Streicheln oder Schlachten - Marcel Sebastian - E-Book

Streicheln oder Schlachten E-Book

Marcel Sebastian

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Beschreibung

Wir müssen über unser Verhältnis zu Tieren sprechen – wie uns die neuesten Erkenntnisse der Soziologie dabei helfen

Es ist kompliziert – das bringt wohl den Kern der Mensch-Tier-Beziehungen auf den Punkt. Während sich der Wert von Rind, Schwein und Co. meist in Kilogrammpreisen misst, sind Haustiere geliebte Familienmitglieder und durch nichts aufzuwiegen: Die einen sind für uns Jemand, die anderen Etwas.

Immer mehr Menschen suchen nach dem »richtigen« Umgang mit Tieren, doch das ist gar nicht so einfach. Wie kommt es, dass wir manche Tiere streicheln, andere aber schlachten? Und warum stellen wir diese ungleiche Behandlung in den letzten Jahren immer mehr infrage? Welche Abhängigkeiten von der Tierwelt führen uns Zoonosen wie Covid heute vor Augen?

Basierend auf seiner Forschung erklärt der Experte für Mensch-Tier-Beziehungen Marcel Sebastian, welche historischen, soziologischen und kulturellen Erklärungen es für unser ambivalentes Verhältnis zu unseren Mitlebewesen gibt. Das ist ebenso unterhaltsam wie informativ und hilft garantiert, den eigenen Standpunkt neu zu hinterfragen.

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Über das Buch:

Es ist kompliziert – das bringt wohl den Kern der Mensch-Tier-Beziehungen auf den Punkt. Während sich der Wert von Rind, Schwein und Co. meist in Kilogrammpreisen misst, sind Haustiere geliebte Familienmitglieder und durch nichts aufzuwiegen: Die einen sind für uns Jemand, die anderen Etwas.

Immer mehr Menschen suchen nach dem »richtigen« Umgang mit Tieren, doch das ist gar nicht so einfach. Wie kommt es, dass wir manche Tiere streicheln, andere aber schlachten? Und warum stellen wir diese ungleiche Behandlung in den letzten Jahren immer mehr infrage? Welche Abhängigkeiten von der Tierwelt führen uns Zoonosen wie Covid heute vor Augen?

Basierend auf seiner Forschung erklärt der Experte für Mensch-Tier-Beziehungen Marcel Sebastian, welche historischen, soziologischen und kulturellen Erklärungen es für unser ambivalentes Verhältnis zu unseren Mitlebewesen gibt. Das ist ebenso unterhaltsam wie informativ und hilft garantiert, den eigenen Standpunkt neu zu hinterfragen.

Über den Autor:

Dr. Marcel Sebastian ist Experte für die Soziologie der Mensch-Tier-Beziehungen. Für seine Doktorarbeit hat er unter anderem in Schlachthöfen geforscht und analysiert, wie Schlachter mit dem täglichen Töten von Tieren umgehen. Er war Promotionsstipendiat der Heinrich-Böll-Stiftung und Mitbegründer der Group for Society and Animals Studies an der Universität Hamburg. Heute arbeitet er an der TU Dortmund, ist gefragter Referent und gibt Workshops. Als Interviewpartner ist er regelmäßig in den Medien zu sehen, von Ze.tt und Der Spiegel, über Deutschlandfunk Kultur und SWR2, bis WDR und ZDF.

Marcel Sebastian

Streicheln

oder

schlachten

Warum unser Verhältnis zu Tieren

so kompliziert ist –

und was das über uns aussagt

Kösel

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Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Copyright © 2022 Kösel-Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Dr. Peter Schäfer, Gütersloh

Umschlag: zero-media.net, München

Umschlagmotiv: Hartmut Kiewert

Illustrationen: Sarah Katharina Heuzeroth

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-641-28601-9V001

www.koesel.de

Inhalt

Beziehungsstatus: Es ist kompliziert

1. Wie wir über Tiere streiten

Tierschutzreformen mit unterschiedlichen Startchancen

Wie wir Ordnung ins Tierreich bringen wollen

Wie wir unser Verhältnis zu Tieren sozial konstruieren

2. Es geht um die Wurst: Dürfen wir Tiere essen?

Du bist, was du isst

Vom Sonntagsbraten zum Alltagsbraten

Der lange Weg zum salonfähigen Fleischverzicht

Die Ernährung der Zukunft

3. Haustiere: die besten Freunde des Menschen?

In guter Gesellschaft – Haustiere als unsere Begleiter

Eine kurze Geschichte der Haustierhaltung

Jemand zu Hause? Tiere als »Du«

Die dunkle Seite der Haustierhaltung

4. Von Turbokühen und Wegwerfhühnern

Fleischproduktion unter Druck

Eine kurze Geschichte der Nutztierhaltung

Tiere als Dinge

Wie Nutztiere zum Du werden

5. Klimakrise, Artensterben, Pandemien:unsere neue Abhängigkeit von Tieren

Fleisch und Milch heizen das Klima auf

Das sechste große Massensterben

Wie industrielle Tierhaltung unsere Gesundheit gefährdet

6. Kurswechsel: die Suche nach einem neuen Mensch-Tier-Verhältnis

Kursanpassungen zwischen den Stühlen – wie wir nach Kompromissen suchen

Warum Kompromisse ihre Grenzen haben

Die Kuh im Wohnzimmer – Utopien für ein neues Mensch-Tier-Verhältnis

7. Jetzt sind Sie dran!

Sie haben Macht

Eine gute Streitkultur erfordert einen kritischen Geist

Geschichte wird gemacht!

Danksagung

Quellen und Anmerkungen

Beziehungsstatus: Es ist kompliziert

Der Beziehungsstatus zwischen Menschen und Tieren ist kompliziert. Während wir als Gesellschaft einige Tiere als Individuen wahrnehmen, die ein Recht auf ihr eigenes Leben haben, betrachten wir andere vor allem durch die Brille ökonomischer Verwertbarkeit.1 Beziehungen zu Hunden und Katzen sind von Liebe und Zuneigung geprägt, und diese Liebe scheint bei einigen Menschen schier grenzenlos.

Begegnungen mit Wildtieren lösen oft tiefe Faszination und Ehrfurcht aus: Den Tränen nah beobachten manche von uns Wölfe, Wale und Adler in freier Natur. Die Existenz der einen Tierart ist uns unbekannt, für das Überleben der anderen sammeln wir Millionenbeträge an Spenden. Manche Tiere werden sogar als heilig verehrt. Die tiefe symbolische Bedeutung von Tieren kommt auch in Märchen, Mythen und Sprichwörtern zum Ausdruck. »Schlau wie ein Fuchs« oder »scheu wie ein Reh« sind wir manchmal. Aber auch »dumm wie ein Schwein«.

Andere Mensch-Tier-Beziehungen sind von Abneigung und Angst geprägt. Ratten oder Kaninchen werden in vielen Städten als Schädlinge bekämpft und verdrängt. Spinnen sind in den meisten Wohnungen ungebetene Gäste und werden wahlweise zerdrückt oder von friedfertigeren Gemütern auf dem Balkon ausgesetzt. Wenig friedfertig gehen wir Menschen mit den Tieren um, die zu Schnitzel, Wurst und Nackensteak verarbeitet werden. Besonders die industrielle Haltung von Hühnern und Schweinen wird von vielen Menschen als Massentierhaltung kritisiert und abgelehnt. Trotzdem essen die meisten Menschen in westlichen Gesellschaften Fleisch.

Auch wir sind Tiere

Unsere Beziehungen zu Tieren sind also uneindeutig. Das fängt schon bei den Bezeichnungen an, mit denen wir über diese Beziehung sprechen. Die geläufige Gegenüberstellung »Mensch und Tier« suggeriert, dass sich hier zwei Gruppen gegenüberstehen: Hier die Menschen, dort die Tiere. Das ist jedoch zu kurz gedacht. Der Begriff »Tier« ist ein Containerbegriff, in den wir die unterschiedlichsten Tierarten von der Wüstenspringmaus bis zum Orang-Utan einordnen. Wenn über »das Tier« im Allgemeinen gesprochen wird, geht es nicht um konkrete Tierarten, sondern um die Abgrenzung des Menschen gegenüber Tieren. Dabei ist es längst kein Geheimnis mehr, dass auch Menschen biologisch zu den Tieren gehören. Wir als Homo Sapiens sind die letzte überlebende Sapiens-Art und damit eine Tierart unter vielen.

Und doch ist unsere Spezies etwas sehr Besonderes. Wie kein anderes Tier sind wir in der Lage, unsere Umwelt zu verändern, Kultur zu entwickeln und über uns und die Welt zu sinnieren. Dass Sie dieses Buch lesen, ist ein Ausdruck Ihrer Einzigartigkeit. Herzlichen Glückwunsch, Sie sind ein ganz besonderes Tier! Wir Menschen sind in der Lage, über unser Geschick und das der uns umgebenden Welt erheblich mitzubestimmen. Aber wie wir mit dieser Macht umgehen, hat weitreichende Konsequenzen. Und je größer unsere Macht über die Welt, desto größer ist auch unsere Verantwortung. Wie wir beispielsweise als Gesellschaft die Herstellung von Nahrungsmitteln organisieren, hat unmittelbare Folgen für Tiere und Umwelt. Unsere Fähigkeiten der Weltgestaltung spannen vielfältige Möglichkeiten vor uns auf. Es liegt an uns, diese Möglichkeiten zu bewerten und unser gemeinsames Handeln an diesen Werten auszurichten. Behalten Sie die Frage der Verantwortung beim Lesen dieses Buchs im Hinterkopf, denn sie geht auch Sie persönlich etwas an!

Was unseren Streit über Tiere besonders macht

Soziologisch gesehen führt die Uneindeutigkeit im Mensch-Tier-Verhältnis immer öfter zu gesellschaftlichen Deutungskonflikten: In unserer Gesellschaft treffen verschiedene Ideen über die richtige oder sinnvolle Beziehung zu Tieren aufeinander. Sie konkurrieren um Gültigkeit und führen regelmäßig zu Streit und Diskussion.2 Kulturelle Werte und Ideale sind in einer Gesellschaft selten eindeutig. Sonst würde eine vollkommene Übereinstimmung zwischen den Menschen herrschen. Wir können aber feststellen, dass bestimmte Werte weitgehender Konsens sind. Dass Kinder nicht geschlagen werden sollten, ist mittlerweile eine kollektive Überzeugung. Zwar gibt es Menschen, die ihre Kinder schlagen oder die körperliche Gewalt sogar als Erziehungsmaßnahme gutheißen. Aber als Gesellschaft streiten wir nicht kontrovers über Gewalt an Kindern, denn diese abzulehnen gehört zu unseren Grundüberzeugungen.

In einem Deutungskonflikt sieht das anders aus. Dort herrscht keine allgemeine, weitgehende Übereinkunft. Damit ein gesellschaftlicher Deutungskonflikt existiert, braucht es mindestens zwei Streitbeteiligte. Wer allein in der Arena des öffentlichen Diskurses steht, hat den Kampf bereits gewonnen. Damit der Streit öffentlich und nicht nur im Privaten ausgetragen wird, braucht es auch ein Publikum. In unserer Arena geht es hektisch zu, denn es kämpfen gleich mehrere Gruppen gleichzeitig. Eigentlich steht auch das gesamte Publikum mit in der Arena, denn wir sind alle mehr oder weniger in den Streit um Tiere involviert. So gleicht der Konflikt manchmal eher einer wilden Massenschlägerei, und die Grenze zwischen Publikum und Kämpfenden ist verschwommen. Einige werfen sich mitten ins Getümmel, andere stehen eher am Rand und beteiligen sich nur sporadisch oder feuern die anderen an. Und wieder andere stehen zwar mit in der Arena, behaupten aber steif und fest, mit alledem gar nichts zu tun zu haben.

Die Auseinandersetzungen über die unterschiedlichen Sichtweisen auf Tiere nehmen zu. Und sie werden nicht nur am privaten Esstisch, sondern öffentlich ausgetragen – auf der Straße, in den Medien, in Wirtschaft und Politik. Die Dynamik dieses Streits scheint in eine regelrechte Deutungskrise zu steuern, denn die unterschiedlichen Positionen stehen sich (scheinbar) unversöhnlich gegenüber. Kleinere Kursanpassungen befrieden den Konflikt kaum noch, und es geht langsam, aber sicher ums Ganze: um die grundsätzliche Frage, welche Formen der Behandlungen von Tieren wir als Gesellschaft gutheißen und inwiefern wir als Einzelne bereit sind, unsere Lebensweisen auf dieser Basis zu verändern. Warum das so ist, werden wir in diesem Buch ausführlich erörtern.

Doch bevor wir tiefer in die Mensch-Tier-Beziehung eintauchen, möchte ich Ihnen gleich zu Anfang drei ernüchternde Botschaften mit auf den Weg geben.

Erstens: Unser Verhältnis zu Tieren ist keine Privatsache

Wäre es eine Privatangelegenheit, würde es absolut niemanden etwas angehen, was Sie mit Tieren anstellen. Sie mögen sich zwar selbst entscheiden, ob Sie Fleisch essen, vegetarisch oder vegan leben – der Staat zwingt Sie weder zum Verzehr von Fleisch noch von Tofu –, aber die Beziehung zwischen Menschen und Tieren ist gesellschaftlich vermittelt: Die Politik definiert die Grenzen der rechtlich erlaubten Behandlungsweisen von Tieren, und die Justiz kann Menschen, die gegen Tierschutzgesetze verstoßen, bestrafen. Allein aus diesen Gründen ist die Mensch-Tier-Beziehung keine reine Privatangelegenheit. Aber auch wenn jemand nicht gegen Tierschutzgesetze verstößt, bedarf das eigene Verhalten gegenüber Tieren der Legitimation, da wir als Gesellschaft Tieren eine moralische Relevanz zuerkennen. Heute fragen wir uns nicht (mehr), ob unser Verhalten gegenüber Tieren moralisch von Bedeutung ist, sondern vielmehr, wo die Grenzen des moralisch vertretbaren Verhaltens liegen. Fleisch zu essen ist beispielsweise keine Straftat, bedarf aber dennoch einer Begründung. Wenn Ihnen das wenig einsichtig erscheint, fragen Sie sich selbst, warum Sie keine Hunde essen, und schon stecken Sie mitten in der Diskussion, wo die Grenze zwischen gut und schlecht, zwischen ›essbaren‹ und ›befreundeten‹ Tieren verläuft. Lassen Sie uns der spannenden Frage nachgehen, inwiefern diese unterschiedlichen Begründungen auf gesellschaftliche Zustimmung oder Ablehnung stoßen und welche Folgen das für uns als Gesellschaft hat.

Zweitens: Wir müssen uns vor Vereinfachungen HÜTEN

Viele Menschen neigen dazu, sich schnell eine klare Meinung zu bilden. Wenn es um Tiere geht, scheint das besonders häufig der Fall zu sein. Oftmals verlieren wir dadurch aber den Blick für die Komplexität der Dinge. Die Konflikte über die Mensch-Tier-Beziehung sind eine große, oft unübersichtliche Gemengelage aus unterschiedlichen Menschen und Gruppen, die sehr unterschiedliche Sichtweisen und Interessen haben. Wenn wir verstehen wollen, wieso unsere Beziehungen zu Tieren so kompliziert und widersprüchlich sind, müssen wir die unterschiedlichen Perspektiven systematisch in den Blick nehmen. Wir müssen versuchen, auch Positionen, die uns wenig plausibel erscheinen, in ihrer inneren Logik zu verstehen. Das heißt nicht, dass wir sie auch übernehmen müssen. Die aufmerksame, systematische Betrachtung sollte stets vor einer Bewertung stehen. Erst wenn wir ein möglichst gutes Bild der Situation haben, können wir ein fundiertes Urteil entwickeln. Das ist nicht nur ein Wissenschaftsideal, ein fundiertes Urteilen ist gut für jede Streitkultur!

Drittens: Komplexe Problemlösungen brauchen Zeit

Es gibt wenig Grund zur Annahme, dass wir den gesellschaftlichen Streit über Tiere in absehbarer Zeit beilegen können. Die verschiedenen Konfliktparteien stehen sich zum Teil so unversöhnlich gegenüber, dass es wohl noch lange brodeln wird. Zugeständnisse für die eine Gruppe lösen oft Empörung und Protest bei einer anderen Gruppe aus. Dass wir alle direkt oder indirekt in den Streit über Tiere eingebunden sind, macht die Sache nicht einfacher. Es scheint, als sei die Gesellschaft in unterschiedliche Lager aufgeteilt. Je mehr Einfluss ein Lager gewinnt, desto heftiger reagiert die Gegenseite. Diese Polarisierung können wir auch in Bezug auf viele weitere Themen wie Nachhaltigkeit, Integration oder Geschlechtergerechtigkeit feststellen. Wir stecken mitten in einer Phase der kollektiven kulturellen Selbstfindung – und bisher ist nicht klar, welche Sichtweise am Ende die Oberhand gewinnt.

Seit die Tierfrage auf die Agenda der deutschen Nachkriegsgesellschaft gehievt wurde, scheint die Suche nach dem richtigen Verhältnis zu Tieren immer stärker zu polarisieren. Tierrechtler*innen gelten längst nicht mehr als Verrückte und der Veganismus ist insbesondere bei jungen Menschen beliebter denn je. Gleichzeitig sind viele Deutsche nicht bereit, sich die Butter vom Brot nehmen zu lassen, und beschweren sich über moralische Bevormundung. Ich glaube, dass die Lösung aus dem Dilemma nur in einer aufgeklärten, öffentlichen Debatte bestehen kann. Die Tiere stehen auf der öffentlichen Agenda und werden von dort so schnell nicht wieder verschwinden. Ich lade Sie ein, sich in diese Debatte einzumischen. Viele Bücher zur Tierproblematik versuchen, Sie als Leserin oder Leser von einer bestimmten Position zu überzeugen. Dieses Buch versucht das nicht. Vielmehr gibt es Ihnen das Rüstzeug, die verschiedenen Konflikte zu verstehen, um produktiv an der Debatte teilnehmen zu können. Hier und da werden Sie auch meinen kritischen Unterton hören, denn selbstverständlich habe auch ich eine persönliche Meinung zum moralischen Stellenwert vieler Tiere in unserer Gesellschaft. Meine Meinung sollte für Sie aber nicht das Maß der Dinge sein und ich lade Sie ein, sich selbst ein Urteil zu bilden. Also dann, auf ins diskursive Getümmel!

1

Wie wir über Tiere streiten

Ende Juli 2016 spielen sich dramatische Szenen in der Nähe des Herforder Weddingenufers ab. Gegen acht Uhr morgens läuft eine Entenmutter aufgeregt schnatternd auf der Straße umher. Ihre Jungen schnattern nicht weniger aufgeregt, denn sie sind in einen nahe gelegenen Gully gefallen und kämpfen dort um ihr Leben. Aus eigener Kraft schaffen es die Küken nicht, sich aus ihrem anderthalb Meter tiefen Gefängnis zu befreien. Zum Glück spaziert zu diesem Zeitpunkt Frau W. in Begleitung ihres Yorkshire-Mischlings Lui am Weddingenufer entlang und beobachtet die Szene. Sie alarmiert die Feuerwehr.

Der Lokalzeitung berichtet Frau W. später, die Küken seien um ihr Leben geschwommen und hätten sich kaum mehr über Wasser halten können. Das Kommando über den Rettungseinsatz übernahm der Leiter der örtlichen Feuerwehr, denn »Entenrettung ist eben Chefsache«, wie die Zeitung zu berichten weiß. Sein Kollege Peter L., »Geflügelexperte« der Herforder Feuerwehr, legt sich flach auf den Boden, um die kleinen Enten zu erreichen. Mit einer Schöpfkelle fischt er die entkräfteten Küken einzeln aus dem Gully. Ein weiterer Kollege übernimmt die Erstversorgung und legt die durchnässten Küken behutsam in einen Karton. Nach der geglückten Entenrettung vereinen die Männer der Feuerwehr Mutter und Kinder.

Die Entenfamilie wird zum nahe gelegenen Ufer gebracht und dort in die Freiheit entlassen. Doch Peter L. ist besorgt. Möglicherweise waren die Strapazen für eines der Küken zu anstrengend, es schien unterkühlt. Seine Sorgen teilt er mit der Lokalzeitung. »Hoffen wir mal, dass ein paar Sonnenstrahlen, etwas Nahrung und ganz viel Fürsorge dafür sorgen, dass es wieder zu Kräften kommt«3, so der Retter.

Enten in parallelen Universen

Zeitungsartikel wie dieser sind kein Einzelfall. Sie folgen einem klaren erzählerischen Muster: Die Enten sind handelnde Subjekte mit einem individuellen Charakter. Wir können uns mit ihrem Schicksal und ihren Sorgen identifizieren und fiebern mit der Entenmutter um das Überleben ihrer verunglückten Küken. Auf die Rettung der Tiere und die Wiedervereinigung der Entenfamilie reagieren wir mit Freude und Erleichterung. Für das gute Ende der Geschichte gibt es nur eine Option: Die Enten sollen überleben. Doch es lassen sich auch ganz andere Geschichten über Enten erzählen. Sie sind alle gleich und klingen etwa so:

Unsere Ente schlüpft in einem Brütereibetrieb in Sachsen-Anhalt. An ihrem Geburtstag werden in der Brüterei noch rund 25.000 weitere Peking-Enten vom Typ »Cherry Valley« zur Welt gebracht. Cherry-Valley-Enten können nicht fliegen, dafür aber in Rekordzeit fett werden. Das nennt man eine gute »Mastleistung«. Weil Cherry Valleys körperlich optimal an ihre landwirtschaftliche Verwertung angepasst sind, gehören sie zu den profitabelsten Mastenten. Spezialfutter sorgt dafür, dass sie schnell ein »schlachtreifes« Körpergewicht erreichen, weil es auf die unterschiedlichen Phasen ihres Wachstums angepasst ist. Anfangs macht es sie robust: Darm und Skelett sollen für die körperlichen Belastungen der Mast vorbereitet werden. Das »Entenendmastfutter« hat dann das Ziel, möglichst effizient Muskel- und Fettgewebe aufzubauen. In der Entenmast verwandeln sich Küken innerhalb von vierzig Tagen in lebende Rohstofflager. In den Mastanlagen, so erklären die Betreiber*innen, werden die Tiere unter Einhaltung strenger gesetzlicher Vorgaben und mit viel Know-how versorgt und betreut, bis sie »Schlachtreife« erlangt haben.

Aktivist*innen der Tierrechtsbewegung zeichnen ein ganz anderes Bild und beschreiben die Zustände als Hölle auf Erden. Als eine Tierrechtsorganisation 2014 in der Vorweihnachtszeit heimlich gedrehte Videoaufnahmen aus einer Entenmast veröffentlichte, verging vielen Menschen zumindest für eine kurze Zeit der Appetit. Die Videos zeigten blutende, bewegungsunfähige Tiere. Auch wurde gefilmt, wie ein Mitarbeiter Enten mit der Mistgabel erschlug.4 Während sich die Umstände der Mast unterscheiden können, endet die Reise aller Mastenten gleich: Rund zehn Millionen Enten wurden 2021 in deutschen Schlachthöfen getötet. Anders als das Schicksal der Herforder Entenfamilie bleiben die Geschichten der Mastenten meistens unerzählt. Sie sterben anonym und jenseits des öffentlichen Interesses. Ähnlich ergeht es Millionen anderer landwirtschaftlich genutzter Tiere, denen ein Leben als Ware bestimmt ist. Die absolute Mehrheit von ihnen wird in industriellem Maßstab »produziert« und nach einem kurzen, wachstumsintensiven Leben getötet. Die amtlichen Statistiken nennen rund 625 Millionen Hühner sowie 51,7 Millionen Schweine und 3,2 Millionen Rinder allein 2021 in Deutschland.5

Diese zwei Entengeschichten scheinen in Paralleluniversen des Mensch-Tier-Verhältnisses zu spielen. Es drängt sich die Frage auf, welche der Geschichten denn nun einen angemessenen Umgang mit Enten widerspiegelt. Fragen nach dem legitimen Umgang durchziehen unsere vielfältigen Beziehungen zu Tieren: Darf man Tiere essen? Darf man Tierversuche durchführen? Einige Streitpunkte im Verhältnis zwischen Menschen und Tieren scheinen offensichtlich. Ich bin sicher, dass Sie selbst mit diesen Fragen schon mal konfrontiert waren und dass Ihnen diese Fragen schlüssig erscheinen. Sie mögen eine starke Meinung haben oder unentschlossen sein. Vielleicht machen Sie sich auch keine Gedanken darüber. Aber Sie verstehen die Frage. Die Frage, ob man Blumenkohl essen darf, hätte sie hingegen vermutlich irritiert.

Damit ein Streit entsteht, müssen Konfliktparteien mit unterschiedlichen Positionen existieren, die den Grund des Streits als relevant anerkennen. Das heißt: Sie nehmen ihn ernst. Das ist nicht einfach eine individuelle Angelegenheit, denn Sie können sich ja entscheiden, einfach keine Gedanken an das Problem zu verschwenden. Es ist eine kulturelle Frage. Auch wenn wir uns selbst keiner Konfliktpartei zugehörig fühlen, existiert der Streit im öffentlichen Raum – als Diskurs in den Medien, in der Politik oder weil soziale Bewegungen für oder gegen eine Sache protestieren.

Unser Verhältnis zu Tieren wirft Fragen auf

Im Streit um Tiere stehen sich unterschiedliche Ideen, wie das Verhältnis zwischen Menschen und Tieren gestaltet sein soll, gegenüber. Sehr viele dieser Ideen beziehen sich auf tierethische Fragen. Die Frage, ob man Tiere essen darf, fällt beispielsweise in diesen Bereich. Aber der Streit kann sich auch um Anstand, Sitte oder Konvention drehen. Ob Hunde als Familienmitglieder gelten oder im Bett schlafen sollten, ist keine moralische Frage, kann aber trotzdem zu heftigen Reaktionen führen. Im Konflikt stehen oft auch Ideen, die nicht unmittelbar mit Tieren zu tun haben, aber aus der komplizierten Beziehung der Gesellschaft zu Tieren resultieren. Was mit den Unmengen an Exkrementen passieren soll, die in der industriellen Tierhaltung entstehen, ist keine tierethische Frage. Ob die Exkremente jedoch in der bisherigen Menge als Gülle auf landwirtschaftliche Felder ausgetragen werden dürfen, gehört ebenfalls zum Komplex der Mensch-Tier-Beziehung und ist ein heiß umkämpftes Thema.

Bekanntermaßen werfen Antworten meist viele neue Fragen auf. Wenn wir beispielsweise die Kernfrage, ob man Tiere essen darf, bejahen, folgen eine Reihe weiterer Fragen auf dem Fuß: Welche Tiere dürfen wir essen und welche nicht? Wie viele Tiere dürfen wir essen? Unter welchen Bedingungen sollen diese Tiere leben, und wie sollen sie sterben? Je genauer wir hinschauen, desto detaillierter werden dabei die Probleme: Welche Qualifikation muss das Schlachthofpersonal haben, das die Tiere betäubt und tötet, und wer definiert diese Mindestqualifikation? Wie häufig sollte die Einhaltung des Tierschutzes in den Betrieben kontrolliert werden? Wie viel Geld sollte der Staat in die Produktion von Fleisch, Milch und Ei in Form von Subventionen fließen lassen? Und wie viel in den Anbau pflanzlicher Lebensmittel? Sollte die Politik beim Tierschutz auf freiwillige Selbstverpflichtung der Agrarbranche oder lieber auf gesetzliche Vorgaben setzen? So könnte es noch lange weitergehen.

Ähnlich sieht es in anderen Bereichen aus, in denen Tiere genutzt werden. Dürfen wir Tierversuche durchführen? Nur für Medikamente oder auch für die Grundlagenforschung? Für Haushaltsmittel und Kosmetika? An welchen Tieren dürfen Tierversuche durchgeführt werden? Nur an Mäusen und Ratten, oder auch an Hunden oder Schimpansen? Wie sieht es bei der Jagd aus? Enthemmtes Geballer im Wald oder notwendiger Beitrag zum Naturschutz? Braucht es die Jagd, um die Ausbreitung von Krankheiten oder Schäden an Privatbesitz zu verhindern? Wie stehen Sie zu Tieren im Zoo? Und was denken Sie über den Zirkus? Und? Brummt Ihr Kopf schon?

Streitthemen haben ihre Konjunkturen. Bestimmte Themen werden zu bestimmten Zeitpunkten kontrovers debattiert und können dann wieder für lange Zeit in den Hintergrund geraten, während andere Themen in den Mittelpunkt rücken. Stand die Pelzproduktion in den 1980er-Jahren noch massiv in der Kritik, steht heute zunehmend die industrielle Produktion von Fleisch, Milch und Eiern auf der öffentlichen Agenda. Aktuell gesellt sich ein ökologischer Diskurs über Tiere zu den verschiedenen tierethischen Problemen: Klimawandel, Artensterben und Zoonosen wie Covid-19 hängen mit dem Mensch-Tier-Verhältnis zusammen, verweisen aber auch auf die Beziehung der Gesellschaft zur Natur im Allgemeinen. Die ökologische Debatte über Menschen und Tiere hat eine eigene Qualität, denn sie macht unsere wechselseitige Abhängigkeit deutlich. Während bei den tierethischen Problemen vor allem die Frage im Raum steht, wie viele seiner Privilegien und Vorteile der Mensch aus Rücksicht auf die Bedürfnisse der Tiere aufgibt, steht in der ökologischen Debatte das Überleben des Menschen selbst im Mittelpunkt.

Eine Frage, viele Sichtweisen

Die Streitthemen sind also vielfältig, oftmals ineinander verwoben und auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelt. Das verdeutlicht auch die folgende Geschichte: Im August 2019 versammeln sich etwa 15 Menschen auf einem Feld in Ellringen nahe Lüneburg. Sie haben sich zu einem gemeinsamen Spaziergang getroffen. An Waldrand und Feldern vorbei führt sie der Weg zu einem mit Bauzäunen abgesicherten Gelände. Der spätsommerlichen Sonne zum Trotz wirkt dieser Ort grau: Lange Hallen reihen sich aneinander, die Dächer sind mit Wellblech bedeckt. Die Mischung aus Beton, Plastik und Blech wirkt eintönig und trist. An einem Zaun hängt ein Schild mit der Aufschrift »Demonstrationsbetrieb Tierschutz«. Daneben: »Wertvoller Schweinebestand. Betreten verboten.« Die spazierende Gruppe ist keine Delegation eines Wandervereins mit Vorliebe für zweifelhafte Ausflugsziele. Es handelt sich um Aktivist*innen, die einen Protestspaziergang abhalten. Ziel ihres Unmuts ist der Besitzer des »wertvollen Schweinebestands«, den man sich nicht aus der Nähe ansehen darf: die BHZP GmbH.

BHZP steht für »Bundes Hybrid Zucht Programm« und ist trotz seines Namens keine öffentliche Einrichtung, sondern ein privates Unternehmen, das im beschaulichen Ellringen eine bereits bestehende Zuchtanlage für Mastschweine erheblich ausbauen will. Das »Programm« ist zwar weitgehend unbekannt, aber dennoch ein zentraler Player in der industriellen Schweinemast. Das Unternehmen sorgt dafür, dass in deutschen Mastanlagen nie ein Mangel an Schweinenachwuchs herrscht. Mit ihrem Besuch wollen die Mastgegner*innen Öffentlichkeit für ihre Kritik schaffen und eine Diskussion in Gang setzen. Die spazierenden Demonstrant*innen, die die örtliche Bürgerinitiative Dahlenburg mobilisiert hat, haben einen gemeinsamen Gegner, aber sind bewegt von unterschiedlichen Motiven. Unter ihnen befinden sich Anwohner*innen der geplanten Großanlage, die sich um Gestank und Lärm Sorgen machen. Auch Umweltschützer*innen sind alarmiert. Sie befürchten, dass Abwässer, Gülle und giftige Rückstände die umliegenden, geschützten Biotope verunreinigen. Der hohe Wasserverbrauch und die schlechte Vereinbarkeit von industrieller Schweineproduktion und Klimaschutz bereitet ihnen ebenfalls große Sorgen. Aus dem nahe gelegenen Hamburg sind auch einige Tierrechtsaktivist*innen gekommen, die den Ausbau der Anlage nutzen, um gleich die gesamte Fleischproduktion infrage zu stellen.

Die Gegner*innen der Zuchtanlage konnten einen ersten Teilerfolg erkämpfen, als der Ausbau 2018 vom Oberverwaltungsgericht in Lüneburg gestoppt wurde. Zu den Gründen gehörten diverse Formfehler im Bebauungsplan sowie das Vorhaben, eine Zufahrtsstraße durch das dortige Landschaftsschutzgebiet zu bauen. Zwei Jahre später folgte die große Enttäuschung. Der Dahlenburger Rat hatte einen neuen Bebauungsplan erstellen lassen und diesen Ende 2020 beschlossen. Die neue Anlage soll nun nicht mehr rund tausend, sondern bis zu 6.500 Tiere fassen können. Während Abgeordnete der Grünen und zwei Mitglieder der SPD gegen den Ausbau stimmen, sprechen sich Vertreter*innen der CDU und die Mehrheit der SPD-Abgeordneten für den Ausbau aus. Erneut demonstrieren die Mastgegner*innen und bringen ihr Anliegen auf mitgebrachten Transparenten und Schildern zum Ausdruck: »Keine Schweinefabrik in Ellringen« und »Menschen gegen Massentierhaltung«. Doch dieses Mal sind sie nicht allein. Gekommen sind neben der Presse auch zahlreiche Landwirt*innen, die sich zu einem Gegenprotest versammeln. Landwirt*innen organisieren sich immer öfter, um ihre Perspektiven auf die Landwirtschaft sichtbar zu machen. Zankäpfel sind auch bei ihnen meist die landwirtschaftliche Tierhaltung und damit zusammenhängende Aspekte wie die Fleischproduktion oder die Nutzung von Gülle.6 Aktuell ruht der Ausbau allerdings wieder, da die Bürgerinitiative auch gegen den neuen Bebauungsplan klagt. Möglicherweise zieht sich die Angelegenheit noch über Jahre hin und ob die Anlage jemals ausgebaut werden wird, steht in den Sternen.

Dieser Streit zeigt, wie Konflikte über Tierhaltung eine ganze Reihe unterschiedlicher Gruppen auf den Plan rufen können. Politik, Justiz und Medien, Mitglieder von Tierschutz-, Tierrechts- und Umweltschutzgruppen, Landwirt*innen, Anwohner*innen und das Unternehmen BHZP brachten sich auf ihre jeweils eigene Weise in den Konflikt über das Für und Wider der Erweiterung der Sauenzuchtanlage ein. Eine Gemengelage, in der eine einvernehmliche Einigung zwischen den Konfliktbeteiligten kaum realistisch erscheint.

Die Aktivist*innen, aber auch die bäuerlichen Gegendemonstrant*innen stehen stellvertretend für die große Zahl an Menschen, die sich bewusst und aktiv in den Streit über Tiere einmischen. Sie sind Menschen, die eine starke Meinung zu Tieren oder zumindest zu einem Teilbereich der Mensch-Tier-Beziehung haben. Der Deutsche Tierschutzbund hat beispielsweise über 800.000 Mitglieder – Menschen, die sich einen stärkeren Schutz von Tieren wünschen. Unter den fast 400.000 Deutschen, die einen Jagdschein haben, sind wohl nur wenige, die die Jagd auf Tiere nicht grundsätzlich für legitim halten. Unter den mehr als eine Millionen vegan lebenden Deutschen hingegen ist die Anzahl der Jäger*innen wohl eher gering. Auch die rund eine Million Deutsche, die häufig angeln geht, hat eine klare Meinung zu der Frage, ob man Fische töten darf. Eine weitere Million Europäer*innen hat im Jahr 2013 eine EU-Petition zum vollständigen Verbot von Tierversuchen unterzeichnet.7 Natürlich sind nicht alle diese Menschen persönlich oder über lange Zeit an öffentlichen Auseinandersetzungen über Tiere beteiligt. Aber sie haben sich entschieden, in Bezug auf eine bestimmte Beziehung zu Tieren eine klare Haltung einzunehmen.

Einige dieser Menschen mit starken Meinungen zu Tieren gehören zu einer besonderen Gruppe: den professionellen Interessensvertreter*innen. Diese Gruppe macht so besonders, dass sie kollektiv und strategisch handelt. Organisationen aus sozialen Bewegungen oder wirtschaftliche Lobbyverbände sind beispielsweise daran interessiert, möglichst dauerhaft öffentlich wahrgenommen zu werden und Einfluss auf die Gesellschaft und die Politik zu nehmen. Sie haben klare Zielsetzungen und verfügen oft über beträchtliche finanzielle Mittel. Sie betreiben Büros, organisieren Kampagnen und bezahlen Menschen für diese Arbeit. Diese Interessensverbände sind einflussreiche Player im Kampf um die Deutungshoheit. Eine ganze Heerschar an Lobbyorganisationen versucht, Politik und Öffentlichkeit von der jeweils eigenen Position zu überzeugen. Sie schwirren ständig um die Politiker*innen in Berlin und Brüssel herum. Die Fleisch- und Agrarlobby etwa ist eine der mächtigsten Lobbygruppen in Deutschland und hat die Landwirtschaftspolitik in Deutschland maßgeblich mitgestaltet. Aber auch Tierschutz- und Tierrechtsorganisationen sind längst professionalisiert, und ihre Demonstrationen sind zu Großevents geworden. Auch sie betreiben Lobbyarbeit, wenn auch mit weniger umfangreichen Mitteln. Die Eurogroup for Animals betreibt beispielsweise Büros in Brüssel und unterhält Kontakte zu Mitgliedern des EU-Parlaments, aber auch zu Wirtschaftsunternehmen.

Das Thema geht uns alle an

Aber man muss nicht wie die Ellringer Aktivist*innen oder der Deutsche Bauernverband öffentlich eine bestimmte Position vertreten und gegen andere verteidigen, um Teil eines Konflikts zu sein. Die meisten Menschen sind indirekt und unbewusst in die Aushandlung über die angemessene Beziehung zu Tieren eingebunden. Wir alle, so der Soziologe Gotthard M. Teutsch, haben Beziehungen zu Tieren. Aber wir sind uns dessen oft gar nicht bewusst, »weil es keine Beziehungen zu einzelnen oder individuell erkennbaren Tieren sind, sondern Beziehungen existenzieller […] oder Beziehungen kollektiver Art.«8 Teutsch sagt damit, dass Menschen auch dann in das gesellschaftliche Verhältnis zu Tieren eingebunden sind, wenn sie nicht mit einem Haustier leben oder gerade einen Vogel beobachten. Wir machen uns unsere kollektiven Beziehungen zu Tieren die meiste Zeit nur einfach nicht bewusst. Sie sind derart selbstverständlich in unseren Alltag eingebaut, dass wir uns die Werte, die unseren Beziehungen zu Tieren zugrunde liegen, nicht vor Augen führen. Aber durch unser Handeln bestätigen oder verneinen wir bestimmte gesellschaftliche Werte, auch wenn wir darüber nie nachgedacht haben.

Betrachten wir da zum Beispiel unsere eigenen Konsumentscheidungen: Durch diese beziehen wir Stellung zur Mensch-Tier-Beziehung. Unabhängig davon, wie zwiegespalten viele Konsument*innen sein können und wie sehr die eigenen Essgewohnheiten auch Schwankungen unterliegen können: Wer Fleisch isst, stimmt stillschweigend der Aussage zu, dass das Essen von Fleisch legitim ist. Auch Handlungen, die fast automatisch ausgeübt werden, können auf verinnerlichten Werten und Einstellungen basieren. Dass wir uns diese gleichsam hinter unserem Handeln versteckten Werte nicht bewusst machen (müssen), ist ein Zeichen dafür, dass die Mehrheit der Gesellschaft sie teilt – sie sind normalisiert. Unter diesem Mantel des stillschweigenden, kollektiven Einvernehmens versteckt sich aber auch die Einsicht, dass unsere Wertvorstellungen nur eine Alternative unter vielen darstellen.

Tierschutzreformen mit unterschiedlichen Startchancen

Die Schweiz ist ein besonderes Land – auch wegen seines Tierschutzgesetzes. Als erstes Land der Welt schützt es seit 1992 Tiere nicht nur vor bestimmten Formen der körperlichen Schädigung. Artikel 1 des Tierschutzgesetzes hat den Zweck, auch »die Würde und das Wohlergehen des Tieres zu schützen«.9 Das philosophisch anspruchsvolle Konzept der Würde soll den inneren Wert der Tiere betonen. Sie sind um ihrer selbst willen umfassend zu schützen und nicht nur so weit, wie es die Profitabilität ihrer ökonomischen Nutzung gefährdet. So weit die Theorie. In der Praxis bedeutet der rechtliche Schutz tierlicher Würde keineswegs, dass in der Schweiz etwa Schlachthöfe oder Tierversuche verboten wären. Aber dennoch ist diese gesetzliche Regelung bemerkenswert.

Sie durchzusetzen war ein zentrales Anliegen der Schweizer Tierschutzbewegung, und das Referendum über den rechtlichen Schutz der Tierwürde fiel erfolgreich aus. Für den Erfolg war besonders wichtig, dass die Forderung, die Tierwürde zu schützen, auf einem soliden kulturellen Fundament stand: Die Idee war populär. Sie bot einerseits die Gelegenheit, den symbolischen Status der Tiere zu erhöhen, was den in westlichen Gesellschaften grundlegend hohen Zustimmungswerten zum Tierschutz entsprach. Andererseits war der Begriff der Würde so allgemein und unkonkret, dass von ihm keine Gefahr eines Verbots des Fleischverzehrs oder des Angelns ausging.

Eine 1998 durchgeführte Volksabstimmung zum Verbot von Tierversuchen zur Erforschung gentechnisch veränderter Organismen scheiterte hingegen. Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen dieser Forderung waren völlig anders, und diese Forderung spaltete die Gesellschaft deutlicher. In der öffentlichen Diskussion standen sich unversöhnliche Lager gegenüber: Für die eine Seite waren Tierversuche grausam, wissenschaftlich unsinnig und ethisch unvertretbar. Für die andere Seite waren sie ein notwendiges Übel, damit wissenschaftlicher Fortschritt zur Heilung von Krankheiten führen könne. Beide Seiten setzten nicht nur auf vernünftige Argumente, sondern auch auf Emotionen. Auf der einen Seite standen Bilder leidender Hunde und Affen, die qualvoll an den Versuchen zugrunde gehen. Auf der anderen Seite waren kranke Kinder und verzweifelte Eltern, die auf die rettende Medizin hofften. Die Schweizer*innen durften sich entscheiden, ob sie wahlweise Tiere quälen oder Kinder an Krebs sterben lassen wollten. Am Ende gewannen die Befürworter*innen der Tierversuche. Einen wesentlichen Anteil an ihrem Erfolg wird der Biotech-Branche zugesprochen, die in der Schweiz besonders mächtig ist. Das Referendum war für sie eine existenzielle Bedrohung, und sie versuchte massiv, den öffentlichen Diskurs zu ihren Gunsten zu beeinflussen. Die Tierschutzbewegung, die selbstredend das Gleiche versuchte, hatte einfach keine Chance gegen einen so mächtigen Gegner.

Die beiden Beispiele verdeutlichen, dass sich je nach Konfliktthema unterschiedliche Positionen durchsetzen können. Um die Dynamiken gesellschaftlicher Konflikte besser zu verstehen, ist es daher hilfreich, zwischen »kulturellen Ideen«, »Interessen« und »Macht« zu unterscheiden.

Kulturelle Ideen: Wie wir uns die ideale Welt vorstellen

Kulturelle Ideen sind die unterschiedlichen Werte, Ideale und Weltbilder, mit denen wir unser Handeln legitimieren. Sie definieren, was uns richtig, wichtig und angemessen erscheint. Darf ein Hund im Bett schlafen? Gehören Wölfe in einen gesunden Wald? Ihre kulturellen Ideen über diese Tiere geben Ihnen die Antwort. Ideen sind keine feststehenden, objektiven Tatsachen, sondern wandelbar. Das heißt, dass die Vorherrschaft bestimmter Ideen in der Gesellschaft oder innerhalb einer sozialen Gruppe infrage gestellt werden kann. Was in einer Gesellschaft als angemessen und richtig erscheint, hat historisch betrachtet oft nur eine gewisse Zeit lang Bestand.

Interessen: Was uns Vorteile bringt

Neben Ideen ist das Handeln von Menschen durch Interessen geprägt. Der Wunsch nach materiellem Vorteil, Statusgewinn, Sicherheit oder persönlicher Entfaltung treibt uns an und spielt auch im Streit über das angemessene Verhältnis zwischen Menschen und Tieren eine zentrale Rolle. Menschen, die ihr Leben mit Haustieren teilen, haben zum Beispiel meist ein großes Interesse an der speziesübergreifenden, persönlichen Beziehung zu ihren nichtmenschlichen Freunden. Der Umgang mit dem Haustier bereitet ihnen Freude, spendet Trost oder hilft im Umgang mit Einsamkeit.

Gleichzeitig haben beispielsweise Menschen, die Tierprodukte konsumieren, für gewöhnlich ein großes Interesse daran, dass Tiere durch Menschen genutzt werden. Sie mögen den Geschmack von Tierprodukten und möchten nicht auf ihn verzichten. In beiden Fällen haben Menschen persönliche Vorteile, wenn sie ihren Interessen folgen.

Der Unterschied zwischen Ideen und Interessen lässt sich an einem Phänomen darstellen, das typisch für unseren Umgang mit Tieren ist. Bekanntermaßen ist der Fleischkonsum die vorherrschende Ernährungsweise in Deutschland. Die meisten Menschen sind jedoch unzufrieden mit der Art und Weise, wie Fleisch produziert wird. Laut dem Eurobarometer, einer renommierten europaweiten Meinungsumfrage, erachten 94 Prozent der Europäer*innen den Tierschutz in der Landwirtschaft für wichtig, und 82 Prozent wünschen sich eine Verbesserung des landwirtschaftlichen Tierschutzes in ihrem Land.10 Gleichzeitig gaben 2019 rund 86 Prozent der Männer und 83 Prozent der Frauen in Deutschland an, regelmäßig oder selten Fleisch zu essen.11 In einer Umfrage des Bundeslandwirtschaftsministeriums gaben zudem fünfzig Prozent der Befragten an, regelmäßig oder ausschließlich Fleisch aus Bioproduktion zu kaufen.12