu geben.

Sie sind Personalverantwortlicher und für Veränderungskommunikation in Ihrem Unternehmen oder Ihrer Organisationen verantwortlich? Dann interessiert es Sie sicher, warum Geschichten so gute Überzeugungsarbeit leisten und warum sie Menschen motivieren.

Oder Sie sind Onlinemanagerin und verantwortlich für die Social-Media-Kanäle und Communities Ihres Unternehmens? Sie wollen wissen, wann und warum Geschichten viral gehen und wieso Menschen Stories weitererzählen und weiterreichen.

Finden Sie sich in einer dieser Beschreibungen wieder? Dann sind Sie hier richtig. Dann bietet Ihnen dieses Buch Antworten und hoffentlich eines: Inspiration. Inspiration, um selbst mehr zu erzählen. Denn dieses Buch ist für alle, die Menschen überzeugen wollen – ganz egal ob Verbraucher, Kundinnen, User, Mitarbeiterinnen, Teammitglieder, Entscheiderinnen oder Shareholder. Dieses Buch ist für alle, die sich Gehör verschaffen wollen – für ihr Unternehmen, für ihre Marke, für ihr Produkt oder für ihre eigene Sache. Dieses Buch ist für alle, die sich gegen die Informationsflut stemmen, die den kommunikativen Lärm durchbrechen und die Aufmerksamkeit für ihre Ideen gewinnen wollen.

Ist Storytelling nützlich für Sie?

Sie sind Unternehmenssprecher/-in und verantwortlich für die Unternehmenskommunikation?Sie wollen Storytelling für das Reputationsmanagement und unternehmenseigene Zwecke nutzen?Sie wollen Geschichten erzählen, ohne zum Märchenonkel oder zur Märchentante zu werden?Sind Sie Pressesprecher/-in oder Public-Relations-Manager/-in?Sie wollen emotionaler kommunizieren?Sie sind Marketing- oder Brand-Manager/-in, verantwortlich für die Kommunikation einer Marke, und suchen bessere Geschichten für Ihren Markenauftritt?Sie wollen ein erklärungsbedürftiges Produkt bewerben und suchen neue Wege, um Ihre Zielgruppe anzusprechen?Sie suchen nach neuen Techniken, um Konsumenten und Verbraucherinnen besser anzusprechen und Kaufimpulse zu setzen?Sie sind Personalverantwortliche/-r auf der Suche nach besseren Stories für das Recruiting?Sie sind Change-Manager/in, verantwortlich für die Veränderungskommunikation einer Organisation?Sie suchen nach Methoden, um Menschen zu motivieren?Sie sind Onlinemanager/-in und für Social- Media-Kanäle und Communities verantwortlich?Sie suchen »virale Inhalte«, die gelikt und geteilt werden?Sie sind für das Content-Management Ihres Unternehmens oder Ihrer Marke verantwortlich?Sie suchen gute Argumente für Ihre Vorgesetzten und Ihr Team, um zukünftig Storytelling einzusetzen?Wenn Sie eine dieser Fragen mit Ja beantworten, dann ist Storytelling eine Kommunikationstechnik, die Sie beherrschen sollten.

Das erwartet Sie hier

Herzlich willkommen: Dieses Buch gibt Ihnen einen Überblick über die Chancen und Möglichkeiten des Storytellings in Marketing und PR. Dieses Buch bietet Ihnen Tipps, Tricks und vor allem eine Methodik, um zum versierten Storyteller zu werden:

Die folgenden Kapitel 2 und Kapitel 3 definieren den so vielfältig und oft auch missverständlich genutzten Begriff Storytelling. Gleichzeitig finden Sie hier einen Überblick über die Wirkungsweisen von Stories. Die Kraft der Geschichte wird dabei aus psychologischer, neurowissenschaftlicher und auch soziologischer Sicht erläutert.

All dies wird Ihnen in Form von kompaktem Basiswissen präsentiert, begleitet von einer Vielzahl an Stories erfolgreicher Unternehmen und Marken. Jedes Kapitel bietet Hinweise und Instrumente, die Sie für Ihr eigenes Storytelling nutzen können. Am Ende jedes Kapitels finden Sie eine Liste an »Inspiration« sowie einen oder auch mehrere besondere Buchtipps, passend zu dem jeweiligen Kapitel.

Kapitel 4 bietet Ihnen eine Methodik des Storytellings, einen Baukasten, bestehend aus fünf Erfolgsfaktoren, die es Ihnen ermöglichen, selbst zum Storyteller zu werden. Nur fünf, werden Sie fragen? Selbstverständlich gibt es weit mehr als nur fünf Bausteine für eine gute Geschichte. Wir wollen uns aber auf das Wesentliche fokussieren.

Um die essenzielle Core Story geht es dann in den Kapiteln 5 und 6. Hier erfahren Sie, wie narrative Unternehmen arbeiten und was sie zum Erfolg führt.

Kapitel 7 und 8 konzentrieren sich auf die Basiselemente guter Geschichten. Hier gehen es um Protagonisten und Rollenmuster, um Konflikte und Strukturen erfolgreicher Stories.

In den Kapiteln 9 und 10 erhalten Sie praktische Tipps dazu, wie Sie mit passenden Worten, dem richtigen Ton und herausragenden Bildern Emotionen wecken.

Kapitel 11 legt schließlich den Fokus auf die Erzählmechanismen im Netz und erläutert besondere Formen des digitalen Erzählens, wie zum Beispiel transmediales und partizipatorisches Storytelling für Webseiten und Social-Media-Plattformen.

Kapitel 12 hilft Ihnen schlussendlich, selbst kreativ zu werden. Hier finden Sie Kreativtechniken, um sich auf die Suche nach dem Stoff für Ihre Stories zu begeben. Und in Kapitel 13 werfen wir einen letzten Blick auf das Thema und wagen einen Ausblick auf das Storytelling der Zukunft.

Lerninhalte aus diesem Kapitel

Persuasion kann durch rationale oder emotionale Kommunikation erfolgen.In asymmetrischen Kommunikationssituationen ist emotionale Kommunikation erfolgreicher.Geschichten können Aufmerksamkeitsdefizite ausgleichen.Geschichten vereinfachen komplexe Sachverhalte.Geschichten geben Orientierung.Mit dem Ende des Sender-Empfänger-Modells braucht es attraktive Inhalte, die das Publikum »anziehen« (Pull statt Push).Storytelling ist eine alternative Kommunikationstechnik für Unternehmen und Marken, die meinen, bereits alles gesagt zu haben.

Inspiration

Coca-Cola:

Content 2020 Initiative Strategy. Video – Parts I & II.

Video auf YouTube –

https://tinyurl.com/2ycc3aff

Siemens:

Die helfende Hand – Eine Story von Z. Murphy & L. Kranen

. Video auf YouTube –

https://bit.ly/3SBA3rR

Edeka:

#Heimkommen.

Video auf YouTube –

https://tinyurl.com/gllqzt2

Buchtipps

Malcom Gladwell,

How Little Things Can Make A Big Difference

. Little, Brown and Company 2001

Jonathan Gottschall,

The Storytelling Animal – How Stories Make Us Human

. Mariner Books 1. Edition 2013

KAPITEL 2

Definiere Storytelling

»Die Abenteuergeschichten zuerst, bitte. Erklärungen brauchen immer so schrecklich lange.«

– Lewis Carroll in »Alice im Wunderland«

Annika Schach legt den Finger in die Wunde. Im Rahmen ihrer Habilitationsschrift unternimmt die Sprachwissenschaftlerin aus Hannover eine interessante und doch eigentlich einfache Übung. Schach analysiert die Webseiten der 30 DAX-Unternehmen – aller Unternehmen, die so wertvoll sind, dass sie im deutschen Leitindex gelistet sind – und macht eine erstaunliche Entdeckung. Die Wissenschaftlerin will wissen, ob diese Unternehmen neben der Unternehmenspräsentation und Darstellung ihrer Produkte und Dienstleistungen auch ihre Firmengeschichte online erzählen. Und in welcher Form sie dies tun.

Das Ergebnis ist überraschend. Von den 30 Topunternehmen präsentieren 29 ihre Entstehungsgeschichte auf ihrer Webseite, aber kaum eine Firma tut dies in Form einer Story. Stattdessen überwiegen Aufzählungen, Listen und tabellarische Chroniken.

Eine verpasste kommunikative Chance, auf die Schach zurecht hinweist. Denn anstatt die Leserschaft mit einer interessanten Erzählung in die Anfangszeit des Unternehmens oder der Erfolgsmarke zu führen, anstatt Rezipienten – Kunden und Stakeholder – mit einem Spannungsbogen durch die unterschiedlichen Stadien der Entwicklungsgeschichte einer Firma mitzunehmen, werden lediglich sachlich und systematisch Eckpunkte und Fakten aneinandergereiht. Man muss keine Sprachwissenschaftlerin sein, um zu erkennen, dass sich kaum ein Besucher die Mühe machen wird, eine Faktenliste zu einer 150-jährigen Firmengeschichte systematisch durchzuklicken.

Anika Schach geht es nicht darum, den mächtigsten Unternehmen Deutschlands aufgrund ihrer Außendarstellung auf den Schlips zu treten. Sie nutzt ihre Analyse vielmehr, um die Unterschiede zwischen faktischen und narrativen Texten wissenschaftlich sauber herauszuarbeiten, um Storytelling zu definieren und damit sinnvolle Einsatzgebiete für Storytelling in Marketing und PR aufzuzeigen.

Geschichten erkennen

»Menschen sind nicht dafür gemacht, Logik zu verstehen. Sie sind viel besser darin, Geschichten zu verstehen.«

– Roger C. Schank, Psychologe

Bevor wir im Detail auf die Unterscheidungsmerkmale zwischen faktischen und narrativen Texten eingehen und uns der Definition von Storytelling nähern, möchte ich Sie zu einer kleinen Übung einladen. Im Folgenden sehen Sie vier Textbeispiele. Lesen Sie sich die Sätze kurz durch und entscheiden Sie spontan, ob es sich dabei um eine Geschichte handelt oder nicht:

»Story or no Story?«

»Wussten Sie, dass wir den Anmeldeprozess jetzt digitalisieren und dafür sogar in Kontakt mit regionalen Partnern und Programmierern stehen? Unser Onlineauftritt wird für Bürger und Bürgerinnen damit wesentlich einfacher zu bedienen sein. Gerne erzähle ich Ihnen mehr dazu: ausführlich in unserer nächsten Sitzung.«»Es ist Mittwochnacht, als auf der Pflegestation der Dr.-Ellmann-Klinik der erste Rechner ausfällt. Die Nachtschwester bemerkt lange nicht, dass etwas nicht stimmt, doch nach und nach melden immer mehr Abteilungen Probleme, und ein Computerbildschirm nach dem anderen wird schwarz …«»Bei einer Umsatzrendite von zwei Prozent müsste eine Gemeinde ca. 1,25 Millionen Euro Gewerbesteuer zusätzlich erwirtschaften, um einen Forderungsausfall von 25.000 Euro zu kompensieren. Kleinere Kommunen sind auf so einen Fall nicht vorbereitet. Aber selbst ein noch so perfektes Management ist keine Sicherheitsgarantie, um eine Insolvenzgefahr auszuschließen …«»Seit 40 Jahren ist die Druckerei Kunde eines italienischen Maschinenbauers. In den letzten Jahren wurden acht Maschinen in Italien gekauft. Eine langjährige Partnerschaft. Es lag also nahe, dort wieder zu kaufen und umgehend zu zahlen. Stutzig wurde man erst, als nach der Zahlung eine Mahnung kam. Erst dann fiel auf, dass das Geld nicht, wie üblich, an ein italienisches Konto überwiesen wurde, sondern an eine unbekannte Bank in Rumänien. Niemand hatte den Fehler bemerkt …«

Die Entscheidung fällt leicht, oder? Die Textbeispiele 1 und 3 sind faktische, nicht narrative Texte, während die Beispiele 2 und 4 erkennbar erzählend sind oder zumindest den Beginn einer Story darstellen.

Auch Menschen, die sich nicht hauptberuflich mit Texten beschäftigen, erkennen intuitiv eine Geschichte – ohne konkrete, wissenschaftlich belegbare Auswahlkriterien benennen zu können. Einer der Gründe für diese »versteckte Kompetenz« liegt darin, dass wir die Textform »Story« seit unserer Kindheit kennen. Man könnte sogar sagen, dass wir diese Art Texte besser verstehen als faktische Texte.

Denn wir sind mit Geschichten groß geworden. Eltern und Großeltern haben uns – hoffentlich – von klein auf Geschichten erzählt und uns so dabei geholfen, unsere eigene Sprachkompetenz zu erweitern, unsere Vorstellungskraft zu trainieren und uns als soziale Wesen weiterzuentwickeln.

Rezipienten erkennen eine Geschichte, laut Annika Schach, bewusst oder unbewusst anhand von drei Kriterien. Drei Kriterien, die auch in Marketing und PR fachliche Texte von narrativen Texten unterscheiden. Dies sind

Sprachstil,

Erzählperspektive und

inhaltlicher Fokus.

Sehen wir uns diese Kriterien im Folgenden genauer an.

Detaillierte Alltagssprache statt registrierender Fachsprache

Die Kommunikation in Unternehmen und Organisationen, die Sprache in Reports, Protokollen, Pressemitteilungen und Geschäftsberichten ist in der Regel durch eine sachliche, beschreibende, mitunter auch komplexe Sprache gekennzeichnet. Gerne werden verallgemeinernde Passivformulierungen gewählt, lange Satzkonstruktionen und ein Nominalstil, der dem Text einen fachlich anspruchsvollen und seriösen Anstrich verleiht. Geschichten bzw. narrative Texte dagegen sind in einer ganz anderen Sprache abgefasst. In Stories begegnen wir keiner komplexen Sprache, sondern einer einfachen, aktiven und vor allem emotionalisierenden Alltagssprache.

Größtes Unterscheidungsmerkmal der Sprachstile von faktischen und narrativen Texten ist die Sinnlichkeit der Sprache: Geschichten sind »Kino im Kopf«. Sprache ist hier – im Gegensatz zu Präsentationen, Berichten und Reports – sinnlich stimulierend und bildhaft. Gute Geschichten erzählen szenisch. Sie holen den Rezipienten mit ihrer aktiven Sprache direkt hinein ins Geschehen. Das Publikum wird zum Beteiligten. Die neutrale Sprache faktischer Texte dagegen lässt Rezipienten und Rezipientinnen außen vor. Das Publikum soll das Thema dieser Texte als neutraler Beobachter betrachten.

Subjektive statt objektive Erzählperspektive

Und nicht nur Zuhörer und Zuhörerin nehmen eine unterschiedliche Perspektive ein, auch die Perspektive des Storytellers ist in beiden Textmustern – in rationalen und emotionalen Texten – grundverschieden.

Faktische Texte wie Unternehmenspräsentationen oder Protokolle werden aus einer objektiven Erzählperspektive präsentiert. Sie sind in der Idealform eine neutrale Darstellung von Vorgängen, Ereignissen und Entscheidungen.

Geschichten dagegen sind immer subjektiv. Sie werden aus der Warte einer bestimmten Person oder einer Rolle erzählt, sind persönlich eingefärbt und dementsprechend emotional in der Darstellung. Die Subjektivität narrativer Texte ist sogar ihr Qualitätsmerkmal. In Geschichten präsentieren Erzähler und Erzählerin ihre ganz subjektive Perspektive. Sie ist einzigartig und macht daher jede Geschichte zu etwas Besonderem.

Erlebnisorientiert statt ergebnisorientiert

Und damit sind wir bei dem dritten und wichtigsten Kriterium angelangt, in dem sich faktische Texte von narrativen unterscheiden. Es ist ein Kriterium, das besonders für Marketing und PR herausfordernd ist und das erklärt, warum sich viele Unternehmen schwertun, zum Storyteller zu werden und es nicht schaffen, die eigene Unternehmensgeschichte, die Unternehmens-Historie, als interessante Story zu erzählen. Im Unternehmen geht es in erster Linie um Ergebnisse. Unternehmenskommunikation, PR und auch Marketing sind darauf ausgerichtet, Ergebnissen zu präsentieren und einer Zielgruppe zugänglich zu machen. Im Fokus stehen Geschäftszahlen, wie Umsatzzahlen und Gewinnerwartungen, strategische Entscheidungen, wie die Ausweitung von Produktionsstätten oder der Abbau von Personal, oder aber die Ankündigung neuer Produkte und Innovationen. Immer geht es um das Fazit von Geschäftstätigkeiten des Unternehmens. Man sieht sich in der Informationspflicht gegenüber Kunden und Kundinnen, Stakeholdern und der Öffentlichkeit. Daran orientieren sich die dargebotenen Texte. Und so konzentrieren sich Marketing und PR bis heute nach wie vor auf Ankündigungskommunikation.

Geschichten orientieren sich jedoch nicht an der Präsentation von Ergebnissen. Zwar ist das Ende einer Geschichte, ganz besonders das klassische Happy End, eine Art »Ergebnis«, dem die Rezipienten entgegenfiebern – und je überraschender der Twist am Ende einer Story ist, umso besser. Aber eigentlich ist das Finale einer Geschichte gar nicht so entscheidend. Wie erklären Sie sich sonst, dass Sie Ihr Lieblingsbuch nochmals lesen oder dass Sie Ihren Lieblingsfilm immer wieder ansehen. Wie erklären Sie sich die jährliche TV-Ausstrahlung der Sissy-Filme mit Romy Schneider in der Hauptrolle an Weihnachten, die Dauerwiederholung der Stirb-langsam-Reihe mit Bruce Willis oder die Freude an dem immer gleichen Silvestersketch Dinner for One?

Und wie kann es sein, dass Mütter und Väter ihren Kindern abends im Bett die immer gleiche Gute-Nacht-Geschichte vorlesen müssen? Wehe dem, der nur mit einem Wort vom Text abweicht. Die Kinder wollen immer und immer wieder das Gleiche hören, obwohl sie das Ende – das Ergebnis der Story – doch kennen.

Fans des Films Titanic von Regisseur James Cameron wissen, wie er endet. Sie wissen, dass das Schiff mit einem Eisberg zusammenstoßen, und, dass Jack Dawson, gespielt von Leonardo DiCaprio, ins eiskalte Wasser gleiten wird, um seine geliebte Rose zu retten. Warum also sehen wir uns das alles immer und immer wieder an – wenn das Ergebnis doch schon feststeht und auch bekannt ist?

Geschichten orientieren sich weniger am Ergebnis, sondern eher am Ereignis. Geschichten sind ereignisorientierte Texte. Der Erfolg guter Stories hängt nicht ausschließlich daran, wie sie enden – hängt nicht am Happy End. Viel wichtiger als das Ende ist die »emotionale Reise« während der Erzählung. Die Rezipienten durchleben eine Geschichte – mit all den dazugehörigen Gefühlen. Und jede Wiederholung garantiert das gleiche Gefühlskarussell wie beim ersten Mal. Erstaunlicherweise gelingt Geschichten dieses Kunststück immer und immer wieder.

Hinweis

Mit welchen Techniken dieser Trick gelingt, lesen Sie in den Kapiteln 3 und 9.

Sprachstil, Erzählperspektive, Textausrichtung: Um Stories zu identifizieren und klar von faktischen Texten abzugrenzen zu können, sollten Sie auf diese Kriterien achten. Sie erkennen Geschichten verlässlich an einer emotionalisierenden Alltagssprache, einer subjektiven Darstellungsweise und der Erlebnisorientierung innerhalb des Textes.

Abbildung 2.1Unterscheidungsmerkmale faktischer und narrativer Texte

Geschichte trifft Geschichte

Im August 1888 schnappt sich Bertha Benz ihre beiden Söhne Eugen und Richard und macht sich auf den Weg zu ihren Eltern nach Pforzheim. Dafür setzt sie sich ans Steuer des von ihrem Mann, Carl Benz, neu entwickelten Gefährts und legt auf unbefestigten Wegen über 100 Kilometer zurück. Bertha braucht für diese Fahrt zwölf Stunden. Es ist die erste Fernfahrt mit einem Automobil – und Grundstein für die erste »Tankstelle«, denn Bertha Benz muss unterwegs für Benzinnachschub sorgen – in einer Apotheke.

Die Geschichte von Bertha Benz zählt zu den Gründungsmythen der Marke Mercedes-Benz. Das Unternehmen würdigt die Ehefrau und Pionierin nicht nur im konzerneigenen Museum und auf der Marken-Website, die Fahrt von Bertha wurde anlässlich des Weltfrauentags 2019 auch verfilmt und als kurzer Historienfilm veröffentlicht.

Tipp

Der Gründungsmythos von Mercedes-Benz basiert auf der Erfindung des Autos durch Carl Benz. Allerdings war es seine Frau, die mit dem Wagen erstmals eine weite Strecke zurücklegte. Davon handelt die Corporate Story Bertha Benz: die Reise, die alles veränderte. Zu finden auf YouTube – https://bit.ly/4gbQ021.

Der deutsche Begriff Geschichte hat eine interessante Doppeldeutigkeit. Während die Angelsachsen zwischen history und story unterscheiden, gibt es im deutschen Sprachgebrauch nur einen gemeinsamen Terminus: Geschichte. Der Begriff steht gleichsam für Vergangenheit (historia), also auch für Erzählung (narratio).

»Die Geschichte« beschreibt den Rückblick auf die historische Entwicklung oder definiert eine bestimmte Zeitspanne in der realen Vergangenheit. »Eine Geschichte« dagegen ist gleichbedeutend mit dem Begriff Erzählung oder Narration. Der Begriff Geschichte bezeichnet Handlungen und Ereignisse aus der Vergangenheit, der Gegenwart oder Zukunft, real oder fiktional.

Unternehmenskommunikation und Marketing arbeiten mit beiden Ausprägungen des Storytellings, also mit realen und fiktionalen Stories. Ein anschauliches Beispiel ist die Volkswagen-Story Kombis Last Wishes, die beide Varianten mischt. VW erzählt die Entstehungsgeschichte und den Siegeszug des legendären VW-Busses VW T1 (bis T7), der 2013 vom Markt genommen wurde, als sentimentalen Rückblick (historia). Gleichzeitig präsentiert die Storytelling-Kampagne aber auch eine Reihe einzelner Geschichten über Fans, die mit ihrem geliebten »Bulli« unvergessliche Erinnerungen verbinden: eine Weltreise, eine Fußball-WM, die Geburt eines Kindes. All diese Fanstories werden anekdotisch, narrativ erzählt (narratio).

Abbildung 2.2Doppeldeutigkeit des Begriffs »Storytelling«

Tipp

Viele Fans des VW-Kombi waren enttäuscht, als der Konzern beschloss, den kleinen Bus nicht mehr zu bauen. VW Brazil antwortete mit der Storytelling-Kampagne Volkswagen Kombis Last Wishes. Zu sehen auf YouTube – https://bit.ly/3DH4GYm.

Ob historisch oder narrativ, die Doppeldeutigkeit des Begriffs Geschichte bringt der Historiker Gordon A. Craig in seiner Dankesrede zur Verleihung des Historikerpreises der Stadt Münster auf den Punkt:

»Geschichte ist nicht ›exakte Wissenschaft‹ – sie ist eine humanistische Disziplin. Ihr Hauptgegenstand sind Menschen. Und Geschichte ist, wie Thukydides vor langer Zeit sagte, das Studium nicht von Umständen, sondern von Menschen in Umständen.«

– Gordon A. Craig, Historiker

Storytelling ist die Kunst, einerseits Handlungen und Erfahrungen der Vergangenheit wiederzugeben und andererseits zeitunabhängige Ereignisse – ob real oder fiktiv – zu erzählen. In jedem Fall erfahren Rezipienten, wie Menschen in bestimmten Umständen agieren. Das Publikum wird eingeladen, aus »der Geschichte« und aus »den Geschichten« zu lernen.

Historie des Storytellings

Die Geschichte des Geschichtenerzählens beginnt vor mehr als 40.000 Jahren. So alt ist die älteste Zeichnung der Welt: die rote Scheibe von La Castillo.

Mit der Entdeckung dieser Höhlenzeichnung im Juni 2012 gelang den britischen Forschern Alistair Pike und Paul Pettitt zusammen mit ihrem spanischen Wissenschaftsteam eine Sensation. In mühevoller Kleinarbeit analysierten sie Kalkschichten und Tropfsteine in elf Höhlen und entdeckten über 50 steinzeitliche Gemälde. Mithilfe der Uran-Thorium-Methode gelang es ihnen, das Alter dieser Zeichnungen genau zu datieren. Die bis zu dieser Entdeckung bekanntesten Höhlenbilder im französischen Chauvet mit ihren zahlreichen Tier- und Menschendarstellungen sind 4.000 Jahre jünger. Pike und Pettitt hatten die älteste Zeichnung der Menschheit entdeckt.

Im Zentrum dieser Wandgemälde ist eine rote Scheibe, umgeben von anderen Scheiben und etwa 40 Abbildungen von Händen. Prähistoriker fragen sich seit der Entdeckung, wer genau diese Steinzeitkünstler waren und was die Abbildungen bedeuten. Waren es die ersten Vertreter des Homo sapiens, oder waren es Neandertaler, die ein Zeichen ihrer Existenz hinterließen?

Wer auch immer die Schöpfer der roten Scheibe waren, die Zeichnungen dienten einem bestimmten Zweck. Paläoanthropologen gehen dabei von zwei Theorien aus: Höhlenmalerei diente möglicherweise als religiöses Instrument und Ausdruck von Schamanismus. Die Zeichnungen könnten daher Markierungen heiliger Stätten sein. Oder es sind künstlerische Interpretationen: Gemälde als Symbolsprache und Traumdeutung – Gemälde als Beleg für Erzählungen.

Storytelling als Knowledge-Sharing-System

In den meisten Höhlen- und Felsenzeichnungen spielt das Festhalten und Wiedergeben von Gesehenem und Erlebtem eine große Rolle. So auch in den 2007 entdeckten Gravuren in der südfranzösischen Höhle Abri Castanet. Die über 37.000 Jahre alten Zeichnungen zeigen Tiere, Antilopen oder Bisons, und geometrische Formen wie Linien, Wellen und Pfeile. Die Schöpfer dieser Bilder waren vermutlich Rentierjäger, Kundschafter und Sammler des Aurignacien, der ältesten archäologischen Kultur des Jungpaläolithikums, die den Anfang des Homo sapiens, des modernen Menschen, markiert. Diese frühen Menschen zeichneten Wildtiere und deren Verhalten, vor allem aber Szenen der Jagd. Man kann davon ausgehen, dass diese Gravuren einen Zweck hatten: die Wissensvermittlung. Höhlenzeichnungen sind die ersten Infografiken der Menschheitsgeschichte.

Und was nicht an die Wand geritzt und gemalt wurde, das wurde verbal, »am Lagerfeuer«, weitererzählt. Geschichten am Lagerfeuer halfen diesen frühen Gruppen und Gesellschaften, ihr Wissen untereinander zu teilen und die Welt um sie herum zu deuten. Storytelling ist das älteste Knowledge-Sharing-System, das wir kennen. Geschichten dienten der Erklärung der realen, physischen Welt sowie der Einordnung irrealer und imaginärer Vorstellungen. Es gab damals – wie heute – Geschichten, die erklären, warum man sich vor Löwen in Acht nehmen sollte und wie wichtig es ist, den Warnruf von Affen zu kennen. Und es gab – wie heute – Geschichten, die davon erzählen, warum Menschen geboren werden und warum sie sterben.

Abbildung 2.3Prähistorische »Infografiken« – entdeckt 1940 in Frankreich

Frühzeitliches Erfolgskonzept: Mythologie

Mythen, diese »sagenhaften Geschichten«, die uns Anfang und Ende der Welt erklären, wurden über die Jahrtausende hinweg zur weltweit erfolgreichsten und prägendsten Erzählform. Mythen – abgeleitet vom altgriechischen Wort »mythos«, lateinisch »mythus«, was so viel heißt wie »Laut« oder »Rede« – bedienen unsere Neugierde und unser Interesse, mehr über uns selbst zu erfahren, sowie unsere Sehnsucht und das Bedürfnis, Sinnhaftigkeit in unserem Leben zu entdecken. Darüber hinaus sind Mythen Ausdruck unseres Welt- und Selbstverständnisses, denn sie manifestieren Wertesysteme, Normen und Rechtsrahmen der jeweiligen Kultur, in der sie erzählt werden.

In Kulturen mit einer starken oralen Erzähltradition wie zum Beispiel Indien oder auch im arabischen Raum spielen Mythen bis heute eine lebendige Rolle. Die fabelhaften Geschichten werden von Generation zu Generation weitererzählt und prägen Gesellschaftsformen und Kulturen.

Ethos, Logos, Pathos: Erzählformen der Antike

Mythen des altgriechischen Theaters sowie Epen wie Homers Illias sind Beispiele des Storytellings der Antike. Doch aufgrund des hohen Geltungsanspruchs der Mythen, die als »Wahrheit« verstanden werden wollten, geriet diese Erzählform bei den Scholastikern des antiken Griechenlands zunehmend in die Kritik. Für die Vorsokratiker steht »Mythos« im krassen Gegensatz zu »Logos«, und so widmeten sich die Gelehrten der Antike – ob vor der Akropolis oder auf dem Forum Romanum – einem anderen Mittel der Persuasion: der argumentativen Rede.

Im Fokus der Rhetorik, dem Hauptwerk von Aristoteles (384–322 v. Chr.), stehen daher Parlamentsreden, Gerichtsreden und Festtagsreden. Für diese Form der »Erzählung« definierte Aristoteles drei wesentliche Elemente, die jede gute Rede bieten sollte: Ethos, Pathos und Logos.

Ethos:

Jede gute Rede braucht Glaubwürdigkeit und einen ehrenwerten Charakter, der für allgemeingültige Werte eintritt.

Logos:

Jede gute Rede folgt einer Struktur. Sie bringt Fakten und Daten in einen logischen Zusammenhang, wodurch das Publikum diese Fakten besser verstehen und im Gedächtnis behalten kann.

Pathos:

Jede gute Rede wirkt emotional. Sie löst Gefühle bei Zuhörer und Zuhörerin aus, inspiriert und weckt die Vorstellungskraft des Publikums.

Noch vor der Rhetorik – ca. 335 v. Chr. – publizierte Aristoteles ein anderes Meisterwerk: die Poetik. Seine Abhandlung zu Dichtung, Epos und Tragödie wurde ebenso wie die Rhetorik zu einem Standardwerk der Kommunikationsund Literaturwissenschaften – ein Bestseller seit über 2.000 Jahren. Angeblich ist das Werk unvollständig. Der zweite Band der Poetik, den Aristoteles selbst mehrfach erwähnt, handelt vermutlich von der Komödie, der Bedeutung des Humors und der menschlichen Fähigkeit zu lachen. (Das angeblich verschollene Buch der Poesia ist ein zentrales Thema im Roman Der Name der Rose von Umberto Eco).

Beide aristotelischen Klassiker, Rhetorik und Poetik, stehen in engem Zusammenhang, beide setzen sich mit Sprache und Kommunikation auseinander und begründen Gesetzmäßigkeiten der Kommunikation, die bis heute gelten – auch für Unternehmenskommunikation und Marketing.

Die Antike kannte keine Public Relations im modernen Sinne. Die Disziplin der PR entstand in den 20er- und 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts in den USA, als Journalisten wie Georg Ketchum ihre Storytelling-Fähigkeiten in den Dienst von Unternehmen stellten und mit sogenannten Advertorials eine neue Form der Werbung etablierten. Doch auch Aristoteles verstand die »gute Rede« als Mittel der Positionierung und des Reputationsaufbaus.

Dass man Geschichten – wie Tragödien und Komödien – zur Eigenwerbung oder zur Unternehmenspräsentation nutzen könnte, wäre für ihn allerdings wohl schwer vorstellbar gewesen. Storytelling, wie wir es heute in Marketing und Unternehmenskommunikation verstehen, zieht keine scharfe Grenze zwischen Rhetorik und Poetik.

Abbildung 2.4Elemente der guten Rede nach Aristoteles

Ganz im Gegenteil: Gute Storyteller in Unternehmen und Organisationen bedienen sich beider Welten. So sind die drei aristotelischen Prinzipien einer guten Rede – Ethos, Pathos und Logos – ebenso Voraussetzungen für gutes Storytelling:

Ethos:

Jede gute Geschichte braucht Glaubwürdigkeit. Sie muss so schlüssig erzählt werden, dass das Publikum den Erzählraum akzeptieren und sich mit der Geschichte identifizieren kann. Gute Geschichten erzählen dabei mehr als nur die Handlung. Ihnen liegen allgemeingültige Werte zugrunde, die sie vermitteln.

Logos:

Jede gute Geschichte folgt einer Struktur. Sie bringt Fakten und Daten in einen logischen Zusammenhang, wodurch das Publikum diese Fakten besser verstehen und im Gedächtnis behalten kann.

Pathos:

Jede gute Geschichte wirkt emotional. Sie löst Gefühle bei Zuhörer und Zuhörerin aus, inspiriert und weckt die Vorstellungskraft des Publikums.

Ritter, Drachen, Minnesänger: Storytelling im Mittelalter

»Uns sind in alten Mären Wunder viel gesagt von Helden, reich an Ehren, von Kühnheit unverzagt, von Freude und Festlichkeiten, von Weinen und von Klagen, von kühner Recken Streiten mögt ihr nun Wunder hören sagen.«

– Das Nibelungenlied, Erstes Abenteuer, um 1220

Historische Erzählungen, fantastische Fabeln und mystische Epen prägen die Erzählkunst des Mittelalters. Höhepunkte deutschsprachiger Erzählungen sind der Minnesang und höfische Rittersagen. Ganz besonders eine Erzählung überragt dabei alle: das Nibelungenlied.

Die Geschichte von dem nahezu unverwundbaren Siegfried, dem Streit zweier Königinnen um den besseren Ehemann und dem Untergang der Burgunder am Hofe Etzels ist eines der populärsten Stücke mittelhochdeutscher Dichtkunst. Dabei ist die bedeutendste aller deutschen Rittersagen eigentlich ein buntes Potpourri verschiedener Stories, die ein unbekannter Autor geschickt zusammengetragen und miteinander verwoben hat. Angeblich gehörte der Schöpfer des Nibelungenlieds dem bischöflichen Hof zu Passau an, doch seine Identität wird wohl für immer verborgen bleiben.