Suizidalität - Christoph Wewetzer - E-Book

Suizidalität E-Book

Christoph Wewetzer

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Beschreibung

Nach Verkehrsunfällen ist der Suizid bei Jugendlichen in Deutschland die zweithäufigste Todesursache. Kinder- und jugendpsychiatrische Kliniken mit Versorgungsauftrag werden nahezu täglich mit der Frage konfrontiert, ob bei einem Kind oder Jugendlichen Suizidalität vorliegt und wenn ja, wie akut diese ist und welche Unterstützung, Hilfe und auch Schutz der Patient benötigt. Häufig stellt sich dann auch die Frage, ob der Patient stationär behandelt werden muss oder eine ambulante Behandlung möglich ist. Der Leitfaden beschreibt praxisorientiert das diagnostische und therapeutische Vorgehen bei Suizidalität im Kindes- und Jugendalter. Zunächst wird ein Überblick über den Stand der Forschung bezüglich der Symptomatik, Klassifikation, Epidemiologie und Ätiologie, Komorbidität, Prävention und Therapie von Suizidalität gegeben. Ausführlich werden Leitlinien zur Diagnostik und Verlaufskontrolle, zur Behandlungsindikation und Intervention formuliert und ihre Umsetzung in die Praxis dargestellt. Ausführlich wird aufgezeigt, wie bei der Kontaktaufnahme und Beziehungsgestaltung, der Exploration des Kindes bzw. Jugendlichen und seiner Sorgeberechtigten, der Abklärung des Suizidrisikos, der Klärung der rechtlichen Rahmenbedingungen, der Behandlungsplanung, der Krisenintervention sowie der kurz- und langfristigen Behandlung vorgegangen werden soll. Diagnostische Verfahren und Interventionsprogramme, die in den verschiedenen Phasen der multimodalen Behandlung eingesetzt werden können, werden kurz und prägnant beschrieben. Materialien zur Diagnostik und Therapie sowie Fallbeispiele veranschaulichen das Vorgehen.

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Christoph Wewetzer

Kurt Quaschner

Suizidalität

Leitfaden Kinder- und Jugendpsychotherapie

Band 27

Suizidalität

Prof. Dr. Christoph Wewetzer, Dr. Kurt Quaschner

Herausgeber der Reihe:

Prof. Dr. Manfred Döpfner, Prof. Dr. Dr. Martin Holtmann, Prof. Dr. Franz Petermann

Begründer der Reihe:

Manfred Döpfner, Gerd Lehmkuhl, Franz Petermann

Prof. Dr. med. Christoph Wewetzer, geb. 1959. Seit 2005 Leiter der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie der städtischen Kliniken Köln gGmbH.

Dr. Kurt Quaschner, geb. 1955. Seit 2004 Leitender Psychologe an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie; Psychosomatik und Psychotherapie des Universitätsklinikums Marburg.

Wichtiger Hinweis: Der Verlag hat gemeinsam mit den Autoren bzw. den Herausgebern große Mühe darauf verwandt, dass alle in diesem Buch enthaltenen Informationen (Programme, Verfahren, Mengen, Dosierungen, Applikationen, Internetlinks etc.) entsprechend dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes abgedruckt oder in digitaler Form wiedergegeben wurden. Trotz sorgfältiger Manuskriptherstellung und Korrektur des Satzes und der digitalen Produkte können Fehler nicht ganz ausgeschlossen werden. Autoren bzw. Herausgeber und Verlag übernehmen infolgedessen keine Verantwortung und keine daraus folgende oder sonstige Haftung, die auf irgendeine Art aus der Benutzung der in dem Werk enthaltenen Informationen oder Teilen davon entsteht. Geschützte Warennamen (Warenzeichen) werden nicht besonders kenntlich gemacht. Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann also nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt.

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[email protected]

www.hogrefe.de

Satz: Matthias Lenke, Weimar

Format: EPUB

1. Auflage 2019

© 2019 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, Göttingen

(E-Book-ISBN [PDF] 978-3-8409-2657-0; E-Book-ISBN [EPUB] 978-3-8444-2657-1)

ISBN 978-3-8017-2657-7

http://doi.org/10.1026/02657-000

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Anmerkung:

Sofern der Printausgabe eine CD-ROM beigefügt ist, sind die Materialien/Arbeitsblätter, die sich darauf befinden, bereits Bestandteil dieses E-Books.

Zitierfähigkeit: Dieses EPUB beinhaltet Seitenzahlen zwischen senkrechten Strichen (Beispiel: |1|), die den Seitenzahlen der gedruckten Ausgabe und des E-Books im PDF-Format entsprechen.

|V|Einleitung: Grundlagen und Aufbau des Buches

Suizidalität umfasst ein breites Spektrum, von Suizidgedanken und Suizidwünschen, konkreten Suizidabsichten und drängenden Suizidimpulsen bis hin zu Suizidversuchen und Suiziden. Es ist ein Phänomen, mit dem der behandelnde Arzt/Therapeut immer häufiger konfrontiert wird und welches in der klinischen Praxis immer mehr Raum einnimmt.

In der klinischen Arbeit kommt damit der Einschätzung der akuten Suizidalität große Bedeutung zu. Wie konkret sind die Suizidgedanken, Vorstellungen des Patienten und welche Form der Intervention ist angebracht? Reicht eine kurze Krisenintervention oder benötigt er eine längerfristige stationäre Therapie? Welche Therapie ist unter Berücksichtigung einer möglichen komorbiden Symptomatik indiziert? Wie sieht die rechtliche Situation aus? Sollte oder muss der Patient stationär auf eine geschützte Station aufgenommen werden?

Aufgrund der klinischen Relevanz von Suizidalität wurde dieser Leitfaden, unter Berücksichtigung der aktuellen AWMF-Leitlinien (DGKJP, 2013; 2016) und internationaler Standards, erstellt. Wir hoffen, dass er zu einem besseren Verständnis sowie zu mehr Sicherheit in der Diagnostik und Therapie führt, mit dem Ziel, gefährdete Patienten früher zu erkennen und spezifisch zu behandeln.

1 Im ersten Teil des Buches ist der Stand der Forschung bezüglich Symptomatik, Definition, Klassifikation, Epidemiologie, Komorbidität, Pathogenese, Verlauf und Therapie in den für die Formulierung der Leitlinien relevanten Aspekten zusammenfassend beschrieben.

2 Im zweiten Teil sind die insgesamt 14 Leitlinien zu folgenden Bereichen formuliert und ihre Umsetzung in die Praxis dargestellt:

Diagnostik und Verlaufskontrolle,

Behandlungsindikationen,

Therapie.

3 Im dritten Kapitel sind Verfahren kurz und prägnant beschrieben, die für die Diagnostik, die Verlaufskontrolle und die Behandlung angewandt werden können.

4 Das vierte Kapitel beinhaltet Materialien zur Diagnostik und Verlaufskontrolle sowie zur Therapie. Sie erleichtern die Umsetzung der Leitlinien in die klinische Praxis.

5 Im fünften Kapitel ist anhand zweier Fallbeispiele die Umsetzung der Leitlinien in die klinische Praxis abschließend illustriert. Die Darstellung orientiert sich an den Gliederungspunkten des Antragsverfahrens für Psychotherapie im Rahmen der gesetzlichen Krankenversorgung.

Zur leichteren Lesbarkeit wird im gesamten Leitfaden (außer in der Fallbeschreibung) das generische Maskulinum verwendet.

|VI|Dieser Band wird durch einen kompakten Ratgeber Suizidalität (Wewetzer & Quaschner, 2019) ergänzt, der Informationen für Betroffene, Eltern, Erzieher, Lehrer und Ausbilder beinhaltet. Der Ratgeber informiert über suizidale Gedanken und suizidale Handlungen und seine möglichen Ursachen. Er legt dar, welchen Faktoren ein besonderes Risiko für suizidale Handlungen darstellen und welche Behandlungsmöglichkeiten bestehen. Eltern, Lehrer und Erzieher erhalten konkrete Ratschläge und Anleitungen zum Umgang mit der Problematik. Jugendlichen werden Ratschläge und Anleitungen zur Selbsthilfe gegeben.

Köln und Marburg,

Christoph Wewetzer und

April 2019

Kurt Quaschner

Inhaltsverzeichnis

1 Stand der Forschung

1.1 Definition und Klassifikation

1.2 Symptomatik

1.3 Epidemiologie und Verlauf

1.4 Komorbide Störungen

1.5 Pathogenese und Risikofaktoren

1.5.1 Neurobiologische Faktoren

1.5.2 Psychosoziale Faktoren

1.6 Suizidprävention

1.7 Therapie

1.7.1 Psychotherapie – Wirksamkeit

1.7.2 Pharmakotherapie – Wirksamkeit

2 Leitlinien

2.1 Leitlinien zur Diagnostik

2.1.1 Anlässe und Bedingungen zur Abklärung einer Suizidalität

2.1.2 Diagnostisches Vorgehen im Rahmen einer (Notfall-)Vorstellung wegen Suizidalität

2.1.3 Exploration des Patienten und seiner Bezugspersonen zur aktuellen Suizidalität

2.1.4 Exploration des Patienten und seiner Bezugspersonen zur aktuellen Lebenssituation und Ermittlung von spezifischen Risikofaktoren in der Vorgeschichte und der familiären/sozialen Situation

2.1.5 Exploration und Untersuchung des Patienten und seiner Bezugspersonen zu komorbiden Störungen und differenzialdiagnostische Abklärung

2.1.6 Körperliche Untersuchung, Drogentest und bei vorliegenden Verletzungen Impfstatus

2.1.7 Psychopathologische Festlegung sowie Beurteilung der Suizidalität/des Suizidrisikos, Krisenmanagement und Therapieempfehlung

2.1.8 Verlaufskontrolle und Qualitätssicherung

2.2 Leitlinien zur Behandlung

2.2.1 Kontaktaufnahme und Beziehungsgestaltung

2.2.2 Klärung der rechtlichen Bedingungen und Voraussetzungen

2.2.3 Behandlungsplanung/Hierarchie bzw. Abfolge der Interventionen

2.2.4 Krisenintervention/Risikomanagement

2.2.5 (Stationäre) kurzfristige Krisenintervention

2.2.6 Mittelfristige-/längerfristige stationäre Behandlung

2.2.7 Rahmenbedingungen/Voraussetzungen für eine Behandlung im ambulanten Setting

2.2.8 Ambulante Psychotherapie

2.2.9 Medikamentöse Therapie

2.2.10 Nachbehandlung und Postvention

3 Verfahren zur Diagnostik und Therapie

3.1 Verfahren zum Screening und zur Diagnostik

3.1.1 Screeninginstrumente

3.1.2 Diagnostikinstrumente

3.2 Verfahren zur Therapie

3.2.1 Kognitiv-Behaviorale Therapie zur Suizidprävention

3.2.2 Dialektisch-Behaviorale Therapie für Adoleszente (DBT-A)

4 Materialien

5 Fallbeispiele

5.1 Claudia (14 Jahre)

5.2 Melanie (15 Jahre)

6 Literatur

|1|1 Stand der Forschung

In der klinischen Praxis ist der Umgang mit Kindern und Jugendlichen, die angeben, sich das Leben nehmen zu wollen, oder die bereits einen Suizidversuch begangen haben, ein zunehmendes Problem. Waren es früher überwiegend Jugendliche, die Suizidgedanken angaben, sehen wir immer öfter auch Kinder, die von konkreten Suizidabsichten sprechen. Dabei sind vollendete Suizide bei Kindern nach wie vor sehr selten. Hingegen ist der Suizid bei Jugendlichen die zweithäufigste Todesursache nach den Verkehrsunfällen. Somit kommt dem Verständnis des suizidalen Kindes oder Jugendlichen große Bedeutung zu. Die Schwierigkeit besteht im Kontaktaufbau, der Beurteilung des aktuellen Suizidrisikos, der Einschätzung der Distanzierung- und Absprachefähigkeit und der Planung des Therapieangebotes.

1.1 Definition und Klassifikation

Mit Suizidalität ist allgemein ein suizidales Verhalten gemeint, welches alle Phasen von unkonkreten Suizidgedanken bis hin zur Durchführung eines Suizidversuchs umfasst. Nach Wolfersdorf und Mitarbeitern (1999) ist der Suizid folgendermaßen definiert: „Suizidalität meint die Summe aller Denk- und Verhaltensweisen von Menschen, die in Gedanken, durch aktives Handeln oder passives Unterlassen den eigenen Tod anstreben bzw. als mögliches Ergebnis einer Handlung in Kauf nehmen“ (S. 147).

Der Terminus „suizidale Verhaltensweisen“ umfasst Suizidgedanken, Suizidversuche und Suizide (vgl. auch Abb. 1).

Suizidgedanken sind verbale und nicht verbale Äußerungen, die Selbsttötungsideen aufzeigen, ohne dass eine direkte Verknüpfung zu einer Handlung besteht. Dabei können sich die Gedanken über einen längeren Zeitraum mit der Selbsttötung beschäftigen, aber sich auch impulshaft und spontan dem Kind oder Jugendlichen aufdrängen. Ein weiterer Faktor ist das mögliche Vorliegen eines konkreten Suizidplans. Ein Suizidplan besteht dann, wenn die Person sich gedanklich damit auseinandersetzt, in welcher Form und mit welcher Methode der Suizid durchgeführt werden soll.

Bei einem Suizidversuch handelt es sich, in Anlehnung an die Definition von Platt und Mitarbeiter (1992), um „alle vorbereiteten und durchgeführten Handlungen, die mit dem Wissen, dem Wunsch und dem Ziel durchgeführt wurden, sich mit der angewandten Methode das eigene Leben zu nehmen, die Handlung aber in der Vorbereitung abgebrochen oder überlebt wurde oder ohne Intervention von dritter Seite zur massiven Selbstschädigung bis zum Tod geführt hätte“ (S. 98).

|2|Nicht mehr gebräuchlich in der Beschreibung der Symptomatik ist die Definition eines Parasuizides (DGKJP et al., 2007). Ein Parasuizid beschreibt eine nicht habituelle Selbstschädigung mit potenziellem, aber nicht geplantem und/oder beabsichtigtem tödlichen Ausgang. Die Arbeitsgruppe der WHO (1989) definiert den Parasuizid in ähnlicher Weise: „Eine Handlung mit einem nicht tödlichen Ausgang, bei der ein Individuum absichtlich ein nicht habituelles Verhalten beginnt, das ohne eine Intervention von dritter Seite eine Selbstschädigung bewirken würde, oder absichtlich eine Substanz in einer Dosis einnimmt, die über die verschriebene oder im Allgemeinen als therapeutisch angesehene hinausgeht und die zum Ziel hat, durch die aktuellen oder erwarteten Konsequenzen negative Veränderungen, aber eben nicht den eigenen Tod zu bewirken“ (S. 99; Platt et al., 1992; Bronisch, 1999). Im Gegensatz zum Suizidversuch fehlt beim Parasuizid die eindeutige Selbsttötungsabsicht. Allerdings gibt es in der klinischen Arbeit immer „Grenzgänger“, die ein parasuizidales Verhalten zeigen, keine klare Selbsttötungsabsicht artikulieren, aber durchaus mit ihrem Verhalten den eigenen Tod in Kauf nehmen.

Für ein selbstverletzendes Verhalten, welches gänzlich ohne jede Selbsttötungsabsicht durchgeführt wird, sollte nach Brunner und Schmahl (2012) der Terminus „nicht suizidales selbstverletzendes Verhalten“ (NSSV) verwendet werden. Es finden sich aber immer auch Patienten, die selbstschädigendes Verhalten zeigen und phasenweise auch suizidal sind. Die Patientengruppe, bei der sich dieses häufig zeigt, sind Jugendliche, die unter einer emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typus leiden. Im Weiteren möchten wir nicht weiter auf das NSSV eingehen, sondern hier auf den Leitfaden Selbstverletzendes Verhalten (In-Albon, Plener, Brunner & Kaess, 2015) verweisen (vgl. Abb. 1).

Der Suizid wird als Selbsttötung eines Menschen definiert. Dieser kann durch aktives Handeln durchgeführt werden, aber auch durch Unterlassung, z. B. wenn ein jugendlicher Diabetiker sein lebenswichtiges Insulin nicht spritzt. Die Suizidhandlung kann spontan und impulshaft oder auch sehr geplant erfolgen.

Die ergänzenden Definitionen von möglichen Suizidformen beziehen sich überwiegend auf den Erwachsenenbereich, kommen jedoch auch bei Jugendlichen vor.

Der Terminus des „erweiterten Suizides“ bezeichnet die gemeinsame Tötung beziehungsweise die Selbsttötung, nachdem eine oder mehrere andere Personen zuvor getötet wurden. Dies findet sich z. B. im Rahmen von Sorgerecht- und Umgangsstreitigkeiten, wenn ein Elternteil sich suizidiert, nachdem die Kinder vorher von ihr bzw. ihm getötet wurden. Dabei erfolgt die Tötung ohne Einverständnis der Betroffenen. Zu diskutieren ist, ob sogenannte Amokläufe von Jugendlichen ebenfalls zu der Kategorie des |3|erweiterten Suizides gehören oder ob man nicht eher von einem Mord mit anschließendem Suizid sprechen muss. Zu bedenken ist hierbei, dass die überwiegende Anzahl der bisherigen jugendlichen Amokläufer die Vorstellung hatte, nach dem Amoklauf zu sterben, entweder in einer möglichen Auseinandersetzung mit den Ordnungskräften oder durch eine Selbsttötung.

Abbildung 1: Formen selbstschädigenden Denkens und Handelns

Nicht ganz leicht ist die Klassifikation von Suizidalität und suizidalen Verhaltensweisen. In der ICD-10, dem bestehenden Klassifikationssystem der World Health Organisation (WHO, 1992; WHO/Dilling et al., 2016), ist es nicht möglich, Suizidalität als eigene Störung zu klassifizieren. Damit ist die Vergabe einer Achse-I-Diagnose genau wie beim selbstverletzenden Verhalten nicht vorgesehen. Es ist nur möglich, suizidales Verhalten auf der 4-Achse unter „vorsätzlicher Selbstschädigung“ (X60 bis X84) zu verschlüsseln.

Im aktuellen DSM-5 (APA, 2013; APA/Falkai et al., 2018) ist die Klassifikation von suizidalen Verhaltensweisen nur im Rahmen der klinischen Erscheinungsbilder mit weiterem Forschungsbedarf möglich. Hier findet sich eine Definition der „suizidalen Verhaltensstörung“ (SVS; vgl. Kasten 1).

|4|Kasten 1:Kriterien einer suizidalen Verhaltensstörung nach DSM-51 (APA/Falkai et al., 2018)

Die Person hat innerhalb der letzten 24 Monate einen Suizidversuch unternommen. Beachte: Ein Suizidversuch ist ein selbstinitiierter Verhaltensablauf einer Person, die zum Zeitpunkt der Initiierung annimmt, dass der Ablauf der Handlung zu ihrem eigenen Tod führt. Der „Zeitpunkt der Initiierung“ ist der Zeitpunkt, an dem das Verhalten eingetreten ist, das die Anwendung der Methode beinhaltet.

Die Tat erfüllt nicht die Kriterien für Nichtsuizidale Selbstverletzungen – d. h. sie beinhaltet keine Selbstverletzungen, die der Körperoberfläche zum Zweck der Entlastung von negativen Gefühlen, von einem kognitiven Zustand oder zur Herbeiführung eines positiven Gefühls zugefügt werden.

Die Diagnose bezieht sich nicht auf Suizidgedanken oder Suizidvorbereitungen.

Die Tat wurde nicht während eines Delirs oder eines Zustandes der Verwirrtheit initiiert.

Die Tat wurde nicht ausschließlich aufgrund eines politischen oder religiösen Ziels ausgeführt.

Bestimme, ob:

Aktuell: Nicht mehr als 12 Monate seit dem letzten Versuch.

Frühremittiert: 12 bis 24 Monate seit dem letzten Versuch.

1.2 Symptomatik

Suizidalität meint eine breite Symptomatik, beginnend von bei Jugendlichen häufig anzutreffenden unkonkreten Suizidideen und Suizidgedanken bis hin zu konkreten Suizidversuchen. Bei bestehenden Suizidideen beschäftigt sich das Kind oder der Jugendliche mit folgenden Gedanken: „Wie wäre es, wenn ich tot bin? Wie würde mein Umfeld reagieren? Wie meine Familie, meine Freundin oder meine Partnerin/mein Partner?“ Diesen Gedanken liegen anfangs zumeist keine konkreten Vorstellungen über Möglichkeiten der Selbsttötung und über spezielle suizidale Handlungen zugrunde. Oft treten diese Gedanken in Zusammenhang mit Problemen in der Familie, mit den Freunden oder der Schule auf. Der Jugendliche setzt sich zunächst meist alleine mit diesem Thema gedanklich auseinander, ohne es mit Freunden zu besprechen. Sind diese Gedanken nicht eine vorübergehende Erscheinung und wird die Auseinandersetzung mit der Selbsttötung konkreter, kommt es in der Regel im persönlichen Umfeld des Jugendlichen zu Gesprächen und auch zu Ankündigungen von mögli|5|chen suizidalen Handlungen. Grundsätzlich können Ankündigungen von suizidalen Handlungen aus unterschiedlichen Motiven erfolgen. Sie können einen appellativen Charakter haben, indem sie signalisieren, dass die betroffene Person sich Hilfe und Unterstützung wünscht und benötigt. Die Ankündigungen können aber auch zum Ziel haben, mehr Aufmerksamkeit und Zuwendung auf sich zu ziehen oder ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Immer wieder werden auch Suizidankündigungen als Drohung eingesetzt (z. B. „Wenn du dich von mir trennst, dann tue ich mir etwas an!“). Unabhängig vom Motiv können alle diese Ankündigungen zu Suizidversuchen führen. Bei Kindern und Jugendlichen geht in den überwiegenden Fällen dem Suizidversuch eine Ankündigung im sozialen Umfeld voraus. Nicht wenige Kinder und Jugendliche geben als Motiv für suizidales Verhalten an, dass ihnen einfach alles zu viel sei und sie eigentlich nur ihre Ruhe wollen. Dies zeigt sich gerade im Zusammenhang mit schulischen Leistungsproblemen oder bei Konflikten im familiären Umfeld. Bei anderen Kindern und Jugendlichen kann es gerade auch aus emotionalen Krisen heraus zu einem impulshaft durchgeführten Suizidversuch kommen. Von vielen Autoren (Löchel, 1983; Warnke, 2008) wird vor Durchführung eines Suizidversuchs ein sogenanntes „präsuizidales Syndrom“ beschrieben.

Kasten 2:Symptomatik des „präsuizidalen Syndroms“

Gefühle von Verzweiflung, Ratlosigkeit, Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit.

Geringes Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl.

Erleben von Unverständnis im sozialen Umfeld mit ausgeprägter Neigung zum Grübeln.

Sozialer Rückzug bis hin zur Isolierung und einer allgemeinen Initiativ- und Interessenlosigkeit.

Depressive Stimmungsauslenkung mit Beschwerden wie Schlaflosigkeit, Müdigkeit und Appetitlosigkeit.

Gegen die eigene Person gerichtet Aggression und konkretere Vorstellungen bzw. Planungen zur Durchführung eines Suizidversuchs.

Bei Kindern und Jugendlichen ist ein „präsuizidales Syndrom“ kein regelmäßig anzutreffendes Ereignis. Vielmehr kommt es oftmals zu impulshaften suizidalen Gedanken und suizidalen Handlungen (Becker & Keitel, 2013). Nicht selten stehen plötzliche Kränkungserlebnisse oder Beendigungen von partnerschaftlichen Beziehungen im Vordergrund.

Kommt es zur Durchführung eines Suizidversuchs, sind die Suizidmethoden zwischen den Geschlechtern sehr unterschiedlich. Jungen präferieren sehr viel „härtere“ Suizidmethoden als Mädchen. Die Wahl einer „harten“ Suizidmethode erhöht die Letalität. Soor und Mitarbeiter (2012) fanden in ihrer Untersuchung von 370 vollendeten Suiziden im Alter zwi|6|schen 11 und 18 Jahren bei 91,9 % eine „harte“ Methode. Dies erklärt auch, warum Mädchen zwar häufiger Suizidversuche begehen, dass es bei Jungen jedoch sehr viel häufiger zum Tod kommt (Rhodes et al., 2014). Zu den „harten“ Suizidmethoden gehören das Erhängen, das Erschießen, das Springen aus großer Höhe und vor Züge. „Weiche“ Methoden beziehen sich in erster Linie auf Schneiden und auf die Einnahme von Medikamenten.

In der aktuellen Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie und Psychosomatik (DGKJP et al., 2016, Becker et al., 2017) erfolgte eine Schweregradeinteilung anhand der Intention und den äußeren Faktoren. Die Intention, zu sterben, wurde in vier Stufen eingeteilt: hoch (hohe Todeserwartung), mittel (Ambivalenz), niedrig (keine gezielte Intention) und keine (Abwesenheit einer Suizidabsicht). Des Weiteren wird nach geringerem, mittlerem und hohem Schweregrad der Suizidhandlung eingeteilt. Für einen leichten Schweregrad wurde festgelegt, dass das subjektiv eingesetzte Mittel als wenig gefährlich eingeschätzt wird und dass eine Entdeckung und Rettung möglich und wahrscheinlich sind. Für den mittleren Schweregrad soll das Mittel zum Suizid als gefährlich, aber subjektiv nicht als tödlich eingeschätzt werden und eine Entdeckung und Rettung noch möglich sein. Für einen hohen Schweregrad soll das Mittel als objektiv gefährlich eingeschätzt werden und die Rettung als unwahrscheinlich bis unmöglich. Allerdings sind diese Kategorien unscharf und lassen eine exakte Einordnung kaum zu. Wolfersdorf (2008) versucht für den Einsatz in der klinischen Praxis eine Schweregradeinteilung, die jedoch auch das Problem der exakten Zuordnung hat und auch hier sind die Übergänge fließend. Er unterscheidet vier Stufen. Die erste Stufe beinhaltet glaubhaft keine Suizidalität, die zweite Stufe beschreibt eine „Basissuizidalität“, die dritte geht von einer erhöhten Suizidgefahr aus und bei der vierten Stufe besteht eine akute Suizidgefahr.

1.3 Epidemiologie und Verlauf

Bei Jugendlichen liegen wenige empirisch fundierte Untersuchungen über die Häufigkeit von Suizidgedanken, Suizidversuchen und durchgeführten Suiziden vor (Cha et al., 2018). Es muss sicherlich gerade bei den Suizidgedanken und Suizidversuchen von einer hohen Dunkelziffer ausgegangen werden. In europäischen Ländern ist der Suizid bei Jugendlichen die zweit- bzw. dritthäufigste Todesursache (Kokkevi et al., 2012).

Suizidgedanken zeigen sich bei männlichen und weiblichen Jugendlichen sehr häufig. In einer älteren Untersuchung (Wunderlich et al., 1998) gaben 10,2 % der befragten Jugendlichen an, schon unter Suizidgedanken gelit|7|ten zu haben. Wiederum 6,8 % gaben an, diese Gedanken auch über einen längeren Zeitraum zu haben und 4,3 % erklärten, dass bei ihnen auch konkrete Suizidplanungen bestehen würden. Dabei zeigte sich in dieser Studie wie auch in aktuelleren Untersuchungen, dass deutlich mehr Mädchen als Jungen von Suizidgedanken berichten und auch Suizidversuche begehen (Berthod et al., 2013). Lewinsohn und Mitarbeiter (2002) fanden in ihrer Untersuchung, dass weibliche Jugendliche und junge Frauen zwei- bis dreimal häufiger Suizidversuche durchführen als männliche Jugendliche und junge Männer. Dabei ist es von großer Bedeutung, ob die Befragung anonym erfolgt oder nicht. Bei anonymen Befragungen finden sich deutlich höhere Prävalenzraten. So gaben in der Heidelberger Schulstudie (Brunner et al., 2012), in der 5.832 Jugendliche (zwischen 14 bis 15 Jahren) anonym und schriftlich befragt wurden, 13,4 % an, suizidale Gedanken zu haben, auch hier deutlich mehr Mädchen als Jungen.

In der Bella-Studie (Resch et al., 2008) wurden hingegen 2.863 Familien telefonisch und damit nicht anonymisiert befragt. Hierbei gaben nur 3,8 % der 11- bis 17-jährigen Jugendlichen an, in den letzten sechs Monaten Suizidgedanken gehabt zu haben. In der Ulmer Schulstudie (Plener et al., 2009), die wiederum anonym schriftlich 665 Jugendliche zwischen 14 bis 17 Jahren befragte, gaben sogar 35,9 % suizidale Gedanken und 6,5 % durchgeführte Suizidversuche an.

Kaess und Mitarbeiter (2011) untersuchten in ihrer Studie mit 5.512 Jugendlichen und einem Altersmittel von 14,8 Jahren die Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen im Hinblick auf suizidales Verhalten. Dabei gaben 19,8 % der Mädchen suizidale Gedanken an und 10,8 % Suizidversuche. Bei den Jungen hingegen gaben nur 9,3 % suizidale Gedanken an und 4,9 % berichteten von Suizidversuchen. Es fanden sich bei den Mädchen signifikant häufiger emotionale und/oder Verhaltensprobleme. Bei den Mädchen traten mehr internalisierende und bei den Jungen mehr externalisierende Störungen auf.

In einer aktuellen norwegischen Studie (Strandheim et al., 2014) zeigten ebenfalls die Mädchen gegenüber den Jungen signifikant mehr suizidale Gedanken. Dabei waren suizidale Gedanken eng mit depressiven/ängstlichen Symptomen und mit Verhaltensproblemen verknüpft. Das Vorhandensein von suizidalen Gedanken vor dem 10. Lebensjahr war hier ein seltenes Phänomen. Mit Erreichen des 12. Lebensjahrs kommt es jedoch zu einer deutlichen Zunahme von suizidalen Gedanken (Nock et al., 2013).

Ein Suizid ist bei Kindern im Gegensatz zu Jugendlichen eine Seltenheit. Abbildung 2 zeigt, dass sich wenige Kinder, aber viele ältere männliche Erwachsene suizidieren.

|8|

Abbildung 2: Suizide pro 100.000 Einwohner im Jahre 2012 nach Lebensalter (Quelle: Statistisches Bundesamt, Gesundheitsberichterstattung des Bundes, www.gbe-bund.de, Datenblätter vom 12. 12. 2013, Darstellung und Berechnungen: Georg Fiedler, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, 2014)

Aktuelle Daten für Deutschland aus dem Jahr 2013 finden sich in Tabelle 1. Es findet sich kein Suizid unter 10 Jahren und erst mit dem Alter von 15 Jahren eine deutliche Zunahme der Suizide. Im Alter von 10 bis 15 Jahren sind es noch doppelt so viele Mädchen wie Jungen und erst mit 15 Jahren suizidieren sich sehr viel mehr männliche als weibliche Personen. In einer aktuellen finnischen Studie (Lathi et al., 2014) waren 79 % der Suizide von männlichen Jugendlichen begangen worden. Im Jahr 2013 suizidierten sich in Deutschland am häufigsten Männer zwischen dem 45 und dem 55 Lebensjahr.

|9|Tabelle 1: Suizide nach Altersgruppen im Jahr 2013 in Deutschland (absolute Häufigkeiten; Quelle: Statistisches Bundesamt)

Altersgruppen

Insgesamt

Männlich

Weiblich

unter 10 Jahre

    –

   –

   –

10 bis 15 Jahre

18

6

12

15 bis 20 Jahre

165

119

46

20 bis 25 Jahre

337

272

65

25 bis 30 Jahre

428

349

79

30 bis 35 Jahre

498

389

109

35 bis 40 Jahre

482

383

99

40 bis 45 Jahre

662

498

164

45 bis 50 Jahre

1.007

744

263

50 bis 55 Jahre

1.072

795

277

55 bis 60 Jahre

920

693

227

60 bis 65 Jahre

796

585

211

65 bis 70 Jahre

628

443

185

70 bis 75 Jahre

906

655

251

75 bis 80 Jahre

811

577

234

80 bis 85 Jahre

648

470

178

85 bis 90 Jahre

487

347

140

über 90 Jahre

211

124

87

Die Suizidrate pro 100.000 Einwohner ist in Deutschland seit 1982 kontinuierlich gesunken, bis auf einen leichten vorübergehenden Anstieg zwischen 2010 und 2011 (vgl. Abbildung 3).

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